Widerklänge von Nesuki (Echos aus dem Wolfskloster) ================================================================================ Kapitel 3: Im Schlund des Monsters ---------------------------------- "Du musst echt nicht mitkommen, wenn du nicht willst." Kai hielt sich vorerst noch mit beiden Händen an der Kante des Kellerfensters fest und schaute über die Schulter nach unten. Yuriy hatte in der Zwischenzeit eine Taschenlampe aus seinem Rucksack gekramt und leuchtete ihm. Trotzdem fiel es ihm schwer, einzuschätzen, wie weit es bis zum Boden war. Zwei Meter Vielleicht? Zweieinhalb? “Ja, klar. Und am Ende brennst du mir noch mit einem Obdachlosen durch.” “Hmh. Du kennst einfach meinen Typ. Wenn du nicht langsam mal los lässt, wird das aber nichts.” Er gab sich einen Ruck und ließ los. Er landete in knöcheltiefem Wasser, das ihm sogleich kalt in die Sneaker lief. Es hatte sich durch das seit vermutlich Ewigkeiten kaputte Fenster hier in einer breiten Bodenvertiefung gesammelt. Er gestikulierte mit offenen Händen zu seinen nassen Füßen herunter und blickte dann, wie in Zeitlupe, auf zu Yuriy. Der zuckte nur die Achseln und gab ihm ein schiefes Lächeln. “Komm! Jetzt sind die Füße eh nass.” Er nickte Richtung Ausgang und setzte sich in Bewegung. Kai holte sein Handy aus seiner Hosentasche und schaltete die Taschenlampenfunktion ein. Sie befanden sich in einem Raum, der vielleicht mal als Vorratslager genutzt worden war. Leere Holzregale an den Wänden, teils umgestoßen, und zerbrochene Glasbehälter auf den Pflastersteinen am Boden ließen darauf schließen. Er zog den Reißverschluss seiner Jacke bis zum Anschlag zu und stellte den Kragen auf. Hier unten war es kalt, viel kälter als draußen, und er merkte schnell, wie die Kälte in seine Finger biss, mit denen er sein Telefon vor sich hielt. Im Schein seiner Lampe konnte er sogar seinen Atem sehen. Sie traten in den Gang hinaus. Hier roch es genauso feucht und süßlich nach Moder wie in dem Raum zuvor und an den Wänden glitzerte ein Film aus kleinen Wassertropfen. Yuriy hielt inne, als würde er lauschen. Kai kam das Obdachlosen-Thema wieder in den Sinn, über das sie vorhin scherzhaft gesprochen hatten. Was, wenn sie hier wirklich jemanden stören würden? Was, wenn dieser dann nicht so friedlich reagieren würde? Er wurde plötzlich aus der Gedankenkette gerissen, als er ein regelmäßiges Platschen hinter sich hörte, wie watende Schritte durch Wasser, und rückte unbewusst näher an Yuriy. Der wandte sich zu ihm um und schaute ebenfalls in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Kai spürte ein Flackern in seinem Brustkorb. Das Platschen verstummte. “War nur ein Tier” sagte Yuriy trocken “Komm!” Widerwillig setzte sich Kai wieder in Bewegung, jedoch nicht, ohne sich noch einmal umzudrehen und nach hinten zu leuchten. Es war nichts zu sehen und auch nichts weiter zu hören. “Das muss eine echt große Ratte gewesen sein…” sagte er und als er schluckte, bemerkte er, wie trocken sein Hals war. Yuriy schnaufte. “Ja, genau.” Auf ihrem Weg passierten sie bald eine Treppe, von deren Schacht ein wenig Licht nach unten drang, aber Yuriy machte keinerlei Anstalten, diese emporzusteigen. Was auch immer er suchte, musste hier unten sein. Kai hätte nichts lieber getan, als diesen unterirdischen Irrgarten auf schnellstem Wege wieder zu verlassen. Er fühlte sich zunehmend unwohler, je länger sie den Gängen folgten. Tiefer und tiefer drangen sie zum Herz des Klosters vor und mit jedem Schritt drückte eine unbekannte Schwere mehr auf seine Schultern. Alles um ihn herum nahm er gedämpft war: Ihre Tritte, die von den Mauern widerhallten, der Lichtkegel, in dem sie sich bewegten, der immer wieder weitere Abzweigungen und schwere Türen preisgab. Er fühlte sich wie in Watte gepackt, so als seien sie gar nicht mehr wirklich Teil vom Hier und Jetzt, sondern irgendwo in einer surrealen Zwischenwelt. Er hatte es nie geschafft, die Lücken in seinen Erinnerungen vollständig zu füllen und wenn er ehrlich zu sich selbst war, hatte er es nie wirklich ernsthaft versucht. Wenn er an die Zeit in der Abtei zurück dachte, war ihm fast so, als würde er sich an eine fremde Geschichte zurückerinnern, ein Buch, in dem es um jemand anderen ging als um ihn. Es war wie eine Mauer in seinem Innersten, die er nicht durchdringen wollte. Er wusste, dass sich dahinter weit mehr verbarg als er sich aktuell bewusst war, aber dieses Kapitel wollte er einfach begraben lassen. Yuriy hatte ihm dagegen einiges voraus. Er war zwar deutlich länger in der Abtei gewesen und hatte quasi seine gesamte Kindheit hier verbracht, aber er hatte sich weitaus mehr mit seiner Vergangenheit auseinandergesetzt und viel aufgearbeitet. Bewundernswert, aber Kai selbst fühlte sich noch lange nicht so weit. Auch nach über 20 Jahren noch nicht. Als er so in Gedanken war, merkte er ein wenig zu spät, dass Yuriy angehalten hatte, und rempelte ihn an. “Uh, sorry” setzte er an, aber Yuriy reagierte nicht. Er starrte einfach nur regungslos in die Dunkelheit vor ihnen. Im bewegten Schein seiner Handy-Taschenlampe reflektierten Yuriys Augen kurz silbrig-gold wie die eines Wildtiers bei Nacht im Scheinwerferlicht. Unbehagen, mehr noch als zuvor, dehnte sich in Kais Magen aus. Darauf folgte im harten Kontrast dazu eine Wärme, die sich gut anfühlte und ihn sogleich merklich beruhigte. Suzaku regte sich wieder. So aktiv war sie seit langer Zeit nicht mehr gewesen. Er hielt sein Telefon am ausgestreckten Arm nach vorne, um zu sehen, was sich vor ihnen befand. Sein Lichtschein folgte einer Spur aus herausgebrochenen Steinen zu einer halb abgerissenen Mauer, die deutlich jünger zu sein schien als die Steine der Wand drum herum. Jemand hatte offensichtlich etwas zu verstecken versucht und jemand anderes hatte dieses Hindernis zertrümmert - vielleicht aus Wut, vielleicht aus Verzweiflung - und dabei ganze Arbeit geleistet. Dahinter erkannte Kai eine Flügeltür aus angelaufenem Stahl, darüber ein stark verschmutztes Schild: “Test- und Trainingscenter”. “Hörst du das?” fragte Yuriy, als er einige Schritte näher herantrat. Kai lauschte, aber er hörte nichts, abgesehen von einem unregelmäßigen Tropfen in der Ferne. “Nein” begann er “Was soll ich hören?” “Stimmen…” Yuriy kam der Tür näher und legte seine Hand auf das Metall “Sie sind da drin. Aber sie reden alle durcheinander… Ich kann nichts verstehen…” Die letzten Worte waren nur noch ein Flüstern. Stimmen? Dieser Ort machte etwas mit Yuriy und Kai war sich nicht sicher, ob er dem wirklich gewachsen war, was auch immer jetzt kommen würde. Er trat ebenfalls an die Tür heran und schaute zu Yuriy herüber, der seine Hand auf die Klinke legte. Sein Gesichtsausdruck wechselte von vager Unsicherheit zu definierter Entschlossenheit. Mit einem metallischen Klicken drückte er die Klinke herunter und als die Tür klemmte, verpasste er ihr kurzerhand einen kräftigen Stoß mit der Schulter. Kirschend schob er sie über den steinigen Boden auf. Die beiden betraten einen riesigen Raum mit Gewölbe und Säulen. Überall standen und lagen alte, technische Geräte und zerschlagene Büromöbel. Der Boden war gesäumt von Papier, verfärbt und feucht, und bildete großflächig pappige Platten, die seltsam hohl klangen, als sie darüber liefen. Dem Grad der Verwüstung nach zu urteilen, hatte sich hier jemand aufs Äußerste verausgabt. Vielleicht waren sie wirklich nicht die ersten Ex-Abtei-Jungen, die auf die Idee gekommen waren, der Institution nach der Schließung noch einmal einen Besuch abzustatten. Kai trat näher an einen mannshohen Computer heran. Verglichen mit der heutigen Technologie, erschien er fast schon absurd groß. “Verbraucht. Weißt du noch?” Yuriys Stimme hallte von den Wänden wieder und Kai wandte sich zu ihm um. Er war am anderen Ende des Raumes im Lichtkegel seiner Taschenlampe in die Hocke gegangen und hielt ein braunes, durchnässtes Hängeregister in der Hand. Kai trat heran und versuchte, die Aufschrift der Akte zu entziffern. Er laß “Zangiev”. “Wenn Volkov über Jungen sprach, die nicht mehr weiter konnten, sagte er >sie sind verbraucht<. Wie kommt man darauf, sich so auszudrücken?” Mit einem Klatschen kam die Akte auf dem Boden auf, als er sie von sich warf. “Schon komisch, oder?” Kais Augen verharrten auf dem Register und sein Hals schnürte sich zu. Alexander Zangiev. Einer der Jungen, die sich seinerzeit nicht als würdig erwiesen hatten. Er hatte alles gegeben, aber das hat einfach nicht gereicht. Kai erinnerte sich, dass Alexander nach der Niederlage gegen Takao fortgebracht wurde. Als er selbst später in die Abtei eingebrochen und durch die Katakomben geirrt war, hatte er ihn in einer Art Verlies wiedergesehen. Zu dem Zeitpunkt hatte er ihm nicht helfen können, es sich aber fest vorgenommen, ihn später, wenn die Luft rein war, zu befreien. Als dieses “Später” dann endlich geschah, fand er nur eine leere Zelle vor. Und er hatte nie wieder irgendetwas von dem Jungen gehört oder gesehen. Seine Mundwinkel zuckten unkontrollierbar nach unten, während sich seine Kehle ausdehnte, bis es schmerzte. Hier unten war es kalt und dunkel, doch nichts übertraf die Kälte und Dunkelheit, die sich gerade in seinem Brustkorb ausbreitete. Wie Yuriy sich wohl fühlte? Er wollte nachfragen, aber sein Freund befand sich schon nicht mehr neben ihm. Sein Blick folgte der Lichtquelle, die in diesem Augenblick hinter einer Ecke verschwand und schwächer wurde. Zügigen Schrittes folgte er und blieb in dem Durchgang stehen, eine Hand am feuchten Stein des Gemäuers abgestützt. Die Erinnerung an diesen Raum kam wieder. Hier wurde an den Bitbeasts geforscht und experimentiert. Noch immer befanden sich riesige, zylinderförmige Tanks an einer langen Seite des Raumes. Jetzt waren sie leer und größtenteils zerbrochen, so wie Kai es erkennen konnte. Seinerzeit hatte jeder, der irgendwie die Gelegenheit hatte, einen Blick hier herein zu erhaschen versucht. War es doch vor allem die Aussicht darauf, irgendwann so ein starkes Bitbeast zu kontrollieren, die treibende Kraft für das harte Training und all die Entbehrungen gewesen. Die ultimative Power seinen Gegner zu vernichten. Auch ihm selbst war dieses Begehren nicht fremd und er war dabei weiter gegangen als die Meisten. Black Dranzer hatte ihn mehr als einmal verführt. Und mehr als einmal hatte er um ein Haar alles zerstört, was ihm lieb und teuer war und ihn zum Prinzen der Asche gemacht. Kai schaute zu seiner Hand, die noch auf den Wandsteinen des Durchgangs lag. Es war fast so, als spürte er eine Regung in ihnen. Als gäbe es ein Echo von all den schlimmen Dingen, die innerhalb dieser Mauern geschehen waren. Und er fragte sich, wie viele ahnungslose Kinderhände an dieser Stelle bereits auf dem Stein geruht hatten.(1) Er löste sich, als das Gefühl ihn zu überwältigen drohte, und sein Blick suchte nach Yuriy. Doch alles, was er sah, war perfekte Finsternis. “Yuriy?” rief Kai und seine Stimme, plötzlich und viel zu laut, durchbrach die Stille. Keine Antwort. Er suchte sich seinen Weg durch den Raum, leuchtete wechslseitig nach links und rechts, aber von seinem Freund weit und breit keine Spur. Am anderen Ende des Raumes fand er einen weiteren Durchgang. Hier war er nie zuvor gewesen. Er leuchtete in den Raum hinein, aber das Licht seines Telefons wurde von der tiefen Schwärze verschlungen, bevor es die Mitte des Raumes erreichen konnte. Dieser gespenstische Ort legte allmählich seine Nerven blank. “... Yuriy?” fragte er ungewohnt vorsichtig: "Bist du hier?” Plötzlich leuchtete ihm irgendwo aus dem Zentrum der Dunkelheit ein schimmernd goldenes Augenpaar entgegen. Es fixierte ihn und er war augenblicklich wie erstarrt. Es blinzelte und Kais Atem stockte, während sich die Gänsehaut auf seinen Armen breit machte. Auch Suzaku machte sich wieder bemerkbar, wie ein Kribbeln an seinem Zwerchfell. Warm, schützend, bereit. Als würde sie genauso beobachten was hier vonstattenging wie er. “Kai. Ich bin hier!” Yuriys Stimme riss Kai aus seiner Starre und er wandte ihr den Kopf zu. Sie erklang von ganz in der Nähe des Was-auch-immer-es-war, allerdings doch ein Stück entfernt. 1 oder 2 Meter vielleicht. Yuriy zog seine Taschenlampe hervor, welche bis gerade mit der Linse an seiner Hose geruht hatte und leuchtete Kai mit einem kurzen Schwenk seiner Hand entgegen. Kais Blick glitt wieder zu der Stelle, an der er gerade noch geglaubt hatte, die leuchtenden Augen gesehen zu haben, aber da war nichts als leerer Raum, der nun im Halbdunkel zu sehen war. Es war direkt hinter Yuriy gewesen, da war er sich sicher. Seine Beine weigerten sich im ersten Moment zu Yuriy aufzuschließen, war da doch noch etwas Anderes mit ihnen hier unten. Oder nicht? Hatte er sich das gerade nur eingebildet? Vielleicht war es einfach nur eine Reflektion des Lichts gewesen. An diesen Gedanken hielt er fest. Als er näher kam, offenbarte sich ihm, was Yuriy hier unten gesucht hatte. Um sie herum standen weitere, große Computer und Rollcontainer, der Boden war gesäumt von Kabelsalat - Vandalen mussten auch hier gewütet haben. Herzstück des Raumes war allerdings ein großer Tank, ähnlich wie die im Raum zuvor. Yuriy trat einen Schritt vor und legte seine Hand auf das gesprungene Glas, welches mit der Zeit schon grün angelaufen war. Kai sah ihn an, versuchte ihn zu lesen, aber es wollte ihm nicht recht gelingen. Sein Gesicht war wie ein leeres Blatt Papier. “Das hier war mein Tank” sagte Yuriy “Ich war so stolz, dass ich - ICH - von all den Kindern auserwählt wurde, sogar noch besser zu werden, als ich ohnehin schon war. Ich habe keinen Mucks gesagt, als sie mich herbugsierten. Nicht, als sie mich auszogen und auch nicht als ich voll verkabelt in den Tank stieg. Dabei ging mir echt die Muffe.” Yuriy bedachte Kai mit einem müden Lächeln. “Wie dumm ich war.” Kai schüttelte den Kopf “Erzähl nicht so einen Müll. Du wusstest es nicht besser. Wir alle wussten es nicht besser.” Yuriys Lächeln wurde ehrlicher und er wandte sich wieder dem Tank zu. “Ich weiß gar nicht, ob man es sich vorstellen kann, wie es ist, wenn man es nicht selbst erlebt hat. Ich war wach, aber irgendwie auch nicht. Ich war überwältigt von den Eindrücken und der Energie, die durch mich fuhr, aber gleichzeitig auch so… unerfüllt. Ich war hungrig nach mehr. Ich habe übrigens alles mitbekommen, was um mich herum geschah, aber irgendwie war ich auch nicht ganz da. So seltsam taub. Ein bisschen wie in dem Lied…” sein Blick suchte Kais. “Wie ein Astronaut im Meer.”(2) Yuriys Worte machten Kai betroffen. "Ich hatte immer so viel Wut im Bauch." Das Knarzen von springendem Glas ließ Kai aufhorchen. "Yuriy?" Setzte er an, als ihm auffiel, dass Yuriy mit seiner Hand immer mehr Druck gegen die Scheibe ausübte, von der er sich abstützte und sich die Risse immer weiter durch das kaputte Glases fraßen. "Hier hatte ich einen Ort gefunden, an dem ich dazugehörte. Einen, in dem ich eine Rolle spielte. Endlich hatte ich meinen Platz." "Yuriy! Stopp!!!" Rief Kai noch und griff nach Yuriys Arm, aber da zerbarst das Glas bereits in tausend Stücke. "Aber ich war immer so wütend…" Yuriys Stimme war tonlos und er rührte sich nicht, während er weitersprach, obwohl das zersplitterte Glas tiefe Furchen durch seine Haut gezogen hatte. "Was stimmt nicht mit dir?!" fuhr Kai ihn an, als er ihn am Handgelenk packte und seine Handfläche nach oben drehte, um die Verletzung zu sehen. "Du blutest!!!" Kai biss die Zähne aufeinander, sah im schwachen Licht seines Handys zu, wie aus den Schnitten dunkles Blut quoll, schaute zu Yuriys ausdruckslosem Gesicht auf und wieder zurück. “Ich war wütend auf meinen Schläger-Vater, auf meine Mutter, die mich sitzen ließ, auf mich selbst, weil ich einfach nicht gereicht habe und auf die Welt, weil sie mich nicht wollte” führte Yuriy in seinem Redeschwall fort. Dabei bemerkte Kai, dass der Klang seiner Stimme merkwürdig unterlegt war. Wie ein Echo, aber dumpfer. Die Härchen auf seinem Arm pulsierten in Wellen und es wurde mit jedem gesprochenen Wort deutlicher zu spüren. “Ich war es Leid, ewig der merkwürdige Außenseiter zu sein. Also wurde ich zu etwas, das sie fürchteten.” Eine Pause folgte, in der Yuriy sein Gewicht verlagerte und seinen Blick gen Kais wandte. Kai stockte der Atem, als er im Schatten Yuriys Gesichts ein paar stechend gelbe Augen sah, so fremd und doch irgendwie vertraut. Wie war das überhaupt möglich?! “Mach ich dir Angst?” Kai fuhr zusammen, als er die fremde Stimme aus dem Munde seines Freundes sprechen hörte, kehlig und tief. Befremdlich, wie der Versuch von Etwas, eine menschliche Stimme zu imitieren. "Lass die Scheiße sein!" Fluchte Kai, legte seine zitternden Hände auf die Wangen seines Freundes, um in etwas zu sich herunterzuziehen und legte seine Stirn an die des Anderen. Die blasse Haut war eiskalt. Er schloss die Augen und schluckte einmal, auch wenn ihm die Spucke fehlte. “Natürlich hab’ ich keine Angst vor dir, du Idiot! Warum sollte ich auch?!” Das entsprach sicherlich nicht ganz der Wahrheit, aber er wusste, dass er jetzt stark sein musste, damit sie es gemeinsam aus diesem Höllenloch heraus schafften. "Wir fixen deine Hand jetzt und dann hauen wir hier ab! Vorher wirst du mich nicht los!" Mit diesen Worten legte Kai eine Hand auf Yuriys Schulter und eilte um ihn herum zum Rucksack, den sein Freund noch immer auf dem Rücken trug. "Wenn du mir hier jetzt gleich umkippst, ich schwöre bei Gott… ich bring dich um!" Zitternd tasteten sich seine Finger durch den Inhalt der Tasche. Er konnte nicht verhindern, dass sich der Kloß in seinem Hals immer weiter ausbreitete und auch das Beben in seiner Stimme vermochte er kaum mehr zu unterdrücken. Eine Flasche Wasser, Batterien, Klopapier, eine Zange und Kleinkram. Kein Erste-Hilfe-Kit - nicht einmal ein Pflaster. Er nahm sich fest vor, all ihre Rucksäcken vernünftig auszustatten, sobald sie wieder zu Hause waren. Aber dafür mussten sie erstmal heil hier raus kommen. Er entschied sich für die Wasserflasche und die Rolle Toilettenpapier. Er wandte sich wieder der Wunde zu. “Leuchte mal!” sagte er und positionierte Yuriys andere Hand, in der sich noch immer die Taschenlampe befand, so dass er sehen konnte, was er tat. Das Wasser, das er behutsam über die Wunden laufen ließ, brachte ein paar glänzende Glasscherben zum Vorschein. Yuriy seufzte leise, als er sie vorsichtig entfernte. “Du bist so ein Idiot. So ein richtiger Vollidiot!” Kai fiel es schwer, ein Schluchzen zu unterdrücken, als er ansetzte, die Wunden zu verbinden. “Heulst du?” “... Meine Nase läuft. Es ist scheiße kalt hier unten, okay?!” “Hmhm, stimmt. Ist echt ganz schön frisch hier, huh?” Yuriys Stimme war kaum noch so fremdartig unterlegt wie zuvor. Das gab ihm Sicherheit und als Yuriy den Reißverschluss seiner Jacke öffnete und Kai mit dieser umschloss, als er ihn in eine Umarmung zog, ließ er es ohne Widerstand geschehen. Er genoss die Wärme, die Yuriys Brustkorb ausstrahlte. “Du blutest noch alles voll…” murmelte er, als er seine Hände auf Yuriys Rücken legte und ihn fest an sich drückte. Dabei vergrub er sein Gesicht in die Halsbeuge seines Freundes und nahm seinen Geruch gierig in sich auf. Er spürte den Herzschlag des Anderen durch die kühle Haut, die sich langsam erwärmte. War jetzt wieder alles normal? Konnten sie nun endlich gehen? "Kai…" Er spürte das Vibrieren Yuriys Stimme an seiner Stirn und sie lösten sich aus ihrer Umarmung. Kais Blick folgte dem Yuriys. Nach wie vor sickerte die rote Suppe langsam aus Yuriys Wunden und suchte sich seinen Weg durch seine Finger, während er die Hand immer noch offen vor sich hielt. Der Schein seiner Lampe folgte den dickflüssigen Tropfen, die bereits klebrige Fäden zogen. Am Fuße des Tanks lag ein Haufen großer, blanker Knochen, sauber und ordentlich, so als hätte sich das dazugehörige Tier dort einfach zum Schlafen hingelegt. Auf dem Raubtierschädel sammelte sich das Blut und lief in Rinnsalen gen Boden. Konnte es sein…? Nein, das war absurd. Er spürte sein Herz heftig gegen seinen Brustkorb hämmern und sein Blut rauschte in seinen Ohren. Yuriy klemmte seine Taschenlampe an ihrem Bügel außen an seiner Hosentasche fest, sodass sich der Schein der Lampe zu Boden richtete, bückte sich und hob den Schädel auf. Die restlichen Knochen klapperten hölzern, als er sie dabei in Bewegung setzte. Mit einer Seelenruhe betrachtete sich Yuriy den Schädel von allen Seiten und drehte ihn dabei im Licht von Kais Handy-Lampe, welches von dem blanken Knochen zurückgeworfen wurde. “Wolborg war auch wütend. Bei Gott und WIE wütend sie war” nahm Yuriy den Faden wieder auf “Ihre Power zu spüren war überwältigend, und auch für mich wurde das irgendwann gefährlich. Ihre Psychospielchen fingen an, mich mürbe zu machen. Ein paar Mal hätte ich beinahe die Kontrolle über sie verloren. Aber ich nehm’s ihr nicht übel. Sie hat sich nicht ausgesucht, wie es am Ende gekommen ist. Genauso wie alle Borg Beasts zu etwas gezwungen wurden, das sie nie wollten. Da waren wir uns wohl alle ziemlich ähnlich” Yuriys Stimme festigte sich und mit jedem gesprochenen Wort klang er wieder mehr nach ihm selbst “Sie wollten in mir ein Monster sehen, das ich gar nicht war. Ironischerweise bin ich genau das dann am Ende geworden. So war das auch mit Wolborg. Oh Mann” Yuriy schnaufte “Ich rede zu viel.” “Hm” Kai zuckte die Achseln und fing an, Yuriys verletze Hand großzügig mit dem Toilettenpapier zu umwickeln. “Ganz ehrlich? Ich ertrage lieber deinen Sentimentalen, als dass du mir ohne Vorwarnung zusammenklappst. Also mach’ nur weiter.” Yuriy grinste, das hörte Kai in seiner Stimme, ohne aufzuschauen. “Ich glaube, das macht einfach der Ort. Da kommt vieles wieder hoch. Hat dein Hirn immer noch Mottenfraß?” Kai sagte nichts und stopfte das lose Ende des provisorischen Verbands irgendwo in den wilden Wust hinein. “Hm. Ich glaub’ ich bin fertig mit meinem ‘Sentimentalen’” sagte Yuriy und betrachtete sich Kais Werk mit hochgezogenen Augenbrauen. Unter den kritischen Blicken seines Freundes fasste Kai den festen Entschluss, seine Kenntnisse mit einem Erste Hilfe Kurs wieder aufzufrischen, sobald sie wieder zu Hause waren. Kai schaute von Yuriys verbundener Hand hin zu seinen hellen Augen. Yuriy schenkte ihm ein warmes Lächeln, bevor er ihm einen Kuss auf die Stirn drückte. “Lass uns gehen.” Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)