Musik 4Y von mikifou (Diese eine Person, die...) ================================================================================ Prolog: Kleines Konzert ----------------------- Die Stadthalle war zum Brechen voll. Jeder Steh- und Sitzplatz war belegt. Das Gedrängel an den Abendkassen war enorm gewesen. Es war als wüssten die Zuschauer etwas, ahnten das dies hier kein einfaches Konzert werden sollte. Der Star der Show saß vor mir. Die Augen geschlossen, trug ich dezentes Make-up auf. Feine Akzente, welche von der dritten Reihe aus schon gar nicht mehr zu sehen wären. „Ich verstehe immer noch nicht, warum du diese kleine Halle gebucht hast. Du hättest ohne Probleme das Stadion füllen können.“ Das gerade noch ebenmäßig glatte Gesicht hielt nicht lange still, ehe sich ein amüsiertes Lächeln in den Mundwinkeln ankündigte und aufblühte. „Schon, aber dann wärst du nicht mit mir auf die Bühne gekommen“, bekam ich als Antwort. Seine Stimme war etwas gedrungen, da er seinen Kopf für mich überstreckt hatte. Ich tupfte das Make-up weiter auf, verblendete es und legte es anschließend beiseite. „Stimmt. Versteh ich auch nicht…“ „Was genau?“ „Wie du mich dazu bekommen hast Ja zu sagen und dass ich wirklich mit auf die Bühne gehe. Du bist der Bühnenstar, nicht ich.“ Ich verzog missmutig das Gesicht zu einer Schnute und wischte mit meinem Finger über seine Oberlippe, wo etwas Make-up auf seine dünnen Lippen gekommen war. Er öffnete die Augen und ich sah wie seine Arme für einen Moment zuckten, sich dann aber nicht weiter rührten. „Das glaube ich nicht. Deine Bühnenpräsenz ist ungebrochen.“ Ich brummte nur missmutig. Wieder zuckten seine Arme. Es war deutlich wie sehr es ihm in den Fingern juckte, mich zu umarmen und seinen Kopf an meinen Bauch zu drücken. Jedoch wäre dann meine Arbeit mit dem Make-up ruiniert, weshalb er sich zurückhielt. Hinzu kommt, dass er dieses Konzert klein halten wollte. Warum erschloss sich mir nicht. Aber daraus ergab sich, dass er keine eigene Maskenbildnerin hatte und wir zwischen dem allgemeinem Gewerkel der Tontechniker und Bühnenbauer saßen. Der Veranstalter hatte uns einen Raum zugewiesen, welchen wir als Akteure nutzen könnten, aber wie immer war dieser Star hier eigensinnig. Er mochte das Gewusel der Arbeiter hinter den Bühnen. Den Geruch von Staub und Kabeln, von muffiger Luft und Zigarettenrauch. „Diesen Auftritt. Du hast es versprochen“, erinnerte er mich. „Jaaa, schon ok. Ich trete ja mit dir auf“, gab ich geschlagen zu und warf meine Arme in die Luft. „Ich weiß immer noch nicht, warum das Ganze. Verrätst du mir jetzt endlich den Grund?“ Ich packte das Make-up zurück in meine kleine Tasche, währen ich das Grinsen auf seinem Gesicht bereits spüren konnte. „Auf der Bühne ja?“, sagte er schelmisch. „Tim…“, warnte ich ihn. „Keine Sorge, es ist nichts, was du nicht kennst.“ Sagte er. Ich hätte es besser wissen sollen. Immerhin kannte ich ihn lange genug, um seine verdrehten Gedanken lesen zu können. Vielleicht war es alltäglich geworden oder ich hatte mich wirklich von ihm einlullen lassen. Vielleicht hatte ich es schlicht nicht sehen wollen. Schließlich vertraute ich ihm, Tim, diesem Idioten. Obwohl … der Idiot war wohl ich. Kapitel 1: Ein Schritt nach vorne --------------------------------- Kapitel 1: Nach Hause zu kommen und zu sagen „Bin zuhause“, die Tasche und Schuhe in eine Ecke zu feuern und sich auf die Couch zu werfen, klang für mich immer absurd. Was war so toll daran „nach Hause“ zu kommen? Wann sollte mich das Gefühl des Heimgekehrt seins erfassen? Wenn ich durch die Tür schritt oder wenn ich mich auf die Couch warf? Als Teenager hatte ich darüber nachgedacht, ehe ich dieses unerklärliche Phänomen einfach fallen ließ. „Die Türen in den Wohnheimen werden alle durch Schlüsselkarten geöffnet. Früher gab es PIN-Codes an der Tür, aber das wurde vor einigen Jahren umgestellt. Stell also sicher, dass du deine Karte immer bei dir hast. Ich selbst habe eine Ersatzkarte bei einem Freund hinterlegt. Das Sek hat eine Universalkarte, aber wenn die Spitz kriegen, dass du deine Verloren hast, wird’s teuer. Sie tauschen das gesamte Schloss aus. Das hatten sie bei einer aus dem dritten Semester darstellende Kunst gemacht. Glaube sie musste fünfhundert für alles zusammen blechen.“ Ich trat hinter meinem geschwätzigen Kommilitonen ein, welcher mir vor gut einer Stunde vom Sekretariat zugewiesen worden war. Was er alles leistete und wo er alles Mitglied war, hatte ich bereits vergessen. Eine Stunde lang kaute er mir bereits ein Ohr ab. Zuerst gingen wir ewig lang über das Unigelände und hatten dabei nur die Pflichtsäle abgeklappert. Die fachspezifischen Räume waren weiter verstreut. Es gab sogar Proberäume in der Stadt. Als es endlich in Richtung Wohnheime ging, hätten meine Füße vor Freude aufschreien können. Sah man auf die Karte mit allen Unigebäuden und Nebengebäuden, befanden sich die Wohnheime rechts vom zentral gelegenen Hauptgebäude. In zehn bis fünfzehn Minuten zu Fuß war man bei den wichtigsten Vorlesungen. Man musste nur einen kleinen Grünstreifen passieren, der das Hauptgebäude rechtsseitig wie eine Mondsichel umgab. An der dicksten Stelle dieser Sichel und damit noch ziemlich zentral gelegen, befanden sich besagte Wohnheime. „Die Zimmer sind fast gleich aufgebaut“, berichtete mein Reiseführer gelangweilt. „Wie du siehst hast du hier Wohnraum und Küche in einem. Es wirkt zwar stylisch, weil der Raum rundgehalten wurde, aber es ist total unpraktisch, um Möbel hinzustellen. Ne Abzugshaube gibt’s auch nicht“, erzählte er weiter und betrat die noch leere, aber offene Küche. Sie bestand aus einer freistehenden Arbeitszeile zum Wohnraum hin und einer Kochzeile mit Kühlschrank dahinter. „Wenn du also kochst, mach’s Fenster auf, sonst wird’s hier schnell blau drin und die Rauchmelder sind empfindlich. Was dir an Kochgeschirr fehlt musst du selbst kaufen.“ Der Wohnbereich vor der Küchenzeile wirkte wie ein schwarzes Loch. Der Raum war rund gehalten und um diesem noch mehr Ausdruck zu verleihen, war die Mitte des Raumes in den Boden eingelassen worden. Eine kleine Stufe führte zu einer tiefergesetzten Couch mit Couchtisch und einem Sitzsack. Der Fernseher war gegenüber an der Wand postiert worden. Die vorhandenen Möbel standen unglücklich an der leicht runden Wand. Es sah nach nichts aus, ungewollt und halbkreativ. „Die Türen links und rechts führen zu den Schlafzimmern. Jedes Schlafzimmer hat ein internes Bad. Nichts Großes. Klo, Dusche, Waschbecken. Wenn du der Badetyp bist, musst du wohl ins Öffentliche gehen. Daran sind wir vorhin vorbeigegangen. Ein Gebäude hinter dem Waschsalon.“ Mein Kommilitone, sein Name war Niklas, stimmt, Niklas Irgendwas… Niklas ging in das Zimmer zu meiner Linken. Ich folgte ihm durch die offene Tür. Das Zimmer war groß für einen Alleine. Bedachte man, dass man hier schlafen und studieren musste, war es fast schon wieder klein, je nach Studienfach. „Sehen beide gleich aus. Bis auf die Möbel vielleicht“, kommentierte Niklas. „Mikael war dein Name?“ „Ja, aber nenn mich ruhig wie du magst“, war meine prompte Antwort. „Okay… ähm… Such dir ein Zimmer aus. Du wirst dieses Semester wohl alleine wohnen.“ „Okay.“ „Das ist ziemlich cool, muss ich gestehen. Dass du alleine wohnst. Ich teile mir mein Wohnzimmer mit noch drei anderen. Es ist cool, aber manchmal ist es echt zu eng.“ „Glaub ich gerne. Ist eure WG anders aufgeteilt?“, fragte ich rein aus Interesse. „Total anders. Keine Ahnung, ob du irgendwelche Stippen gezogen hast oder einfach nur Glück hattest, aber das hier ist eine der neueren WG’s. Hier“, er zückte den Geländeplan und deutete auf den Wohnheimbereich. Das meiste waren natürlich WG’s. Es gab nur sehr, sehr wenige Einzelwohnungen. „Hier sind wir. Das wurde alles erst vor zwei, drei Jahren gebaut. Der Entwurf stammt von einem ehemaligen Architekturstudenten. Vielleicht darfst du auch deswegen hier wohnen“, meinte Niklas beiläufig und zuckte mit den Schultern. „Hier hinten sind die anderen WG’s. Die ersten waren wie Plattenbauten gehalten und können aus sechs bis acht Studenten bestehen. Die danach, findest du hier. Man ging dazu über es kreativer zu gestalten, darum bekam man mehr Platz im Einzelzimmer, aber zugleich passten auch weniger Studenten in eine WG. Ich wohne hier. Da ist Platz für vier bis fünf Studenten.“ Wir unterhielten uns noch eine Weile. Niklas wusste erstaunlich viel Allgemeines über die Uni und die Studenten. Seiner Aussage nach, lag das nur an seinem Nebenjob in der Verwaltung der Uni. Er studiere zwar Bühnentechnik und darstellendes Spiel, aber war deutlich begabter im Organisieren von Bürotätigkeiten. Nach zehn weiteren Minuten war ich froh, dass Niklas endlich ging. Er hatte sich ohnegleichen auf die Führung vorbereitet. Ich besaß endlos viele Flyer mit Markierungen und Notizzetteln. Allerdings war ich mir sicher, dass ich, sobald Niklas weg war, alles vergessen würde, was er mir gerade noch in den Schädel geprügelt hatte. Ich bedankte mich mehrfach für seine Zeit und die vielen Infos und konnte es kaum erwarten, dass er die Tür hinter sich schloss. Interessiert sah ich mich um, bis das ersehnte Klicken des Schlosses zu hören war. Augenblicklich hielt ich mit allem inne und lauschte in die Stille hinein. Nichts. Lautlos, beinahe ehrfürchtig, ging ich auf die Mitte des Raumes zu, nahm die einzelne Stufe und ließ meinen Rucksack auf den Zweisitzer fallen. Es war unvollkommen, chaotisch, geschmacklos und perfekt! Ich setzte mich auf den Dreisitzer und legte mich der Länge nach hin. Unweigerlich musste ich grinsen. Leise lachte ich für mich und streckte mich ausgiebig. So fühlte sich also „nach Hause“ kommen an. Gar nicht mal so schlecht. Zu faul aufzustehen angelte ich mir meine Tasche von der kleineren Couch und holte die vielen Flyer heraus. Das Universitätslogo wirke verworren, hatte aber Stil. Vor eineinhalb Jahren war ich auf diese Uni aufmerksam geworden. Damals war klar, dass ich meinen Bachelor an der Uni beendete, welche meine Eltern ausgesucht hatten. Aber danach konnte ich entscheiden. Ich musste nicht auf derselben Uni meinen Master machen und bei Gott, das wollte ich auch nicht. Eine Uni weiter weg, im Ausland wäre mir lieb gewesen, aber von den fünf, welche in der engeren Wahl gewesen waren, gewann diese hier. Die „freie Universität der Künste und ideellen Zukunftsgestaltung“ war quasi die „diverse Uni“ unter den Unis. Sie war eigentümlich, bunt und relativ günstig. Zwar lief viel über Stipendien, doch hauptsächlich die Studenten im Bereich Kunst und Musik mussten sich um Sponsoren bemühen. Es war hart verdientes Brot. Ich für meinen Teil zahlte fast zweihundert Glocken weniger als an herkömmlichen Unis. Noch erschloss sich mir nicht, was Architektur mit den Künsten der Zukunft wie Musik oder Kunst, Sport oder Theater zu tun hatte, aber ein wenig begann ich den Zusammenhang zu erahnen. Wenngleich die Zusammengehörigkeit der Fächer Sinn ergab, war ich mir nun unsicher, die richtig Wahl getroffen zu haben. Wie dem auch sei. Ich hatte noch ganze drei Tage, um mich hier einzurichten. Die nutze ich sogleich um das Chaos von geraden Möbeln zu runden Wänden zu lösen. Statt langen Sideboards stellte ich hohe, schmale Regale hin. Nicht breiter als dreißig Zentimeter, wodurch der Raum in seiner Höhe betont wurde. Immergrüne Pflanzen lockerten das steife Konzept auf. Kräuter kamen in die Küche, eine modische, tiefhängende Lampe ersetzte die kahle Glühbirne in der Raummitte. Alles was ich nicht brauchte, hortete ich zunächst im freien Zimmer oder ließ es von einem der vielen Hausmeister netterweise abholen. Das Bad war ok wie es war. Doch mein neues Schlafzimmer stellte ich etwas um. Den Arbeitstisch ans Fenster, das Bett gegenüber der Tür, den Kleiderschrank auf die gegenüberliegende Seite, seines vorherigen Standortes. So hatte ich nicht mehr das Gefühl erschlagen zu werden, wenn ich das Zimmer betrat. Zufrieden mit mir begann ich mit dem vierten Tag mein Masterstudium zum Architekten. Student zu sein empfand ich schon immer als ferner der Realität zum Leben. Man lernte einfach nur, teilte sich den Tag selbstständig ein und tat grundlegend, was man wollte, wann man wollte. Das bisschen an Recherche für die Hausarbeiten, die Stunden am PC oder der Bibliothek, ebenso die scheinbar nicht enden wollenden Seminare waren reinste Hirnerholung. Während meines Bachelors hatte ich mitbekommen, dass meine Einstellung zu den Dingen eher ein Sonderfall war. Die meisten Studenten klagten und stöhnten unter der Last, die ihnen von den Dozenten, Doktoren und dem Staat auferlegt wurden. „Ben sprich! Wieso stört dich das nicht?“ Diese Frage stammt von einem guten Freund aus meinem Bachelorstudiengang. Wir belegten fast alles gemeinsam und entwickelten eine ziemlich gute und entspannte Freundschaft. Nachdem ich mich vorgestellt hatte und meinte, er könne mich nennen, wie er wollte, sprach er mich nur noch mit Ben an. Das war äußerst amüsant. Die meisten blieben bei Mikael oder nannten mich beim Nachnamen. Dass er mich wirklich neu benennen würde, machte ihn nur sympathischer. „Ich dachte, ein Hannes interessiert sich nicht für sowas.“ „Du hast grundsätzlich recht. Aber du bist einfach zu seltsam… Also, was steckt dahinter?“ Ich weiß bis heute nicht, ob meine Entscheidung von damals die richtige war oder nicht. Aber bis dato sind wir noch Freunde geblieben. Demnach war alles in Ordnung, oder? Für meinen Master und die neue Uni war ich schlauer. Ich konnte auch jammern, wenn es angebracht war. In Bezug auf die Rechtsseminare würde ich das vielleicht sogar tun. Die Rechtsseminare waren übergreifend für alle Studienfächer Pflicht. Dabei zählte nur, dass man zwei Seminare für die entsprechende Punktzahl abschloss. Das wurde für die Gesamtdauer der Studienzeit angerechnet. Wenn man hier also für vier Jahre und länger eingeschrieben war, war das nichts. Für mich, der bisher nur in Aussicht hatte zwei Jahre zu bleiben, bedeutete es unnötige Zusatzarbeit. Dabei könnte ich dieses Seminar selbst halten, bei meiner Erfahrung! Eine Qual wirklich. Der Saal fasste bestimmt an die hundertfünfzig bis hundertachtzig Menschen. Die Sitzreihen waren komplett gefüllt, einige standen sogar an den oberen Rängen. Der Raum war ähnlich einem Amphitheater gebaut worden. Der Dozent stand unten und hielt seine Reden, während die Studenten in einem Halbkreis um ihn herumsaßen. Die Reihen wurden länger je höher man saß. Eigentlich ein kleines Meisterwerk und mich interessierte brennend, wie es unter den Stühlen aussah. Doch wohl nicht alles hohler Beton oder? Gemurmel riss mich aus meiner Träumerei über die Bauleistung des Raumes. Einer der Gründe war, dass der Dozent gemütlich mit seiner Tasche unter dem Arm die Stufen hinab ging. Der andere Grund war, dass neben mir die Leute nach und nach entnervt aufstanden. Ich hatte gesagt, dass alle Sitze belegt waren. Nun, einer war noch frei gewesen. Neben mir. Der Sitz in der Mitte des Raumes und aller Reihen. So gesehen, das perfekte Zentrum des Raumes. „‘Tschuldige“, raunte der Student, der sich endlich bis zu mir vorgedrängelt hatte. Seine Stimme war angenehm und etwas gehetzt. War wohl gerannt, hm? Sein Glück, dass kein anderer sich diesen wertvollen Platz vor ihm ergattert hatte. Flüchtig sah ich mich um. Einige der Stehenden verzogen missmutig das Gesicht, andere schauten gelangweilt vor sich her. Scheinbar hätte der ein oder andere auch gerne gesessen, hatte sich nur nicht getraut alle anderen aufzuscheuchen. „Gerade noch so geschafft, was?“, merkte ich an und sah ihn schulterzuckend an. „Da sagst du was. Letztes Jahr stand ich auch da oben. Aber alle die stehen, werden rausgeschickt“, sagte er und setzte sich. „Oh.“ „Liegt am Dozenten“, erklärte er weiter, während er seine Tasche auspackte. Doch das war nicht, was ich gemeint hatte. Jetzt, wo er direkt neben mir saß, erkannte ich ihn wieder. „Mh, ja, ist ja auch ok, aber das meinte ich nicht“, gab ich brabbelnd von mir. „Du bist der Musiker. Danke nochmal für die Zigarette.“ Fragend sah er endlich auf und es schien auch bei ihm klick zu machen. „Der Schnorrer.“ Missmutig verzog ich mein Gesicht. „Du hast mir eine angeboten, schon vergessen?“ „Ansichtssache. Du musst auch noch Recht belegen?“ Ich lehnte mich zurück und sah nach vorne. Wie angekündigt, schickte der Dozent alle Stehenden hinaus, was für kurzzeitiges Gemurmel sorgte. „Da ich erst mit studieren anfange, dachte ich, ich bring‘s gleich hinter mich.“ „Weise Wahl. Viele schieben es auf, weil es ein flexibles Fach ist und stehen dann am Ende unter Stress.“ „So wie du?“, fragte ich keck und hob eine Augenbraue. Er seufzte nur und stützte sein Kinn ab. „Leider ja. Obwohl ich sagen muss, dass ich meinen Werdegang nicht bereue.“ Ich beäugte ihn noch einen Moment, ehe ich mich dem Dozenten und seiner drögen Begrüßung widmete. Das Rechtsseminar fand jeweils Dienstags und Freitags statt. Nachdem die organisatorischen und notentechnischen Dinge erledigt worden waren, wurde es richtig langweilig. Wir begannen mit Definitionen und ersten Gesetzen. Ich stützte meinen Kopf ab und hätte einschlafen können. Ich hörte zwar zu, schrieb aber nichts auf. Gelangweilt sah ich mich um. Alle wirkten so eifrig. Vielleicht täuschte das auch. Mein Banknachbar ebenso. Seine Hand stand nicht einen Moment still. Erst als er umblätterte, sah ich, dass er nicht die edlen Worte des Dozenten aufschrieb, sondern Noten. Schmunzelnd sah ich weg. Musiker… Während ich mich in den letzten Tagen eingerichtet hatte, hatte ich mir die Zeit genommen und via Spaziergängen das Gelände erkundet. Meine Seminarräume fand ich leicht, die Wege zur Bibliothek und Mensa waren einfach und die Grünanlagen angenehm zum Erholen. Nach dem Gespräch mit Niklas zu den Lebensräumen der Studenten, war ich neugierig geworden, wie das alles in echt aussah. Gemütlich ging ich die alten Blockgebäude ab, kam zu den neusten gebauten WG’s und schließlich zu jenen in welchem irgendwo auch Niklas wohnen würde. Von außen sahen sie aus wie kleine Einfamilienhäuser im Doppelbungalowstil. Es gab keine Vorgärten, aber Terrassen auf der Rückseite. Zwischen den einzelnen Häusern waren vielleicht zehn Meter Abstand, der mit einem Weg und leicht vertrocknetem Rasen gefüllt worden war. Die Wege zogen sich durch die gesamte Anlage. Wirkliche Privatsphäre gab es dadurch nicht, aber immerhin kam man über diese Schleichwege schnell von A nach B. Ich ging auf der „Hauptstraße“ und passierte ein weiteres Haus, als etwas vor mir auf den Fußweg krachte. Das ehemals fliegende Objekt war ein nun demolierter MP3-Player. Eher ein älteres Model. Schade drum. Ich sah in die Richtung aus der das Flugobjekt gekommen war. Die Haustür war weit geöffnet und ein Student kam heraus gestürmt. „Genau! Hau ab! Stürm hinaus, wie immer! Da organisiert man für dich und“, die keifende Frauenstimme wurde von dem Studenten arg unterbrochen. „Ich habe dich nicht darum gebeten! Du bist doch die, die nie zuhört und einfach über meinen Kopf hinweg entscheidet!“ Es kam ein anderes Objekt geflogen. Mit gerader Flugbahn hielt es auf den Kopf des Studenten zu, der es mit einer Hand fing, ehe es seinen Kopf hätte treffen können. Diesmal war es ein Apfel. Unschuldig hob ich eine Augenbraue, da wurde bereits die Haustür ins Schloss geknallt. Der Student vor mir seufzte laut und lange. Dann kniete er sich hin und barg den MP3-Player. „Shit… der is‘ wohl hin.“ Ich hatte mich noch nicht entschieden, ob ich, dass alles ignorierend, weitergehen sollte oder einen Kommentar zum Besten geben würde. Beides wäre typisch Ich. Dieses Mal wurde mir die Entscheidung abgenommen, weil der Student aufstand und mich perplex ansah. Wie Rehe im Scheinwerferlicht starrten wir uns einige Sekunden lang an, ehe wir zeitgleich zu sprechen begannen. „Nice catch.“ „Sorry für den Krach.“ „…“ Ich zuckte mit den Schultern. „WG-Leben. Bleibt halt nicht aus. Geht der Player noch?“ „Weiß nicht“, antwortete er und steckte das kleine Gerät in seine Hosentasche. Mit seiner freien Hand zauberte er eine Zigarettenschachtel hervor und steckte sich eine von den Glimmstängeln in den Mund. Ich stand immer noch untätig vor ihm und starrte wohl etwas zu offensichtlich. „Willst du?“, fragte er mit Filter im Mund. Ich starrte auf die mir dargebotene Schachtel und überlegte einige quälende Sekunden. Schlussendlich griff ich doch zu. Es war Jahre her, dass ich zuletzt geraucht hatte. Der zerbrechliche Zylinder fühlte sich vertraut zwischen meinen Fingern an. Ich nahm das dargebotene Feuerzeug, steckte den Filter in den Mund und zündete die Zigarette. Das Feuerzeug zurückreichend, zog ich am Filter und ließ mir Zeit mit dem Ausatmen. Erst dann bemerkte ich die mich studierenden Augen. „Was?“ „Ich hatte irgendwie erwartet, dass du husten würdest“, gestand der Student schulterzuckend. Ich wollte zurücksticheln, doch mein Gegenüber wand sich um und ging die Straße entlang. Unhöflicher Geselle, dachte ich und folgte ihm trotzdem. Wir erreichten einen Kreisel. Einer von vielen, wie ich festgestellt hatte. Von oben betrachtet, waren diese Wohnblöcke in Quadraten angeordnet. Architektonisch so lala. Dieser Kreisel hatte eine kleine Grünfläche in seiner Mitte und abseits vom Rand standen zwei Bänke. Ein ziemlich ungewöhnlicher Ort für einen Bank, fand ich. Aber was an diesem Unigelände war nicht irgendwie „ungewöhnlich“? Der Student besetzte eine der Bänke und lehnte sich zurück. Er war etwas größer als ich, mit dunkelbraunen, leicht lockigen Haaren und ebenso dunklen Augen. Sein Kleidungsstil war legere. Lange, lockere Hose mit großen Taschen an den Seiten, ein Oversizedshirt mit einer Kapuzenjacke drüber. Er holte den Apfel aus seiner Jackentasche und biss hinein. Er hatte eine ungeschriebene Eleganz an sich, während mich zugleich das Gefühl beschlich, dass er nicht auf den Mund gefallen war. Sein Blick vorhin war ebenso durchscheinend wie stechend gewesen. Davon abgesehen: Schmeckte Apfel und Zigarette überhaupt zusammen? „Wo willst du hin?“, fragte er schließlich, da ich mich noch immer nicht vom Fleck bewegt hatte. „Verlaufen?“ Es schwang etwas amüsiertes in seiner Stimme mit, was mich sofort aufsehen ließ. Tatsächlich leuchteten die braunen Irden mit etwas Schalk. So was konnte ich ja leiden… „Nein, ich weiß, wo ich hin muss. Ich überlege nur, ob ich noch einen Umweg gehe“, meinte ich beiläufig und zog an meiner Zigarette. Etwas ungewohnt war es doch nach all der Zeit. Das Nikotin ließ meinen Kopf schwammig werden. „Bist du neu?“ „Hmhm“, gestand ich und schaffte es mich von dem Punkt an welchem ich mich festgeguckt hatte, loszureißen. „Welche Richtung?“ „Architektur. Und du?“ „Musik.“ Ungewollt zog ich eine Augenbraue hoch und maß ihn mit einem fragenden Blick. „Wirklich?“ „Ja. Probleme damit?“ Ich starrte ihn noch eine Sekunde länger an, ehe ich meinen Kopf schüttelte und noch einen Zug nahm. Musiker… natürlich musste es ein Musiker sein. „Hatte es nur nicht erwartet. Etwas, dass ich kennen sollte?“ „Wir haben zwar Praktika, aber veröffentlichen dürfen wir erst im letzten Jahr. Selbst ein Demo ans Radio zu schicken ist verboten.“ Interessant. „Nachvollziehbar“, antwortete ich schlicht. „Findest du? Viele finden es ungerecht“, argumentierte er. Ich sah ihn noch einen Zug nehmend an und er tat selbiges. Das war das erste Mal, dass ich mich an diesem Braun festguckte. Die Spannung die sich kurzzeitig aufbaute, schien mich aufzuladen. „Sicherlich gibt es Talente, welche darauf warten entdeckt zu werden. Aber mit diesem Studium habt ihr einen sicheren Weg, um es ins harte Musikbusiness zu schaffen. Ich finde, die Zeit hier solltet ihr besser nutzen, als auf Teufel komm raus etwas nach außen zu tragen.“ Ich wandte meinen Blick ab und überlegte, ob ich vielleicht direkt nach Hause gehen sollte. Ich spürte seinen Blick noch auf mir und ehrlich gesagt, reichte mir diese Interaktion mit Menschen für diesen Tag. Seine Art war auch komisch. Wie ein Kratzen unter dem Nagel, machte es mich nervös. „Wie heißt du?“, fragte er mich schließlich. „Nenn mich wie du magst“, kam meine Standardantwort. Fragend und abschätzend sah er mich an. „Ist dein Name so peinlich?“ Ich schmunzelte flüchtig. „Nein“, sagte ich direkt und sah ins Braun. „Wie heiß du?“ „Timothy.“ „Dann, Timothy, Danke noch mal für die hier“, meinte ich und hob die restliche Zigarette hoch, ehe ich mich abwendete und zu meinen eigenen vier Wänden ging. Neugierig sah ich zurück und konnte die Noten diesmal genauer sehen. Augenblicklich verband mein Hirn die Töne miteinander und mein Finger tippte den Takt automatisch mit. Ich verlor mich etwas in der Melodie. Sie war anders und etwas erfrischend. Bevor ich am Ende der Seite angekommen war, bemerkte ich eine Hand auf meinem Heft, die ungefragt hineinschrieb. >Kannst du Noten lesen? < Ich nickte stumm und verfluchte mich innerlich. Aber ruhig Blut, ruhig Blut. >Als Architekt? < Ohh, wie ich den Hohn in seiner Stimme heraushörte. Das wissende Grinsen brauchte ich dazu nicht mal sehen. Ich griff nach meinem Stift und antwortete: >Na und? < Timothy tippe stumm mit dem Stift auf das Blatt. Sein Blick reichte aus, die Frage klar zu erkennen. Also fügte ich hinzu: >Hatte als Kind Unterricht. < Das schien ihm zu reichen. Seine schlanken Finger bewegten sich wieder. Seine Hände waren nicht nur groß, sondern auch schlank und lang. Wahrscheinlich spielte er Gitarre oder andere Saiteninstrumente. Ich konnte zwar auch etwas Gitarre spielen, aber mit meinen kurzen Fingern bekam ich bei langen Stücken immer schnell einen Krampf. >Wie findest du’s? < Ich sah von der Frage zu ihm, dann zu seinen Noten, auf die er stumm deutete. Abermals las ich die Noten und tippte den Takt mit. >Intro? < >Ja. < >Ist gut. < Timothy schnaufte leise neben mir, begleitet von einem amüsierten Grinsen. Es wirkte mehr als selbstironisch. >Wofür ist das? < >Weiß nicht… < >Hat es einen Namen? < >Bisher noch nicht. < Überlegend tippte ich mit dem Stift auf mein Heft, dass schon ziemlich vollgekritzelt war. Namen für Lieder kamen spontan. Manchmal fand sich schnell einer, manchmal wrang man seinen Kopf aus und es passierte nichts. Es war auch nicht meine Aufgabe mir einen Namen auszudenken, aber irgendwas an der Melodie fesselte mich, sodass ich alle Vorsicht beiseite schon. Schmunzelnd neigte ich meinen Kopf und schrieb einen Namenvorschlag auf. >Omphalos? < Falls Timothy überrascht war, zeigte er es nicht. Er neigte fragend seinen Kopf und sah mich über seinen Handrücken hinweg Stirnrunzelnd an. „Warum?“ stand in seinem Gesicht. Stumm blickte ich nach oben, dann auf Timothy, er überlegte. Ich sah es in seinem Braun, dass er mich verstanden hatte. Trotzdem schrieb er ein Fragezeichen in mein Heft. Genervt verdrehte ich die Augen. Timothys Grinsen dazu machte es nicht besser. Kapitel 2: Vielleicht doch Karma -------------------------------- Kapitel 2: Abgesehen von der Rechtsvorlesung, war der Start meiner anderen Module deutlich unterhaltsamer gewesen. Zumal ich dort von anderen Architekturstudenten umgeben war und keine sadistischen Musiker um mich hatte. Zwischen den Vorlesungen wanderte ich auf dem Gelände umher, ging in die Mensa oder saß in der angenehmen Aprilsonne. Ich musste die Tage ausnutzen, an denen schönes Wetter war. Die Wettervorhersage kündigte bereits erste Regengebiete an und ich hasste Regen. Gerade suchte ich nach einer der wenigen und oft besetzten Bänke. Vielleicht gewöhnte ich mich daran im Gras zu sitzen, aber das war noch zu kalt. Oder ich brachte mir eine Decke mit. Doch wusste ich jetzt schon, dass mir das Tragen einer Decke zu lästig werden würde. Also… entweder eine Bank oder weitergehen. Die Bänke vor mir, waren alle belegt. Zu meiner Rechten saßen zwei Typen in ihre Handys vertieft, zu meiner Linken, stand eine kleine Gruppe und unterhielt sich lautstark. Ich sah mich bereits nach einer anderen Bank um, als ich im Vorbeigehen angerempelt wurde. Einer aus der lautstarken Gruppe hatte sich gelöst und demonstrierte Gott wer weiß was. Mein Kaffee schwabbte über, da ich auf einen Plastikdeckel verzichtet hatte. Normalerweise brauchte man den auch nicht, wenn man nicht gerade Auto fuhr. Aber heute … Bedröppelt hielt ich meine Hand, welche in Kaffee getränkt war von mir weg und blickte den quirligen Übeltäter an. Er war etwa in meinem Alter, schlanke Statur, gestyltes kurzes, blondes Haar und sonst auch sehr individuell mit seiner Kleidung. „Ah, sorry man, aber geh nicht einfach hinter mir vorbei“, sprach er und versuchte untröstlich auszusehen. „Dann häng dir ein Warnschild um oder trag ein Glöckchen. Deine Gedanken kann keiner lesen.“ Ich schüttelte meine Hand ab und bedauerte keine Servietten oder Taschentücher dabei zu haben. Aber ablecken vor all den Leuten ging auch schlecht, also schütteln, als hätte ich was besonders Ekeliges angefasst. Mein Gegenüber starrte mich etwas sprachlos an, eher er in seine Tasche griff und mir ein Taschentuch reichte. „Danke.“ Ich nahm den Becherrand zwischen die Zähne, viel war ja eh nicht mehr drin, und hatte beide Hände frei, um meine feuchte Hand zu trocken. Dabei achtete ich weder auf den Chaoten, noch auf die, die bei ihm saßen und ging meiner Wege. Schnell weg, ehe noch mehr passierte. Ich kam nur zwei Schritte weit, als der Chaot sprach: „Der ist genauso spitzzüngig wie du, Tim.“ Ich kannte nur einen Timothy bisher. Es wäre ein Zufall ihn heute schon wieder zu begegnen, aber da stand ich nun, Becher im Mund und starrte halb über meine Schulter. Hoch amüsiertes Braun fixierte mich flüchtig. Wirklich jetzt? „Oh, du hast ja keine Ahnung.“ „Chris, du solltest besser auf deine Umgebung achten“, meinte ein Mädchen neben Timothy. Chris, der Chaot, kratze sich nur am Kopf. „Ja, ja, das sagt ihr mir dauernd. Auch der Tanzlehrer letztens. Warte, was meinst du damit?“ „Dann wird’s wohl stimmen“, meinte das Mädel. Die restliche Frage war an Timothy gerichtet gewesen, der sich bequemer hinsetzte und weniger breit grinste. „Wir sind uns schon begegnet“, erklärte Timothy schlicht. Ich steckte das Taschentuch in meine Hosentasche und griff nach dem Becher in meinen Mund. „Seine Eminenz wandelt unter dem gemeinen Volk? Schade, dass ich meine Einwegkamera nicht dabei habe. Das würde ich sicher teuer verkaufen können.“ „Sei nicht so förmlich. Ich habe dir das Du bereits angeboten, während du mir nicht mal deinen Namen verrätst.“ „Die Antwort darauf hast du doch schon bekommen.“ „Wie der Herr wünscht. Leute, das ist Omphalos. Er ist Architekturstudent, frisch auf der Uni.“ „Und woher kennt ihr euch?“, warf das Mädchen neben ihm ein. „Wir sitzen in Recht zusammen.“ „Das war Zufall“, ergänzte ich. „Ein angenehmer“, insistierte Timothy. „Mitnichten“, konterte ich. Timothys Lippen kräuselten sich zu einem amüsierten Lächeln, während seine Augen ein Stück weit die Wärme verloren. Ich trank den letzten Schluck meines Kaffees und reichte den leeren Becher an Timothy. „Halt mal.“ Ich zückte mein Handy und öffnete die Kamera. Auf Weitwinkel gestellt, passten alle Figuren auf das Foto, welche sich gerade um Timothy scharrten. „Perfekt. Na dann, viel Spaß euch noch.“ Ich steckte mein Handy weg und ging meines Weges. „Bis morgen in der Vorlesung“, rief Timothy mir hinterher. Ich winkte nur, sah mich aber nicht um. „Ich werde mich in die hinterste Ecke quetschen“, war meine Antwort. Timothy hatte etwas an sich, dass mich faszinierte und zugleich auf die Palme brachte. Manchmal sprach er normal und fachlich. Dann änderte sich sein Blick, seine Haltung und sein Verhalten und er stürzte sich mit Worten auf einen, die wie Komplimente klangen, es aber nicht waren. Seine Stimme konnte süß sein, während seine Worte aus Messern bestanden oder anders rum. Wenn ich ihn mit einem Wort beschreiben müsste, wäre das wohl manipulativ. Ich gebe zu, zunächst hatte ich darüber nachgedacht mich vielleicht mit ihm anzufreunden. Die Tatsache, dass er Musiker war, bereitete mir zwar leichte Bauchschmerzen, aber hey, die Zeiten ändern sich. Vielleicht hätte ich ja Glück? Aber das war nach der zweiten Rechtsvorlesung letzte Woche passé gewesen. Ich seufzte für mich und bemerkte erst viel später, dass ich meinen leeren Becher bei Timothy gelassen hatte. Ach, was soll’s. Die Rechtsvorlesung war immer voll. Zunächst nahm ich an, dass ich um die Sitzplätze kämpfen musste, doch es schien, dass so ziemlicher jeder auf seinen Platz sitzen blieb. Es gab nur minimale Wechsel innerhalb einiger Reihen. Damit blieb mir nur mein schon reservierter Platz von der ersten Vorlesung. Neben den freien Platz direkt neben jenen in der Mitte der Mitte. Auch wenn ich mich gerne woanders hingesetzt hätte, so saßen Timothy und ich von nun an in jeder verdammten Vorlesung zusammen. Es hatte witzige Aspekte. Wie etwa, dass mich der Vortrag des Dozenten so gar nicht interessierte und Timothy es vorzog Noten zu schreiben. Ich las hin und wieder was er schrieb. Wenn es um Musik ging, war er erstaunlich konzentriert und sachlich. Seine Konzentration war beeindruckend und ließ ihn etwas attraktiver werden. Dem entgegen stellten sich alle Momente in denen Timothy keine Musik im Kopf hatte. Er war charmant, elegant, gewandt und konnte mit Wörtern und Gesten um sich werfen, sodass man tat was er wollte, ehe man begriff, was das eigentlich war. Ich fand heraus, dass er schon zwei Jahre an der Uni war und eine kleine Fangemeinde hatte. Musiker eben, dachte ich bei mir. Timothy war sehr scharfsinnig. Es würde mich nicht überraschen, wenn er zu all seiner Smartness noch einen hohen IQ hätte. Auf ihn als einen der ersten Studenten unter all den Hunderten hier zu treffen, empfand ich als Karma. Ich wusste nur noch nicht, wofür ich bestraft wurde. Jedenfalls reichten mir zwei zufällige Treffen und drei Vorlesungen aus, um Vorsicht walten zu lassen. Timothy hatte einen Blick drauf, der durch und durch ging. Als würde er direkt die Gedanken lesen oder bis in die Seele gucken. Das war nicht nur meine Meinung. Wie gesagt, war der werte Herr Musiker bekannt wie ein bunter Hund. Wenngleich er nicht viele Freunde zu haben schien, war er ein gern genommenes Gesprächsthema. Sogar bei meinen Kommilitonen, die länger als ich auf diese Uni gingen. „Kann mir mal einer erklären, warum der so bekannt ist?“, fragte ich in der Mittagspause meine Kommilitonen. Fred und Marvin waren mir von allen Anderen am sympathischsten. Wir fingen an regelmäßig zusammen in die Mensa zu gehen. Insgeheim hatte ich die Hoffnung, dass ich noch mal ein Wunder wie mit Hannes hinbekommen könnte. Apropos Hannes. Der ging weiterhin auf meine alte Uni, wir blieben übers Handy in Kontakt. „Den Wundermusiker? Weil er gute Musik macht, würde ich sagen“, antworte Marvin als Erster. „Er hat sich in den letzten Aufführungen einen Namen gemacht. Und bei den Zwischenevents oder Themenabenden trifft er den Geschmack der Menge. Wann haben wir ihn spielen gesehen?“, fragte Fred Marvin. Der biss ein großes Stück von seinem Schokocroissant ab und antwortete mit vollem Mund. „Das war auf dem Abschlussfest. Das, was vor der Exmatrikulation is‘.“ „Genau. Sie hatten eine kleine Bühne rangeschafft. Er hat wirklich Gespür für die Musik. Wenn aus ihm nichts wird, hat die Uni ihren Zweck verfehlt.“ Ich sah beide mit großen Augen an und verstand nur Bahnhof. „Wie viele Feste feiert ihr denn hier?“, fragte ich verwirrt. „Nicht viele“, meinte Marvin und schob sich das restliche Schokocroissant in den Mund. „Das Abschlussfest zum Ende des Sommersemesters ist das Größte und Aufwendigste. Alles andere sind nur kleinere Auftritte. Das machen aber alle.“ „Wie alle?“, hakte ich nach und ignorierte den leichten Anflug von Panik. „Nur die Künstler“, erklärte Fred genauer. „Musiker, Tänzer, Maler. Da sie sehr praktisch arbeiten, bestehen ihre Hausarbeiten meist aus neuen Stücken, die sie komponieren oder choreografieren müssen. Die Pinseltuscher bekommen hier und da einen Raum in einem Gebäude zugeteilt und präsentieren ihre Bilder und andere Kunstwerke. Die Tänzer und Musiker haben kleinere Events alle paar Monate. Manche sind Themenbehaftet, manche vollkommen Freestyle.“ Ich sank etwas entspannter in meine Lehne zurück. Wie froh war ich doch ein so trockenes und unpraktisches Studium wie Architektur gewählt zu haben. Wäre Jura nicht so dröge, wäre das meine erste Wahl gewesen. Musik und Tanz … Ich sah auf meinen Salat und pikte einige Blätter missmutig auf. „Zum Glück betrifft uns das nicht.“ „Find ich auch. Ich bin voll unmusikalisch“, scherzte Marvin. „Stimme ich zu. Hast du den mal Karaoke singen hören? Grauenhaft!“, bemerkte Fred. „Alter! Als wenn du eine Engelsstimme hättest, du Reibeisen.“ „Hehe“, schmunzelte ich. „Hab ihr denn schon eine Idee für unsere Ausstellung am Semesterende?“ „…“ „Wir nehmen dich mal mit zum Karaoke“, lenkte Fred ab. „Nein, danke. Ich singe nicht“, antwortete ich resolut. „Doch, doch, das ist Pflicht! Schiefer als wir singst du sicher nicht.“ Ich schielte von meinem Salat hoch und pflichtete ihm stumm bei. Schiefer würde ich sicher nicht singen… „Und dann gehen wir zu einer der Musikaufführungen. Glaube zum 1. Juni ist die Erste.“ „Wir könnten auch einfach Bowlen gehen“, schlug ich vor. Mein Vorschlag blieb ungehört. Ich seufzte innerlich und hinterfragte zum wiederholten Mal in diesen ersten zwei Wochen, meine Entscheidung auf diese Uni zu gehen. Was hatte ich mir auch dabei gedacht? Ich hätte schon stutzig werden sollen, als meine Mutter gegrinst und mein Vater ihr tadelnd in die Rippen gestupst hatte. Ich hätte auch stutzig werden sollen, als ich Sachen wie Musikproduzent, Post Production Engineer oder Game Sound Designer in der Broschüre gelesen hatte. Stattdessen hatte ich eine Pro-Kontra-Liste erstellt und die Unis verglichen. Meine Schwerpunkte waren die Entfernung zu meinen Eltern, der finanzielle Aspekt, die Wohnmöglichkeiten und die Dauer des Masters. Konnte ich dann von Karma sprechen, wenn ich wissentlich auf eine Uni mit einem Musikstudiengang wechselte? Ich sah auf die große Standuhr in einem der Wasserspiele für Kinder. Marvin und Fred hätten vor zehn Minuten hier sein sollen. Sie wollten mir die Stadt zeigen und natürlich diese Karaokebar. Nach fünf weiteren Minuten klingelte mein Handy. Hast du heute Nachmittag Zeit? < 6:52 M: >Ab drei, ja < 7:34 T: >Komm zum Probenraum 3. Eingang ist hinten. < 7:35 M: >Bist du fertig? < 7:35 T: >Nein. Geht um ein Gruppenstück. Irgendwas passt nicht < 7:35 M: >Was soll ich da helfen? < 7:35 T: >Meinung eines Außenstehenden < 7:40 Unsere Nachrichten waren kurz. Kein Rumgeplänkel, kein Stänkern, keine Hintergrundinformationen. Ich sah mir die Uhrzeiten noch mal an. Ob er überlegt hatte, was er als Grund hinschreiben sollte? Die Meinung eines Außenstehenden konnte helfen. Aber waren hier nicht angehende Profis am Werk? Ich bezweifelte stark, dass das der einzige Grund war und es missfiel mir anzunehmen, dass Timothy mich wegen meiner früheren musikalischen Kenntnisse hinbestellte. Aber das würde ich wohl erst rausbekommen, wenn ich ihm gegenüberstand. Anhand der Nachrichten ging das nicht. Ich sah wieder nach vorne und starrte auf die Skizzenzeichnungen von Brücken, welche an die Wand projiziert wurden. Brücken verbanden Dinge, Orte, Menschen, Noten. Für einen Architekten war es von Bedeutung sie stabil und monumental zu gestalten. Ob nun imposant wie die alten Aquädukte oder stylisch und modern wie die Millennium Bridge in London. Es gab noch schönere, aber das waren die angezeigten Beispiele. Ich stütze mein Kinn ab und lauschte den Worten des Professors. Als Musiker schrieb man einen Text zu dem was man sagen wollte. Wünsche, Hoffnungen, Schmerz, Kummer, Glück. Egal, um welches Thema es sich handelte, der Text sollte in klaren Bildern verdeutlichen, was im Künstler vor ging. Das konnte ganz offen oder versteckt geschehen. Die Melodie übermittelte die Gefühle zu den Worten, offenbarte die Ironie, die Falschheit oder Reinheit. Sie verschachtelte alles und stellte die Brücke dar, die den Sänger mit dem Zuhörer verband. Meiner Meinung nach gab es nichts Besseres als diesen Moment. Wenn die Zuhörer wirklich verstanden, was man mit diesem Lied ausdrücken wollte. Zugegeben, es konnte peinlich sein, aber die Fans waren wie ein Stützpfeiler. Egal wie unangenehm das Thema war, die blieben standhaft und nahmen es an. Ich hasste Timothy. Da war ich mir nun sicher. Als Mensch war er vielleicht ganz okay, wenngleich seine Art schrecklich sein konnte. Aber für mich brachte er zu vieles mit, was ich nicht mehr wollte. Musik, Noten, Melodien… Ich hätte nein sagen sollen. Von Anfang an, im ersten Seminar, bei mir an der Haustür, über den Chat. Ein schlichtes „Nein“ und ich würde jetzt nicht vor einer metallischen Tür zu einem der vielen Probenräume stehen. Ich hörte den Bass bis hier und spürte wie mein Puls schneller wurde. Fuck… aber mit etwas abzuschließen hieß auch, damit auszukommen und nicht mehr in die Ekstase zu verfallen, welche man zu vergessen versuchte. Wenn ich das hier überstand, brachte es mich weiter. Ich wäre dann sicher einen Schritt näher dran meine Gefühle von damals fallen zu lassen. Ich wollte es so gerne. Doch allein die Türklinke zu betätigen und einen Schritt in den muffigen Flur zu tun, welcher vollgestellt war mit Kabeln, Mikroständern, Koffern, Boxen und was noch alles, den Geruch nach Gummi, Staub und Technik einzuatmen, brachte mir die Galle hoch. Für einen Moment blieb ich in der offenen Tür stehen und harrte aus. Die Erinnerungen an jene Zeit waren nicht alle schlecht, aber sie überschatteten die Guten bei weitem. Den Spaß, den ich mal gehabt hatte, die Freude, welche ich empfunden hatte, wurde erstickt von dem beklemmenden Gefühl Leistung bringen zu müssen, gefangen zu sein zwischen dem was man wollte und dem was man sollte. Schlussendlich war es nur noch eine graue Masse geworden, welche nach Kabelgummi und Instrumentenpolitur roch. Erstickend, beklemmend, einengend. Ich sah nach unten und schluckte schwer. Mein Puls immer noch oben und meine Beine schwer und weich. Ich biss meine Zähne zusammen, dann griff ich in meine Tasche und holte mein Wasser raus. Die sprudelnde Flüssigkeit tat wahre Wunder. Ich schluckte den Kloß in meinem Hals einfach runter. Deutlich freier um die Brust rum sah ich auf und scannte meine Umgebung. Es sah aus wie überall, aber das musste nichts heißen. Die Musik war anders. Der Bass unregelmäßig. Phrasen wurden wiederholt. Auf diese Art übte keine Band. Das klang eher nach Tänzern. Mein Wasser verstaut, ging ich den Flur entlang. Die schwere Tür knallte irgendwann ins Schloss und ließ mich zucken. Ein bisschen gefangen fühlte ich mich trotzdem noch. Zumindest bis ich den Probenraum betrat. Ich kannte Tanzstudios mit ihren langen Spiegelwänden oder als einen provisorischen Raum, welcher einfach zum Tanzen genutzt wurde, aber eher einem Gymnastikraum glich. Dieser hier war eine Mischung aus beidem. Es gab viel Platz, eine kleine Spiegelwand, Oberlichter zur Belüftung und etwas Licht. Eine Ecke mit Bandequipment, eine andere mit Sitzsäcken, einer Couch und einem Minikühlschrank. Die Tanzgruppe, aus fünf Leuten bestehend, schwitzte bereits. Der Schlagzeuger und der Bassist, welche scheinbar Grob die Melodie wiedergaben, schienen genervt. Eine ziemlich attraktive Tänzerin, welche mehr verzweifelt als geschafft aussah, gab Anweisungen an die anderen Tänzer. Ich ahnte, dass es vielleicht das war, worum Timothy mich bitten wollte. Etwas stimmte mit ihrem Zusammenspiel nicht. Verzwickt und wenn man zu nah dran war, fand man den Fehler nicht. Eine Pause wäre gut, aber mit dem nahen Auftritt im Nacken, würde hier wohl keiner an eine Pause denken. Ich löste meinen Blick von den Tänzern und sah auf die einzige Person, welche den Luxus hatte auf der Couch zu lungern. Timothy saß breitbeinig und weit nach vorne gelehnt, auf seinen Ellenbogen abgestützt, dar und starrte auf sein Handy. Na dann wollen wir mal, sprach ich mir zu und ging, die Hände in den Hosentaschen, auf Ihre Eminenz zu. „Hoi“, begrüßte ich ihn. „Hi“, gab er grummelnd zurück und sah nicht mal auf. Also wartete ich einige Sekunden. „Du bist zu früh“, paffte er mich an, noch immer auf sein Handy konzentriert. „Ich kann wieder gehen“, entgegnete ich kühl. „Wenn du schon mal da bist, kannst du dich auch nützlich machen.“ Sein Ton war schnippisch, aber wenigstens steckte er sein Handy weg. „Au Contraire. Denkst du ich lass mich herzitieren wie ein Hund?“ „Brave Hunde tun, was das Herrchen sagt“, erwiderte Timothy, sah aber immer noch auf den Boden vor sich. „Hunde beißen, wenn das Herrchen zu unfähig ist.“ „Dann brauchst du ´n Maulkorb.“ „…“ Er sah nicht auf, war schlecht gelaunt und wollte etwas. Junge, da hast du den falschen erwischt, dachte ich und sah ihn mit dem kühlsten Blick an, den ich zu bieten hatte. Nachdem ich mich so überwunden hatte, hierher zu kommen, musste ich mir das nicht bieten lassen. „Dann geh ich jetzt.“ Timothy sah endlich auf und ich blieb stehen. Ich hatte eh nicht wirklich vor gehabt zu gehen, aber die Drohung hatte gereicht, dass er endlich aufsah. Sein Blick war genauso unnachgiebig wie mein eigener. Seine braunen Augen wurden von seinen Locken beschattet und machten sie noch dunkler als sonst. Ich sah sie hin und her huschen, mich studieren und sicherlich rannten seine Gedanken gerade. Er öffnete seinen Mund und ich sah wie sein Blick sich abmilderte, als wir leider gestört wurden. „Das hier ist eine Privatprobe“, rief die dunkelhaarige Tänzerin von eben und stakste mit ihren nackten Füßen und den Stulpen auf mich zu. „Jasmine, warte, dass…“ Der junge Mann, der so eilig den Mund wieder schloss, war Chris. Dann war er also auch Tänzer. So, so. Das Mädchen, welches damals auf der Bank gesessen hatte, sah ich auch in der Truppe. Die anderen zwei kannte ich nicht. „Ich habe ihn hergebeten, Jassi“, sagte Timothy gelassen. Sein Ton ruhiger, aber ich bezweifle, dass ihre Einmischung seine Stimmung gehoben hatte. „Warum Tim? Wir haben eh schon viel zu tun und können nicht noch mehr Leute gebrauchen, die uns ausspionieren.“ Timothy sah flüchtig zu mir hoch, ein Grinsen zupfte an seinen Mundwinkeln. Der Gedanke klar zu lesen. Als ob ich sie ausspionieren würde! Hah! Wenn er wüsste. Aber eigentlich hatte Timothy recht. Es war ein haltloser und alberner Vorwurf. „Er ist die 'andere Sichtweise', von der ich gesprochen habe.“ „Der da?“, fragte Jasmine spöttisch nach. Ich neigte meinen Kopf und sah sie ebenso abfällig an, wie sie mich. Attraktiv mit großer Klappe also. „Aber sag mal … Hast du denn Erfahrungen in Musik oder Tanz? Studierst du nicht Architektur?“, fragte Chris. Timothy hatte erwähnt, nett zu Chris zu sein, da er sensibel war. Er wirkte etwas sehr vorsichtig auf mich. Trotzdem war er mir sympathischer als Jasmine, weshalb ich wirklich anstrebte nett zu ihm zu sein. „Stimmt“, sagte ich freundlich und lächelte ihn an. Nebenbei fluchte Jasmine und schlug die Hände über ihren Kopf zusammen. Scheinbar frustriert, ging sie ihr Trinken holen. „Aber ich habe früher Musik gemacht und Instrumente gespielt.“ „Yey, ein Hobbymusiker“, murrte Jasmine. „Die haben oft die beste Intuition, weil sie noch nicht so verbraucht sind“, warf der dunkelhäutige Schlagzeuger ein. Jetzt wo er aufgestanden war, sah ich wie groß er war. Sein Gang wirkte schlaksig, aber er war anders als Jasmine. Erwachsener vielleicht? „Jamil“, stellte er sich vor und reichte mir die Hand. „Freut mich dich kennenzulernen.“ Ich nahm seine Hand und erwiderte seine Freundlichkeit. Ich lebte sowieso gerne nach dem Motto: Wie du mir, so ich dir. „Mikael, freut mich.“ „Oho~“, summte Timothy von der Seite und sein Blick war stichelnd und amüsiert zu gleich. „Heute so artig.“ „Er hat Manieren. Im Gegensatz zu dir“, gab ich ihm retour. Mit Chris, Jamil und Timothy, welche mich nicht anfeindeten, verlor Jasmine ihren Schwung und stieg mit ein. Sie stellte sich vor, wenngleich ich glaubte, sie würde lieber einen Zitteraal anfassen, statt meine Hand. Der Typ am Bass war Steven, ein Semester weiter. Die Tanzgruppe bestand aus Jasmine, Chris, Nayla, Phillip und Ramira. Es war eine bunte Truppe. Perfekt für einen Disney Klassiker. Wir hatten einen Schwarzen, zwei Asiaten (Steven und Jasmine), einen schüchternen Weißen, eine Latino (Ramira) und fünf von den acht Personen im Raum sahen überdurchschnittlich gut aus. Zumindest für meinen Geschmack. Da sich die Anspannung gelegt hatte, versammelten sich alle um die Couch und auf dem Sitzsack. Wie auch immer ich es verdient hatte, saß ich direkt neben seiner Eminenz. „Was war denn eben los gewesen?“, fragte Nayla Timothy. Der winkte nur ab und wirkte entspannter. Er saß zurückgelehnt, die Arme über der Rückenlehne, den rechten Fuß auf den linken Oberschenkel abgelegt. „Nichts weiter.“ „Ein bisschen netter kannst du aber ruhig sein“, meinte Chris in seinem Schneidersitz auf der Sofaarmlehne sitzend. „Mikael ist hier um zu helfen und du gehst gleich so ab.“ „Sagtest du nicht, sie hätten das letzte Mal auch so gestritten?“, fragte Jamil nach. Er hatte sich hinter uns postiert und stand nun zwischen mir und Timothy, sodass wir beide aufsehen mussten. „Jupp, aber das war eher lustig“, sagte Chris, die Schultern zuckend. „Hatte er da nicht ein Foto von uns gemacht?“, fragte Nayla nach und ich erinnerte mich dunkel. Dieses Foto… Ich wollte es haben, um Timothy irgendwann blackmailen zu können. Nach eingängiger Betrachtung, legte ich diese Idee ad acta. Ich versuchte nicht zu lachen, mich nicht zu ärgern und vergaß es zu löschen. „Ja, wie sind die Bilder geworden?“, fragte Timothy nach. Ich warf ihm einen Blick aus den Augenwinkeln zu. Es überraschte mich nicht, dass er annahm, es wären mehrere Fotos. Tatsächlich waren es zwei. Auf einem Bild hatte Timothy die Augen geschlossen, auf dem anderen geöffnet. Schob man die Bilder hin und her, sah es aus als ob er blinzelte. Das war lustig, aber ich ärgerte mich, dass dieser Heini es geschafft hatte eine spontane Aktion zu seinen Gunsten auszunutzen. Ich wette, dass es Absicht war! Ich zückte mein Handy und öffnete das Foto, wo er die Augen geöffnet hatte. Nayla nahm mir das Handy ab und legte ihren Kopf leicht schief. „Das ist gar nicht so schlecht geworden, für Mal zwischendrin. Schickst du mir das?“, bat sie dann. „Ich schicke es dir“, fiel Timothy mir ins Wort, ehe ich antworten konnte. „Du hast es? Warum zeigst du es dann nicht?“, motzte Nayla ihn an. „Er hat es nicht“, meinte ich, ohne zu ihm zu sehen. Sein blödes Grinsen musste ich mir nicht antun. „Stimmt“, meinte er, ein Grinsen im Ton. „Aber ich will nicht, dass jeder deine Nummer hat.“ Überrascht hob ich die Augenbraue und ignorierte das mulmige Gefühl in meinem Magen. Ich hatte es mir zwar gedacht, aber dass es wirklich genau deswegen sein würde, überraschte mich. Waren Nayla und er denn zusammen, dass er so besitzergreifend sein musste? „Ich bin Achtzehn und kann das selbst entscheiden. Dazu brauche ich die Erlaubnis meines großen Bruders ebenso wenig wie die meiner Eltern.“ „Beruhige dich Nayla“, meine Ramira liebevoll und legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Brüder sind so. Vor allem Große. Die beschützen dich und mischen sich in alles ein, selbst wenn man alles im Griff hat.“ „Hahaha“, lachte Timothy laut. Es klang heiter, aber nicht fröhlich. „Als wenn Nayla irgendwann mal was im Griff haben würde.“ Seine Schwester sprang gleich auf die Provokation an. Ich fragte mich, ob diese Zwei immer so waren. Sticheln, necken, das letzte Wort haben. Sie schienen miteinander auszukommen, aber ein liebevoller Umgang unter Geschwistern sah anders aus. Schweigend sendete ich Timothy eines der Fotos und fühlte mich hier deutlich fehl am Platz. Ich behielt meine Gedanken für mich. Zum einem war ich neu in der Gruppe und zum anderen war ich Einzelkind. Mich als Einzelkind klugscheißend in eine Geschwisterbeziehung einzumischen, würde nicht gut ausgehen und war nichts, was ich mir aufbürden wollte. Wir unterhielten uns noch eine Weile. Jasmine taute auf und zeigte, dass sie doch recht umgänglich war. Zielstrebig und frustriert, aber als Mensch netter als gedacht. Ramira war ein typischer Wirbelwind. Nach zehn Minuten Pause war sie die Erste, die sich dehnte und erneut aufwärmte. Langes Sitzen war schwierig für sie und stellte bei jeder Vorlesung ein großes Übel dar. Steven war ähnlich wie Jamil ein Instrumentennarr. Als das Gespräch auf meinen Musikunterricht und meine Instrumentenwahl fiel, kamen die beiden gar nicht mehr aus dem Analysieren und Interpretieren heraus. Ich musste sie regelrecht zwingen das Thema zu wechseln. Timothy saß derweil amüsiert neben mir und sah dabei zu, wie ich mich abmühte. Nayla und Chris schlossen sich Ramira an. Jasmine hatte sich mit Phillip vor den Spiegel verzogen und ging einige Figuren und Übergänge durch. Er war sehr ruhig. Sicher der Typ, der lieber zuhörte und nur einmal in der Woche den Mund aufmachte. Meine Ankunft vorhin war für die Gruppe zum Anlass einer erzwungenen Pause geworden. Timothy hatte es nicht wörtlich so genannt, aber durchaus gemeint. Ich nahm an, dass sie in letzter Zeit zu viel an denselben Stellen gefeilt hatten, sodass sie kaum noch durchsahen. Der Druck und ihr Ehrgeiz erledigten den Rest. Während die Tänzer sich gemütlich bewegten und einige Dinge besprachen, beobachteten wir anderen sie dabei. Timothy brach als erster das Schweigen. „Für den Auftritt haben wir drei Stücke vorbeireitet.“ „Warum so viele?“, fragte ich nach. „Ergab sich aus der Gruppenstärke. Die Details lass ich mal weg. Das Problem liegt …“ Ich wartete, ehe ich meinen Blick von den Tänzern abwandte und den Lockenkopf neben mir betrachtete. Fragend hob ich meine Brauen und neigte den Kopf. Timothy öffnete seinen Mund, schloss ihn dann wieder. Frustriert ließ er seinen Kopf nach vorne fallen und seufzte vernehmlich. „Das sollst du mir sagen.“ „Wie das?“ Jamil lachte neben mir. „Irgendwo gibt es einen Frosch und den gilt es zu finden.“ „Einen Frosch?“ „Ich meine, dass es an der Choreo liegt“, sagte Steven. „Es kann auch der Text sein“, überlegte Timothy angestrengt. „Du singst auch?“, fragte ich etwas zu sarkastisch. Diesmal sah er mich an und das Braun war gar zu amüsiert. „Freu dich drauf.“ Ich zog eine Schnute und verdrehte einmal die Augen. „So besonders wird’s schon nicht sein.“ Diese Aussage brachte alle drei zum Lachen. Verwirrt sah ich einen nach dem anderen an. Mein Blick blieb an Jamil hängen. Er wirkte am vernünftigsten auf mich. „Auch wenn Tim oft nur Mist von sich gibt, singen kann er“, lobte Jamil ihn und ging zusammen mit Steven zu den Instrumenten. Kurz darauf riefen sie die Tänzer zu sich. „Er übertreibt. Aber ich gebe mir Mühe“, wiegelte Timothy ab und lehnte sich weit vor. Sein Blick glitt verstohlen zu mir. „Obwohl ich jetzt doch etwas aufgeregt bin“, fügte er so leise hinzu, dass ich glaubte mich verhört zu haben. Ich hielt seinem Blick stand ohne zu zucken, wenngleich ich das Gefühl hatte, dass er trotz allem meine Gedanken hatte lesen können. Mir flatterte das Herz. Wieder fragte ich mich, was und wie viel Timothy wusste. Ob er meinen Namen gegoogelt hatte? Kannte er die Videos? Bei YouTube lungerten sicher noch einige herum. Oder war es nur Zufall und ich maß diesem Typen zu viel Können zu? Meine Hände wurden schwitzig. Ich strich sie an meinen Knien ab, während ich der Band zusah, wie sie sich aufstellte. Es gab nur ein Schlagzeug und einen Bass. Timothy spielte zwar Gitarre, doch durfte er laut Seminarvorgabe dieses Mal nur seine Stimme nutzen. Einen Gitarristen hinzuzuholen, wollte die Gruppe nicht. Ich war gespannt, wie ein Lied mit nur so wenig Begleitung klingen würde. Die Tänzer in Position, Timothy am Mikro. Er gab ein schönes Bild ab. Typ: schlaksiger-cooler Sänger. Er summte leicht zum Bass. Die Vibrationen reichten aus um mir einen Atemzug zu stehlen. Tief, melodisch und geschmeidig. Ich lehnte mich zurück und lenkte meinen Blick auf die Tänzer. Es war schwer meine Fassung zu behalten, wenn ich einen Sänger sah. Der Drang mitzumachen, wurde zu stark. Die Band begann. Das Intro, die Tänzer bewegten sich. Zwei Takte später folgte der Gesang. Ich sah nicht zu Timothy, sondern beobachtete die Tänzer. Aber das was ich hörte, ließ meine Nackenhaare zu Berge stehen und meine Ohren kribbeln. Die Begleitung war ausgewogen. Der Gesang leicht, schwebend. Der Text eingängig aber ebenso leicht. Es schien mir unmöglich mich auf alles gleichzeitig zu konzentrieren. Was Timothy komponiert hatte, war sagenhaft. Die Choreo stimmig. Ich zog meine Augenbrauen tiefer. War ich nicht fähig den Fehler zu sehen oder zu hören? Vielleicht war es nicht dieses Lied. Bisher war es gut. Dann kam der Übergang. Die Tänzer kamen ein wenig durcheinander, fanden aber schnell zurück. Die Melodie blieb stabil, Tempowechsel, es wurde flotter. Timothy sang sofort los. Leben sprühte auf der kleinen Fläche vor mir. Die Tänzer brachen aus, formten sich neu und hielten das Tempo. Der Übergang zum dritten Lied kam und abermals änderte sich das Gesamtbild. Ich lehnte mich vor und hielt meine Hände vor meinem Mund verschränkt. Ich hoffte, damit ein irres Grinsen zu verbergen, welches langsam durchbrechen wollte. Das hier machte Spaß. Verdammt viel Spaß. Mein Herz schlug und ich spürte meinen Puls bis in die Fingerspitzen. Mein Fuß tippte stetig im Takt mit, als es plötzlich still wurde. Ich brauchte einen Moment, ehe ich aufsah und mehrere Augenpaare mich anstarrten. Ich suchte Timothys Blick zum ersten Mal, seit er angefangen hatte zu singen. So viel innerliche Freude hatte ich bei ihm noch nie gesehen. Es sprudelte regelrecht aus den braunen Augen heraus und fasste sein gesamtes Gesicht ein. Seine Lippen glänzten, die Wangen leicht rot und der Atem noch schnell. Ich verstand das Gefühl. Es war das Beste auf der Welt. Wie frustrierend musste es dann gewesen sein, nicht zu wissen, wo der Fehler lag, aber zu wissen, dass einer da war. Ich hob meine Hand mit drei Fingern und versuchte konzentriert zu bleiben. Ernst gar. „Drei Stellen. Könntet ihr das alles nochmal machen? Genauso wie eben, nur ohne den Patzer der Tänzer beim ersten Übergang?“, bat ich. Die Blicke richteten sich auf Chris und Ramira. Ich beobachtete sie kurz, ehe mein Blick zurück zu Timothy glitt. Sein Atem hatte sich beruhigt und das Leuchten in seinen Augen war ein anderes geworden. Neugierde und die Bestätigung alles richtig gemacht zu haben, konnte ich klar von seiner Mimik ablesen. Am liebsten hätte ich ihm dieses selbstsichere Grinsen weggewischt. Stattdessen entwich mir mein eigenes Grinsen. „Von vorne“, rief Timothy und schüttelte seine Beine aus. Flüchtig sah er dabei zu mir rüber. Versteckt hinter seinen Locken, hätte ich es beinahe übersehen. Der zweite Durchgang war flüssiger. Die Tänzer gut. Ich unterdrückte den Drang aufzustehen, wie ein Lehrer umher zu gehen und meine Belehrung zu starten. Stattdessen erzählte ich ihnen meine Eindrücke von der Couch aus. Wie um mich zu widerlegen, wurden jene Stellen angespielt und durchgestanzt. Die Erkenntnis fiel lauter als ein Groschen in den Brunnen. Ich für meinen Teil war froh helfen zu können. Entspannt lehnte ich mich zurück und trankt mein Wasser, während die anderen wuselten. Es waren wirklich nur Kleinigkeiten. Ein Tempofehler in der Melodie beim Übergang. Etwas zu viel Tanz an einer Stelle, wodurch der Text des Liedes in den Hintergrund rutschte und noch eine weitere Stelle innerhalb der Melodie. Ein simpler Vorzeichenfehler. Die Flasche zugeschraubt, sah ich auf mein Handy. Gerade mal eine Stunde vergangen… Mein Finger schwebte über der App vom Diktiergerät. Beim zweiten Durchgang hatte ich es mitlaufen lassen. Ich wollte die Lieder nochmal hören und diesmal nur Text und Melodie spüren. Timothy war ein erstaunlich guter Sänger. Einer, der sich, sichtlich erleichtert, rechts neben mir auf die Couch fallen ließ. Kaum, dass er saß, holte er seine Zigaretten heraus und hielt mir eine hin. Ich nahm eine und drehte sie etwas zwischen meinen Fingern. „Warum wolltest du, dass ich mit zum Karaoke komme?“, fragte ich ihn. Er zündete seine Zigarette an und nahm einen Zug, ehe er antwortete. „Ich glaube einfach, dass du gut Singen kannst. Meine Intuition liegt da selten falsch“, sagte er und grinste selbstsicher. Ich war skeptisch. Seine Intuition also … „Hmm.“ Ich besah mir meine Zigarette und schielte flüchtig nach rechts. „So langsam glaube ich dir“, bemerkte ich. Ich war ja bereits davon überzeugt, dass Timothy kein notorischer Lügner war und ich war bereit ihm zu glauben, dass er nicht mehr über mich wusste, als er mir bisher gestanden hatte. Auch wenn es mir schwerfiel. „Welch Ehre. Warum so misstrauisch? Ich spiele vielleicht nicht immer fair, aber wenn ich sage, ich lüge nicht, lüge ich nicht.“ Ich lachte kurz und lehnte mich zurück. „Entschuldige, dass ich da vorsichtiger bin. Vielleicht wäre es gut gewesen, dich ein paar Jahre früher zu treffen.“ Es war nur eine Aussage und bedeutete nicht viel. Dennoch milderte sich der freudige-entspannte Glanz aus dem dunklen Irden. „Ein paar Jahre früher? Das wäre wohl nicht gegangen.“ Ich neigte meinen Kopf fragend nach rechts, erhielt aber keine Antwort. Nun dann. Ich hielt die Zigarette zwischen Zeige- und Mittelfinger, während ich mit der Hand das Thema wegwedelte. „Ich werde trotzdem nicht mit zum Karaoke kommen“, griff ich den Beginn der Unterhaltung wieder auf. „Was muss ich tun, damit du mitkommst?“ Der Glanz von eben, kehrte in seine Augen zurück. Gut, dass diese Ablenkung funktioniert hatte. „Gute Frage. Vielleicht leg ich dir ein Halsband um und lass dich einen Tag lang meinen Hund spielen“, meinte ich überlegend und schickte ein hämisches Grinsen zur Seite. Timothy lachte und nahm einen Zug. Ich hielt inne und drehte meinen Kopf nach vorne. Dieses Lachen war anders als das von vorhin. Lockerer, freier. Allerdings kein Grund deswegen nervös zu werden, ermahnte ich mich selbst. Ich schob den Gedanken zur Seite, bereit ein anderes Thema anzufangen. Wieder nach rechts sehend, registrierten ich aus den Augenwinkeln, dass etwas näherkam. Timothy lehnte sich mir entgegen, die Zigarette im Mund, reichte sein Blick aus, damit ich sein Vorhaben verstand. Ich nahm meine noch immer unangezündete Zigarette zwischen die Lippen und hielt mein Ende an das glühende seiner Zigarette. Ein Feuerzeug hätte es auch getan, dachte ich und zog zeitgleich mit Timothy. Sein Zigarettenende glühte auf und zündete meine Zigarette damit an. Der Zug war tief und ich atmete lange aus, als wir uns beide zurücklehnten. Sie war an, dachte ich noch beiläufig und blinzelte einmal. Ich drängte diese Aktion in die hinterste Ecke meines Hirns. Es wäre idiotisch da mehr hinein zu interpretieren als das Helfen beim Anzünden einer Zigarette. Was ich nicht sah, war, dass Timothy mich einen Moment beobachtete, ehe auch er demonstrativ zur Seite sah. Oder dass quer durch den Raum ein anderes Paar brauner Augen uns beobachtet hatte. „Darf man hier drinnen eigentlich rauchen?“, fragte ich schließlich. „Das fällt dir etwas spät ein.“ „Egal, darf man nun oder nicht?“ Timothy atmete Rauch aus und lächelte mich verschmitzt an. „Was meinst du denn?“ „Ich frag dich was. Kannst du nicht einmal normal antworten?“ „Das wäre zu einfach. Ich habe gehört man soll kleinen Leuten ihre Erfolgsmomente lassen. Sonst schrumpfen sie.“ „Du hast echt nicht mehr alle Tassen im Schrank. Was soll das immer mit der Größe. Guckt doch eh keiner drauf“, wiegelte ich ihn ab. „Findest du?“, amüsierte lehnte Timothy sich vor und ich starrte genervt von oben auf ihn herab. „Ja.“ „Dafür springst du aber gut drauf an.“ „Das liegt nicht am Thema, sondern an deiner Art. Du könntest auch über Motoräder reden, das käme aufs Gleiche hinaus.“ Ein Schmunzeln erschien auf Timothys Lippen und seine Augen waren eine Mischung aus Berechnung und Neugierde. „Sag nicht, du fährst Motorrad?“ „Warum nicht?“ „Weil das ein Zeichen ist, dass du Dinge kompensieren musst.“ Ich sprang auf und zeigte mit der Zigarette in der Hand auf ihn. „Halt einfach mal die Klappe. Da komme ich schon her, um dir zu helfen und du bist so ein Vollhorst.“ „Danke fürs Kompliment.“ „Das war keines!“ Kapitel 5: Diese eine Person ---------------------------- Kapitel 5: Da ich bis auf den Freitag ziemlich viel um die Ohren hatte, konnte ich den Proben innerhalb der nächsten Woche nicht beiwohnen. Zunächst fand ich es schade, weil dieser Nachmittag so viel getriggert hatte, dass ich drauf und dran war, mich nur wegen ein wenig Spaß und geleisteter Hilfe mehr mit Musik zu beschäftigen. Als mir nach ein paar Tagen aufging, wie sehnsüchtig ich an diesen Freitag zurückdachte, hätte ich mich fast an meinem Mittagessen verschluckt. Es war gut, nur einmal die Woche hinzugehen. Zumal ich es genau genommen gar nicht mehr musste. Sie kannten ihre Patzer und hatten sie verbessert. Warum noch hingehen? Das lag eigentlich an mir und ein bisschen an Timothy. Bevor ich nach der ersten Probe gehen konnte, stritten wir uns abermals. Banalitäten, nichts Ernstes. Irgendwie war daraus die Wette geworden, dass ich es nicht aushalten würde einmal in der Woche in einem Probenraum zu sein. Darauf einzugehen war albern. Ich war dabei abzulehnen, bis ich Timothys triumphierenden Blick sah. Getriggert nahm ich die Wette an. Während des nächsten Rechtsseminars nach der Wette, benahm Timothy sich erstaunlicherweise. Unsere Streiterei hielt sich auf einem amüsanten Level und wirkte auf mich eher lasch, im Vergleich zu dem was wir bisher ausgetauscht hatten. Ich nahm es als Zeichen, dass sich unsere Bekanntschaft verbesserte. Grundlegend war Timothy kein schlechter Kerl. Er nervte mich nur abgrundtief, wenn er seine allwissende und alles vorhersehende Art raushängen ließ. Dahingehend war seine fast schon melancholische Stimmung, während der zweiten Vorlesung erfrischend entspannend. Seine Sticheleien hatten nur die Hälfte an Durchschlagskraft. Ich konnte nicht sagen, ob er zu unausgeschlafen war oder ob ihn wirklich etwas bedrückte. Zum Glück kannten wir uns nicht gut genug, als dass ich mir Sorgen machen müsste. Ich versuchte mich auf den Unterricht zu konzentrieren, was mir schwerer fiel, je mehr ich versuchte mir keine Sorgen zu machen... Immerhin hatte er mich nach zwei verpassten Rechtsseminaren besucht. Timothy wusste, dass ich krank war und wo ich wohnte. Ich hatte ihn jenen Tag Fragen wollen, warum er vorbeigekommen war. Nur wegen der Unterlagen zum Seminar? Bitte. Die hätte ich mir von anderen Kommilitonen oder in der nächsten Vorlesung von ihm holen können. Aber er kam vorbei und schrieb sie für mich ab. Das war beinahe fürsorglich. Auf jeden Fall sehr ungewöhnlich für einen Timothy. Mein Blick glitt zur Seite. Timothy wirkte gelangweilt, seine braunen Augen dunkler als sonst und seine Gedanken unlesbar. Ihm fehlte der Schwung, wenn er sich zurücklehnte. Das Verspielte, wenn er lächelte. Sein Blick wirkte düster, unsäglich bitter. Ob es ihm vielleicht doch in irgendeiner Art schlecht ging? Den Worten des Dozenten lauschte ich schon gar nicht mehr. Dafür bemerkte Timothy meinen Blick und sah auf. Er hatte sich auf seine Unterlagen gestützt und den Kopf schwer auf beiden Handrücken geparkt. Nun schmiegte sich seine Wange in seine Handfläche und er sah mich unverwandt an. Ein Lächeln zierte seine schmalen Lippen. Es wirkte erzwungen, weniger geschmeidig und gehässig als sonst. Wenn ich schon mal seine Aufmerksamkeit hatte, dachte ich, lehnte ich mich ihm ein Stück entgegen und flüsterte kaum hörbar. „Alles in Ordnung?“ „Warum fragst du?“ Ob er auch mal antworten konnte, wenn ich versuchte nett zu sein? Ich verdrehte meine Augen und hielt meinen Blick strenger auf ihn gerichtet. „Wenn du Freitag ausfällst, gewinne ich die Wette“, stellte ich fest. Nur weil er nichts sagen wollte, hieß es nicht, dass ich ihm vom Haken ließ. „Einen kampflosen Gewinn habe ich nicht erwartet. Soll ich dir verraten, was du dann tun darfst?“, fragte ich so süffisant wie es geflüstert möglich war. Timothys Blick verdunkelte sich weiter. Von seinem quirligen Pony überschattet, wirkten seine Augen beinahe schwarz. Ich ignorierte die Gänsehaut in meinen Nacken und wollte die Spannung noch nicht aufgeben. Es war das erste Mal an diesem Tag, dass Timothy etwas mehr Kampfgeist als eine Kaulquappe an Land zeigte. „Wer gewonnen hat, zeigt sich erst beim Konzert. Lob den Tag nicht vor dem Abend, nur weil ich ein bisschen meine Kräfte schone.“ „Kräfte schonen, nennt man das also? Und ich dachte, du versucht absichtlich Mitleid zu haschen, wenn ich dir schon keine Komplimente gemacht habe.“ „Alles was von dir kommt, ist so schön wie das Kratzen von Fingernägeln über eine Tafel.“ Ich schnalzte und warf ihm einen giftigen Blick zu. Ich hatte versucht freundlich zu sein, aber wenn er nicht wollte. Mehr Zeit mich wieder auf die Vorlesung zu konzentrieren. Ich ignorierte Timothy, spürte aber seinen Blick auf mir ruhen. Nach einer Weile, würde er sicher aufgeben. Die Sekunden verstrichen, die Minuten schlossen sich an. Demonstrativ lehnte ich meinen Kopf auf meine linke Hand und blockte ihn somit komplett. Mein rechter Unterarm lag auf meinem Heft und meine Finger hingen ein wenig vom Tisch, da ich eh nicht mitschrieb. Die Zeit verging, ehe mein Zeigefinger sanft angehoben wurde. Minimal nur, doch ich bekam prompt eine Gänsehaut. Da ich Timothy noch ignorierte, ließ ich mir das nicht anmerken. Jedoch wurde es schwerer, je mehr die fremden Finger mit meinen spielten. Sie hoben die Kuppen an, strichen über meine Nägel oder tippten leicht gegen einen Finger. Das Tippen variierte im Takt. Der Kontakt von Fingerkuppe zu Fingerkuppe, von warm zu eher kühl, machte mich unruhig. Ich war versucht, hielt mich aber zurück. Erst als sich zwei Finger unter meinen Zeige- und Mittelfinger schoben, sie umfassten und daran leicht zogen, hielt ich es nicht mehr aus. Ich drehte mich ruckartig um und glaubte schnell gewesen zu sein. Aber Timothy war schneller. Er starrte, den Kopf auf beiden Händen abgestützt, nach vorne. Unmerklich war er näher herangerückt. „Wa-“, begann ich stockend und hielt doch meinen Mund. Timothy machte einen allzu erbärmlichen Eindruck. Mit seinen Zotteln und den trübseligen Blick wirkte er wie ein begossener Pudel. Ich mochte Hunde… auch wenn ich nie einen hatte halten dürfen. Diesmal starrte ich ihn an und er rührte sich kein bisschen. Ich wartete, nichts. Meine Finger zuckten bereits und positionierten sich über den dunklen Locken. Ob das zu weit ginge? Bisher waren wir nur am Streiten und Sprüche klopfen. Ich glaubte auch nicht, dass wir irgendwann in den letzten Wochen Freunde geworden wären. Bekannte, das passte ganz gut. Timothy nervte mich mehr, als dass ich sagen würde, ich könnte ihn gut leiden, aber … es war halt nicht meine Art jemanden hängen zu lassen, wenn er aussah wie ausgeschissen. Keine Ahnung was bei ihm vorging, aber es musste ihm doch zusetzen, wenn er seine sonst so dreiste und nervende Art verlor. Ich atmete ruhig ein und ließ meine Finger in die braunen Locken sinken. Es konnte entweder gut ausgehen oder wir würden uns gleich laut fetzen. Was nichts Neues wäre. Ich riskierte hier nichts. Timothys Reaktion war indes unerwartet. Ich hatte meinen Kopf geneigt, um etwas besser sein Gesicht sehen zu können. Sowie meine Finger seine Kopfhaut berührten, weiteten sich seine Augen ein winziges Bisschen. Für etwa eine Sekunde stand die Überraschung über sein gesamtes Gesicht geschrieben, ehe sich seine Augenlider halb schlossen und er entspannter wirkte. Wirklich wie ein Hund, dachte ich. Zugleich bewegte ich meine Finger und kraulte etwas durch die erstaunlich weichen Locken. Als ich abermals zum Teufel neben mir sah, hatte dieser seine Augen gänzlich geschlossen. Timothy sagte nichts und rührte sich die restliche halbe Stunde der Vorlesung nicht mehr. Ich stützte meinen Kopf auf meine rechte Hand und sah noch vorne. Meine Wangen brannten vor Peinlichkeit. Hoffentlich sah das hier niemand! Am Ende der Vorlesung war alles wie immer. Timothy schien wie aufgetankt und ließ in jedem zweiten Satz kleine Spitzen auf meine Kosten fallen. Ich ließ ihn machen und kommentierte selten. Er war wieder er selbst, was mich erleichterte und das verwirrte mich wiederum etwas. Da Timothy nicht übertrieb, ließ ich ihn einfach gewähren. Es war besser, er laberte mich mit seinen Spitzen und Beleidigungen voll, als dass er wie ein Schluck Wasser auf der Stuhllehne hing. Am Freitag war ich überpünktlich beim Probenraum. Es galt eine Wette zu gewinnen! Lieber wiederholte ich eine Hausarbeit als gegen Timothy zu verlieren. Wer wüsste schon, was dieser sich alles in seinem kranken Hirn ausdenken konnte?! Da ich bereits einmal hier gewesen war, griff ich deutlich gefasster nach der Tür. Mir war immer noch mulmig zu mute, doch es war auszuhalten. Ich würde das schaffen, ich konnte das schaffen! Glücklicherweise war die Tür zum Probenraum offen. Ich hoffte nur, dass es jemand aus der Band oder einer der Tänzer war, der bereits probte. Oder die versprengten Reste der vorherigen Nutzer. Leider wurde meine Hoffnung enttäuscht. Timothy lümmelte schon im Sitzsack rum. „Du bist aber früh“, begrüßte ich ihn. „Du aber auch“, sagte Timothy zu mir aufblickend. „Warum ist noch kein anderer da?“ „Weil sie immer erst mit der Glocke ins Haus fallen. Wir werden nicht vor halb anfangen.“ „Bitte? Da geht doch Zeit verloren“, warf ich etwas sprachlos ein. Timothy zuckte mit den Schultern und nahm seinen Hefter wieder auf. Mein Blick flog über den Sänger und ich war irgendwo erleichtert, dass er im Aussehen und Verhalten wieder seine Normalform zurückhatte. Darum glitt mein Blick in den Hefter, wo ich handgeschriebene Zeilen erkennen konnte. Vielleicht seine Liedtexte? Die heimlich gemachte Aufnahme von letzter Woche, hatte ich mir noch ein paar Mal angehört. Sein Text war so gut, wie ich es mir gedacht hatte. Es machte Lust auf mehr. Leider konnte ich nicht erspähen, was dort geschrieben stand, also gab ich auf und setzte mich auf die Couch ihm gegenüber. „Wie lange muss ich eigentlich bleiben?“ „?“, Timothy ließ sein Hefter sinken und sah mich mit schiefgelegtem Kopf an. „Die Wette. Wie lange soll ich bleiben?“ Timothy legte seinen Kopf auf die andere Seite und schenkte mir einen Blick der sagte: Ist das nicht offensichtlich? „Bis zum Ende der Probe natürlich.“ Ich winkte gelangweilt ab. „Vergiss es. Was soll ich so lange hier rumsitzen?“ „Du kannst gerne mitmachen. Wir haben noch eine E-Gitarre. Die Griffe kennst du ja“, meinte Timothy mit einem herausfordernden Lächeln. „Ver-giss-es“, zischte ich zwischen meinen Zähnen. „Jo! Ihr seid ja pünktlich“, begrüßte uns Jamil, der mit Chris im Schlepptau in den Probenraum kam. „Ihr seid früh“, bemerkte Timothy mit gehobenen Augenbrauen. „Wie kommts?“ „Chris schlug vor heute mal früher zu kommen, für den Fall, dass ihr beide früh dran seid“, erklärte Jamil. „Nur damit ihr euch auch vertragt. Sicherheitshalber“, ergänzte Chris, sein Lächeln war freundlich, seine Gestik indes etwas unsicher. Chris begegnete ich von allen hier am häufigsten, wenn ich in der Woche zwischen meinen Vorlesungen wechselte. Wir begrüßten uns nur flüchtig. Doch verbesserte sich unsere Begrüßung vom Kopfnicken hin zum offenen Winken. Ich befürchte, dass er mir mein Verhalten von vor zwei Wochen übelgenommen hatte. Timothy meinte ja, er sei sensibel. Aber das war eine dieser Sachen, welche mit der Zeit besser wurden, je öfter man sich sah. Davon ab, war Chris als Tänzer wirklich gut. Seine Bewegungen waren flüssig und ebenso energisch wie Jasmines. Nayla merkte man ihre Unerfahrenheit an. Sie stockte hier und da, war etwas zu langsam und kam aus dem Takt. Ramira und Phillip waren routiniert und bildeten eine gute Basis im Hintergrund. Nach und nach trudelten alle Mitglieder der Gruppe ein. Entgegen Timothys Prophezeiung fingen wir fast pünktlich an. Ob es wirklich daran lag, dass Chris alle gebeten hatte rechtzeitig zu kommen, damit Timothy und ich uns nicht die Köpfe einschlugen oder weil der Termindruck doch höher war, je mehr Tage vergingen, konnte ich nicht sagen. Nach dem Aufwärmen übte die Tanzgruppe trocken für sich, dann spielten sie alles einmal durch, prüften und spielten nochmal. Die Band war flüssig und der Gesang zeigte keine Schwächen. Es lag nur noch an den Tänzern, den Übergängen von Lied zu Lied und anderen Kleinigkeiten. Mittlerweile waren sie dazu übergegangen nicht alles zu spielen, sondern nur Passagen, welche nicht stimmig waren. Timothy hatte sich gelangweilt rechts neben mir auf die Couch gesetzt. Mal sah er zu, mal tippte er auf seinem Handy rum. Mal glaubte ich seinen Blick zu spüren. Wie Eiswürfel die heiße Spuren hinterließen. Doch wenn ich mich nur ein winziges Bisschen umsah, starrte er gelangweilt geradeaus. Es war gerade recht harmonisch zwischen uns, weshalb ich ihn einfach ignorierte. Vielleicht hatte ich es mir auch nur eingebildet. Mein Blick hing an Jasmine. Sie war hübsch, schlank und gelenkig. Ihre Mandelaugen konnten sehr scharf sein, aber auch groß und niedlich. Ihre schulterlangen Haare hatte sie hochgebunden. Sie waren dunkel und glatt, typisch asiatisch eben. Jasmine trug eine Sportleggins mit Stulpen, dazu ein enges Top über dem ein flatteriges Shirt die Rundungen ihres Busens leider verdeckte. Sie hatte mindestens A, wenn nicht sogar B, sinnierte ich und ließ meinen Blick ihren flachen Bauch hinabwandern. Ihre Taille war definiert, die Hüfte schlank und der Po wohlgeformt. Ihre Beine etwas stämmiger, aber nicht unpassend zu ihrem Körperbau. „Ich hoffe für dich, dass du nicht meine Schwester so anstarrst“, kam es leise von der Seite. Timothy hatte sich vorgelehnt und ahmte meine Pose nach. Nun wirkte es, als starrten wir beide aufmerksam auf die Tänzer. Ich sah ihn flüchtig von der Seite an, ehe ich antwortete. „Bisher noch nicht.“ „Bei wem bist du?“, fragte er beiläufig. „Jassi“, meinte ich. Meine Augen folgten ihren Bewegungen, ehe sie stehen blieb, sich umdrehte und alles nochmal mit der Gruppe durchging. „Sie hat einen schönen Körperbau.“ „Stimmt. So wie sie, stellt man sich typische Tänzer vor. Athletisch und gelenkig.“ „Ich meinte eher ihre Linien“, verbesserte ich meine Aussage und lehnte mich zurück, da es gerade nichts zu sehen gab. „Taille, Hüfte und Hintern bilden eine schöne Kontur, wenn sie sich bewegt.“ Timothy beäugte mich scharf und lehnte sich ebenfalls etwas zurück. „Ist sie dein Typ?“ „Bitte?“ Die Frage traf mich unvorbereitet. Sie war schön, hatte aber auch Haare auf den Zähnen. „Gehört sie zu dem Typ Frau, auf den du stehst?“, wiederholte Timothy gelassen. Jamil und Steven klimperten etwas mit ihren Instrumenten und die anderen waren zu beschäftigt, um auf uns zu achten. Auch wenn mir das Thema unangenehm war, hörte uns wohl keiner zu. Ich sah zu Jasmine und überlegte ernsthaft, ehe ich meinen Kopf schüttelte. „Eher nicht. Außerdem war sie letzte Woche sehr forsch. Das finde ich bei Frauen unattraktiv.“ Timothy schmunzelte und setzte sich seitlich auf die Couch. Das rechte Bein hochgelegt, umfassten seine Hände seinen Knöchel und er beugte sich leicht vor. Ich beobachtete ihn. Nur um sicher zu gehen, dass er keinen Blödsinn ausheckte. „Sie kann recht zickig sein, aber eigentlich ist sie sehr kooperativ. Vielleicht versuchst du es mal mit ihr.“ Verwundert hob ich eine Augenbraue und konnte meine Skepsis nicht verstecken. „Ich dachte eigentlich ihr seid zusammen.“ „Wer? Jassi und ich?“, fragte Timothy nach. Ich nickte und erhielt ein leises, hoch amüsiertes Lachen. „Um Himmelswillen. Das würde nie funktionieren.“ „Warum soll ich dann mit ihr zusammenkommen, wenn selbst du nicht magst?“, fragte ich nach. „Sollst du nicht. Ich war nur neugierig auf was so kleine Kerlchen, wie du, stehen.“ Ich ignorierte diese Spitze, auch wenn meine Finger sich leicht zur Faust ballten. „Dann verrate mir, auf was so lange Lulatsche, wie du, stehen. Sie jedenfalls steht auf dich, das sieht man. Aber was könnte nach dem Geschmack Eurer Eminenz sein?“, fragte ich, meine Stimme mit Hohn gespickt. Timothys Lächeln vertiefte sich und etwas Herausforderndes und Kaltes schlich sich in seine Augen. „So neugierig? Wenn du es wissen willst, verrat ich es dir“, meinte er und winkte mich mit seinem Zeigefinger näher. Skeptisch ließ ich mich bitten. Ich würde sicherlich keine vernünftige Antwort bekommen, aber die Neugierde war stärker. Artig lehnte ich mich nach links, ihm entgegen. Timothy kam meinem Ohr näher. Ich spürte seinen Atem, noch ehe ich seine Worte hören konnte. „Auf die Person“, flüsterte er, sodass ich eine Gänsehaut bekam, „welche mich umbringen wird.“ „…“ Ich hielt die Luft an und bewegte mich einen Moment nicht. Noch starr, drehte ich meinen Kopf gerade soweit, dass ich in die so nahen dunkelbraunen Augen sehen konnte. Ich wusste nicht, was mich mehr erschreckte: seine Worte oder sein vollkommen aufrichtiger Blick. Er log nicht, dachte ich nur und schaffte es für Sekunden nicht zu Blinzeln. „Du willst, dass die Person, die dich liebt, dich umbringt?“, fragte ich ebenso leise nach. Seine Augen verengten sich ein wenig. „Sie muss mich nicht lieben. Aber ich werde sie für ihre Tat lieben.“ Mir rann ein kalter Schauer über die Arme. Ich riss meinen Blick von seinen los und lehnte mich wieder zurück. „Das heißt, dir wäre selbst ein Bettler an der Straßenecke recht, solange er bereit wäre, ein Verbrechen für dich zu begehen.“ „Ich sehe es als Gefallen.“ „Das hiesige Rechtssystem aber nicht. … und die meisten Menschen auch nicht.“ Mein Ton war monoton und ich hatte genug in das Braun gestarrt. Ich sah zur Band, welche das Schlagzeug zurechtrückte, dann zu den Tänzern, welche schwitzend zu ihren Getränken griffen. Wie konnte Timothy so etwas sagen? Wie konnte überhaupt jemand jemanden lieben wollen, der einem so etwas antun sollte? Ich verstand ihn nicht. Ich wollte das ehrlich gesagt auch nicht verstehen. Trotzdem glitt mein Blick zurück zum Sänger, welcher auf seine Hände über seinem Knöchel starrte. Seine Hände griffen das schmale Fußgelenk so fest, dass die Fingerknöchel bereits weiß wurden. Ich seufzte innerlich. „Angenommen, es gäbe so jemanden. Wie lange wärst du mit der Person zusammen, ehe du sie um den Gefallen bitten würdest?“ Timothys Hände entspannten sich etwas und er sah auf. Sein Blick glich dem von gestern. Düster und matt, ohne den Hauch von Freude, welchen er Sekunden zuvor noch hatte. „Weiß nicht. Ich würde sie direkt fragen.“ „Woher weißt du dann, ob es die Person ist, nach der du dich sehnst, wenn du sie nicht kennenlernst?“, fragte ich zurück. Leichte Verwirrung legte sich über seine Mimik, also fuhr ich fort: „Du kannst nur einmal sterben. Sollte es dann nicht perfekt werden? In deinem Fall vielleicht sogar romantisch? Wenn du den Falschen wählst, wäre all das sinnlos. Also musst du zumindest so lange mit der Person zusammen sein, bis du dir sicher sein kannst, dass es die eine ist, welche.“ Das ich überhaupt ein solches Gespräch führen konnte, bescherte mir Unwohlsein und leichten Ekel. Timothys Sichtweise von Liebe war grotesk. Trotzdem konnte ich nicht anders als ihn ernst zu nehmen. Keine Ahnung, ob es aus Mitleid war oder was genau mich antrieb ihn nicht für irre zu erklären und ihm eine zu scheuern. Timothy dachte über meine Worte nach, ehe er sich entspannte und ein melancholisches Lächeln aufsetzte. „Da hat der Knirps wohl recht.“ Ich atmete erleichtert aus. Das Düstere war aus seinem Blick verschwunden. Bequem legte ich meine Arme auf die Rückenlehne und machte mich breit. Meine Beine zog ich zu einem Schneidersitz auf die Sitzfläche hoch. „Natürlich. Ich habe öfter Recht. Schließlich habe ich auch schon viel erlebt und – hey!“, protestierte ich entscheiden, da mein Zuhörer mir gar nicht zuhörte. Timothy lehnte sich über die Armlehne hinter sich und kramte in etwas. Wahrscheinlich seiner Tasche, denn er kehrte mit einer Packung Mikado zurück. „Möchtest du auch?“, fragte er mich mit unschuldigem Blick. Ich glotzte genervt zurück und wandte meinen Kopf demonstrativ ab. „Nein, Danke.“ „Oh? Wer hat das kleine Kerlchen nur so verärgert?“, fragte er sich wundernd. Seine Stimme jedoch klang leicht und beinahe singend. Fuchsig bewegte ich nur meine Augen und maß ihn verärgert. Ich konnte ihn schlecht rügen, wenn mir diese Stimmung lieber war als die düstere davor. „Frag nicht so blöd, wenn du es schon weißt.“ „Ich weiß von nichts“, sagte er und diesmal war seine Stimme deutlich beschwingter, während sein Blick Unschuld vortäuschte. Timothy öffnete die Mikadoschachtel und knabberte an einem der dünnen Stäbchen. „Tss. Wenn ich dir schon zuhöre, könntest du gleiches bei mir tun.“ „Aber du klangst so, als ob es ein langer Monolog werden würde. Da brauchte ich etwas zu knabbern.“ Timothy schmunzelte und vertilgte das erste Stäbchen gänzlich. „Möchtest du wirklich nicht?“ „Nein.“ „Wie geht’s weiter?“, fragte er. „Mit was?“, fragte ich zurück und stellte mich dumm. Timothy hob eine Augenbraue und musterte mich. Dann nahm er ein neues Mikado heraus und pikste damit in meine Wange. Dachte er etwa, er nervte noch nicht genug? „Ich habe dir zugehört, also erzähl weiter. Sei nicht so stur. Ich will wissen, was du alles erlebt hast und warum du trotzdem noch so klein geblieben bist.“ Ich schob seine Hand mit dem Mikado weg und wischte über meine Wange. Ich und stur? Vielleicht. Ich war etwas verärgert, das gab ich zu. Ich saß hier sinnlos rum, versuchte mich alten Ängsten zu stellen und hatte das Gefühl ständig unter Strom zu stehen. Innerlich angespannt, keinen Fehltritt zu begehen, hatte ich mich auf die entspannte, wenngleich gruselige Stimmung zwischen uns verlassen wollen. Aber Timothy schien das nicht zu sehen. Unbehaglichkeit in jemand anderen zu entdecken war beinahe unmöglich. Ich konnte nicht von ihm erwarten, dieses Kunststück zu vollbringen. „Keine Lust mehr. Wie lange geht die Probe noch? Wenn nichts weiter passiert, kann ich ja gehen.“ Ich senkte meine Erwartungen ihn gegenüber. Es war sowieso ein Fehler blindlings etwas bei anderen vorauszusetzten. „Da wir pünktlich angefangen haben, mindestens noch eine halbe Stunde. Wenn du vorher gehst, gewinne ich die Wette“, erinnerte mich Timothy. Seine Stimme war leicht, sein Blick amüsiert. „Wenn dir langweilig ist, können wir auch etwas spielen?“ Ich war emotional und nervlich an einen Punkt angelengt, an dem ich einfach nur wegwollte. Es war ein allzu bekanntes Gefühl aus früheren Tagen. Ich hatte oft versucht den Grund dafür zu benennen, aber jede Situation schien anders zu sein, wodurch auch der Grund für meine Unruhe wechselte. Es wäre zu einfach Stress oder Druck von außen als Grund anzugeben. Ebenso Timothy mit seiner aufwieglerischen Art dafür verantwortlich zu machen. Genau genommen, fühlte ich mich letzten Freitag ähnlich unwohl. Musik, Tanz, Proben, Gesang. Das alles kratzte an dem, was ich mit aller Kraft zu verschließen versuchte. Anders als bei einem Alkoholproblem, wo der Alkohol dem Körper schadet und die Entscheidung zu trinken demnach dem Wohl des Körpers untergeordnet sein sollte, war es mit der Musik anders. Es war nicht die Musik an sich, die mir geschadet hatte. Im Gegenteil. Die Klänge von Instrumenten, der Rhythmus und das Gefühl in jeder Note, beschwingte mich, füllte einen ausgetrockneten Teil meiner Seele auf und ließ mich leichter atmen. Sie komplett abzulehnen und aus meinem Leben zu verbannen, war damals wie ein kalter Entzug gewesen. Aber heute? Nach so vielen Jahren? Ich konnte nicht verstecken wer ich gewesen war und was mir damit noch anhaftete. Aber hieß das automatisch, dass ich nicht mehr Musik genießen durfte? Und wenn es nur heimlich war? In einem Probenraum, mit anderen Musikliebhabern? „Was meinst du mit Spielen?“, fragte ich nach und fixierte Timothy mit meinem Blick. Sein Lächeln wurde breiter, aber eine Spur sanfter. „Mit den Gitarren natürlich.“ Ich hielt seinen Blick und wog die Risiken ab. Ich hatte schon seit letztem Jahr spielen wollen, mich aber nicht getraut und immer zurückgehalten. Hier und jetzt ein paar Akkorde zu greifen und ein Instrument zu spielen, wäre kein allzu großes Risiko. Ich musste es nur mit mir selbst ausmachen, wie sonst auch. „Spielst du mit?“, hörte ich mich fragen. Timothy biss vom Mikado ab und brummte seine Zustimmung. Mein Blick glitt zum Schlagzeug und Bass, dann zu den Tänzern. Aufregung wallte in mir hoch, als ob ich etwas Verbotenes tun würde. Das war abwegig, denn niemand außer mir selbst hatte mir verboten etwas zu tun. „Jamil, wie weit seid ihr?“, rief Timothy dem Schlagzeuger zu. „Fertig soweit, denke ich. Ist euch langweilig dahinten?“, fragte Jamil zurück. Steven sah von seinem Bass auf, blind einige Saiten zupfend. „Etwas“, meinte Timothy und zuckte mit den Schultern. „Sind die Gitarren da?“ Meine Aufregung wuchs. Sollte ich wirklich? Vielleicht nur ein kleines bisschen? Es war nichts dabei mit anderen in einem Probenraum Gitarre zu spielen, also … „Mik auch?“, fragte Jamil überrascht. „Er ziert sich“, kommentierte Timothy schulterzuckend. Ich fokussierte meinen Blick und sah ihn an. „Tu ich nicht“, antwortete ich. Timothy grinste und lehnte sich mir etwas entgegen. „Dann lass uns spielen. Wer die meisten Akkorde greift gewinnt.“ Ich erwiderte seinen Blick, nahm meinen Kopf etwas provokativ zurück und stimmte zu. Ob es richtig oder falsch war, konnte ich nicht sagen. Ich wollte in diesen Moment auch nicht weiter darüber nachdenken. Die innerliche Anspannung war enorm, wie zusammengedrückte Zuckerwatte. Ebenso hart und verklebt. Ich wollte mich nicht mehr so widerlich innen fühlen, eingeengt von meinen eigenen Auflagen, sondern einfach einem Gefühl folgen, welches langsam aus den Tiefen hervorkroch. „Von mir aus gerne“, meinte Steven und machte sich daran die Instrumente vorzubereiten. Timothy stand auf, blieb vor mir stehen und sah auf mich herunter. Ich sah nach oben und fing seinen Blick auf, gerade als er vom Mikado abbiss. Timothy verstand ich nicht. Ich glaubte nicht, dass er impulsiv handelte. Aber was hätte er davon mich zu triezen und anzustacheln? Steven steckte die Gitarren in den Verstärker und spielte die Tonleiter, um zu sehen, ob sie nicht verstimmt waren. Ich stand auf. Auf dem Weg zu den Instrumenten dachte ich nichts. Dennoch fühlte ich wie die Anspannung und Aufregung in mir zunahm. Ich versuchte mich lässig zu geben, spielte meine Nervosität mit kleinen Floskeln herunter, wie „Das ist ewig her“ oder „Ich greif bestimmt falsch“. Steven und Jamil redeten mir gut zu. Es sei nur zum Spaß und kein Wettbewerb. Timothy indes legte sich den Gurt um und summte vergnügt „Pocky, Pocky, Pocky“ vor sich hin. Ich legte mir ebenfalls den Gurt der E-Gitarre um und platzierte meine Finger und Hände auf dem Griffbrett. Die Saiten fühlten sich bekannt an, kalt und rau, beinahe kratzig auf meinen ungeübten Fingerkuppen. Timothy begann als erster und spielte plänkelnd eine Melodie. Ich erkannte sie. Das war aus dem zweiten Lied. Timothy war ein guter Sänger und wahrscheinlich ein ebenso guter Komponist und Songwriter. Aber wie gut er spielen konnte, hörte ich jetzt zum ersten Mal. Er zupfte die Saiten verspielt und summte die Liedmelodie dazu. Steven stieg mit dem Bass ein. Jamil saß auf seinem Hocker und tippte mit dem Drumstick den Rhythmus auf einem Becken locker mit. Im Gegensatz zu der Originalfassung war es einfach gehalten und total faszinierend. Wie lange war es her, dass ich musiziert hatte? Ewig, wenn ich richtig darüber nachdenken musste. Früher hatte ich ab irgendeinem Zeitpunkt keine Zeit mehr gehabt zu musizieren und es fand sich auch niemand, der unbefangen mit mir jammen wollte. Ich schluckte schwer meinen Neid runter und blickte auf das Instrument in meinen Händen. Die anderen verstummten langsam und als ich aufsah, hob Timothy nur eine Augenbraue. „Weißt du noch, wie man Akkorde greift?“ Der Hohn war deutlich herauszuhören. Ich verdrehte meine Augen und griff zeitgleich den ersten Akkord. Das Zupfen der Saiten war hart, das Instrument ungewohnt. Trotzdem klang der Akkord durch den Raum und füllte mich mit einer lange vergessenen Ekstase. Die Vibrationen der Töne hallten direkt in meiner Seele wieder. Meine Finger kribbelten regelrecht. Timothy spielte einen anderen Akkord noch ehe meiner verklungen war. Ich tat es ihm gleich. A-Dur. B-Dur. Fis-Dur. G-Dur. E-Moll. D-Moll. Was ich auch vorgab, Timothy folgte. Dur-Dreiklänge. Moll-Dreiklänge. Dur-Sextakkord. Moll-Sextakkord. Es war eine sinnlose aneinander Reihung von Akkorden, welche oftmals nicht harmonisch zusammenklangen. Trotzdem hatte ich so viel Spaß wie lange nicht mehr. Ich vergaß, wo ich mich befand und wer alles anwesend war. Die Tänzer hatten von mir unbemerkt mit den Proben aufgehört und beobachteten unser kleines Duell. Steven und Jamil waren fasziniert von der Flüssigkeit unserer Griffe und starrten gespannt auf unsere Finger. Schließlich zupfte ich vier Akkorde nacheinander. Meine Bewegungen wurden flüssiger und ich kam schnell ins Spielen. Timothy folgte meiner Vorgabe erneut. Nach ein paar solcher Wiederholungen wurde klar, dass wir mindestens gleich gut waren. Es würde keinen Sieger geben, wenn wir auf diese Weise weiter machten. Also wechselte ich zu drei Akkorden mit kleinen Improvisationselementen. Meine Finger ätzten etwas, da sie aus der Übung waren. Zudem war es ungelogen der schwerste Griff, den ich kannte. Ich hatte damals über einen Monat gebraucht, bis ich mich nicht mehr vergriffen hatte. Die Töne verklangen und ich sah zu Timothy auf. Er hatte nicht mitgezogen. Hatte ich damit gewonnen oder hatte ich mich verraten? Eine Sekunde der Unsicherheit verflog viel zu langsam, ehe Steven ein lautes „KRASS“ von sich gab und Timothy schlicht lachte. Meine Anspannung lichtete sich etwas. Ich hatte nicht zu viel riskiert, kam die Erkenntnis langsam durchgesickert und mit ihr die Erleichterung. Ich legte die Gitarre ab. Wenngleich es schade war, nicht noch mehr zu spielen, war es besser jetzt aufzuhören. „Wars das schon?“, fragte der Sänger. „Das war gut, wirklich! Man merkt, du hast viel geübt, wenn du nach so langer Zeit immer noch flüssig greifen und spielen kannst. Hut ab“, lobte er mich. „Mh… war nur Glück“, murrte ich, peinlich berührt und sah zur Seite. Erst jetzt bemerkte ich unsere Zuschauer, was mir einen kalten Schauer über den Rücken jagte. Die Tänzer klatschen höflich. Während Chris auf mich zu kam und fragte, wieso ich so gut spielen könnte, rief Jasmine, dass die Probenzeit vorbei sei und sie aufräumen müssten. Mein kleiner Rausch verschwand so schnell wie er gekommen war und ließ mich nüchtern auf der Couch sitzen. Die Gitarre hatte ich weggeräumt, aber beim Rest hielt ich mich raus. Musiker konnten eigen sein, wenn nicht alles da stand, wo es stehen sollte. Ich kannte beide Arten: Die Unordentlichen und die Pedantischen. Dieser Trupp hier war nicht pedantisch, aber sehr ordentlich. Bei sowas hält man sich am besten raus. Allein das Kribbeln und Britzeln in meinen Fingerkuppen erinnerte mich an das, was ich eben noch getan hatte. Nach sechs Jahren hatte ich erstmals wieder eine Gitarre in der Hand gehabt. Ein tolles Gefühl! „Hat Spaß gemacht, oder?“ Timothy kam und lehnte sich von hinten auf die Couchlehne. Ich schielte zu ihm rüber und brummte nur zustimmend. Was sollte ich es verheimlichen. Ich hatte wirklich viel Spaß gehabt. „Wenn du magst, wiederholen wir das. Ich glaube, bei Steven und Jamil hast du ordentlich Eindruck geschunden.“ „Ich bin Architekt. Was soll ich da mit Instrumenten rumspielen?“, fragte ich zurück. Es war keine ernst gemeinte Frage, sondern mehr wie eine Reaktion, antrainiert, um mich von dem fernzuhalten, was ich liebte. „So? Kann ein Architekt kein Hobby haben?“, fragte Timothy. Seine Gegenfrage ließ mich flüchtig schmunzeln. Sicherlich konnte ich ein Hobby haben, aber war es wirklich so einfach? Konnte ich mir einen solchen Luxus zugestehen? „Sicherlich. Aber ich wollte einfach keine Musik mehr machen.“ „Wollte? Aber jetzt willst du wieder?“, fragte Timothy weiter. Seine Augen leuchteten als hätte er etwas delikates aufgeschnappt. „Ich will keine Musik mehr machen“, verbesserte ich mich und sah ihn streng an. „Keine Musik mehr?“, klang seine Frage nach. Sowie ich das Funkeln in dem Braun sah, wusste ich, ich hatte die falschen Worte gewählt. „Musik machen, Instrumente spielen, alles das gleiche“, wiegelte ich es ab und verallgemeinerte alles zusammen. „Bist du deswegen gegen Karaoke?“ „Das ist alles das Gleiche“, argumentierte ich unlogisch und ignorierte das erfreute Gesicht neben mir. „Es reicht mir, wenn ich Musik höre. Kopfhörer rein, fertig, los.“ Timothy schwieg. Jamil war mit Chris und Nayla nach dem Aufräumen vorgegangen. Steven wartete auf Jasmine, die ihre Tasche noch packte. Ramira und Phillip verabschiedeten sich gerade. „Wir sollten auch gehen“, merkte ich an. „Warte noch“, hielt mich Timothy auf und ging etwas holen. „Schließt du ab?“, frage Jasmine ihren Sänger. Ich war erst das zweite Mal hier, jedoch fiel schnell auf, dass ihre Augen hauptsächlich an Timothy klebten. Nichts schien ihr zu entgehen. Derweil taxierte Steven Jasmine deutlich geschickter mit Blicken. Ich vermutete, dass Steven auf Jasmine stand, Jasmine indes auf Timothy und Timothy … tja. Mir fielen seine Worte von vorhin wieder ein und ich bekam erneut eine Gänsehaut. Timothy stand wahrscheinlich auf niemanden hier. Jasmine beäugte Timothy während er ihr und Steven noch ein Mikado reichte, dann landete ihr Blick auf mir. Warum auch immer sie mich derart taxierte. War ja nicht so, dass ich in Konkurrenz stand ihr Timothy wegzunehmen. Der Typ brachte sich selbst außerhalb jeder Konkurrenz. „Bis dann“, sagte sie schließlich. „Bis nächsten Freitag“, rief Steven mir zu. „Jo“, hob ich meine Hand zum Gruß. Timothy kam auf mich zu und hielt ein Mikado vor meine Nase, ohne es mir zu geben. „Was soll ich jetzt damit?“, fragte ich entnervt und sah beim Augenrollen, wie langsam Jasmine den Raum verließ. „Du hast bei den Akkorden gewonnen, aber nun spielen wir hier drum.“ „Pocky Game?“, fragte ich verwundert, während die Tür zum Flur just geschlossen wurde. „Genau.“ Ich hob fragend eine Augenbraue. „Ist das nicht ein Pärchen- und Gruppenspiel? Wäre es nicht besser gewesen, wir hätten das mit den anderen zusammengespielt?“ Timothy überlegte flüchtig und verneinte. „Bei so viel Auswahl wärst du nie fertig geworden.“ „Glaubst du! Ich bin ziemlich gut in diesem Spiel.“ „Wirklich?“, fragte er provozierend, ein Schmunzeln auf den Lippen. „Zeig“, forderte er und reichte mir ein Mikado. Wenn er es so wollte. Ich nahm das Stäbchen und stand auf. Neben ihm stehend, war ich zwar immer noch kleiner als er, aber das störte meine Taktik nicht im Geringsten. Ich nahm das schokoladige Ende in den Mund und sah herausfordernd auf. Timothy überlegte einen Moment, dann kam er mir näher. Bei diesem Spiel ging es darum, von beiden Enden zu knabbern und sich in der Mitte zu treffen. Wer zuerst wegzog hatte verloren, weshalb viele es als Anlass für einen Kuss nahmen. Allerdings sah ich das Spiel etwas anders und das aus zwei Gründen. Erstens: Ließ ich mich nicht einfach so von jedem Küssen. Zweitens: Meiner Meinung nach ging es bei dem Spiel darum, wer die meiste Schokolade abbekam. Dahingehend hatte ich meine Technik entwickelt. Ich hielt das Stäbchen leicht zwischen meinen Zähnen, die Spitze lag auf meiner Zunge auf, meine Lippen umschlossen die Schokolade locker. Als Timothy nah war, saugte ich das Mikado ein Stück weit in meinen Mund und brach es mit der Zunge ab. Timothy stockte. Auf ihn zeigte die Seite ohne Schokolade. Er musste von sich aus schon einen größeren Anlauf für einen größeren Bissen nehmen. Allerdings war nur noch die Hälfte des Stäbchens übrig. Wollte er nichts riskieren, müsste er schnell und vorsichtig sein. Er kam näher, doch mein Blick wich nicht aus. Ich achtete auf seine Augen, dann seine Lippen. Als er Anlauf nahm, zog ich das restliche Mikado in meinen Mund und er biss in die Luft. Ich grinste breit mit geschlossenem Mund. „Mies“, entkam es ihm. „Nochmal?“, fragte ich und kaute hinter. „Du darfst gerne anfangen.“ Das tat er auch. Er steckte sich das unschokoladige Ende in den Mund, sodass seine Lippen den Schokoanteil leicht berührten und neigte mir seinen Kopf entgegen. Man sah ihm an, dass er seinen Sieg gesichert glaubte. Ich legte nachdenklich meinen Kopf von rechts nach links, ehe ich einen Schritt nähertrat. Amüsiert bemerkte ich, wie Timothy sich davon abhielt zurückzuweichen. Das Mikado im Blick schlich sich ein Lächeln auf meine Lippen. Im nächsten Moment schnellte meine Hand vor und legte sich in Timothys Nacken. Zugleich stellte ich mich auf meine Zehenspitzen und nahm Dreiviertel des Mikados in den Mund. Etwa ein Zentimeter trennte uns. Ich spürte seinen Atem auf meinem Gesicht und sah direkt ins Braun. Noch könnte er vorrücken und sich die Schokolade sichern, wenn er riskieren wollte, dass es zu einem Kuss kam. Nach zwei Sekunden, biss ich schließlich zu und ließ vom ihm ab. Timothy blieb mit dem wenigen Rest zurück. Triumphierend kaute ich und neigten meinen Kopf koket zur Seite. „In diesem Spiel schlägst du mich nie.“ Grinsend und mit mir zufrieden, griff ich meine Tasche und verließ den Probenraum. Kapitel 6: Konzert zum 1. Juni ------------------------------ Kapitel 6: Das Konzert zum ersten Juni fand in drei Wochen auf einem Sonntag statt. Das ergab drei Freitage an denen Mikael zu den Proben kommen würde. Timothys Gedanken drehten sich hauptsächlich um diesen Winzling. Er wusste längst den Grund. Es sich einzugestehen, wagte er jedoch nicht. Timothy hasste Erkenntnisse und er hasste das, was nach ihnen folgte. Unwissenheit vorzutäuschen war der einfachere Weg und klappte in den meisten Fällen sehr gut. Es sollte als Kunstform anerkannt werden, die eigenen Gedanken soweit unter Kontrolle zu haben, dass man nur bis zu jener heiklen Linie dachte, ab welcher alles komplizierter wurde. Während der Seminare ahnte er es schon. Es war ein Gefühl, welches aufwallte und verschwand, wenn Mikael in der Nähe war. Wie ein Welle, die ihm durch seine Hände floss und wieder einholte. Nach jeder Begegnung blieb die mitgebrachte Flut und wurde höher und höher. Irgendwann würde Timothy sicher darin ertrinken. Trotzdem konnte er sich davon abhalten, diese gedankliche Linie zu überschreiten. Dahinter lag nichts, was er zum jetzigen Zeitpunkt haben wollte, selbst wenn er es tief in sich gerne besitzen wollen würde. Die Sache mit den Dingen, die man nicht verlieren wollte, war, dass man sie verlor, sobald man sie erhielt. Das war ein Gesetz, so natürlich wie der Tod und das Leben, das immer eintreten würde. Der Zeitpunkt war nicht vorgeschrieben. Manchmal hatte man Glück und konnte sich in seiner Errungenschaft suhlen, manchmal glitt sie einem durch die Finger, noch ehe man sich daran erfreuen konnte. Timothy wollte nichts verlieren. Er hatte die ihm wichtigen Dinge oft genug zu spät erkannt und verloren. Das Wenige, was ihm noch blieb, wollte er schützen. Er besaß dieses Pech nun mal und hatte gelernt damit zu leben. Trotzdem zählte er jede Begegnung bis zum Konzert, in der er diesen aufmüpfigen Gartenzwerg sehen konnte. Diese winzige Hüpfdohle zauberte ihm selbst in seiner Abwesenheit ein Schmunzeln ins Gesicht. Mikael konnte super Gitarre spielen. Ihre kleine Jamsession hatte viel ausgelöst. Jamil und Steven waren von Mikaels Können begeistert. Chris war gänzlich aus seinem Schneckenhaus herausgekommen und redete nun offen und gerade heraus mit Mikael. Die Jungs hatten den Zwerg sogar zu ihnen in die WG eingeladen, um nochmal zu jammen. Mikael lehnte ab, gab sich verhalten und negierte sein Talent. Eile mit Weile, mahnte sich Timothy. Er mochte die Art und Weise, wie sie sich in der Öffentlichkeit und im Beisein seiner Freunde runterputzten. Es war scherzhaft und nie ernst gemeint. Sie tickten in dieser Sache erstaunlich gleich. Umso vertrackter die Frage, warum sie in Bezug auf die Musik nicht ähnlich gleich tickten. Timothy war Feuer und Flamme fürs Singen, Komponieren und Musizieren. Er war sich sicher, dass es Mikael genauso ging. Nur stellte dieser sich querer als ein entgleister Zug. Nichtsdestotrotz würde Timothy dafür sorgen, dass es nicht mehr lange dauerte bis Mikael einknickte. Er musste es nur geschickt anstellen. Während der Rechtsseminare arbeitete Timothy an seinem Plan. Er triezte den Kleineren und säte hier und da den Gedanken an ein erneutes Spiel. Mikael war eine harte Nuss. Was auch immer früher gewesen war, hatte ihn beinahe resistent gegenüber Musik gemacht. Aber eben nur beinahe. Mikael war leicht zu lesen. Seine Augen und Mimik gaben viel wieder. Seine langen Locken ließen ihn wild wirken. Er band seine Haare selten zusammen oder nutzte Haarklemmen um sie aus seinem Gesicht zu halten. Timothys nächste Chance Mikael zu bearbeiten, war bei der vorletzten Probe. Er konnte den Freitag kaum abwarten. Sein Plan war perfekt. Mikael würde nicht ablehnen können. Aber alles der Reihe nach. Für diesen Freitag hatte Timothy ihn über die gesamte Woche hinweg bei jeder sich bietenden Gelegenheit in ein musikalisches Thema verwickelte. Mikael agierte und antwortete zeitweise akkurat auf seine Fragen, ehe er sich seines Verstandes bediente und abermals in sein zugeknöpftes Muster verfiel. Entfremdet von jeglichem Spaß durch Musik. Während der Freitagsprobe gaben die Tänzer alles, um perfekt zu tanzen. Timothy wusste, dass sie hart an sich arbeiteten, weil Chris und Nayla nur noch dieses eine Thema beim Essen kannten. Nachdem sie alle wichtigen Parts geprobt hatten, blieb noch genügend Zeit für etwas Entspannung. In Absicht dessen stupste Timothy das Thema Jammen leicht an und seine Freunde erledigten den Rest. Mikael war deutlich im Nachteil und konnte sich gegen die Übermacht an bittenden Augen nicht wehren. Er knickte grandios ein und schenkte dem Verursacher des Ganzen giftige Blicke. Wenn Blickte töten könnten, hätte Timothy mindestens ein Messer in der Stirn zu stecken. Davon unbeirrt, lächelte er amüsiert und zog wie zufällig einen Satz Noten aus seinem Rucksack. Jamil und Steven gingen mit Mikael die Noten durch. Das Lied selbst war vom letzten Jahr und auch Bestandteil eines Auftrittes gewesen. Mikael spielte zunächst alleine. Die Noten las er flüssig, mit nur wenigen Vorzeichenfehlern. Als Steven mit dem Bass einstieg, gewöhnte sich Mikael schnell an das Zusammenspiel. Als Jamil mit dem Schlagzeug dazukam, gab es keine weiteren Stolperer. Die Tänzer applaudierten. Wie beim letzten Mal saßen sie auf dem Boden und dienten als Publikum. Wenn jemand Fachfremdes, aber mit genügend Gespür für Musik und Takt anwesend war, war es nur logisch, dass man ihn auf die aufgedrehte Seite des Lebens ziehen wollte. Das ging hier allen so. Mikaels frühere musikalische Erfahrung erleichterte es ihnen nur. Timothy erhob sich von seinem Zuschauerplatz und schenkte Mikael im Vorbeigehen ein Lächeln. Es folgte ein zweiter Durchlauf. Jamil gab den Takt vor und Timothy griff nach dem Mikrofon. Der Bass kam dazu, der Text begann. Mikael sah überrascht zu Timothy auf. Was auch immer Mikael gerade durch den Kopf ging, hielt seine Hände nicht davon ab ein paar Takte verspätet einzusteigen. Der Text und die Melodie waren gut, wenngleich es eines von Timothys älteren Werken war. Als Thema bediente er sich des Vorankommens im Leben. Timothy hatte keine einfache Jugend gehabt. Am Rande der Stadt in einem der Armenviertel zu wohnen, bedeutete nicht viel. Die Menschen besaßen wenig und die meisten wollten nichts im Leben erreichen. Doch die ein oder anderen, wie seine Schwester und er, wollten mehr. Sie hatten dafür gekämpft und etwas erreicht. Davon handelte dieses Lied. Mikael hatte ein anderes Leben geführt, mit Hürden von denen Timothy nichts wusste. Nur Mikaels Zwiespalt bezüglich seines Verhaltens gegenüber Musik und wie er ständig versuchte sich von dieser zu distanzieren, erkannte Timothy mittlerweile spielend. Mikaels Gitarrenkünste, sein Noten- und Melodieverständnis und die Freude, die ihm deutlich im Gesicht stand, wenn er Teil der Musik war, zeigten den Kontrast zu dem was er sagte und wie er sich verhielt. Timothy war neugierig, was er noch alles am Anderen entdecken würde. Aufregung erfüllte ihn und seinen Gesang. Die dunklen Augen spiegelten die innere Freude wider. Nach der letzten Note klang der Verstärker einen Moment nach. Der Applaus folgte prompt. Timothy sah zu dem Neu-Gitarristen neben sich. Das Haselnussbraun war hell und klar. Freude, nein Spaß, stand Mikael übers ganze Gesicht geschrieben. Erst als er Timothys Blick auffing, verzog Mikael für einen flüchtigen Moment das Gesicht. Die Augenbrauen rutschten tiefer, der Blick wurde stechend und ein Mundwinkel zuckte nach unten. Es war als würde Mikael laut und deutlich sagen: „Ich hasse dich.“ Timothy lachte. Mit Hass konnte er arbeiten, dachte er und wusste zugleich, dass es abermals nicht ernstgemeint gewesen war. Die amüsanten Momente mit Mikael waren verschwindend gering im Gegensatz zum restlichen Alltag. Es war Montag und Timothy war in die Bibliothek gegangen, um sich einige Bücher für seine Hausarbeit auszuleihen. Sie schrieben im Vergleich zu anderen Studiengängen recht wenig Hausarbeiten, was nicht bedeutete, dass diese dann weniger gewichtet wurden. Um etwas Ruhe zu finden, hatte Timothy sich einen ruhigen Flecken auf dem Campus gesucht. Die sichelförmig angelegte Grünfläche war nicht die einzige grüne Oase. Unterhalb davon gab es einen kleinen, lichten Hain, der hauptsächlich aus Birken und Pappeln bestand. Ab und an standen Bänke verteilt oder man setzte sich direkt an einen Baum ins Gras. Timothy wählte letzteres. Es gab eine besonders alte Birke, mit dickem Stamm, an die er sich gerne setzte. Im Gras sitzend, hatte er die Bücher um sich verteilt und die aufgeschlagenen Seiten mit kleinen Steinen beschwert, damit der seichte Wind sie nicht umblätterte. Es war ein angenehm sonniger Tag für Mai. Die Blätter rauschten sanft und die Sonne malte Mosaike aus Licht und Schatten auf das Gras, die Bücher und ihn selbst. Es war angenehm warm. Eine Schale mit Obst stand neben ihm. In seine Arbeit vertieft, griff er ab und an hinein und mümmelte, was er gerade zu fassen bekam. Nayla war so nett gewesen und hatte Äpfel kleingeschnitten, Weintrauben hineingetan und ein paar Mandarinen geschält. Wer wäre er, wenn er die Mühen seiner kleinen Schwester nicht zu schätzten wüsste?! Vertieft in seine Thematik, nahm er die Hintergrundgeräusche kaum wahr. Erst als er angesprochen wurde, sah der junge Sänger auf. „Dich mal staubige Studentenarbeit erledigen zu sehen, ist wirklich ein Erlebnis.“ Mikael stand vor ihm, sein Handy in der Hand, welches er eilig in seine Tasche steckte und sich anschließend neben eines der aufgeschlagenen Bücher, links von Timothy, hockte. Eine seiner Augenbrauen hob sich. Stumm wundernd, fragend und bemitleidend. Ja, geschichtliche Themen waren nicht immer angenehm. „Was machst du hier?“, fragte Timothy und musterte den Architekten. Mikael trug eine enge dunkle Hose, welche seine Beine nur optisch länger machten. Dazu ein weißes Hemd. Die oberen Knöpfe waren offen und offenbarten die dezent hervorstehenden Schlüsselbeine. Seine Haare waren gebändigt worden. Die rechte Seite war nach hinten geflochten, sodass die losen Enden des Zopfes über seine linke Schulter fielen. Timothy schluckte unbewusst. „Hab dich gesucht.“ „Aha, und gefunden. Was ist mit deinen Haaren passiert?“, fragte er neugierig. „Ach, das… Ich dachte du wärst in der WG und bin dahin“, erklärte Mikael schulterzuckend. „Nayla und Chris haben mir verraten, wo ich dich vielleicht finden könnte und dabei hat sie mich als Versuchsobjekt zum Flechten benutzt.“ Mikaels Erklärung klang beiläufig, während sein Blick deutlich warnte einen Kommentare über seine Frisur zu geben. Timothy schmunzelte. Er fragte sich, warum Mikael ihn nicht einfach übers Handy gefragt hatte. Doch der Gedanken verfiel fast augenblicklich noch ehe er zu Ende gedacht war. „Sieht besser aus als sonst“, kommentierte Timothy die Frisur. „Und womit kann meine Wenigkeit dir behilflich sein?“ Mikael löste seinen Blick von den Unterlagen und legte einen Arm lässig auf seinen Oberschenkel. „Und ich dachte, Eure Eminenz wäre nicht zu hause. Schwubs ist er wieder da“, lamentierte Mikael halbherzig. „Ich wollte wissen, wie es mit dem anderen Stück läuft.“ „Omphalos?“ „Mh.“ „Es ist grob fertig, aber nicht so, dass ich es dir zeigen könnte“, antwortete Timothy und lehnte sich gegen den Baum. Er griff sich ein Stück Mandarine und steckte es sich in den Mund. „Okay“, antwortete Mikael und verweilte in der Hocke. „Willst du?“, fragte Timothy und bot ihm ein Stück Mandarine an. Den Kopf amüsiert schief gelegt, hielt er sie Mikael vor die Nase. Dieser lehnte sich etwas vor und öffnete den Mund, biss aber in die Luft. Timothy hatte seine Hand zurückgezogen und sich das Stück selbst in den Mund gesteckt. „Hey, ich denke ich darf.“ „Zu langsam“, kommentierte Timothy und holte eine neues Stück Mandarine. „Du willst doch noch was. Spuck‘s schon aus, sonst bekommst du keine.“ Mikael seufzte schwer. „Ich kann nächste Woche vielleicht nicht zur Probe kommen.“ „Warum nicht?“, fragte Timothy überrascht nach, während ein Teil seines Hirns bereits an die gewonnene Wette dachte. „Besuch“, antwortete Mikael kurz. „Bring ihn mit.“ „Niemals!“ Es klang abwertender als es gemeint war. Timothy sah das flüchtige Zucken in Mikaels Mimik, dass ihm zeigte, dass dem Ton keine weitere Bedeutung beizumessen war. „Warum nicht? Wir sind gut. Oder … willst du nicht, dass man dich mit uns sieht?“ Mikael sah zur Seite, die Lippen zu einer dünnen Linie zusammengedrückt, hadernd. Ob es wegen der Worte oder seiner eigenen Gedanken war, war nicht klar zu erkennen. „Mach Ah“, sagte er und hielt Mikael das Stück hin. Leider wurde Timothy nur unbeeindruckt mit einem abwartenden Blick fixiert. „Wenn du nicht kommst, gewinne ich die Wette. Bring ihn mit oder lass ihn warten. Es findet sich sicherlich eine Möglichkeit, wie du dich zu uns stehlen kannst“, erklärte Timothy. Während er sprach, lockte er Mikael mit der Mandarine näher und näher, bis Mikael ein Knie am Boden und seine Hand am Stamm als Stütze nutze, um einen Rest Abstand zwischen sich und dem Sitzenden zu wahren. Erst jetzt drückte Timothy das kühle Stück Obst gegen die noch geschlossenen Lippen. Timothy sah hinauf in helles Braun. Ein ungewöhnliches Bild. Sonst war es umgedreht. Ebenso, dass sie normal miteinander gesprochen hatten, ohne zu streiten. Timothy war sich sicher, wenn hier noch jemand anwesend wäre, hätte Mikael spätestens beim Angebot des Obststückchens gewettert. Doch es kam nichts. Die Lippen des Anderen waren immer noch zusammengepresst. Die kühle Mandarine drückte sanft gegen die schmalen Lippen. Scheinbar widerwillig öffneten sie sich, sodass Timothy sie vorsichtig hineinschieben konnte. Wie weit Mikael ihn wohl gehen lassen würde, ehe er ihm in den Finger biss oder das Stück entriss? Würde er es wie beim Mikado machen? Timothy beobachtete gespannt, wie die Lippen sich teilten und weiße Zähne sichtbar wurden. Diese fassten die Mandarine nach der Hälfte vorsichtig ein. Timothy schob weiter, doch es tat sich nichts. Er übte etwas Druck aus, doch nichts. Die langen Finger lösten sich von der Mandarine, glitten über Mikaels Unterlippe hin zum Kinn. Ein Tropfen süßen Saftes sammelte sich an jener Unterlippe. Es wäre zu schade ihn fallen zusehen, dachte Timothy noch und gab dem Drang nach Nähe nach. Haselnuss starrte in dunkles Braun. Einen Moment geschah nichts. Nur zwei Augenpaare, die sich anstarrten. Timothy entspannte sich als erster, saugte leicht am Bauch der Mandarine und an der Unterlippe. Keine Sekunde später löste er sich vom Mikael und brachte die gewohnte Distanz zwischen sie. Mikael blinzelte und aß die Mandarine, ehe er sich aufrichtete. Seine Hände schoben sich zurück in die Hosentaschen und sein Blick wich zur Seite aus, in die Weite des Campus‘. Timothy hatte einen Moment nicht aufgepasst und sich seinen Träumereien hingeben. Dabei hatte er diese Grenze zwischen Freund beziehungsweise Bekannten hin zum „Plus“ nicht überschreiten wollen. Er schluckte die Süße herunter und presste seine Lippen aufeinander. Sie kribbelten und wollten nicht aufhören. „Ich melde mich, wenn ich fertig bin“, sagte Timothy schließlich auf das Musikstück bezogen. „Okay“, antwortete Mikael und warf einen flüchtigen Blick zurück. Timothy lehnte seinen Kopf gegen die Rinde und atmete tief durch. Er hatte wirklich keine Lust es sich einzugestehen. Noch nicht. Von dem kleinen Unfall angestachelt, drehten sich Timothys Gedanken um die Beziehungen, die er bisher gehabt hatte. Es waren nicht viele, aber auch nicht wenige. Normal für sein Alter, dachte er. Unter all jenen gab es viele Frauen. Einige mit denen er mehr gehabt hatte, andere für weniger körperliches, dafür aber gut zum Reden geeignet. Es hatte auch mal einen männlichen Verehrer geben. In seinem vorletzten Schuljahr kam ein Junge auf ihn zu, deutlich jünger, deutlich anders geprägt. Da der Junge ihn während der Hofpause gefragt hatte, war daraus ein kleines Spektakel geworden. Timothy erinnerte sich an die Schaulustigen und die gespannten Augen. Höflich, aber bestimmt, wies er den Jungen ab und machte damals deutlich, dass er am gleichen Geschlecht kein Interesse hatte. Davon ausgehend, sollte der Unfall mit der Mandarine nicht mehr als eine Randbemerkung wert sein. Sollte … denn es lungerte immer wieder in seinen Gedanken herum. Die hellen Augen so nah, das hauchzarte Streifen des Atems oder der Geruch von kalter Luft und Blättern. Mikaels Lippe war weicher gewesen als gedacht... Hatte sich sein Geschmack in den letzten drei Jahren ohne eine Beziehung geändert? Nein, das war es nicht. Es musste an Mikael selbst liegen, denn andere männliche Wesen interessierten ihn nicht die Bohne. Leider stellte Timothy fest, dass auch die weiblichen Wesen in seinem Umfeld nicht ansprechend genug waren, als dass sie dauerhaft einen Platz in seinen Gedanken fanden. Indes nistete sich Mikael ein und ließ dem Sänger kaum eine ruhige Minute. Im ersten Rechtsseminar für diese Woche waren sie, wie üblich, nicht allein und keiner von ihnen wollte das gestrige Thema eröffnen. Es blieb bei ihrem gewohnten Stänkereien und Neckereien. Wenn Mikael ihn ignorierte, spielte Timothy so lange mit dessen Fingern, bis Mikael sich frustriert zu ihm umdrehte und er eine unschuldige Schnute ziehen konnte. Sein Coup gelang und Timothy kam erneut in den Genuss kurzer, aber eleganter Finger in seinen Haaren. Im zweiten Seminar stritten sie über eine Nichtigkeit so laut, dass der Dozent sie ermahnte. Timothy nahm sich vor, die Grenzen einzuhalten. Gedanklich und emotional. Zugleich spürte er, dass er seine gesetzten Grenzen jedes Mal ein wenig mehr dehnte, wenn es um Mikael ging. Dessen Finger waren weicher als erwartet und die Vorstellung diese Kuppen könnte eine Gitarrensaite zupfen, ließ seinen Magen kribbeln. Wenn Timothy glaubte einen Schritt erfolgreich zurück gemacht zu haben, lockte dieses Würmchen ihn zwei nach vorne. Ätzend. Nervend. Anstrengend. Das Einzige was derweil wirklich gut funktionierte, waren seine Liedtext- und Melodieideen. Ihre Probe am Freitag verlief ohne Probleme. Nach drei kompletten Durchgängen zog Timothy sich auf die Couch zurück und schrieb. Seine Hand flog über das Papier. Egal ob Text oder Noten. Wenn er doch mal stockte, sah er zu den Tänzern oder den anderen Dreien, welche Technikübungen an den Instrumenten machten. Seinen Gedanken wiedergefunden, schrieb Timothy weiter. Er war so gefangen, dass er die Zeit ganz vergaß. „Bis dann“, sagte Mikael in die Runde. „Du gehst schon? Dabei könnten wir heute noch zum Karaoke gehen“, sprach Chris ihn an. „Sorry, ich kann leider nicht“, sagte er nur und verschwand bereits durch die Tür. Timothy sah flüchtig auf und fühlte regelrecht wie seine Inspiration mit dem Gartenzwerg durch die Tür ging und „byebye“ winkte. Verdammt! Eine Muse zu haben war gut und schön, aber nicht, wenn man so fixiert auf sie war! Er musste das unterbinden und zwar schnell! Timothy lehnte seinen Kopf zurück und ließ die Hände neben sich fallen. Mist, sein Gedanke war weg… Einen Moment suchte er in seinem Hirn nach dem Anfang, gab es dann schließlich auf. Weg war weg, seufzte er und griff nach dem Stift, welchen er eben losgelassen hatte, als seine Hände auf die Couch gesunken waren. Stattdessen erfühlte er ein Handy und hob es auf. Sein Kopf neigte sich überlegend, ehe er auf den Anknopf drückte. „Gehört das jemanden?“, fragte er die noch übrigen Mitglieder. „Mir nicht.“ „Nicht meins.“ „Wer hat schon diese Marke?“ „Dann ist es Miks“, erklärte Timothy und ein Schmunzeln erschien auf seinen Lippen. „Willst du es ihm bringen?“, fragte Jasmine, welche sich mit verschränkten Armen vor ihn stellte. „Ehe er es noch vermisst“, summte Timothy. „Dann würde er zurückkommen und es holen. Du musst ihm nicht extra hinterherlaufen. Überhaupt, was soll das neuerdings?“, fragte Jasmine. „Warum hast du ihn hergeschleppt?“ „Weil er ein gutes Gespür für Musik hat und uns helfen konnte, wenn du dich erinnerst.“ Jasmine winkte ab. „Das kannst du auch.“ „Ich wollte nicht auf den letzten Drücker fertig werden. Es ist doch gut, wie es gelaufen ist“, argumentierte Timothy und stand auf. Ohne sich zu verabschieden, ging er hinaus und ließ die Tänzerin stehen. Wenn er sich dafür entschieden hatte, Mikael mitzubringen, war das eben so. Die anderen verstanden sich alle gut mit dem Architekten, nur Jasmine zog ein Gesicht, als würde er ihr die Butter auf dem Brot nicht gönnen. Das Handy in seine Hosentasche gesteckt, ging er auf geradem Weg zu Mikaels Unterkunft. WG konnte man es nicht nennen, da er noch alleine lebte. Kurz bevor er sein Ziel erreicht hatte, blieb er stehen und sah in Richtung Mensa, von wo ein eilender Mikael angelaufen kam. Er trug zwei Tüten. Sicher hatte er in der Mensa für sich und seinen Gast noch etwas zu essen gekauft. Wenn der Gast so anspruchslos war, dass Mensaessen reichte, handelte es sich vielleicht um einen Kommilitonen? Timothy schob beide Hände in seine Hosentasche und hielt das Handy fest. Der Gedanke erfreute ihn nicht sonderlich. Andererseits war es nur natürlich, dass Mikael andere Freunde hatte, die vielleicht auch noch in seinem Studienbereich versiert waren. Oder ihn von Früher kannten. Alte Freunde oder vielleicht ein Lover? Als Mikael nur noch wenige Meter entfernt war, entdeckte er Timothy und wurde langsamer. „Was machst du denn hier?“, fragte er etwas außer Atem. „Ich wollte mir deinen Besuch ansehen“, erklärte Timothy koket. „Ja, nee. Also ob. Ob ich Besuch habe und wer das ist, ist dir doch total egal. Was willst du hier?“ Timothy lächelte charmant und folgte Mikael auf den Schritt. „Aber du wolltest unsere Wette aufgeben für diesen Besuch. Jemand für dich so wichtiges, muss ich kennenlernen.“ „Musst du nicht.“ „Je mehr du es verneinst, desto mehr interessiert es mich.“ „Es ist nur ein alter Kommilitone“, erwiderte Mikael, seine Strategie wechselnd. „Was heißt alt?“, fragte Timothy nach und folgte ihm bis vor die Haustür - erleichtert, dass es sich um einen alten Kommilitonen handelte. „Von meiner alten Uni. Wir waren im Bachelor zusammen.“ „Richtig zusammen?“ Mikael zuckte zusammen und öffnete die Tür, nur um genervt zu Timothy zu sehen. „Nein! Wir sind gute Freunde.“ Die Erleichterung breitete sich warm in Timothy aus. Scheinbar war es niemand, den er fürchten musste. „Hey Ben, ich glaube nicht, dass es gut ist, wenn ich die-“ „Dann stell ihn vor. Ich verspreche, ich benehme mich“, schlug Timothy fröhlich vor und unterbrach die Stimme, welche vom Sofa gekommen war. Mikael schnaufte und zeterte zurück. Wenngleich sein Ton schärfer wurde, hielt er Timothy nicht auf, als dieser durch die Tür schritt. „Du und dich benehmen? Du schaust dich um und lässt dann wieder einen Spruch los.“ „Glaube es ruhig, ich kann mich sehr gut benehmen.“ „Glaub ich nicht. Jeder dritte Satz zielt auf meine Körpergröße ab. Weißt du, wie nervig das ist?“ Timothy zuckte mit den Schultern. „Kleine Leute sind immer so schnell auf die Palme zu bringen. Dabei liegt es mir fern, deine Sicht noch mehr einzuschränken, als sie es sowieso schon ist.“ „Lass das!“ „Hast du nicht damit angefangen?“ Die Tür war längst ins Schloss gefallen. Beide Studenten standen im Eingangsbereich und ignorierten den Gast auf der Couch. Dieser besah sich das Spektakel schweigend. Mikael atmete tief durch und legte die Hände, die Tüten noch haltend, bittend aneinander. „Timothy, ein anderes Mal, ok? Würdest du jetzt bitte wieder gehen?“ Erstaunt hob Timothy eine Augenbraue. Sein Blick glitt zur Couch, von dem ihnen der fremde Besucher interessiert zusah. Straßenköter blondes Haar mit etwas Wachs gebändigt und in Form gebracht, graue Augen und ein leicht kantiges Gesicht. Er wirkte, als sähe er sich eine Soap an. Ein Normalo. Sicherlich Architekturstudent. Timothy maß Mikael mit einem entspannten, desinteressierten Gesicht und zuckte abermals mit den Schultern. „Dann willst du das hier nicht haben?“, fragte er und zog das Handy aus seiner Hosentasche. Überrascht tastete sich Mikael ab, ehe die Erkenntnis ihn traf. „Das hättest du mir draußen schon geben können“, knurrte Mikael und hielt die Hand auffordernd hin. Timothy entzog ihm das Handy und schaute gespielt zur Seite. „Nö. Du wolltest, dass ich gehe, also hol‘s dir später ab. Viel Spaß mit deinem Gast“, entkam es Timothy erstaunlich schnippisch. „Hey. Warte! Das ist meins. Lass es hier, wenn du schon hier bist!“ „Nur wenn ich bleiben darf“, forderte Timothy. „Darfst du nicht! Ich hab‘ dir gesagt, wer er ist.“ Timothy hielt das Handy höher, je gieriger Mikael danach zu greifen versuchte. „Langweilig. Das war kein richtiges Vorstellen. Wie kann jemand so Kleines überhaupt einen Freund haben?“ „Laber nicht rum, gib mein Handy her, du Lulatsch.“ „Sagte der Grashüpfer.“ „Klappergestell.“ „Laufender selektiver Nachteil.“ „Kulturloser Joghurt!“ „Knirps.“ „Egomane.“ Sie fingen gerade erst an ihren Streit auszubauen und in Fahrt zu kommen, als sie jäh unterbrochen wurden. „Timothy. Hier.“ Schnell wie ein weißer Blitz raste etwas auf ihn zu. Timothy ließ das Handy fallen und fing das Objekt gelassen ab. „Und das ist?“, fragte Timothy und besah sich die weiße Plastikkarte in seiner Hand. Fragend hob sich seine Augenbraue. Als er die Chipkarte erkannte, machte sein Herz einen kleinen Satz. „Haaaa~“, entkam es Mikael panisch. Eben noch erleichtert sein Handy gefangen zu haben, sah er ein neues Bild des Grauens. „Hannes!“ „Hahaha, bei ihm ist sie besser aufgehoben“, sprach Hannes, der Gast von der Couch, amüsiert. „Deine Chipkarte?“, fragte Timothy zwischendrin. „Ist sie nicht!“, jammerte Mikael an Hannes gerichtet. „Sie war für dich bestimmt. Er ist die vollkommen falsche Adresse!“ „Ohhh~ Es ist wirklich die Chipkarte zu dieser Wohnung hier“, stellte Timothy mit einem süffisanten Grinsen fest. „Denk nicht weiter und Gib. Die. Karte. Wieder. Her“, forderte Mikael eindringlich, während er nach der Chipkarte haschte. Ähnlich wie mit dem Handy hielt Timothy sie ohne große Mühe nach oben. Komplett aus Mikaels Reichweite. Das Rascheln der Tüten, ließ Mikaels Bewegungen umso hektischer erscheinen. „Er ist besser geeignet als ich“, argumentierte Hannes weiterhin amüsiert. „Ist er nicht“, meinte Mikael abwehrend und setzte zu einem besonders hohen Sprung an. „Nachdem was ich gesehen habe schon. Ben, mit ihm als Bekanntschaft bist du hier besser aufgehoben als mit mir. Ich wohne viel zu weit weg.“ Mikael sprang hoch, sodass Timothy die Karte in seiner Hand nach unten zog und einen Schritt zur Seite tat. Die Karte verschwand in der Hosentasche. Angefressen landete Mikael und sprang sofort wieder auf. Er ging zu seinem Gast und tippte ihm mit dem Zeigefinger auf die Brust. „Das ist doch egal. Hauptsache, sie wäre an einem sicheren Ort.“ „Und viel zu weit weg, um sie mal eben schnell zu holen. Was spricht dagegen, sie jemanden zu überlassen, der auch auf dem Campus wohnt und mit dem du dich gut verstehst?“ „Wir verstehen uns überhaupt nicht gut!“, kam es synchron von Timothy und Mikael. Einmal energisch, einmal abgeneigt. „Hahaha ja ja“, lachte Hannes. „Du wolltest also deine Ersatzkarte jemanden geben, falls du deine mal verlierst? Wäre es nicht einfacher sie unter der Fußmatte oder in einem Blumentopf zu verstecken?“, fragte Timothy. „Ich will bestimmt nicht dein Backup sein, nur weil du vergesslich bist.“ „Dann gib sie wieder her“, forderte Mikael und hielt seine Hand auf. Abschätzig sah Timothy auf den Kleineren hinab. Er wollte kein bloßes Backup sein. Das war eine Aufgabe, die wirklich jeder übernehmen könnte, sogar Chris oder Jamil. Es wunderte Timothy, dass Mikael diese beiden nicht in Betracht gezogen hatte. Sie würden es mit Freuden machen. „Ich denke ich behalte sie bis nächsten Freitag. Dann kannst du ja Chris oder sonst wen fragen, ob er dein Backup sein will“, erklärte Timothy abwinkend und ging Richtung Tür. Missmutig darüber, dass ein Fremder ihn zu diesem Schatz verholfen hatte. „Was soll das denn heißen? Hey, Tim, warte und lass die Karte hier!“, rief Mikael und folgte Timothy auf den Fuß. Dieser blieb wie gewünscht stehen und drehte sich zu Mikael um, welcher fast in den Größeren gerannt wäre. „Für einen Knirps bist du erstaunlich wankelmütig. Gehen, bleiben, such dir etwas aus“, meinte Timothy grimmig und hob sachte Mikaels Kinn an. „Etwas dazwischen gibt es nicht.“ Timothy verließ die fremde WG. Mikael hatte ihn nach dem bisschen an Hautkontakt freiwillig hinausgeworfen und hatte nun seinen Gast ganz für sich. Dieser alte Studienfreund, nein, sogar ein richtiger Freund von Mikael, schien ganz in Ordnung zu sein. Zumindest schien er Mikael zu kennen und wusste, was gut für den Architekten sein würde. Nur dass er ihn „Ben“ nannte… war dieser Hannes wirklich auf Mikaels Vorstellungsquatsch reingefallen und hatte ihm einen neuen Namen gegeben? War das nicht ziemlich albern, fragte sich Timothy und trottete langsam selbst nach Hause. Die Chipkarte in seiner Hosentasche gab ihm ein mulmiges Gefühl. Die Grenzen verwischten langsam. Das war nicht gut. Einerseits wollte Timothy nichts lieber, als das alles beenden und die Chipkarte zurückgeben, andererseits wollte er auch nicht nur der Backup-Plan sein. Es wäre etwas anderes, wenn Mikael ihm die Karte gegeben hätte, damit Timothy selbstständig die Wohnung betreten könnte, wann er wollte. Aber so etwas würde Mikael nicht einfallen. Wieso auch? Man konnte sie kaum als Bekannte bezeichnen, so oft wie sie sich stritten. Nur war es genau das, was Timothy an dem Kleineren so reizte. Es war einfach mit ihm. Stänkern, Streiten, Necken, dann normal reden und produktives musizieren. Es war leicht sich in seiner Nähe gut zu fühlen. Mikael war zu interessant, als dass ein Zug an der Reißleine noch wirken könnte. Wie eine Motte klebte Timothy an dessen dünn gesponnenem Netz und jeder Versuch sich davon zu lösen, verhedderte ihn nur noch mehr. Die Chipkarte landete in Timothys Zimmer auf seinem Schreibtisch neben den ausgebreiteten Noten von Omphalos. Die eigenen Studien riefen und der alltägliche Trubel in seiner WG verlangte seine gesamte Aufmerksamkeit. Zu Beginn der nächsten Woche erhielt er die E-Mail, dass die Rechtsvorlesung ausfallen würde, weil der Dozent krank war und es keine Vertretung gab. Ein glücklicher Zufall, der Timothy etwas mehr Zeit zum Nachdenken verschaffte. Bisher hatte er noch keine ruhige Minute gefunden, um seine Gedanken ordnen zu können. Ein Umstand der nicht weiter störte, solange man nicht daran erinnert wurde, dass da noch etwas war, was es zu erledigen gab. Mikael spukte ihm, wie ein Gespenst, im Kopf herum. Als Timothy Mikael um seine Hilfe gebeten hatte, geschah es aus einer Laune heraus. Seine Intuition sagte ihm, dass an Mikael mehr dran war, als der erste Blick erahnen ließ. Mikaels jahrelange Musikerfahrung hatte seine Vermutung untermauert. Allerdings wurde mit jedem Besuch der Proben und mit jedem Gespräch über Musik deutlich, dass Mikael nicht zur Musik zurückkehren wollte. Zumindest brachte er alles auf um sich schlecht zu machen oder sein Können zu verstecken. Wenn jemand versuchte etwas so sehr loszuwerden, war es nicht an Timothy ihn aufzuhalten. Wenngleich es Spaß gemacht hatte, Mikael beim Musizieren zu beobachten, konnte er nicht erzwingen, was nur er haben wollte. Trotzdem stimmte etwas nicht. Mikael hatte wenig von sich erzählt. Zehn Jahre Musikerfahrung warf man doch nicht einfach so weg oder verdrängte sie auf Teufel komm raus. Den Bleistift in den Mund nehmend, lehnte Timothy sich in seinem Bürostuhl zurück und verschränkte die Arme hinter seinem Kopf. Vor ihm lagen die Noten zu Omphalos. Ein erstes Demo, welches er letzte Woche aufgenommen hatte, spielte in einer Dauerschleife über sein Handy ab. Die Kopfhörer ließen nur ihn hören, was er sich erdacht hatte. Mikael war vorsichtig bei allem was mit Musik zu tun hatte. Er fasste Instrumente bedacht an, handhabte sie ordentlich und offenbarte ein geheimes Glimmen in seinen Augen. Er liebte Musik, soviel war klar. Timothy dachte an die Dinge, die Mikael gesagt hatte: „Ich will keine Musik mehr machen.“ „Ich mag kein Karaoke.“ „Hat es einen Namen?“ „Ich singe nicht.“ Sein Name war Del Portas. Mikael… Timothy saß stocksteif in seinem Stuhl und rührte sich nicht. Vielleicht hielt er sogar die Luft an, während seine Gedanken den roten Faden fanden und ihn zu einer Idee zusammenlegten. Diese Entdeckung, sollte sie stimmen, ließ sein Herz schneller schlagen. War es wirklich so einfach? Wie hatte er es übersehen können? Timothy blinzelte und entließ seinen angehaltenen Atem. Er musste Mikael testen. Behutsam, ohne aufzufallen. Es hatte den Anschein, als sei dieses Thema durchaus delikat. Timothy evaluierte seine Pläne. Leider fiel die letzte Probe am Freitag vor dem Konzert aus. Timothy hatte Mikael übers Handy benachrichtigt, dass ihnen der Probenraum nicht zur Verfügung stehen würde. M: >Und die Wette? < 15:15 T: >Werden wir nie erfahren … < 15:16 M: >… < 15:16 T: >Komm einfach mit, wenn wir nach dem Auftritt einen Trinken gehen. Die anderen würden dich gerne dabeihaben und ich sehe die Wette damit als erfüllt an. < 15:34 M: >Ok. Schreib wann und wo < 15:43 Timothy schmunzelte und freute sich darauf. Um seinen Auftritt machte er sich keine Gedanken. Generalproben mussten schlecht sein, dann würde der Auftritt umso besser werden. Lieber stellte er die Weichen, sodass Mikael auf keinen Fall abspringen könnte, wenn er erfuhr, wohin sie ihre Siegesfeier verschlagen wird. Viel Zeit hatte er nicht und es gab einige „Schwachstellen“, die sich verplappern könnten. Timothy wäre nicht Timothy würde er solche kleinen Intrigen nicht mit Links meistern können. Entspannt sah er seinem Auftritt entgegen. Gekleidet in einer schwarzen, leicht zerfledderten Jeans, einem hellen Shirt mit V-Ausschnitt mit einer schwarzen Weste drüber. Sein rechter Unterarm war mit einer Stulpe bedeckt. Einige dünne Ketten hingen darüber und an den Fingern verweilten Ringe. Nayla versuchte wie immer seine Locken mit etwas Gel in eine bestimmte Richtung zu bringen, scheiterte aber kläglich. Es war Naylas erster, großer Auftritt und sie war nervöser als alle anderen zusammen. Timothy ließ sie machen. Kurz bevor sie auf die Bühne gingen, nahm er sie in den Arm und sprach ihr ein „Du packst das“ zu. Auch wenn sie sich oft stritten, er liebte seine kleine Schwester von Herzen! Die Bühne war wie immer auf einer der größeren Wiesen des Campus aufgebaut worden. Sie war schlicht, klein und überdacht. Bauzäune bespannt mit einer dunkelgrünen Sichtschutzplane verliefen links und rechts von der Bühne weg. Der Platz hinter diesen diente den Bands und Künstlern als schlichte Vorbereitungsfläche. Die Tontechniker wuselten umher, während vor der Bühne die Schaulustigen standen. Timothy ließ seinen Blick durch die jubelnden Studenten gleiten, welche bereits über eine Stunde verschiedenste Acts gehört hatten. Er sah ihn nicht, doch er wusste genau, dass Mikael irgendwo dort unten war und ihnen zusah. Ihr Auftritt begann. Jamil schlug die Sticks aneinander und gab den Takt vor. Der Bass spielte, die Tänzer bewegten sich. Timothy ließ seinen Blick schweifen und betrachtete die Masse an Zuschauern. Ihre Gesichter zu sehen, wenn er anfing zu singen, war am schönsten. Seine Stimme war ein Geschenk, hatte seine Lehrerin in einer seiner ersten Gesangstunden gesagt. Er empfand es ebenso. Dank seiner Stimme hatte sich ihm ein deutlich besseres Leben eröffnet und er war gewillt daran festzuhalten. Die Show verlief ohne Probleme. Die Übergänge klappten einwandfrei und es gab keine Patzer. Jeder Akteur konnte glänzen und sein Können zeigen. Als die letzte Note verklang, ging die Gruppe geschlossen von der Bühne. Der ausufernde Applaus begleitete sie und hob ihre Stimmung zusätzlich. Ein jeder von ihnen besaß dieses erleichterte, überglückliche Grinsen im Gesicht, dass pure Zufriedenheit bedeutete. Ihre Zensuren bezüglich ihrer Performanz und gestellten Seminaraufgaben würden sie später via E-Mail bekommen. Die Dozenten saßen in bester Position zur Bühne und schrieben mit ihren Stiften auf einem Klemmbrett. So glücklich sie waren und so gerne Timothy seiner Schwester weiter zugesehen hätte, wie sie sich überglücklich um sich selbst drehte, mussten sie ihren Platz räumen. Nach ihnen kamen noch fünf weitere Gruppen. Jede brachte ihre Instrumente mit, welche mit der Technik abgestimmt werden mussten. Etwas umständlich, aber die meisten Musiker spielten gerne auf ihren eigenen Instrumenten, als dass sie ein Voreingestelltes nahmen. Einzig das Schlagzeug wurde stehen gelassen. Steven verstaute seinen Bass im Koffer und die Tänzer räumten ihre Taschen zusammen. Erfahrungsgemäß nahmen sie so wenig wie möglich mit, um schnell beginnen und schnell gehen zu können. Timothy trug nichts, weshalb er mit den Händen in den Taschen zu einem der Seitenausgänge, eine schlichte Öffnung zwischen zwei Bauzäunen, schlich und sich gegen besagten Zaun lehnte. Gedankenverloren starrte er in die Masse. Er hatte Mikael seit über einer Woche nicht gesehen, auch jetzt hatte er ihn nicht in der Menge ausmachen können. Trotzdem war er sich sicher, dass Mikael da war. Nur was erwartete Timothy vom Architekten? Ein Lob? Was brachte es Timothy ihn jetzt sehnlichst zu erspähen? Die Unruhe in seinem Bauch war schuld. Er hatte darüber nachgedacht, wie er zu Mikael stand, was diesen Ausmachte und was er verbarg. Aber noch immer wollte Timothy sich nicht eingestehen, was er vermutete. Nein, er war sich sogar ziemlich sicher. Aber das wäre das erste Mal für ihn. Die anderen Male ging es von der anderen Person aus und er zog nur mit. Was würde passieren, wenn er den ersten Schritt machen würde? Würde es funktionieren? Es bestand auch die Möglichkeit, dass Timothy, so wie der Junge damals in der Schule, einen Korb bekam. Er wusste nicht, wie er all das einordnen sollte. Ganz gleich welcher Ausgang es sein würde, könnte er damit fertig werden? War jemand wie ER dazu in der Lage, nein, war er berechtigt damit umzugehen? Sich in eine solche süße Fantasie zu flüchten? „Tim.“ Timothy wandte sich der Stimme zu. Jasmine war ihm nachgegangen, die Tasche geschultert. Der nächste Act kündigte sich an, trotzdem war es hier draußen erstaunlich ruhig, da die Lautsprecher alle nach vorne rausgingen. „Jassi. Was gibt’s?“, fragte der Sänger und wandte sich ihr zu. „Gratulation zum Auftritt. Du warst super da oben“, sagte sie und zeigte ein seltenes, sanftes Lächeln. „Danke. Dir auch. Ihr wart super. Und ich danke dir, dass du Nayla unter deine Fittiche genommen hast. Sie hat viel Spaß.“ „Ach. Nayla ist wirklich talentiert. Sie muss nur dranbleiben“, erklärte Jasmine. Sie trat näher und lunschte hinter der Absperrung vor. „Es sind wirklich viele gekommen, hm? Das habe ich von da oben kaum bemerkt.“ „Ihr solltet euch mal die Zeit nehmen. Es ist ein toller Anblick“, schlug Timothy vor. Sein Blick glitt zum Publikum vor der Bühne. Nun, da seine Gedanken jäh unterbrochen worden waren, brachte es nichts weiter hier zu bleiben. Seine Laune war zu gut, um sich in sinnloser Trübsinnigkeit zu verlieren. Die Hände noch in den Taschen, wollte Timothy zurück zu den anderen gehen, als Jasmine ihn an seiner Weste griff und zurückhielt. „Warte“, bat sie. Timothy blieb stehen und sah zurück. „Tim … ich“, begann sie und zeigte sich unerwartet unschlüssig, beinahe schüchtern. Timothy wandte sich ihr gänzlich zu. „Was gibt’s?“, fragte er nach. Jasmine schüttelte ihre Unsicherheit ab und atmete tief durch. Als sie aufsah, waren ihre Wangen gerötet und ihr Blick eisern. Sie trat näher, legte ihre Hände an Timothys Wangen und ihre Lippen auf seine. Es geschah so schnell, dass Timothy überrumpelt auf die Tänzerin hinabsah, unfähig seine Augen zu schließen. Erst als sie ihre Lippen zu bewegen begann, schob er sie von sich weg. „Was soll das?“, fragte er etwas forsch. „Geh mit mir!“ „Wohin?“ „…“ „Ah. Entschuldige“, sagte Timothy, sah verlegen zur Seite und schollt sich innerlich für seine unsensible Art. Zu seiner Verteidigung gesprochen, er hatte nicht damit gerechnet. Jasmine sah zur Seite, dann auf ihre Hände, welche nervös an ihren Nägeln näselten. „Ich weiß. Du achtest wenig auf mich. Ich habe schon ein paar Mal versucht mit dir zu flirten, aber-“ „Hast du?“, fragte Timothy nach und merkte im selben Moment wie unsensibel es klang. Jasmine schenkte ihm einen bitteren Blick. „Ja. Ach vergiss das. Was sagst du?“, fragte sie mit verlegenem Blick nach oben. Auch sie war um wenige Zentimeter kleiner als Timothy. Ihre Stirn war etwa auf Höhe seiner Lippen. Würde er mit ihr gehen, boten sich Stirnküsse geradezu an. „Jassi…“, begann Timothy unschlüssig. „Ich denke nicht, dass es klappen würde.“ „Das weißt du doch erst, wenn du es probierst.“ Timothy blinzelte. Mikael hatte ähnliches gesagt. Würde er seinen Worten von damals treu bleiben, dann müsste er Jasmine jetzt fragen, ob sie bereit wäre ihn umzubringen. Aber … Sie war Teil einer Gruppe, welche Timothy gerne um sich hatte, wie ein Heimathafen. Gerade ihr wollte er es nicht offenbaren, sie nicht in seine Gedankenwelt miteinbeziehen. Sie sah ihn als guten Sänger und vielleicht sogar als guten Menschen. Er wollte ihre Illusion nicht auf so grausame Art zerstören. „Ich kann nicht“, gab er schließlich Preis. „Du bist für mich mehr wie ein Teil meiner Familie. Wie eine Schwester im gleichen Alter, die mir Parole bietet und mir den Kopf zurechtrückt. Ich kann mir keine romantische Beziehung mit dir vorstellen.“ Jasmine blinzelte, ehe sie den Kopf hängen ließ und ihre Lippen aufeinander presste. „Das ist bitter. Ich freue mich ja schon irgendwie, wenn du mich so siehst, aber …“ Aber sie war verliebt, dachte Timothy. War man verliebt, war alles irgendwie anders und man wollte sicher nicht als Schwester oder Familienmitglied angesehen werden. Nicht als solches! Man wollte die eine besondere Person sein, welche so wichtig war, dass sie für die geliebte Person zum Nabel der Welt würde. „Trotzdem musste ich mein Glück versuchen“, sprach Jasmine weiter. Timothy hielt einen Moment seinen Atem an, während er seinen eigenen Gedanken folgte. „Du warst immer so souverän und verlässlich. Ich glaube nicht, dass ich mich nicht in dich verlieben konnte. Ich musste es versuchen… um Klarheit zu haben. Aber … mh … du bist schon vergeben oder?“, fragte sie, als sei das die einzige Erklärung, warum er sie abgewiesen hatte. Timothy legte seinen Kopf von rechts nach links und spürte das Kribbeln in seinen Fingerkuppen. „Nein“, antwortete er. Nein, aber … er hoffte es bald sein zu können. „Wer ist es?“, fragte Jasmine nach. Verwirrt sah Timothy sie an. Erst jetzt bemerkte er, dass er zu seiner Verneinung gegrinst hatte. Klar, dass sie glaubte, er hätte gelogen. Timothy riss sich zusammen und sah sie geradeheraus an. „Ich bin in keiner Beziehung. Aber es gibt da vielleicht jemanden.“ „… Du musst mich für schrecklich Eifersüchtig halten, dass ich dich das frage, oder? Es ist nicht so, dass ich es der Person nicht gönne, ich … hach, ich glaube ich wollte nur wissen, gegen wen ich verloren habe. Was diese Person hat, was ich nicht habe, dass du sie mir vorziehst.“ Timothy hob eine Augenbraue. Er verstand nicht wirklich was Jasmine mit ihren Worten bezweckte. Wollte sie sich selbst verletzten oder war das nur die Art, mit der Frauen ihre Gefühle beruhigten? So oder so wirkte Jasmine geknickt und enttäuscht. Timothy legte seine Hand auf ihren Scheitel und strich zärtlich darüber. „Mach dich nicht selbst klein. Du bist eine schöne und taffe Frau, nur die Person, welche … mich interessiert, ist genauso verdreht wie ich selbst.“ Kapitel 7: Karaoke ------------------ Kapitel 7: Etwas stimmt nicht. Als Hannes zu Besuch war, war ich noch unheimlich wütend auf ihn. Was fiel ihm ein meine Chipkarte einfach Timothy zu geben?! Nicht nur das. Er behauptete, dass Timothy genau der Richtige sei. Ich fragte ihn, wofür er der Richtige sei und Hannes antwortete: „Er ist der Richtige, um neben dir zu stehen.“ Mehr sagte Hannes nicht. Es war sonderbar, denn eigentlich konnte ich mit ihm über alles reden. Gerade weil ich ihm damals reinen Wein eingeschenkt und Hannes meine Situation verständnisvoll aufgenommen hatte, redete ich mit ihm viel offener über alles was mich bedrückte, als mit jedem anderen. Er war wahrlich mein bester Freund geworden. Aber dieses Wochenende… Sein Besuch war eigentlich dazu dagewesen, damit ich mich bei ihm direkt über Timothy auskotzen konnte. Darüber, wie dieser manipulative Sänger mich in die Musik zog und dass mir das nicht gefallen wollte. Mein Plan war einfach gewesen. Alles was mit Musik zu tun hatte, ob Instrumente, Medien, Gesang oder Bands zu vermeiden. Ich wollte mit der Welt der Musik, des Trubels, der Auftritte, der Aufregung und des Nervenkitzels nichts mehr zu tun haben. Fertig. Aus. Aber durch unser ständiges anecken, wurde ich nachlässiger und suchte Schlupflöcher, wie das Gitarre spielen im Probenraum. Ich hatte gehofft, Hannes würde einen guten Rat für mich haben. Einen Weg wie ich die Bekanntschaft mit diesem Teufel beenden konnte und wieder das ruhige und staubige Leben eines Architekturstudenten leben konnte. Aber das tat Hannes nicht und ich verstand nicht, was er damit meinte, dass Timothy neben mir stehen könnte. Wir galten gerade Mal als Bekannte, warum sollte so jemand neben mir stehen und in welchen Bezug? Schlussendlich verabschiedete sich Hannes, ohne dass ich dieses Thema klären konnte. Auf Timothy war ich ebenso sauer, weil er mir die Chipkarte immer noch nicht zurückgegeben hatte. Dazu kam, dass die Rechtsvorlesungen ausfielen und ich von einer anderen Dozentin kurzfristig einen Vortrag aufgedrückt bekommen hatte. Ich war so sehr mit der Ausarbeitung bis zum Ende der Woche beschäftigt, dass ich keine Zeit fand Timothy wenigstens über das Handy anzuschnauzen. Nach dem Vortrag am Freitag hatte ich endlich Luft und mir fiel mein Groll auf den Sänger wieder ein. Ich schrieb ihm nicht, da wir uns eh zur Probe sehen würden. Also verbrachte ich meine Zeit damit mir alle möglichen Sprüche auszudenken, die ich ihm später an den Kopf knallen könnte. Jedoch … T: >Die Probe fällt heute aus. Wir haben den Probenraum nicht. < 15:05 Ich war so perplex, dass ich eine Weile brauchte um zu antworten. M: >Und die Wette? < 15:15 Die Wette war mir eigentlich egal. Ich hatte Timothy sehen und ihm eine reinhauen wollen, um dann meine Chipkarte zurückzufordern. Aber es kam natürlich anders als ich es mir wünschte. Keine Probe hieß kein Timothy. T: >Komm einfach mit, wenn wir nach dem Auftritt einen trinken gehen. Die anderen würden dich gerne dabeihaben und ich sehe die Wette damit als erfüllt an. < 15:34 Skeptisch sah ich auf den Text. Mit allen zusammen einen trinken gehen, würde ich schon machen wollen. Jedoch traute ich den Worten nicht, weil sie von Timothy kamen. Andererseits hatte ich die Gruppe um den Sänger herum ziemlich gern gewonnen. Die letzten Wochen waren spaßiger gewesen als ich zugeben wollte. Zudem hatte selbst Hannes angemerkt, dass es gut wäre, mal auszugehen. Ich stimmte zu und verkaufte es mir selbst als willkommene Abwechslung. Sonntagmittags ging ich zum Auftritt. Die Auftritte begannen relativ zeitig und würden bis in den späten Nachmittag gehen. Inklusive Pausen für Dozenten und Zuschauer. Auf einer der Wiesen des Campus war eine kleine, aber zweckmäßige Bühne aufgebaut worden. Groß genug für die Band und eine kleine Tänzergruppe. Die Dozenten saßen bereits in guter Position auf Stühlen und ein jeder hielt seinen Bewertungsbogen auf einem Klemmbrett bereit. Diese Art von Event oder besser, der Notenvergabe, sah ich zum ersten Mal. Ich war ziemlich fasziniert von der Organisation und sah den ersten zwei Gruppen nicht mal wirklich zu. Ich stand mitten in der Menge und hatte einen guten Blick auf die Bühne. Als nach viel zu vielen Auftritten und unterschiedlichen Genres endlich Timothy an der Reihe war, spürte ich eine alt-bekannte Nervosität. Waren sie gut vorbereitet? Waren sie auch nicht zu nervös? Hoffentlich lief die Technik einwandfrei und die Tänzer machten keine Patzer. Ich fieberte regelrecht mit. Gerade so als sei es nicht schon sechs Jahre her, dass ich zuletzt selbst in jener Position gewesen war. Erst als das erste Lied ohne Probleme angelaufen war und Timothys Stimme einige Mädels zum Kreischen gebracht hatte, entspannte ich mich. Das Üben hatte sich ausgezahlt. Sie waren ein super Team. Nach ihrem Auftritt war ich gutgelaunt, sodass ich bereit war, normal mit Timothy zu reden und ihn nicht gleich anzuschnauzen, wie ich es eigentlich geplant hatte. Ich wartete den Beginn der nächsten Gruppe ab. Theoretisch gesehen, sollte die Gruppe damit genügend Zeit gehabt haben, um hinter der Bühne hervorkommen. Ich tippte wahllos auf eine Seite der Bühne und schlängelte mich durch die Massen hindurch. Ich lag richtig. Timothy stand am vordersten Bauzaun, der mit dunkelgrüner Sichtschutzplane bespannt war, und schaute in die Menge. Meine Hand zuckte. Ich wollte auf mich aufmerksam machen, hielt mich aber zurück. Als ich gerade den Rand der Zuschauer erreicht hatte, drehte Timothy sich weg. Ich beschleunigte meinen Gang, um ihn nicht zu verlieren, doch er stoppte und schien mit jemanden zu reden. Nach zwei weiteren Schritten erkannte ich Jasmine. Bestätigt, dass die Gruppe wirklich von dort kommen würde, hielt ich mein Tempo, ehe ich abrupt stehen blieb. Ich starrte auf die zwei sich küssenden Personen, drehte mich um und verschwand in der Menge. Erst als ich in der letzten Reihe der Zuschauer angekommen war, bemerkte ich, dass ich die Luft angehalten hatte. Meine Haltung war total verkrampft und ich war unnatürlich aufgewühlt. Etwas stimmte nicht. Warum küsst Jasmine Timothy? Hatte der Sänger nicht erst letztens gesagt, dass er nichts für Jasmine empfand und nichts mit ihr anfangen wollte? Ich hatte ihm geglaubt, immerhin war Timothys Geschmack speziell. Vielleicht hatte Jasmine sich an ihn rangeschmissen? Das würde sogar etwas Sinn ergeben. Während der Proben hatte sie ihn nicht aus den Augen gelassen und was außerhalb dieser eineinhalb Stunden lief, wusste ich nicht. Vielleicht hatte sich Timothy zu einem Versuch überreden lassen? Schließlich sagte ich ihm, dass er nicht von vornherein Leute ausschließen konnte, oder schlimmer noch, einer Person diese Frage an den Kopf warf. Ich erreichte das Hauptgebäude und setzte mich auf eine der Bänke. Den Gedanken, dass Timothy mit Jasmine ging, hatte ich bereits einige Male in meinen Kopf hin und her gewälzt. Schließlich ließ ich ihn fallen. Es machte keinen Sinn. Ich vermutete, dass es eine Liebeserklärung seitens Jasmine gewesen sein musste. Das klang plausibel und … ich hatte nur den Kuss gesehen, nicht was danach geschah. Warum war ich überhaupt weggelaufen? Ich dachte nach, fand jedoch keine zufriedenstellende Antwort. Man sah öfter Paare, die sich auf offener Straße küssten. Nichts davon wurmte mich so sehr wie der Anblick von eben. Ich könnte mir vorstellen, dass ich durch mein verdrehtes Verhältnis zum Timothy so etwas wie einen Anspruch auf ihn erhob. Wegen der Musik. Weil ich noch ein Hühnchen mit ihm zu rupfen hatte. Wegen der Chipkarte. In Gedanken flackerte ein Bild auf. Ein von Licht und Schatten bemaltes Gesicht. Neugierig mit intensivem Dunkelbraun. Mein Herz übersprang einen Schlag und eine kribbelnde Nervosität breitete sich in mir aus. Ich strich mir durchs Haar und legte den Kopf in den Nacken. Es musste an seiner Musik liegen. Eine verwirrte Anhänglichkeit. Mehr nicht. Gott sei Dank hatte die Mensa jeden Tag geöffnet, sodass ich mir ein verspätetes Mittagessen gönnte. Fred und Marvin schwirrten irgendwo anders rum. Marvin wollte sich die Aufführungen ansehen und Fred hatte noch was in der Bibliothek zu erledigen. Beide waren eine gute Gesellschaft, jedoch redeten sie beim Essen auch unheimlich viel. Ab und an mal in Ruhe essen zu können, genoss ich dementsprechend sehr. Auch wenn ich heute ein bisschen Ablenkung begrüßt hätte. Meine Nervosität von vorhin war vergangen. Nun war ich angespannt und Timothys dämliches Präsenz lungerte in meinen Gedanken. Gott sei Dank blieb ich nicht lange alleine. Ich schob mir gerade ein Stück Schnitzel in den Mund, als zwei Stühle zurückgezogen wurden. Meine neue Gesellschaft bestand aus Chris und Jamil. Woher auch immer, beschlich mich ein ungutes Gefühl. Vielleicht wäre Alleinsein heute doch besser gewesen? „Hi“, sagte ich mit vollem Mund. „Yo“, sagte Chris. „Mahlzeit“, kam es von Jamil. Der Dunkelhäutige trug ebenfalls ein Tablett mit sich. Darauf befand sich Obst und ein Pudding. „Mahlzeit“, erwiderte ich auf sein Essen hin, was kaum als vollwertige Mahlzeit durchgehen konnte. „Wie war der Auftritt?“ „Hast du uns nicht zugesehen?“, fragte Chris entrüstet. „Doch, doch.“ Beruhigte ich Chris und schmunzelte „Ich wollte wissen, wie er für euch war.“ „Ahh~“, summte Chris und stützte sich auf beiden Ellenbogen ab. „Tim hat gesagt, du hättest zugesehen, aber ich hab dich nicht gesehen. Ich schaue selten auf das Publikum, wenn ich tanze.“ Ich lachte verlegen und versuchte das mulmige Gefühl zu unterdrücken, welches allein durch die Erwähnung von Timothys Namen aufkam. Er wusste, dass ich da war und trotzdem ließ er sich küssen? „Ich fand den Auftritt entspannt“, sagte Jamil und mampfte sein Obst. „Wir sind eigentlich nur hier, um dich zur Feier einzuladen.“ „Feier?“ „Ja, nach einem gelungenen Auftritt gehen wir alle zusammen einen trinken. Kommst du mit?“, fragte Jamil und hielt eine Weintraube zwischen seinen dunklen Fingern. Der Kontrast lenkte mich etwas ab. War das die Siegesfeier von der Timothy gesprochen hatte? Allein um unsere Wette nicht zu verlieren, musste ich daran teilnehmen. „Ich trinke nicht viel, aber ich komme mit, wenn ich keinen störe.“ „Wen solltest du stören? Du hast mit uns am Auftritt gefeilt! Das ist doch nur verdient“, sagte Chris. Fragend als auch skeptisch sah ich Chris an. „Ich glaube nicht, dass Jasmine mich gerne dabei hätte. Sie scheint mich nicht ausstehen zu können, auch wenn ich nicht weiß warum.“ Ich wusste, warum sie mir unsympathisch war... Das Obst getilgt, griff Jamil nach einem Löffel für seinen Pudding. „Jassi ist zu allen unfreundlich, außer zu Tim. Und Tim hat es vorgeschlagen, also mach dir keinen Kopf. Das wird lustig.“ „Ja, genau! Ich mag Ka-“ Chris brach ab und verzog sein Gesicht schmerzlich. „Ka-Ka-Kakao. Ich mag den Kakao hier.“ Ich sah auf mein Kakaopäckchen und schob dieses zu Chris rüber. „Hier. Mir schmeckt er nicht.“ Rückblickend war es zu offensichtlich gewesen. Jamil wirkte so unschuldig mit seinem Pudding, während Chris sich schuldbewusst gab. Hätte ich nur unter den Tisch gesehen, hätte ich Jamils großen Fuß auf Chris‘ gesehen. Dann wäre ich vorsichtiger gewesen und hätte sicherlich abgesagt. Aber da ich nichts dergleichen getan hatte, gaben die beiden mir den Treffpunkt und die Uhrzeit, ehe wir uns nach dem beendeten Essen verabschiedeten. M: >Chris und Jamil haben erzählt, wann wir uns treffen. Geht das wirklich in Ordnung? < 19:12 Ich lag auf meinem Bett und hatte die SMS geschrieben, bevor ich nachgedacht hatte. Gleich nachdem ich auf Senden gedrückt hatte, bereute ich es. Doch löschen ging nicht mehr. Timothy hatte sie bereits gelesen. Mist, dachte ich und starrte unruhig auf das >schreibt…< T: >Klar! Es sei denn du willst die Wette verlieren < 19:12 Das wollte ich nicht! Definitiv nicht. Ich seufzte schwer und sah zur Decke. Die Sache mit Timothy und Jasmine beschäftigte mich mehr als ich zugeben wollte. Ich hatte mich mehrfach dabei erwischt, wie ich ihm hatte schreiben wollen. Doch wenn ich genauer darüber nachdachte, war ich mir sicher, dass nichts zwischen ihnen lief. Trotzdem war ich angefressen. Wenn nichts lief, könnte er es doch einfach sagen, aber ... warum sollte er? Wir waren nicht mal wirklich befreundet. Er hatte keinen Grund sich zu rechtfertigen oder es einfach zu erzählen. Dass ich so sehr auf verlorenem Posten stand, nervte mich nur noch mehr. M: >Dann bis Dienstag < 19:14 Wir trafen uns zwei Tage nach dem Auftritt, am Dienstagabend auf dem kleinen Marktplatz in der Stadt. Zu Fuß waren das gerade mal zwanzig Minuten. Timothy und seine WG standen bereits am Treffpunkt. Ich begrüßte alle vier und schaffte es Timothy anzusehen, ohne dass mir die Szene vom Sonntag in den Kopf schoss. Ramira und Jasmine kamen separat an. Ramira war fröhlich wie immer, Jasmine wirkte etwas verhalten und ruhiger als sonst. Meinen Blick mied sie entschieden, was mir nur recht war. Kacke... ich sollte das einfach vergessen! Steven und Phillip konnten nicht kommen. Ramira erzählte mir ausführlich, wie sehr Phillip seine Hausarbeiten nach hinten geschoben hatte und somit in Bedrängnis geraten war. Sie lief die ganze Zeit rückwärts, was mich erstaunte. Immer wenn ein Laternenmast oder ein Hindernis kam, erwartete ich, dass sie gegenlaufen würde. Aber ich wurde jedes Mal enttäuscht. Warum Steven nicht konnte, wusste keiner so recht. Nach ein paar Minuten betraten wir das Lokal und ich war verwundert, wie nah es doch gewesen war. Das Radio lief leise im Hintergrund, an der Rezeption stand eine junge Frau in quietschigen Farben. Chris und Jamil erzählten mit ihr. Sie zeigten auf uns und schienen zu bezahlen. Mir wurde flau im Magen. Noch mehr als ich mich gründlicher umsah. Kunstlederne Stühle in grellen Farben, Stehtische. Eine Bar oder Restaurant war das nicht. Ich blickte auf die Anzeige über einen langen Flur von dem einige Türen nach links und rechts abgingen. Dort stand „On Air“. Unbewusst machte ich einen Schritt zurück. Noch einen. Dann stieß ich gegen etwas. Ich sah auf und erkannte Timothys elendes Gesicht. Sein Lächeln war so fröhlich, wie sein Blick verdorben war. Deswegen hatte er mir nur übers Handy geschrieben. Deswegen waren Chris und Jamil zu mir gekommen um Ort und Zeit durchzureichen. Jetzt machte auch Chris‘ Reaktion mit dem „Ka“ Sinn. Und auf den Weg hierher hatte ich mich erfolgreich ablenken lassen und meine Umgebung nicht im Blick behalten. Die Sache mit dem Kuss lenkte mich zusätzlich ab und ... ohh, diese Verräter! „Vergiss es“, zischte ich ihn an. „Ich sag doch gar nichts.“ Ich drehte mich um und stand ihm offensiv gegenüber. „Ich dachte, ihr geht in eine Bar oder so. Deswegen bin ich mit. Vergiss es, Tim. Ich gehe jetzt“, sagte ich entschieden und schob Timothy mit einer Hand zur Seite. Ich wunderte mich noch, dass er keine Anstalten machte mich aufzuhalten, als ich am Arm gepackt und aufgehalten wurde. „Geh noch nicht Mik“, bat Chris und sah schuldbewusst drein. „Man kann hier auch was trinken und es macht wirklich Spaß.“ Ich sah zurück und schluckte schwer. „Lass ihn, wenn er nicht mag. Du hast zwar schon bezahlt, aber das Geld kann er dir wiedergeben“, kommentierte Timothy gespielt fürsorglich und legte Chris eine Hand auf die Schulter. „Ums Geld geht es mir nicht“, winkte Chris ab und ließ meinen Arm los. Fuck. Verdammter Mist! Ich war so sauer auf Timothy, dieses elende manipulative Arschlosch! Natürlich schickte er Chris vor. Jemand der so unschuldig war, wie ein Lamm vor dem Schlachter. Ich unterdrückte meine Wut und ließ meinen Frust mit einem langen Seufzer hinaus. Gegen Lämmeraugen hatte selbst ich keine Chance. Diese Runde hatte ich verloren. „Schon ok. Ich komme mit. Aber ich singe nicht.“ „Das ist ok!“, gestand Chris und freute sich. „Lass dich nicht immer von Tim für seine Zwecke einspannen“, bat ich Chris. „Hä?“, fragte Chris zurück, doch ich ging nicht genauer drauf ein. „Warts ab, Mik. Es macht wirklich Spaß“, stieg nun auch Nayla mit ein. Chris fasste mich bei der Hand und zog mich zum schmalen Flur. Wir passierten das „On Air“-Schild. Ramira stieg ins Gespräch mit ein. Alle feuerten sich gegenseitig an, wie Lustig es letztes Mal gewesen war und dass es Revanchen gäbe und wie viel Spaß Karaoke machte. Ich ließ meinen Kopf hängen und glaubte auf den Weg zum Schafott zu sein. Wir betraten unseren Raum. Klein, fensterlos, mit riesigem Bildschirm und einem Tablet zur Steuerung. An der Wand hingen vier Mikrofone. Links stand eine Eckcouch, welche ebenfalls mit grellem Kunstleder überzogen war. Allerdings fiel es in dem bunten Lichtern des Raumen nicht auf. Vor der Eckcouch gab es einen kleinen Tisch für Getränke und Essen. Ich sagte es nochmal mit Nachdruck. Ich hasse Karaoke. Allerdings sagte ich es nur in Gedanken. Frustriert setzte ich mich auf die Couch. Jamil setzte sich neben mich, während Timothy sich die Getränkekarte nahm und der Rest die Liederauswahl studierte. „Du musst nicht singen“, sagte Jamil im gedämpften Ton. „Meist singen eh die Mädels und Tim.“ Das hob meine Stimmung nicht sonderlich. Ich sah auf. Alle wirkten ausgelassen und aufgeregt. So sollte es in einer Karaokebar auch zugehen. Nur ich spielte den Miesepeter. Schwer seufzend ließ ich meinen Kopf hängen. „Tut mir leid. Ich … ich bin ein schlechter Sänger“, gestand ich leise. So geknickt wie ich war, glaubte ich das beinahe selbst. „Find ich nicht“, insistierte Jamil. Ich sah ihn nur flüchtig aus den Augenwinkeln an und merkte, dass er mit seiner Hand wedelte. „Ich finde, du hast eine gute Stimme.“ Ich hob den Kopf und wollte wissen, woher er das bitte wissen wollte. Da bemerkte ich das Ding um sein Handgelenk und gefror augenblicklich. Genau genommen, war es ein Armband. Jeder der Jungs trägt ausgesprochen oft Schmuck. Timothy schmückte sich gerne mit Ketten und Ringen. Heute hatte er schlicht zu viele Ringe um. Chris trug Ohrringe und Battelarmbänder. Jamil eine lederne Kette und Armbänder. Für gewöhnlich waren diese auch aus Leder mit nur wenig silbernen Akzenten darin. Jetzt jedoch hing knapp unter seinem Handgelenk ein rotes Armband. Es bestand aus einer roten, dickeren Kordel, deren Enden so verknoten waren, dass man die Größe noch verstellen konnte. An der Kordel hing ein kleines goldfarbenes M. Ich traute meinen Augen nicht. So ein altes Ding! Merchandise, ich hasse dich! Hatte ich schon immer, übrigens. Nach meinem ersten Schock kam der zweite und ich sah Jamil mit großen Augen an. Er erstrahlte in einem völlig anderen Licht. „Du-", begann ich, aber meine Stimme versagte. Eilig zog Jamil sein dünnes Sweatshirt über das Armband und sein Handgelenk. „Ja, sorry. Ich wollt dich schon eine Weile darauf ansprechen, aber es hat nie den Anschein gemacht, als wolltest du das.“ „Richtig“, sagte ich ernst und versteckte meine Panik. Heilige Scheiße, Jamil war ein Fan. Ein alter Fan! Kacke, ich dachte die wären lange ausgestorben! „Hahaha, eben. Ich wollte an nichts rühren, aber nur damit du es weißt, ich fand, nein, finde es immer noch schade, dass du aufgehört hast. Und viele-“ Ich hob meine Hand und unterbrach ihn. Gott sei Dank hielt er auch den Mund. „Vielleicht. Mag sein. Aber das ist kein Thema für hier und jetzt. Wichtiger …“ Ich ließ meinen Blick kurz zur Wand gleiten und zurück. Jamil folgte unbewusst. „Weiß er davon?“, fragte ich flüsternd. Jamil sackte etwas in sich zusammen, lächelte aber. „Ich habe niemanden was gesagt. Allerdings wäre er nicht Tim, wenn er nichts vermuten würde.“ Ich ließ meinen Kopf hängen und seufzte. Als ich aufsah, schlug ich mir beide Hände vors Gesicht. „Bei meinem Glück weiß er was, hat’s gegoogelt oder irgendjemanden erpresst und ist so an alle schmutzigen Infos gekommen.“ Jamil lachte nur. „Nun unterstell ihm nichts.“ „Unterstellen? Auf die Art ist er doch an meine Adresse und meinen Namen gekommen“, sagte ich eindringlich und blickte nun gerade heraus zu Timothy. Dieser stand an die Wand gelehnt und maß uns mit stechendem Blick. „Mhm? So war das. In dem Fall habe ich keine Chance“, verkündete Jamil und hob beide Hände hoch als ergäbe er sich. Timothy sah kurz darauf nach vorne zu den Mädels und Chris, welche sich endlich auf ein Lied geeinigt hatten und wer die erste Runde bestritt. „Jedenfalls“, begann Jamil, „du musst nicht singen. Aber wenn doch, schätze ich mich glücklich dabei zu sein.“ Jamil war sehr taktvoll. Sein Verständnis entlockte mir ein Lächeln und ich fühlte mich nicht mehr ganz so angespannt wie Minuten zuvor. Jedoch trotzdem noch unwohl genug. Nachdem alle etwas zu trinken und eine Kleinigkeit zu knabbern bestellt hatten, ging es los. Nayla und Ramira machten den Anfang. Beide sangen schief, aber sie gaben ihr Bestes. Jasmine und Chris kamen als nächstes. Jasmine war erstaunlich gut und Chris nur in den tiefen Lagen sicher. Die Mikrofone wechselten und die Lieder ebenso. Von brandneu, zu alt und Oldies. Rock, Pop, Schlager, Ska, ausländisch – wobei es egal war, ob man den Text richtig aussprechen konnte oder nicht – alles war irgendwann mal vertreten. Timothy stieg mit ein und sang mal mit jedem zusammen. Selbst Jamil ergab sich seinem Schicksal. Jamil hatte eine gute Stimme, war aber nur im Hip- Hop gut. Er und Ramira kämpften in einem Rap-Song um die Vorherrschaft. Sie waren unheimlich gut. Die Lippen so schnell bewegen zu können, war wirklich ein Talent. Ich musste für solche Stellen immer üben. Auch um die Worte nicht zu verschlucken. Jamil und Ramira beendeten ihr Lied und kamen zur Couch. Beide stürzten synchron ihr restliches Getränk hinter. Ich gratulierte beiden und wollte sie fragen, welche Technik sie anwendeten, um keinen Zungenknoten zu bekommen. Bevor ich auch nur den Mund aufbekam, räusperte sich jemand vor dem Tisch stehend. Chris reichte mir ein Mikrofon, während Timothy vor dem Bildschirm mit Micro in der Hand stand. Chris sagte nichts, doch sein Blick war flehend und bittend zu gleich. Ich sah auf den Bildschirm und las das Lied. Dynamite von BTS. Warum so ein ausgelassenes Lied? „Ich sagte doch, lass dich nicht immer von ihm einspannen“, sagte ich murrend zu Chris. Ich hatte keine Lust laut abzusagen, also blieb ich einfach sitzen. Timothy hob sein Kinn provozierend mit einem frechem Grinsen. Egal ob er Start drücken würde oder nicht, ich blieb sitzen! Timothy war ein guter Sänger, aber ich hatte nicht vor mit ihm zusammen zu singen. Ich hatte mir auch nie vorgestellt, wie es sich anhören würde, wenn wir zusammen sängen noch habe ich je zu der Aufnahme seines Liedes auf meinem Handy mitgesungen, nur um die Harmonie unserer Stimmen wenigstens einmal hören zu können. Timothy startete das Lied. Der Text begann sofort und Timothy begann fehlerfrei mitzusingen. Die hohen Töne zu Beginn waren nicht leicht und doch meisterte er sie spielend. Ich hatte absolut kein Verlangen mitzusingen, ermahnte ich mich. Timothy begann die Strophe. Textsicher drehte er sich zu mir um und sag gerade „Rolling on like a Rolling Stone.“ Die Provokation war klar, aber ich würde sitzen bleiben! Das hier war anders als im Probenraum mit der Gitarre. Das Risiko war zu groß und es gab zu viel Publikum. Andererseits waren es Leute, die ich recht gut kannte, glaubte ich. Nein, das Risiko war zu groß, aber ... es könnte einmalig sein. Zwei Takte später war ich aufgesprungen, hatte mir das Mikrofon von Chris gegriffen und stieg ein als es Mehrstimmig weiter ging. Das Verlangen uns zusammen zu hören war größer gewesen. Timothys Stimme war dunkler als meine, also übernahm ich die kleinen Pointen. Laut Vorgabe sang ich den Refrain alleine, also tat ich es. Wir wechselten oder sangen zusammen, je nach Vorgabe des Programmes. Genau genommen, dachte ich diesen Moment gar nicht nach. Ich tat einfach, was ich am besten konnte. Singen und den Rhythmus fühlen. Natürlich hatte ich Spaß. Singen war das, was ich die vergangen Wochen am liebsten mit Timothy zusammen gemacht hätte. Für mich fühlte es sich an wie ein kaltes Eis im heißen Sommer, wenn ich mit einem anderen Sänger gleicher Qualität zusammen sang. Und ich hatte recht gehabt. Unsere Stimmen harmonierten gut zusammen. Unser Publikum hatte ich vollkommen ausgeblendet. Chris, Jasmine und Nayla waren sprachlos. Jamil lehnte sich zurück und genoss die Show. Ramira hatte ihr Handy gezückt und einen kleinen Ausschnitt gefilmt. Es war gegens Licht, darum erkannte man keine Gesichter. Nur die groben Umrisse der Personen, die dort sangen. Begeistert postete sie die gefilmten Sekunden auf Instagram – Wie ich später erfuhr. Das Lied beendet, war mein Puls nach oben geschossen und ich atmete schneller. Timothy ging es ähnlich, nur war er in Übung, weshalb er nicht ganz so gehetzt wirkte. Ich grinste über das ganze Gesicht. Für etwa zwei Sekunden. Als mir aufging, was ich gerade getan hatte, gab ich mich äußerlich geordnet und ruhig, während ich mir das Hirn nach einer guten Ausrede zermarterte. Schweigend legte ich das Mikrofon zurück und setzte mich neben Jamil, der es sich in der Ecke der Couch bequem gemacht hatte. „Das war genial“, lobte Ramira mich. Ihr Handy noch in der Hand. „Ich hab noch nie jemanden gehört, der so gut mit Tim mithalten kann.“ „Ich auch nicht“, warf Nayla ein und schaute scheinbar beleidigt zur Seite. „Sollte nicht ich, als seine Schwester, eine so gute Stimme haben?“ „Du hast dein Aussehen und andere Talente“, sagte Timothy zu ihr und gab ihr einen Kuss auf den Scheitel. Das Mikrofon noch in der Hand, wirkte er bereit für die nächste Schandtat. „Er war überraschend gut“, gestand Jasmine mir zu. Ein ziemliches Lob von ihrer Seite, wie ich fand. „Jaa~“, stimmte ich verlegen zu. „Das war nur in der Hitze des Gefechts. Ich höre euch lieber zu“, wiegelte ich ab und hoffte das Thema woanders hin zu lenken. „Ich sagte doch: Mein Gefühl sagt mir, er kann singen“, warf Timothy ein. „Du hast nur gesagt, dass er musikalisch gut ist und Noten lesen kann“, verbesserte ihn Chris. Timothy neigte seinen Kopf überlegend, während Jamil neben mir laut anfing zu lachen. „Ich find’s gut, dass es auch andere Sänger als Tim gibt. Seine Höhenflüge sind manchmal nicht auszuhalten.“ Jamil lachte noch immer und klopfte mir dabei brüderlich auf die Schulter. Ich war dankbar, dass er das Thema umlenkte, darum ließ ich ihn machen. „Hmpf“, schnaufte Timothy. „Ihr könnt einfach keine Kritik ab.“ „Das hat nichts mit Kritik zu tun, wenn du jedes Duell gewinnst“, insistierte Jasmine. „Haha! Wer singt als nächstes?“, fragte Jamil. „Ich passe und Mik denke ich auch.“ „Ich würde nochmal Getränke holen“, bot Chris sich an und sammelte die Wünsche von allen ein. Die Mädels gingen die Liederliste durch, welche ihnen gerade Random angeboten wurde. Ich fühlte mich, als hätte ich einen kleinen Marathon hinter mir. Ganz zu schweigen davon, dass ich am liebsten weiter machen würde. Timothy stand neben dem Schnatterhaufen und schicke ein hämisches Grinsen zur Couch rüber. Ich konnte es nicht fassen, dass ich wirklich auf ihn reingefallen war! Wie lange hatte er das geplant? Sich ausgedacht? Wichtiger noch, was war sein Ziel? Warum konnte er mich nicht einfach in Ruhe lassen und musste mich UNbedingt singen hören? In Gedanken versunken, begann ich an meinem Daumennagel zu knabbern. „Er wird nichts tun“, sprach Jamil leise neben mir. Überrascht sah ich zu ihm. „Wirklich nichts. Tim wirkt ungehobelt, aber er hat einen weichen Kern. Du weckst sein Interesse. Alle anderen Sänger in seinem Semester kann er nämlich locker in die Tasche stecken.“ Jamils ruhige Art zog mich mit und ich entließ meinen Daumen. Nicht ganz überzeugt, schielte ich nach vorne zu Timothy, der mit den Mädels eifrig am Diskutieren war. Jamil hatte Recht und eigentlich wusste ich es selbst, nur war ich nicht bereit alte Kamellen aufleben zu lassen. Es hatte Spaß gemacht, solange es nicht ernst wurde, aber nun? Konnte ich Timothy vertrauen? Würde er schweigen, wenn ich ihn darum bat? „Aber dieses Lied kommt nicht so oft!“, warf Nayla ein. „Und trotzdem hast du es letztens erst gesungen. Wie wäre es mit was anderem. Du magst doch Herausforderungen. Nimm das hier.“ „Ich will aber nicht!“ „Und das hier?“, fragte Ramira. „Das kommt doch ständig“, meinten Jasmine und Nayla, wie aus einem Mund. Timothy zuckte mit den Schultern. „Ihr habt wirklich keinen Geschmack. Was ist mit dem? Wolltet ihr da nicht eine Wiederholung, weil Jassi sich angeblich verschluckt hatte?“ Jasmine lief rot an und argumentierte dagegen. Mir rann ein Schweißtropfen von der Schläfe. Seit ich den Titel des Liedes gelesen hatte, rührte ich mich nicht mehr und vergas zu atmen. Erst Jamils Hand auf meiner Schulter ließ mich zusammenzucken und holte mich ein Stück weit zurück. Ich sah ihn nicht an und verlor nichts von meiner Anspannung. Aber zumindest atmete ich wieder. Ich hätte mich geehrt fühlen können, eines meiner Lieder beim Karaoke zu sehen und auch, dass jemand es singen wollte. Stattdessen verengte sich mein Blick und ich hörte mein Herz laut in meinen Ohren schlagen. Was zur Hölle machte mein Lied hier?! Nach einem kleinen Hin und Her, wählten sie ein anderes Lied. Timothy blieb stehen, bis das neu gewählte Lied anspielte. Das war Beweis genug. Er wusste es! Er wusste, dass Nayla mein altes Lied wählen wollte und er wusste, dass ich sofort weg wäre, würden sie es spielen. Geschickt hatte er sie zu einem anderen Lied überredet, womit mein Lied von der Randomliste verschwand. Vorerst. Aber … er wusste es! Wie viel noch? Panik kroch in mir hoch und meine Augen weiteten sich etwas, als er näherkam und sich rechts neben mich setzte. Ich war so angespannt, dass ich es nicht mal fertig brachte meinen Kopf zu ihm zu drehen oder einen Spruch zu lassen. Schockiert über die Erkenntnis, fragte ich mich, was er noch wusste, wie weit er nachgeforscht hatte. Jamil war das eine. Er war ein Fan und schien den Schmutz in den Medien live miterlebt zu haben. Aber Timothy … Meine Panik ließ mich nicht sonderlich weit denken. Ich bekam auch nicht mit, dass Timothy sich zurückgelehnt hatte und mich besorgt musterte, oder dass er mit Jamil einen vielsagenden Blick austauschte. „Mik“, begann Jamil vorsichtig, aber ich senkte meinen Blick. Nervös wippte Jamils Fuß auf der Stelle. Es gab nur noch eine logische Handlung für mich. Ich musste gehen. Sofort! Ich spannte meine Beine an, bereit aufzustehen und diese Hölle hinter mir zulassen. In diesem Moment spürte ich eine Berührung am unteren Rücken und zuckte leicht zusammen. Finger gingen tapsig auf meiner Wirbelsäule auf und ab. Leicht wie Fliegenbeine. Mein Kopf ruckte nach rechts und ich sah Timothys ruhiges Gesicht, seinen Blick auf mich gerichtet. Ich sah keine Schadenfreude, keinen Hohn. „Er wird nichts tun“, hallten Jamils Worte in meinen Kopf wider. Vielleicht deshalb und weil meine Konzentration sich auf die Finger an meinem Rücken richtete, ließ meine Anspannung nach und mein Fluchtgedanke verflog. „Ich geh mal gucken, wo Chris bleibt“, sagte Jamil, erhob sich und war weg. Wohin er ging, war mir egal. Welches Lied die Mädels sangen und wie schief es wurde, war mir egal. Ich folgte den Fingern, welche meine Wirbelsäule langsam hochliefen. Etwa auf Höhe des Brustkorbes, war ich soweit runtergekommen, dass ich mit meinem Hintern das letzte Stück zurück auf die Couch rutschte. Die Finger erreichten den Kragen meines Shirts. Warme Tapse brannten sich auf meiner ausgekühlten Haut ein. Die Finger streckten sich, bis schließlich Timothys Handfläche auf meinen Nacken lag. Das Gefühl von Haut auf Haut war angenehm. Die Anspannung verließ mich komplett und ich lehnte mich ebenfalls zurück. Ich hatte nicht gewusst, dass seine Hände sich so gut anfühlten. Beinahe vergaß ich, was mich gerade noch panisch gemacht hatte. „Wie viel“, brachte ich die unfertige Frage hervor. „Weniger als du denkst“, antwortete Timothy. Seine Stimme sanft. Ich sah zu ihm auf und wusste nicht wohin mit mir. Meine Panik hatte ein wenig Wut und Empörung enthalten. Nun wich all das und ich fühlte mich wie nach einer bitteren Niederlage. Läge seine Hand nicht in meinem Nacken, wäre ich mir nicht mal sicher, ob ich selbstständig saß oder irgendwo durch den Raum trudelte. Mein Kopf war schwer, meine Gedanken schwerer. Ich glaubte, dass mit der Lüftung dieses Geheimnisses alles vorbei wäre. Doch mein Körper fühlte sich leicht an und etwas warmes sammelte sich in meiner Brust. „Dann such nicht weiter“, bat ich schwach. Es wäre erniedrigend, peinlich und aufwühlend. Ich wollte einfach nicht, dass jemand diese Schmach von damals wieder ausbuddelte. Vor allem Timothy sollte sie nicht ausbuddeln. Mir wäre es lieber, man würde mich in der Geschichte der Musik einfach vergessen. Jamils Wunsch, dass ich wieder sang, konnte ich nicht erfüllen. Dazu fehlte mir schlicht die Kraft und das Selbstvertrauen. Ich wollte nichts davon nochmal erleben, es hatte mich schlichtweg ausgebrannt. Die Hand in meinem Nacken bewegte sich und zog mich näher. Ich ließ ihn gewähren, da mein Körper sich erstaunlich gehörig zeigte. Für den Moment schloss ich meine Augen und spürte die langen Finger an meinem Ohr und in meinen Haaren. Sie schickten angenehme Schauer meine linke Körperhälfte hinab. Mein Kopf wurde leichter und meine Finger kribbelten. Ich spürte wie die Traurigkeit über mein Lebens ich neben etwas Neues setzte, das warm und stark erschien. Timothys Atmen strich meine rechte Schläfe und sein Geruch stieg in meine Nase. Ziemlich belebend und frisch für jemanden wie ihn. Nach weiteren Sekunden hob ich meinen Kopf etwas an und bekam seinen Atem direkt ins Ohr. Nun kribbelte auch noch meine gesamte rechte Seite, bis runter in die Zehen. „Ich kann nicht“, flüsterten Worte in mein Ohr und ließen es noch mehr Kribbeln. Seine Hand sank und legte sich wie beiläufig um meine Taille. Verwirrt hob ich meinen Kopf und sah direkt in die dunkelbraunen Augen. Die bunten Lichter des Raumes spiegelten sich in ihnen wider. „Mh?“ „Ich werde weitersuchen, Mik“, sagte Timothy so leise, dass ich glaubte mich verhört zu haben. Nach der endlosen Leere und dem beginnenden tuffigen Gefühl in meinem Magen, fühlte sich die Wut, die jetzt aufstieg, viel heißer an. Meine Stimme verschluckt, starrte ich mit geweiteten Augen zurück. Ich dachte, wenn ich ihn bitten würde, würde er es annehmen. Jamil sagte doch, er sei nicht so! „Ich werde weitersuchen“, wiederholte Timothy ruhig, aber bestimmt, „Weil ich noch mehr mit dir singen will.“ Hatte er sie noch alle? Ja, unsere Stimmen klangen gut zusammen, aber ich wollte meine Verbindung zur Musik kappe und das gelang mir erst seit kurzen einigermaßen gut. Nun kam er und ... dachte er, es sei leicht sich von allem zu lösen? Frustriert und wütend, verdrängte ich alles tuffige, was sich eben noch gut angefühlt hatte und hob meine linke Faust. Ich schlug zu, aber Timothy hielt sie auf. Einen zweiten Schlag schaffte ich nicht, da Chris auftauchte. Er hatte das Tablett mit den Getränken auf den kleinen Couchtisch gestellt und schob nun meine und Timothys Hand auseinander. „Ruhig Blut ihr zwei“, bat Chris und schaffte es mich wegzudrängen, sodass er sich zwischen mich und Timothy setzten konnte. Die Nähe zum Sänger war beendet. Allein die restliche Wärme seiner Hand verweilte oberhalb meiner Hüfte. „Ich weiß nicht, was war, aber das lässt sich sicher regeln. Hier. Eure Getränke. Kühl und Frisch. Bringt euch wieder runter“, sagte Chris und wurde zunehmend nervöser, je mehr er redete. Scheinbar war er nicht der typische Streitschlichter. Da wir unterbrochen wurden, eh wir wirklich anfangen konnten und nur ich derjenige war, dem die Wut hochgekocht war, ebbte die hitzige Stimmung schnell ab. Timothy lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. Auf Drängen von Chris, nahm er diesem sein Glas gekühlte Cola ab und hielt sie in der Hand ohne zu trinken. Mein Blick hing an den langen Fingern, welche das Glas sicher fassten. Nachdem Chris mir meine Sprite gereicht hatte, sah ich weg. Die Kälte in meiner Hand beruhigte mich. Die Mädels beendeten ihr Lied, was mir bewusst machte, dass all das nicht mal drei Minuten gedauert hatte. Dabei hatte es sich viel länger angefühlt. Vor allem als Timothy mich in den Arm … Ich brach meinen Gedanken ab. Das Schlimme an starken Emotionen und Schockmomenten war, dass man erst im Nachhinein realisierte, was passiert war. Dass, während die Mädels wetteiferten, ich mich von Timothy hatte in den Arm nehmen lassen und es mich nicht nur beruhigt, sondern auch angenehm gewesen war. Seine Nähe hatte sich verdammt gut angefühlt. Dabei war er überhaupt erst Schuld an meiner Panik! Nein, genau genommen, war es mein eigenes Lied und die Tatsache, dass ich zu Feige war mich dem zu stellen, was lange vergangen war. Kapitel 8: Sei nicht so feige ----------------------------- Kapitel 8: Jamil stieß klirrend mit mir an. Verwundert sah ich auf und nippte an meinem Glas. „Ist was gewesen?“, fragte Jasmine. Ich war überglücklich, dass sich keine von ihnen ausversehen umgedreht hatte. Die Peinlichkeit wäre nichts im Vergleich zu der daraus resultierenden Diskussion geworden. „Nix weiter“, winkte Jamil ab und grinste breit. „Jungskram, würdest du sagen.“ Jasmine verdrehte die Augen und das weitaus geschickter als Timothy. „Dann regelt das alleine. Nayla singen wir?“ Nayla trank eilig und hob ihren Daumen. Ramira verschwand kurz auf Toilette, wodurch wir vier Jungs stumpfsinnig auf der Couch sitzen blieben. Timothy und Chris auf der langen Seite, ich in der Ecke und Jamil neben mir auf der kurzen Seite der Couch. Ich sah nach rechts und sah Chris und Timothy an ihren Handys. Sie zeigten sich gegenseitig etwas. Ich seufzte ungehört und ließ mich mehr in die Ecke der Couch zurückfallen. „Wie geht’s dir?“, fragte Jamil leise. In einer Lautstärke, in der ich ihn trotz schief gesungener Töne verstehen konnte, die anderen aber nicht. Unschlüssig zuckte ich mit den Schultern. Ich war noch am Analysieren, wie ich mich fühlen sollte. „Es taucht wirklich selten auf. Aber auch wenn man es nicht mehr im Radio spielt, war es doch mal ein großer Hit.“ Ich verzog meinen Mund missgelaunt und schnaufte. Wenn es nur wegen des Liedes wäre, würde ich sicherlich irgendwie klar kommen. Aber Timothy wusste mir eindeutig zu viel und in mir steckte immer noch der Schrecken von eben sowie die ungewohnte und plötzliche Nähe, die, zugegeben, nicht so schlecht gewesen war. Also nichts worüber ich mit Jamil sprechen wollte. „Ich sollte mich geehrt fühlen, aber es nervt mich nur“, sagte ich ausweichend. „Verständlich, irgendwie“, versuchte Jamil es einfühlsam. Er hatte sich ebenfalls zurückgelehnt und pulte am Bieretikett. „Ich war damals Siebzehn. Ich fand deine Lieder großartig. Sie waren nicht so einstudiert wie alles andere, was im Radio lief. Es war neuartiger und deine Gitarrenparts waren genial. Ich habe ewig geübt bis ich „treat on“ halbwegs flüssig spielen konnte.“ Ich schmunzelte. Mir ging es mit diesem Part genauso. „Ich habe mich selbst verflucht. Wer denkt sich so was aus?“ „Haha, aber es hat Charm! Welcher andere Künstler hat in den letzten Jahren etwas vergleichbares rausgebracht?“, fragte Jamil. Ich sah auf und lächelte schwach. Er hatte Recht. Aber ein wirklicher Trost war das nicht. Besser gesagt, ich ließ nicht zu, dass es mir ein Trost sein konnte. Meine Begabung für Gesang und Musik entdeckten meine Eltern früh. Mit fünf Jahren begann ich Musikstunden zu nehmen. Klavier war ein Muss. Meine Eltern meinten, wenn ich es damit schaffte, stände mir die klassische Welt der Musik offen. Aber sie irrten sich. Selbst ich irrte mich, denn mein Weg führte mich nicht in die Klassik. Zwei Jahre später schrieb ich ihnen ein kleines Stück zu Weihnachten. Kurz darauf begann ich zu singen. Ich war davon fasziniert gewesen, ihnen ein Stück zu schreiben und vielleicht dazu singen zu können. Mein Musiklehrer bemerkte meine Mühen und verwies mich an seinen Kollegen. So begann ich mit Gitarre. Die Melodien flossen leichter, der Text war einfacher zu greifen. Ich war talentiert, doch ohne Übung wurde selbst ich nicht besser. Mit elf nahm ich an einer Show für junge Sänger teil. Ich war mit der Jüngste. Es war hart, aufregend und schweißtreibend. Aber das Gefühl auf der Bühne zu stehen, vor hunderten von Zuschauern und alle applaudierten, war zu berauschend. Ich wollte mehr und gab alles um weiterzukommen. Schlussendlich gewann ich die Show und wurde unter Vertrag genommen. Heute würde all das sicherlich anders ablaufen, aber damals wurde ich mit nur elf Jahren geschunden wie ein Erwachsener. Es fiel mir nicht auf. Warum auch? Ich hatte alles was mir Spaß machte und konnte den ganzen Tag Musik schreiben und spielen. Die Ideen brannten wie Feuer und ich wollte sie hinaus in die Welt schreien. Dass ich Konzerte gab, die Hallen größer wurden, die Fans mehr und die Konkurrenten fieser, erkannte ich erst viel, viel später. Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn mich diese Erkenntnis nie getroffen hätte. Alles brach zusammen wie ein Kartenhaus. Ich kämpfte noch einige Zeit um meine Karriere, aber schlussendlich war ich ausgebrannt. Das einst lodernde Feuer verkam zu einer erschöpften kleinen Flamme, der ein bloßer Windhauch gefährlich werden konnte. Leider glaubte niemand, dass ein junges Talent von fünfzehn Jahren Burnout haben könnte oder depressiv war. Mit etwas Glück schaffte ich es wieder auf die Beine. Allerdings ohne Musik. Nichts hören, nichts sehen und nichts sagen. Ich verschwand aus der Musikwelt, holte unter Auflagen meines Patrons die letzten Schuljahre zum Teil auf und erhielt damit mein Recht auf eine Uni gehen zu können. Ohne erneut ein Instrument in die Hand zu nehmen, begann ich es als „Macke“ abzutun. Ich negativierte alles, was mir einst das Herz höher schlagen ließ. Dämpfte die feurige Begierde in mir. Damit ging es mir gut. So konnte ich leben. Meine eigenen Lieder lernte ich zu verfluchen. Der Gedanke zu singen wurde zu einem Graus, einer Panik, wie sie andere vor Spinnen oder Hunden hatten. Als ich das Lied in der Randomliste sah, geschah was ich mir antrainiert hatte. Dieses verfluchte Lied, hatte ich gedacht. Zudem hatte ich gesungen! Mit Spaß und Freude und Feuereifer! Wie hatte ich nur singen können, fragte ich mich und schollt mich innerlich, von mir selbst betrogen. Ich setzte mich unter Druck, weil es eine Weile die richtige Lösung gewesen war, einfach alles schlecht zu machen. Timothy war wie ein Tintenlöscher für meine negative Sichtweise. Durch seine nervige Art, seinen Gesang und seine Sturheit wurde die finstere Mauer, welchen ich meterdick um mich gezogen hatte, löchrig. Meine Umgebung hellte sich auf. Ich sah Menschen, die einfach Spaß beim Musizieren und Singen hatten. Spaß der ansteckend war und mich Ausflüchte erfinden ließ, nur um mitmachen zu können. Beim Gitarre spielen fühlte ich mich sicher und unbeobachtet. Als Timothy mich so provokant zum Singen verführte, hatte ich nicht anders gekonnt, als nachzugeben. Es war ja nur in der kleinen Gruppe, sagte ich mir, und du willst nur kurz hören, wie ihr zusammen klingt. Dem zum Trotz stand eine Erkenntnis, die nach all der Zeit schwerer zu schlucken war als Flohsamen. Ich wollte singen. Mit Timothy, beim Karaoke, auf der Bühne. Wenn ich nur nicht solche Angst haben würde. „Ist es das einzige Lied?“, fragte ich Jamil. Er überlegte und meinte, dass es noch zwei weitere Lieder aus meiner Anfangszeit geben würde. Wehmütig sah ich auf meine Hände. Damals war nicht alles schlecht gewesen und es gab Fans wie Jamil, die meine Lieder um ihrer selbst willen mochten. Es rührte mich zutiefst. Auch das Nayla vorhin so vehement darauf bestanden hatte es zu singen. Ich war wohl doch kein vollkommener Fehlschlag gewesen. „Danke“, flüsterte ich leise und sah aus den Augenwinkeln wie Jamil nickte. Es tat unerwartet gut mit jemanden zu reden, der ein wenig Ahnung hatte, Musik liebte und mir meine Fehler nicht ankreidete. Die Karaokesänger wechselten und die Geschwister sangen abermals zusammen. Timothys Stimme war geschmeidig, mit einem versteckten Bass. Wenn er in die Tiefen ging, bekam ich eine Gänsehaut. Wenn er in die Höhen ging, flatterte einem das Herz und alles wurde beschwingter. Seine Stimme war wie ein Schürhaken, der das Feuer in mir langsam wieder anfachte. „Weil ich noch mehr mit dir singen will.“ Ich nahm einen Schluck von der Sprite und spülte den Kloß in meinem Hals herunter. Timothy hatte nichts getan, weshalb ich ihm böse sein konnte. Im Gegenteil, er war so ehrlich, dass er sich nur mit dem begnügte, was ich ihm gerade vor die Füße warf. Obwohl mich seine Art tierisch aufregte und seine Verschlagenheit nervte, empfand ich seine Gesellschaft nicht als störend. Er hatte die Mädchen überredet etwas anderes zu singen, weil es mir nicht passte. Er hatte mich beruhigt, als ich mich sinnlos hineingesteigert hatte, ohne, dass er wusste, weshalb. Natürlich wäre nichts von dem passiert, wenn er mich nicht mit zum Karaoke genommen hätte. Ich war noch sauer auf ihn, aber meine Wut war verflogen. Ich empfand sogar etwas Dankbarkeit und … ich sah zu wie Bruder und Schwester im Finale des Liedes einen Arm umeinander legten. Nayla umfasste die Taille ihres Bruders und er ihre Schultern. Mein Blick blieb an seiner Hand hängen. Dankbarkeit und noch ein wärmeres Gefühl. Es war leicht, kribbelnd und fühlte sich an wie Funken, die durch mein Innerstes hüpften. Ich legte meine rechte Hand über meinen Bauch und berührte unauffällig die Stelle, an der vorhin seine Hand geruht hatte. Die Stelle brannte immer noch, aber meine Finger ertasteten nur ausgekühlten Stoff. Ramira übernahm das Mikrofon und sang inbrünstig zu Shameless von Camila Cabello. Nayla und Jasmine verließen den Raum, während Timothy an der Wand gegenüber der Couch stehen blieb, seine Arme locker vor sich verschränkt. Sehr lässig, schoss es mir durch den Kopf. Ich ließ meinen Blick von unten nach oben wandern. Bei seinem Gesicht angekommen, sah ich, dass sein Blick auf mir ruhte. Seine dunkelbraunen Augen komplett schwarz mit unzähligen, bunten Reflexionen der Lichter im Raum. Es machte seinen Blick anziehend wie ein schwarzes Loch und ich hing an ihnen. Das Kribbeln in meinem Magen wanderte höher. Ramiras bereits vom vielen Singen kratzige Stimme untermalte die sich aufbauende Spannung. Gegen Ende des Liedes verwandelte sich der Text zu einer persönlichen Interpretation, scheinbar passend auf uns zugeschnitten. „Need you more than I want to“ „Show me you’re shameless“ „Write it on my neck, why don’t ya?“ Ich löste meinen Blick und sah zur Seite. Es erinnerte mich daran, wie er mich gehalten hatte. Schamlos wie er war, war er mir nah gekommen, ließ seinen Atem über mein Ohr und Hals streichen und ich hatte nichts getan, um das zu unterbinden, weil… weil… Der Refrain spielte und Ramira sang mit unsauberen Tönen in der Höhe. Warum auch immer, ich sah wieder auf und fand die vom Licht bunten Augen. „Distance, inches in between us“ „I want you to give in, I want you to give in“ Vielleicht … „Weakness, tension in between us“ „I just want to give in“ Ich drückte mich mehr in die Ecke der Couch und zog die Beine an, sodass ich mein Kinn auf meinen Knien ablegen konnte und meine Arme locker vor meinen Fußgelenken hielt. Mein Herz schlug schneller und das Kribbeln war bis in meine Fingerspitzen gewandert. Ja, vielleicht… Trotz ungewollter Erkenntnisse, alter wie neuer Fans, das Brechen mehrerer selbst auferlegter Tabus und einer ausgelassenen Stimmung, verlief der restliche Abend ruhig. Entgegen seiner stummen Bitten sang ich kein zweites Mal mit Timothy. Nach dreieinhalb harten Stunden waren alle heiser außer Timothy und mir. Den Weg zum Campus nahmen wir gemeinsam. Kurz darauf trennten sich unsere Wege. Bis auf mich wohnten alle in den Wohnblöcken. Es machte mir nichts aus, alleine durch die frühe Nacht zu gehen. Im Gegenteil, es würde mir helfen mich runter zu kühlen. Timothy sah einen Moment zu mir rüber. Er trug Nayla, welche fast schon im Gehen einschlief, und ich würde ihn schlagen, sollte er anders handeln, als der große Bruder, der er gerade war, und sie ordnungsgemäß nach Hause tragen. Jasmine wurde von Chris gestützt, der nur ein wenig nüchterner war als sie selbst. Ramira wanderte summend umher und nahm die komplette Straße für sich ein. Sorge, dass auf dem Campus nachts Autos fuhren, mussten wir nicht haben, darum ließen wir sie laufen. Jamil war am nüchternsten. Mit den Händen in den Taschen und einen Blick zu Timothy, ging er summend geradeaus weiter. Die anderen folgten ihm. Timothy etwas widerwillig. Ich erwiderte seinen Blicke in letztes Mal und hob meine Hand zum Gruß. Was auch immer gerade in mir aufwallte oder zwischen uns gewesen war, es wäre besser es auf morgen zu verschieben. Am nächsten Morgen wachte ich viel zu früh auf. Die Sonne schien durch mein Fenster und die Arbeitsblätter auf meinem Schreibtisch blendeten. Ich hatte gestern vergessen die Vorhänge zuzuziehen. Kein Wunder, dass ich schon wach war. Unwillig aufzustehen, drehte ich mich noch mal um. Mit der Decke bis zum Kopf hochgezogen, schloss ich meine Augen und dachte an gestern Abend. Ich war immer noch sauer, dass Timothy mich zum Karaoke geschleppt hatte, ohne mich vorzuwarnen. Und auch ein bisschen sauer darauf, dass er ein verdammtes Schlitzohr war. Ich fragte mich nur, warum er mich bisher nicht direkt auf meine Kariere angesprochen hatte? War ich doch abweisender gewesen, als ich gedacht hatte? Ich überlegte einen Moment, fand aber keine Antwort. Etwas anderes lenkte meine Gedanken immer wieder ab. Hatte ich mich wirklich von ihm in den Arm nehmen lassen? War das tatsächlich passiert? Die Gänsehaut in meinem Nacken bestätigte, dass ich es mir nicht eingebildet hatte. In dem Fall… war auch alles andere passiert, stellte ich langsam fest. Ein Gedanke, so zäh wie Leder und aufwühlend wie ein Tornado, drängte sich in mein Bewusstsein und ich versteckte mich gänzlich unter meiner Bettdecke. Ich konnte doch nicht wirklich ... in diesen Typen! Aufgewühlt setzte ich mich auf und schlug die Decke zurück. Mein Herz klopfte kräftig in meiner Brust und ich spürte die Aufregung in mir aufsteigen. Timothy hatte sich nicht nur in meinen Kopf eingenistet, sondern auch in meinem Herzen. Er war attraktiv, aber seine Blicke waren anziehend. Wären wir uns gestern näher gewesen... ich weiß nicht, ob ich nicht nachgegeben hätte, ihn zu küssen. Der Gedanke daran, ließ alles Kribbeln und eine Sehnsucht nach einer nie gekosteten Sünde entstehen. Logisch betrachtet, war es absurd, aber Logik schien seit gestern nicht mehr ins Gewicht zu fallen, wenn es um Timothy ging. Mein Herz schlug zu schnell. Ich schloss meine Augen und lauschte seiner Stimme in meinen Gedanken. Sie erreichte mich nicht nur als Sängerkollegen, sondern anders, tiefer. Er ging mir unter die Haut, versteckte sich in meinen Gedanken, lauerte in einer Erinnerung. Je länger ich an ihn dachte, desto klarer wurde ein anderes Problem. Wollte ich weiterhin alles verleugnen, was mir einst Spaß gemacht hatte? Wenn ja, durfte ich nicht weitergehen. Für meinen Seelenfrieden wäre es besser, Timothy und alle andern aus der Gruppe abzuschieben und zu vergessen. Ich musste zurückkehren zu meiner strikten Diät. Ein scheinbar unmögliches Unterfangen, wenn einem Timothy wie ein Stück Schokolade vor der Nase rumtanzte. Langes Grübeln lag mir nicht und ich hatte nicht so viel Zeit, um den ganzen Tag im Bett liegen zu blieben und "was wäre wenn" zu spielen. Es gab einen schnelleren Weg aus meiner Miesere. Einen, den ich früher gerne wählte, weil er sofortige und klare Ergebnisse lieferte. Die Rede war von einer direkten Konfrontation. Meine Miesere bestand darin, dass ich Musik liebte und ich sie nur widerwillig, äußerer Einflüsse wegen, aufgegeben hatte. Timothy war der Auslöser für diese Erkenntnis und zugleich der Grund, warum ich jegliche Vorsicht fallen lassen wollte. Mein Interesse an ihm war echt. Ich war nicht abgeneigt mich ihm zu nähern. Es könnte interessant werden, wenn ich an unsere Persönlichkeiten dachte. Doch wenn ich einen Versuch startete, musste ich mir bewusst machen, dass ich mich nicht wie zuvor verstecken könnte. Timothy war ein Leuchtfeuer. Neben ihm zu stehen würde mich unweigerlich mit ins Rampenlicht rücken. Sicherlich gab es mehr Leute wie Jamil, Fans, die mir gewogen waren. Aber auch die Kritiker von einst, mit denen ich klar kommen musste. Ich hatte keine Lust darüber nachzudenken, was der richtige Weg wäre. Was ich am besten tun sollte. Ich war kein Realitystar, der sich um sein Image sorgen musste. Ich war ein Niemand mit musikalischer Vergangenheit. Sollte etwas passieren, würde ich jetzt sowieso keine Antwort darauf finden können. Meinen Gedanken folgend machte ich mich frisch und zog mich an. Ich aß eine Kleinigkeit und verließ anschließend meine Wohnung. Ich zückte mein Handy und überlegte, ob ich Timothy eine Nachricht schreiben sollte. Nur was sollte ich schreiben? Wann er zuhause war? Ob er Zeit hätte? Jede Formulierung, die mir einfiel, klang schäbig, nicht kunstvoll genug. Er würde meine Absichten wahrscheinlich sofort durchschauen. Dieses Mal wollte ich Timothy aber keinen Vorsprung gönnen. Er sollte keine Zeit haben sich darauf vorbereiten zu können. Ich wollte seine Reaktionen in Echtzeit und ungeschönt vor mir sehen. Nur dann, so meinte ich, könnte ich sicher gehen, mich richtig zu entscheiden. Das Handy weggesteckt, ging ich zu meinem ersten Seminar. Fred und Marvin waren da und fidel wie eh und je. Nach dem Seminar gingen wir zusammen in die Mensa. Es war ein stink-normaler Mittwoch, abgesehen davon, dass ich nervöser wurde, je näher ich meinem freien Nachmittag kam. Ich war schon immer ein trotziges Kind gewesen. Wenn ich etwas gewollt hatte, war ich vorgeprescht, egal ob es Sinn machte, ich Geld hatte oder mit blauen Flecken rechnen musste. Selbst wenn ich jetzt nervös war, sogar eine Art Vorfreude und Aufregung spürte, würde ich nicht wanken. Mich nicht fragen, ob es das Richtige wäre oder ob ich ihn antreffen würde, wenn ich nicht Bescheid gäbe, dass ich vorbeikam. Oder ob es für ihn der passende Zeitpunkt wäre. Fakt war, dass das Leben das Chaos bevorzugte. Je chaotischer, desto besser. Je wilder, desto echter. Timothy war ein guter Schauspieler. Zudem konnte er Menschen lesen und sie mit seinem Charme steuern. Ich wollte mich aber nicht von ihm steuern lassen. Wenn überhaupt wollte ich gleichwertig neben ihm stehen und zusehen wie er andere manipulierte. Mein Schritt verlangsamte sich für einen Moment, als mir aufging, was ich gerade gedacht hatte. Neben ihm stehen? War das nicht genau das was Hannes …? Ich schmunzelte und vermerkte mir als Memo an mich selbst, Hannes das nächste Mal eine kernige Kopfnuss zu geben. Das hatte er damit gemeint! Tss, gut, dass er es damals nicht erzählt hatte. Er hätte sich definitiv eine gefangen. Außenstehende sahen sowas immer schneller als die betroffenen Personen. Mein Grinsen wurde breiter. Das hieß, ich hatte gute Chancen. Ich ließ meine Uniunterlagen in meiner Wohnung und ging mit dem Nötigsten los. Mit den Händen in den Taschen ging ich in Richtung der Musik-WG. Seit meinem ersten zufälligem Passieren im April, hatte sich hier nichts verändert. Der Rasen war noch genauso kurz und trocken. Die Wege sauber. Studenten gingen allein oder in Grüppchen an mir vorbei. Sie redeten miteinander, hörten Musik oder starrten auf ihr Handy, während sie gingen. Ich trat an die Haustür und lauschte einen Moment. Leise Musik war zuhören, aber davon ab schien alles still zu sein. Ohne weiteres Federlesen klopfte ich an und hörte kurz darauf Schritte näherkommen. Chris öffnete die Tür. Er schien genervt und wuschig. Was mich mehr erstaunte, war das bunte Kopftuch, welches seine noch leicht feuchten Haare aus seiner Stirn hielt. Dazu trug er eine weite Jogger, welche ihm gerade so auf der schmalen Hüfte hing und ein krass oranges, bauchfreies Shirt. Ich hielt mein Lachen zurück, sodass mir der Bauch vor Anspannung schmerzte. Ich wollte nicht unhöflich sein, aber er sah zum Schreien komisch aus. Eine Mischung aus 2000er und 80er. „Kann ich reinkommen oder musst du deine Zeitmaschine noch herrichten, um die Klamotten in die jeweilige Epoche zurückzubringen?“ Chris verzog das Gesicht, ließ mich aber ein. „Meine Klamotten sind in der Wäsche. Ich hatte die Wahl zwischen dem hier und einem Wollpulli. Bei der Wärme, kannst du dir denken, was mir lieber war.“ „Kein Ding. Trag was du magst. Aber einen Kommentar musste ich loswerden.“ Die Tür fiel ins Schloss und Chris ging an mir vorbei zu einem großen Tisch unweit der Küche. Ich sah mich kurz um. Die Wohnung besaß einen gerade Flur, welcher zur rechten Seite in eine Wohnküche führte. Links gingen zwei Türen ab. Vielleicht ein Bad und eine Abstellkammer, vermutete ich. Am Ende des Flures führte eine Treppe in den ersten Stock. Ich folgte Chris und sah mich in dem großen Raum um. Er war gut ausgenutzt worden. Die Küche zog sich an der Wand gegenüber von mir entlang. Der große Tisch stand unweit davon entfernt. An der Wand gegenüber der Küche und somit rechts neben mir, stand eine breite Kommode. Die linke Zimmerhälfte zierten eine übergroße Couch, ein kleiner Couchtisch, ein Hocker, ein Fernseher an der Wand links neben mir, sowie ein hoher, schmaler Schrank. Von der Couch aus, konnte man durch das Terrassenfenster in den nicht vorhandenen Garten schauen. „Schön hier“, kommentierte ich. „Danke“, meinte Chris und saß wieder am Tisch. Dafür, dass ich immer noch nicht genau einschätzen konnte, ob er nun extrovertiert oder introvertiert war, verhielt Chris sich zuvorkommend Freigiebig. Entweder vertraute er mir soweit, dass ich nichts Dummes anstellen würde, oder er war schlichtweg in seiner Arbeit gefangen. Ich stand eine Weile rum, ehe ich mich zu ihn an den Tisch setzte. Chris brütete über einem langen, trockenen Text zu irgendeinem Tänzer, der mal Geschichte geschrieben hatte. Demnach war meine letzte Vermutung richtig. Ich setzte mich schweigend. Nach weiteren drei Minuten sah er auf und seufzte mit geschlossenen Augen. „Ich mag die Praxis lieber.“ „Das geht den Meisten so.“ „Entschuldige die Begrüßung. Willkommen in unserer WG“, begann Chris nachträglich mit einem breiten Grinsen und breitete seine Arme aus. „Möchtest du etwas trinken?“ „Später vielleicht. Ich wollte mit Tim reden. Ist er da?“ „Ha~, ich hasse es, wenn er Recht hat.“ „Wie meinst du das?“ Chris stand auf, holte sich ein Glas heraus und füllte es mit Wasser und einer Brausetablette für den Geschmack. „Er ist oben. Hat sich in sein Zimmer verzogen. Aber vorher sagte er, dass er nicht da ist, egal wer was von ihm will.“ Unschlüssig zuckte Chris mit den Armen. „Nayla hat er auch abgewürgt. Sie schmollt jetzt ebenfalls in ihrem Zimmer. Manchmal sind sich die beiden einfach zu ähnlich.“ Ich hob eine Augenbraue und sah zur Decke. Er wollte also nicht gestört werden? Wahrscheinlich war ihm eine Laus über die Leber gelaufen und er wollte die Sache mit sich ausmachen. Timothy war ziemlich fürsorglich, was die Personen in seinem Umfeld anging. Selbst wenn er barsch und unnahbar wirkte, schloss er sich lieber selbst ein, als seine Wut an anderen auszulassen. Zumindest schätzte ich ihn so ein. Ein Lächeln stahl sich auf mein Gesicht. Als ich zu Chris sah, war es ein ausgewachsenes Grinsen geworden. „Was?“ „Wo ist sein Zimmer?“, fragte ich schlicht. „Mik, nein. Er killt dich. Glaub mir, ich wohne schon eine Weile mit ihm zusammen. Besser man lässt ihn in Ruhe. Er kommt von selbst raus.“ Sicherlich war etwas Wahres an Chris‘ Worten, doch mir vielen die düsteren Blicke ein und wie matt und müde er das eine Mal in der Vorlesung gewirkt hatte. Konnte man so jemanden wirklich alleine lassen? Manchmal schon, aber immer? Selbst ich brauchte ab und an jemanden, mit dem ich reden konnte. Einfach um Dampf abzulassen. Timothy konnte doch nicht IMMER alleine bleiben. Besorgt, sah ich nochmal zur Decke, wenngleich ich nicht wusste, ob dort wirklich sein Zimmer war oder nicht. „Schon ok“, sagte ich schließlich und sah zu Chris. „Ich muss so oder so mit ihm reden. Da gibt es keinen passenden Zeitpunkt, glaub mir. Wenn er gerade aufgebracht ist, umso besser.“ Chris zögerte. Er hob sein Glas an die Lippen und stellte es ohne zu trinken ab. Ich hatte keine Ahnung was unter seinen langsam entstehenden Locken vorging. Mich interessierte mehr, wie er es hinbekam, dass seine offensichtlichen Naturlocken sonst immer in einer Gelfrisur aus den 2010ern verschwanden. „Sein Zimmer ist ganz hinten rechts. Kann aber sein, dass er nicht antwortet, wenn du klopfst.“ „Alles klar“, sagte ich, die Information registrierend, und stand auf. „Mik“, sagte Chris schnell und hielt mich auf. „Wenn‘s nicht klappt… ich mein, bevor ihr euch… Ich erwarte dich lebend zurück.“ Verwundert sah ich ihn an und lachte im nächsten Atemzug amüsiert los. „Alles klar. Das klappt schon, vertrau mir“, erwiderte ich noch amüsiert und winkte lässig mit der Hand, während ich in den Flur ging. Lag das nun an Chris sensibler Art oder wirkten Timothy und ich wirklich wie Wasser und Öl, sodass man uns ständig im Auge behalten musste? Woran auch immer, es war amüsant zu wissen. Vor allem für den Fall, wenn wir uns heute einigen sollten. Ich ging die Treppe hoch und den Flur entlang. Links befanden sich vier Türen, rechts zwei. Die hinterste Tür zu meiner Linken stand offen und offenbarte ein Bad. Dann mussten die anderen fünf Türen zu je einem Zimmer führen. Ich ging bis zum Ende des Flures und blieb vor der genannten Tür stehen. Kein Namensschild oder Spruch. Die Tür war schlicht und unspektakulär. Ich hätte erwartet ein Schild zu sehen, mit der Warnung „Wer es wagt einzutreten, wird einen Kopf kürzer gemacht “ oder etwas in der Art. Ich klopfte. Nichts. Ich klopfte erneut. Wieder nichts. Genervt schnaufte ich und griff nach der Türklinke. Die Tür war nicht abgeschlossen, also trat ich ein. Das Zimmer besaß zwei Fenster. Eines zu meiner Linken, eines geradezu nahe der rechten Wand, welches mit dunklem Vorhängen zugezogen war. Halb im Dunkeln erkannte ich rechts neben mir einen breiten Schrank, gefolgt von einem Drehhocker, einer Gitarre, einem Notenpult und einem Verstärker vor dem verdeckten Fenster. Ich trat ein und schloss die Tür hinter mir. Links von mir befanden sich ein kleiner Schrank, das zweite Fenster, sowie ein Schreibtisch und ein Stuhl dahinter, die linke Wand ausfüllend. In der Mitte und mir gegenüber stand das Bett, auf dessen Fußende eine Person saß. Timothy musste sein Gesicht in seinen Händen gehalten gehabt haben, ehe er aufgesehen hatte. Er sah mehr als überrascht aus. Ich stand lässig da und schob meine Hände in die Hosentaschen. „Hätte nicht gedacht, dass du dich wie ein Mädchen im dunklen Zimmer verkriechst“, begrüßte ich ihn. „…“ Ich zog eine Augenbraue hoch. „Hat die Katze deine Zunge gestohlen?“ „Was willst du hier, Mik? Ich habe Chris gesagt, ich-“ „Ja, ich weiß. Er ist auch brav seiner Pflicht nachgekommen“, fiel ich Timothy ins Wort. Dieser schien endlich aus seiner Starre zu erwachen und stand auf. Er ging an mir vorbei und griff nach der Türklinke. Eindeutig um mich rauszuschmeißen. Bevor er die Tür öffnen konnte, stellte ich meinen Fuß vor die Tür und blockierte sie. Einen Moment starrten wir uns angriffslustig und abschätzend an. „Dein Besuch ehrt mich, aber heute ist kein guter Zeitpunkt. Würdest du bitte wieder gehen?“, brachte Timothy kontrolliert und monoton heraus. Ich neigte meinen Kopf und antwortete: „Nein.“ Was mit einem langen Seufzen seinerseits quittiert wurde. „Was muss ich tun, damit du gehst?“, fragte Timothy. Die Hand immer noch an der Klinke. „Die Tür loslassen, wäre ein Anfang“, meinte ich mit provokantem Blick auf seine Hand. „Ich muss mit dir reden und ich gehe davon aus, dass es nie einen guten Zeitpunkt dafür geben wird. Also passt es jetzt.“ Timothy eröffnete einen zweiten Moment des Anstarrens, welchen er beendete und seufzend von der Türklinke ließ. „Was willst du?“, fragte er deutlich genervt und stemmte die Hände in die Hüfte. Sein Blick hob sich, wirkte kühl und von oben herab. Ihm reinen Wein einzuschenken war zu einfach und brachte mir keinen Spaß. Timothy war deutlich genervt und in der Defensive. Er lud mich geradezu ein, ihn aufs Korn zunehmen. Auch wenn das nicht der Grund meines Kommens war. „Warum wolltest du so unbedingt, dass ich mit zum Karaoke gehe?", fragte ich. "Warum Jamil mitgemacht hat, weiß ich jetzt, aber Chris denkt sich wahrscheinlich nichts Übles bei. Warum musst du ihn immer ausspielen und vorschicken? Hast du keinen Mumm das selbst zu erledigen?“ „Wenn ich Schachfiguren habe, die eine Aufgabe besser erledigen können als ich, warum darf ich sie nicht nutzen? Chris ist es gewohnt und ich lass ihn nur solche kleinen Dinge erledigen“, antwortete Timothy. „Warum ich dich beim Karaoke haben wollte, ist denkbar einfach. Grund Eins: Du hast es von Anfang an vehement abgelehnt dorthin zu gehen. Das reicht doch und macht neugierig. Grund Zwei: Ich war mir sicher, dass du kein null acht fünfzehn Musiker bist. Eine frisch geschriebene Melodie lesen zu können, ohne ein Instrument nutzen zu müssen, können meiner Erfahrung nach nur Songwriter und Sänger. Außerdem hast du diesem unfertigen Lied einen Namen gegeben und es sofort zurückgenommen. Daraus schließe ich, dass du zu voreilig warst. Ein solches Verhalten und die Bedeutung von Namen für einen Song verstehen nur Songwriter selbst. Grund Drei:“, sagte er weiterhin mit ernstem Ton und hob seinen dritten Finger hoch. „Ich war neugierig. Mit all deinen Voraussetzungen wehrst du dich gegen die Musik. Was hat dich dazu gebracht?“ „Warum fragst du dann nicht, statt diese Scharade abzuziehen?“ „Das macht doch keinen Spaß. Ein Rätsel muss man selbst knacken, sonst ist es langweilig. Du hast deine Erklärung, würdest du jetzt bitte gehen?“, bat er mich erneut und wandte sich ab, als wollte er seine Unbehaglichkeit untermauern. „Nein“, sagte ich und verschränkt die Arme vor der Brust. „Warum schließt du dich hier ein?“ „Niemand hat was von einschließen gesagt und die Tür war offen, wie du selbst bemerkt hast.“ Ich schnalzte abfällig mit der Zunge. „Was war das in dem Seminar neulich? Lässt du dich von jedem einfach so kraulen und pennst ein?“ Ich bekam keine Antwort, doch seine Nase rümpfte sich ein winziges bisschen, was mein Herz freudig hüpfen ließ. „Wenn ich deinen Worten glauben soll, dann hast du dich nur für meine musikalischen Fähigkeiten interessiert. Die hast du herausbekommen“, begann ich analysierend. „Bravo, aber ein Moment wie im Seminar oder bei der Probe, als du meintest, du suchst jemanden, der dich töten kann, sind dafür unerheblich. Beim Karaoke hast du solange genervt bis ich gesungen habe. Wie war es?“, fragte ich angriffslustiger und grinste frech. „Hat es dir gefallen mit mir zu singen? Ich bin eingerostet, aber ich fand es ganz passabel.“ Timothy presste seinen Kiefer zusammen, das sah man deutlich. Er setzte zum Reden an, aber ich redete schnell weiter. „Du hast deine Schwester davon abgehalten, mein Lied zu spielen. Vielen Dank. Aber das übersteigt deine einfache, angegebene Neugierde. Auch deine ach so fürsorgliche Art, auf der Couch. Oder deine ständigen Blicke. Denkst du ich bekomme nicht mit, dass du mich beobachtest, nur weil du schnell wegsiehst?“ Timothys Blick verdunkelte sich bereits. Nur noch ein bisschen, dachte ich und musste meine Freude zügeln. „Ich wette, Nayla mal beiseite genommen, wissen die anderen nicht was dich umtreibt? Weiß überhaupt jemand, dass du nur nach einer Gelegenheit suchst, dich ins Messer zu stürzen?“ Meine letzten Worte wackelten, weil Timothy mich grob am Kragen meines Shirts gepackt hatte. „Was genau willst du eigentlich von mir?“, fragte Timothy. Sehr gut, er wurde fuchsig. Timothy war schwer wütend zu machen, außer man griff die an, die er beschützen wollte, bzw. sein Ego und die Geheimnisse, die er niemanden offenbaren wollte. Mit letzterem hatte ich Erfolg. Seine Fassade riss und er gab sich eine Blöße. Es störte mich nicht, dass er mich unsanft anfasste. Ihn noch mehr provozierend, ließ ich meine Arme locker neben mir baumeln und blickte mit einem amüsierten Lächeln zu ihm auf. „Die ungeschönte Wahrheit“, antwortete ich ihm. „Neugierde, Spielsucht, dein manipulatives Verhalten. Das sind alles gute Vorwände, die du anderen auftischen kannst. Aber ich will den Grund wissen, warum. Und wenn du dabei bist, erzähle gleich mal, was diese düstere Art soll.“ Anstachelnd lehnte ich mich ihm etwas entgegen. Sein Griff verstärkte sich und ich musste fürchten, dass mein Shirt später ausgeleiert sein würde. Aber das war ein geringer Preis. Timothy schluckte und seine Augen wurden etwas weniger bedrohlich. Er schwieg sich aus und presste die Lippen zusammen. Ich legte meinen Kopf noch ein wenig mehr in den Nacken und verstärke den Eindruck, den er haben musste, wenn er von oben auf mich herabsah. „Chris macht sich Sorgen, auch wenn er es nicht zeigt“, sagte ich sanfter. „Ich nehme an Nayla weiß, was für Gespenster dich jagen. So oder so kannst du nicht ewig verstecken, wer du bist. Man sieht es dir an“, fügte ich geflüstert dazu. „Still“, kam es gedrängt von Timothy. „Deine Songtexte erzählen davon.“ Timothys Augen weiteten sich ein wenig. „Deine Melodien-“ „Sei still.“ Die Worte zischten zwischen den Zähnen hervor, während er mich unerwartet grob gegen die Tür drückte. Ich spürte seine Faust auf meiner Brust und den Zug an meinem Shirt von seinem Griff. Seinen Atem gegen mein Gesicht. „Du mutmaßt doch nur.“ Ein schwacher Konter, wenn man bedachte, dass ich ebenfalls ein Sänger war. Ex-Sänger. Wie auch immer. Meine Strategie schien aufzugehen. Timothy verlor langsam seine Coolness. „Mhm“, summte ich und lächelte verschmitzt. „Und wenn schon?“ Timothy war mir sehr nah. Seine Augen wanderten unstet umher. Ich wüsste gerne was er betrachtete. Meine Augen? Meinen Mund? Seine Faust verlor flüchtig ihren Griff, ehe sie sich erneuerte. Zugleich hatte sich sein Kopf ein wenig zu mir geneigt. Mein Herz machte einen kleinen Sprung. Generell war es mir egal, ob ich Weib oder Kerl küsste. Mir kam es auf den Kuss an und nach der Sache mit der Mandarine, war ich wirklich neugierig geworden. Ebenso beim Karaoke, als ich ihn an der Wand lehnend betrachtet hatte. Verdammt ich war einundzwanzig Jahre alt und hatte bisher noch nie eine solche Anziehung gespürt. Beinahe so, als wollte man eine Flamme greifen. Faszinierend, anziehend und nicht ganz ungefährlich. Ich hob meine Hände langsam an. Zugleich hielt ich den Augenkontakt aufrecht. Ich wollte mir keinen Patzer leisten. „Das ist jetzt das dritte Mal“, sagte ich leiser. „Von was?“, fragte er ebenso leise nach. „Das du mir erst nahekommst und dann ausweichst.“ „Einmal warst du es.“ Nach dieser Bemerkung konnte ich mir ein Grinsen nicht mehr verkneifen. Es war beinahe elektrisierend, wenn man mit jemanden des gleichen Kalibers auf Tuchfühlung ging. Meine Fingerspitzen legte ich nahe seinem Schlüsselbein auf und ich schob sie von dort vorsichtig über die freie Haut seines Halses in Richtung Nacken. Ich berührte ihn nur leicht und spürte die Gänsehaut, die sich unter meinen Fingerkuppen bildete. Timothy konnte sonst was für ein ernstes Gesicht ziehen, seine Körperfunktionen hatte er Null im Griff. „Du zählst ja doch mit“, meinte ich neckend und neigte meinen Kopf koket zur Seite. Meine Finger hatten ihr Ziel erreicht und begannen mit den weichen Locken zu spielen. „Mik.“ „Mhm?“ „Was schwebt dir vor?“, fragte Timothy. Er neigte seinen Kopf mehr zu mir und in seinen Augen konnte ich deutlich die Zurückhaltung lesen, die ihn quälte. Seine Hand hatte meinen Kragen bereits losgelassen und stahl sich auf meinen Rücken. „Das weißt du doch. Warum stellst du immer Fragen, deren Antwort du schon weißt?“ Meine Stimme war neckend und ich zog mich näher an ihn heran. Die Hand, welche nicht mit den Haaren spielte, legte sich an seine Wange. „Sei nicht so feige“, raunte ich gegen seine Lippen. Ich küsste ihn und hing den Bruchteil einer Sekunde quälend wartend in der Luft, ehe Timothy erwiderte. Der Kuss war berauschend angenehm. Ich zog mich an seinem Nacken näher, höher, aber ich stand bereits auf Zehenspitzen. Aus Angst zu taumeln, brach ich den Kuss dummerweise ab, nur um festzustellen, dass Timothy mich sicher mit seinem Arm bei der Taille hielt. Seine freie Hand strich mir über die Wange, sein Daumen zog an meiner Unterlippe und sein dunkles Braun leuchtete vor Freude. Ich grinste offensiv und kam ihm näher. Ein vorsichtiges antasten, ein Knabbern an seinen Lippen und ein freches Lecken über sie, gewährten mir den erwünschten Einlass. Timothys Hand schob sich in meine Haare und ich genoss den Kuss. Sein Arm war fest um mich gelegt, dass nicht mal mehr Luft zwischen uns passte. Ich hörte ein dumpfes Geräusch, als Timothy mich vollends gegen die Tür drückte und mein Kopf das Holz berührte. Es entbrannte ein Kampf, den keiner von uns verlieren oder aufgeben wollte. Lippen aufeinander gepresst, Zungen, die sich umtanzten. Wir genossen es. Mein Herz klopfte in meinen Ohren, mein Atem wurde unstet. Timothy indes verstärkte immer mal wieder den Druck seiner Hände auf mir. Packte zu und hielt mich sicher. Wenn ich mich verspielt von seinen Lippen zu trennen wagte, unterband er es. Er war begierig. Perfekt. Das war ich auch, dachte ich selbstzufrieden und griff fester in die dunklen Haare. Als wir uns endlich lösten und ich auf die Uhr an meinem Handgelenk schielte, waren gerade mal fünf Minuten vergangen. Mein Blick glitt zurück ins Dunkelbraun. Ich setzte einen Kuss auf seine feuchten, rotgeküssten Lippen und zog sanft an der oberen. Scheinbar waren wir uns einig. Kapitel 9: Asche auf deinem Weg ------------------------------- Kapitel 9: Die Ashlines wohnten in der James Street. Die James Street war lang und verzweigt und die Hausnummern reichten von Eins bis Zweihundertvierundzwanzig. Hier standen Mehrparteihäuser und Blöcke. Es gab auch andere Straßennamen, jedoch lebte und pulsierte das Viertel an der Hauptstraße am Meisten. Die Menschen lebten ihren Trott, fernab von dem Glanz, welcher nur wenige Kilometer weiter, hinter der Schnellstraße, in der Innenstadt vorherrschte. Zunächst war dieses Viertel durchaus ehrbar gewesen. Nun galten hier eigene Gesetze und die Polizei kam nur, um Razzien durchzuführen. Unter den Kindern hatte sich irgendwann der Name Jamestown etabliert. Pure Ironie, denn dieses Viertel hatte nichts mit der ehrbaren, ersten Stadt in Amerika gemein. Timothy war sechs Jahre alt, als ihm dieser Affront auffiel. Obwohl er es bemerkte, behielt er es für sich. Was hätte er auch groß ausrichten können? Gedanken dieser Art, die nicht in die Politik von Jamestown passten, wurden nicht gebilligt. Es gab auch niemanden, dem er es hätte erzählen können. Seine Schwester war erst vier und sehr schüchtern. Sie hing normalerweise am Rockzipfel ihrer Mutter, außer wenn ihre Eltern anfingen sich zu streiten. Dann nahm Timothy sie an die Hand und ging mit ihr raus, auf den nahen, verrosteten Spielplatz oder auf den Hinterhof, wo die Wäsche hing. Timothy war der Meinung, dass er ein guter älterer Bruder war. Er schützte seine Schwester, spielte mit ihr, was immer sie wollte und tröstete sie, wenn sie weinte. Die anderen Jungs in seinem Alter hielten es genauso. Wenngleich sie viel mehr Geschwister hatten als Timothy. Eines von den jüngeren Geschwistern eines Freundes war letztens verstorben. Plötzlicher Kindstod. Ihre ganze Clique war aufgewühlt gewesen. Die Erwachsenen redeten kurz darüber, schenkten ihr Beileid der Mutter und wechselten das Thema. Es schien so, als wäre der Tod eines ihrer Kinder durchaus traurig, aber nicht weiter schlimm. Timothy verstand die Erwachsenen nicht. Auch als er Älter wurde, verstand er sie nicht. Die Schule in Jamestown war klein und nicht sonderlich gut. Wer Bock hatte ging hin, wer fernblieb, dem wurde kein Strick daraus gedreht. Allgemein galt die Regel: „Solange es Geld einbringt, mach was du willst.“ Wenn jemand lieber beschloss, sich einer der hiesigen Gangs anzuschließen, Raubzüge zu begehen und Drogen zu verkaufen, dann wurde das eher hingenommen als eine gute Schulbildung, welche weniger Wert war als Fliegendreck. Timothy überlegte, ob Fliegen überhaupt Dreck machen konnten? Mit elf Jahren bemerkte Timothy wie Abstrakt sein Leben war. Besser gesagt, wie Abstrakt er sich selbst fand. Hier in Jamestown wurde den Kindern nichts geboten. Sie konnten das Internet der Schule nutzen, nur um festzustellen, dass man fast überall besser lebte als hier. Alles schien besser als dieser Ort zu sein. Während die meisten sich darüber aufregten und sich allmählich die Gemüter spalteten (in jene die mehr wollten und jene denen es egal war), bemerkte Timothy, dass er sich nirgendwo wirklich zugehörig fühlte. Vielleicht zu jenen, denen es egal war, denn wenn er für sich war, war ihm alles egal. Das Leben war dröge, langweilig und anstrengend. Er verstand nicht, wofür er sich abrackern sollte! Sicherlich für ein besseres Leben, würden einige sagen. Aber selbst ein besseres Leben war nicht das, was er wollte. Er fühlte sich leer, ausgedörrt und sah keinen Sinn darin weiterzuleben. Leider gab es in Jamestown keinen Fluss, in den er hätte springen können. Er konnte nicht schwimmen, demnach würde untergehen wie eine Bleiente. Das Internet schlug noch andere Dinge vor, mit denen man sein Leben beenden konnte. Auf das Meiste kam man eigentlich von selbst, dachte Timothy sich. Es war nur logisch, dass der Körper als Organismus Dinge wie Essen und Wasser zum Überleben brauchte und dass der Körper sterben würde, wenn man ihn zu sehr beschädigte. Sei es nun durch äußere oder innere Verletzungen. Aber ihm fehlte schlicht das Interesse daran, sich derart selbst zu verstümmeln. Es war nicht ausgeklügelt genug und bedurfte meist einiger Vorbereitung. Auch wollte Timothy nicht so unspektakulär sterben, in dem er sich in der Badewanne die Arme aufritzte oder in seinem Zimmer mit einer Plastiktüte erstickte. Das alles schien nicht perfekt zu sein. Schweigend behielt er diese Gedanken für sich und beobachtete aufmerksam seine Umgebung. Wenn man ein Kind war, merkte man Sachen, die man manchmal nicht sofort benennen konnte. Seine Eltern zum Beispiel. Timothy bemerkte die Streitereien, das Anschreien und den Sex, welcher im Anschluss folgte. Einmal hatte er seine Eltern dabei beobachtet. Seine Mutter war aufgebracht gewesen, wirkte schmächtig und zittrig, klagte ihren Mann an, was er für ein Tunichtgut sei. Sein Vater wiederum bestritt alles, blieb stur und beschuldigte sie auf dieselbe Weise. Rückblickend betrachtet, muss seine Mutter damals schon mit den Drogen angefangen haben, doch wusste Timothy es zu jenem Zeitpunkt noch nicht. Nach ihrem Disput schob sein Vater seine Mutter vor den Küchentisch und nahm sie von hinten. Timothy wusste nicht, ob das gut oder schlecht, zu harsch oder zärtlich war. … Sie verzog schmerzlich das Gesicht, unterdrückte ihre Laute und hielt hin, während die Hände seines Vaters ihre Hüften fest packten. Es war ein Bild, dass sich einbrannte. Von da an, dachte Timothy über die Worte Liebe, Hass und Zuneigung nach. Mit elf Jahren dann, fand er seine erste Antwort auf diese Wörter. Er hasste die Welt und seine Eltern. Er liebte seine Schwester brüderlich und würde ihr alle Zuneigung schenken, die er besaß. Für sie allein wollte er die Welt besser machen. Es war an einem gewöhnlichen Wochentag gewesen. Die Schule fiel nach der zweiten Stunde aus, weil ein Klassenkamerad sich am Ende seines Vortrages in Biologie mit einem Kopfschuss getötet hatte. Keiner wusste, warum er das getan hatte, aber alle waren furchtbar aufgebracht deswegen. Timothy hatte sich auch erschrocken, aber mehr, weil die Pistole ein altes Kaliber gewesen war. Sie war laut und die Patrone zerfetzte den Schädel des Schülers an der Austrittwunde. In Timothys Augen war das eine Sauerei. Die Tafel war dreckig und sein Abgang war weder glanzvoll noch schön gewesen. Aber vielleicht, hatte der Schüler das so gewollt? Vielleicht war es seine Absicht gewesen alle in diesem Raum zu schockieren und ihnen eine Menge Arbeit zu hinterlassen? In dem Fall war sein Plan voll aufgegangen. Alle anderen sahen es als Tragödie, welche man hätte verhindern können, wenn das Kind sich jemanden anvertraut hätte. Timothy fragte sich, ob es überhaupt jemanden gab, der einen anderen in seinen Grundfesten verstehen konnte? Vor allem dann, wenn die Person selbst nicht wusste, wie sie ihre Not verständlich machen sollte. Als Timothy und Nayla noch vor dem Mittagessen heimkehrten, war es laut im Wohnzimmer. Timothy schickte Nayla sofort nach oben, doch sie lehnte ab. Mit aufgeklärtem, nüchternem Blick sagte sie, dass sie längst wisse, was diese Geräusche bedeuteten. Mit ungutem Gefühl im Bauch nickte Timothy. Seine zarte Schwester wurde erwachsen, dachte er. Am liebsten würde er sie in Watte packen und alles böse und Unschöne von ihr abschirmen, aber das würde nie funktionieren. Der Mensch strebte nach Freiheit. Früher oder später, würde alles auf sie einprasseln, gut wie schlecht. Dann sollte sie es lieber Stück für Stück erleben. Sie gingen zum Wohnzimmer und blieben noch in der Tür stehen. Ihre Mutter saß auf dem Schoß eines anderen Mannes. Ihr Vater saß auf der Couch mit einem seiner Bekannten. Beide rauchten dicke Zigarren und auf dem Tisch waren weiße Linien mit Pulver gezogen worden. Ihre Eltern bemerkten sie. Ihre Mutter nahm den Kopf in den Nacken und lächelte wie schon lange nicht mehr. Vollkommen fröhlich und losgelöst, begrüßte sie ihre Kinder. „Ah, da ist sie ja“, sagte ihr Vater und deutete auf Nayla. „Kind komm mal her.“ Timothy hielt seinen Arm schützend vor seine Schwester. „Was willst du von ihr?“, fragte er mit bissigem Unterton. „Frag nicht so blöd, du Balg. Lass sie durch. Ich habe Arbeit für sie. Wenn sie hier schon isst und wohnt, kann sie was dafür tun.“ Nayla trat automatisch einen Schritt hinter ihren Bruder und Timothy selbst wurde übel. „Sie ist erst Neun“, sagte er ruhig, aber mit Nachdruck. Sein Vater wertete den Kommentar sehr langsam aus. Das Denken schien ihm Probleme zu bereiten. Schließlich sagte er zu seinem Bekannten: „Das stimmt leider. Unter Zehn ist nicht gut. Aber Tim ist Elf. Er tuts auch, oder?“ Der Bekannte begutachtete Timothy. Noch bevor dieser ein Wort hätte sagen können, waren die Kinder zur Tür raus. Sie rannten bis zum Spielplatz, weiter bis zu einem Geheimversteck der Kinder in wild gewachsenen Brombeersträuchern. Sie quetschten sich durch den engen Durchgang. Timothy hatte Nayla seine Jacke gegeben, damit sie sich nicht verletzte. Leider kratzten die Dornen der Brombeere an Timothys Armen und seiner restlichen Kleidung. Im Versteck angekommen, welches nur eine kleine Höhle umrahmt von alten Brombeeren war, kauerten sich beide Kinder zusammen. Timothy beschwor Nayla nie so zu werden, sich nie auf das ein zu lassen, was ihr Vater wollte und zur Not wegzulaufen. Er würde den Rest erledigen. Gefolgt war ihnen niemand. Trotzdem blieben die Kinder im Versteck. Erst als es dunkel wurde und die Nacht Einzug hielt, trauten sie sich hinaus. Timothys Arme waren zerkratzt und blutbeschmiert. Das war das erste Mal, dass er den externen Schmerz genoss. Es erdete ihn und ließ ihn ruhiger denken. Vorfälle dieser Art wiederholten sich noch einige Male. Zum Glück blieb es nur bei Androhungen. Seine Mutter verfiel den Drogen mehr und mehr. Nach dem Pulver kamen bunte Tabletten oder sie nahm beides zugleich. Ein paar Monate später waren Spitzen in ihrer Küche deponiert. Nach einem Schuss wurde ihre Mutter ganz sanft und anhänglich. Sie streichelte ihre Kinder und nahm sie in den Arm. Zugegeben es war befremdlich nach all der Zeit so liebevoll umsorgt zu werden. Nayla verlor sich beinahe in dieser lang vermissten Zuneigung. Doch sobald die Wirkung nachließ, kehrte sich das Paradies in die Hölle um. Ihre Mutter wurde kratzbürstig, zittrig, aggressiv. Sie schlug Nayla grün und blau, zog an ihren Haaren oder schnitt sie in einem Wutanfall ab. Wenn sie einen neuen Schuss hatte und ihre Welt wieder tuffig und weich wurde, umsorgte und verhätschelte sie Nayla wie eine Puppe. Dass sie diejenige war, die ihre Tochter so zugerichtet hatte, vergaß sie in dem Moment in dem ihr Hirn von den Drogen überschwemmt wurde. Timothy tat sie nichts Körperliches. Sie umschmeichelte ihn und versuchte ihn ein paar Mal zu verführen. Timothy war bewusst, dass sie nicht bei Sinnen war. Sie musste ihn für einen der Freier halten, bei denen sie sonst anschaffen ging, um ihre Sucht zu finanzieren. Ein paar Monate später war ihre Mutter tot. Eine Überdosis. Weder Nayla noch er empfanden etwas bei ihrer Einäscherung. Ihr Vater hatte sie in der Küche gefunden und fluchte nur. Dann ging er in den Hinterhof, stapelte alte Holzreste, kehrte zurück um seine Frau zu holen und dann auf den Holzstapel zu werfen. Er warf noch kleineres Holz auf sie, übergoss alles mit Benzin, bis der Kanister leer war und zündete es an. Timothy sah zu. Er wollte sichergehen, dass sie nicht noch mal aufstand und brennend durchs Haus lief. Als er sich dessen sicher sein konnte, ging er zurück ins Haus, in sein Zimmer und setzte sich auf seine Matratze. Er holte ein Taschenmesser unter seinen Kopfkissen hervor und öffnete es. Die Klinge war noch unbenutzt und schimmerte. Er setzte die Klinge an sein Handgelenk und zog durch. Er wusste nicht wie viel Kraft er brauchte, so wurde der Schnitt nur oberflächlich. Trotzdem brannte es. Das Gefühl beim Durchziehen war mehr als widerlich gewesen. Quietschend und ziehend. Frustriert nahm er das Messer in die Faust und stach sich in den linken Unterarm. In dem Moment kam seine Schwester zur Tür herein und warf sich auf ihn. Sie entriss ihm das Taschenmesser und flehte ihn unter Tränen an, auf zu hören. Timothy verstand sie nicht. Es war sein Körper, da war es egal was passierte. Es war weder ein tiefer Schnitt noch ein tiefer Stich geworden. Timothy hatte unbewusst vorher abgebremst. Während Nayla seinen Arm versorgte, verstand Timothy zwei Dinge. Erstens konnte er sich nicht selbst verletzten. Er hatte Hemmungen, weil er Schmerzen an sich nicht mochte. Demnach gäbe es für ihn keine, ihm jetzt bekannte Methode, für einen sauberen Selbstmord. Dieser Gedanke war lähmend und frustrierend zugleich. Er hätte weinen können. Nicht entscheiden zu können, wann man selbst ging, schmerzte ihn mehr als der Tod seiner Mutter. Zweitens wurde ihm bewusst, was er gesucht hatte. Das Einzige, wonach er sich gesehnt hatte, all die Jahre, wurde deutlich als er den Flammen zugesehen hatte. Selbst wenn seine Mutter eine schreckliche Mutter gewesen war, hatte er ihre Zuneigung gewollt. Ein Streicheln über den Kopf, eine Umarmung, einfach einen Ort, an dem er sich anlehnen und etwas Geborgenheit finden konnte. Nach diesem Vorfall standen die Geschwister noch enger zueinander. Jetzt sorgte sich nicht nur Timothy um seine kleine Schwester, sondern sie sorgte sich im gleichen Maß um ihren großen Bruder. Sie hielten zusammen, egal gegen was. Im darauffolgenden Jahr geschahen weitere Tragödien. Zwei ihrer Freunde stellten ein Duell mit Schusswaffen nach und erschossen sich tatsächlich gegenseitig. Ein Schüler aus den oberen Jahrgängen, stach mit einem Messer auf eine Lehrkraft ein, welche an den zahlreichen Wunden verstarb. Der Täter selbst wehrte sich als die Polizei kam und wurde von ihnen im Gefecht erschossen. Ein anderer Freund starb an einer Überdosis (eine der häufigsten Todesursachen in diesem Jahr. Die Dealer reagierten darauf. Immerhin verloren sie ihre Kundschaft). Drei andere Freund kamen bei einer Keilerei zwischen zwei Banden um. Sie waren alle nicht älter als Siebzehn. Der Jüngste von ihnen war gerade mal Dreizehn. Timothy zählte die Tode nicht mehr. Er bekundete sein Beileid und das wars. Im Grunde beneidete er jeden, der vor ihm starb. Aber mittlerweile hatte er ein Ziel vor Augen. Akribisch arbeitete er an einem Plan, wie er es aus Jamestown rausschaffen könnte. Mit Nayla zusammen. Darum stellte er seinen Wunsch endlich sterben zu können, vorerst zurück. Vergessen tat er ihn nie. In jenem Jahr, mit all den toten Freunden, war Timothy erst zarte dreizehn Jahre alt. Trotzdem provozierte er seinen Vater einen Abend so sehr, dass dieser ihn Grün und Blau prügelte. Nayla war außer sich als sie sein Gesicht und die vielen blauen Flecke sah. Sie war das Wochenende bei einer Freundin gewesen und hatte nichts mitbekommen. Beschützend wie sie geworden war, stellte sie ihren betrunkenen Vater zur Rede. Diese Aktion ging beinahe nach hinten los. Nayla achtete für gewöhnlich darauf ihrem Vater nicht zu nahe zu kommen. Doch dieses Mal vergaß sie ihre Vorsicht. Er packte sie und schleifte sie aus dem Haus. Sie sollte endlich Anschaffen gehen und er würde dafür Sorge trage. Auf der Straße holte Timothy die beiden ein. Er zerschlug eine Flasche Wodka auf dem Hinterkopf seines Vaters. Dieser taumelte nur und ließ seine Tochter los. Nayla brachte Abstand zwischen sich und ihn. Indes sammelten sich ein paar Nachbarn, um dem Radau beizuwohnen. Die Schaulustigen kamen Timothy gerade recht. Er redete auf seinen Vater ein, wie ein guter Junge das tun würde. Natürlich brachte es nichts. Sein Vater war auf diesem Ohr längst taub geworden. Unter den Augen von vielen prügelte er auf seinen Sohn ein, bis ein paar Männer aus der Nachbarschaft dazwischen gingen. Timothy erkannte sie noch. Es waren diejenigen, denen er in den letzten Monaten verstärkt geholfen hatte. Danach wurde alles schwarz. Die nächsten vierundzwanzig Stunden verschlief Timothy. Als er aufwachte, lag er in einem weichen, weißen Krankenhausbett. Das erste Bett, in dem er je gelegen hatte und das die Bezeichnung Bett verdiente. Eine Krankenschwester bemerkte sein Aufwachen und holte einen Arzt. Dieser erklärte ihm, wo er alles Prellungen, Quetschungen und zwei gebrochene Rippen hatte. Seiner Schwester war nichts weiter passiert. Sein Vater wurde in Gewahrsam genommen. Wenngleich Jamestown nicht der beste Ort war, selbst hier wurde das Verprügeln eines Kindes ernst genommen. Nach und nach erhielt Timothy Besuch. Seine Schwester kam. Aufgelöst und weinend lag sie an seinem Bett und schluchzte ihre Ängste hinaus. Etwas später, Nayla hatte sich bereits beruhigt, kam eine Vertreterin des Jugendamtes in sein Krankenzimmer. Timothy gab sich überrascht, doch konnte er kaum das Funkeln in seinen Augen verbergen. Das hatte er schließlich gewollt. Raus aus dem Elternhaus. Raus aus der Straße. Im Internet hatte er ein Heim für Kinder gefunden, die von ihren Eltern misshandelt wurden. Aber um dort hinein zu kommen, musste er die Lahmärsche vom Amt erstmal auf sie aufmerksam machen. Es hatte gedauert, aber nun war eine Vertreterin hier. Sie war adrett gekleidet und sehr einfühlsam. Ruhig erklärte sie den Kindern von dreizehn und elf Jahren die Situation und dass der Staat nun für sie sorgen würde. Sie würden in ein Heim kommen, welches in einem anderen Stadtteil läge, auf eine andere Schule gehen und psychologische Betreuung erfahren. Timothy konnte es kaum erwarten! Nach dem Umzug besserte sich ihr Leben. Sie erhielten ein eigenes, winziges Zimmer, mit einem richtigen Bett. Man gab ihnen Kleidung, die nicht von fünf anderen zuvor getragen worden war, sie bekamen ein kleines Taschengeld von dem sie sich kaufen konnten, was immer sie wollten. Drogen, Zigaretten und Alkohol waren strikt verboten, selbst für die Älteren. Nayla und Timothy gingen zwei Mal die Woche zu einem hausinternen Psychologen. Der Anfang war gut. Ehe der Alltag kam und manches sie einholte. Nach etwas mehr als einem Jahr wurde Nayla aggressiver. Sie verstand sich selbst nicht, konnte aber kaum etwas dagegen tun. Alles was sie bisher erlebt hatte, waren grobe Umgangsformen, harsche Worte und Gewalt, gefolgt von falscher Zuneigung. Für Timothy war es verständlich, dass sie da anecken musste. Ein normaler Streit über eine Nichtigkeit war für Nayla schwer zu verarbeiten. Sie konnte die Stimmungen und Verläufe eines Gespräches weniger gut lesen als ihr Bruder. Nachdem sie einem Mädchen in ihrem Frust die Haare abgeschnitten hatte, begann ihre intensive Therapie und sie bekam erstmals Tabletten. Timothy hätte wahrscheinlich niemals Tabletten nehmen müssen, wäre er nicht unachtsam geworden. In Jamestown hatte er niemanden vertraut. Alle waren mürrisch und misstrauisch jedem gegenüber. In ihrem neuen Heim gab es viele freundliche Leute und Kinder. Zudem wurde der Schein gewahrt. Es war ein „Spiel“, welches Timothy noch nicht kannte. Von sich selbst, ja, aber die Möglichkeit, dass andere Menschen ihm ein Lächeln entgegenbrachten und mit dem Messer hinterm Rücken warteten, hatte er übersehen. Als Nayla verstärkt zum Psychologen ging, erzählte Timothy zwei Leuten von seinen geheimsten Gedanken. Die friedliche Atmosphäre hatte ihn eingelullt und er glaubte, sicher zu sein, wenn er ehrlich war. Der Erste war der Psychologe, der ihn seit ihrem Einzug begleitete. Die zweite Person war ein Junge in seinem Alter, welchen Timothy als „guten Freund“ bezeichnet hätte. Er offenbarte seine düsteren Gedanken, seine Selbstmordwünsche, seinen Hass, seine gesamte Sichtweise. Fast hätte er ihnen auch noch erzählt, was das Einzige war, dass er sich wünschte auf der Welt. Jedoch kam er nicht so weit. Sein „guter Freund“ litt selbst unter einem stark traumatischen Ereignis. Er hinterging Timothy, indem er dem Psychologen erzählte, wie Timothy versuchte sich das Leben zu nehmen. Wie er ihn, seinen „besten Freund“, dazu genötigt hätte, das Messer aus der Küche zu stehlen, sodass beide gleichzeitig des Nachts den Unterarm des anderen aufschlitzen konnten. Tatsächlich hatte jener „gute Freund“ sich den Unterarm malträtiert. Die Erwachsenen glaubten seiner Geschichte, da es eine frische Wunde gab. Und Timothy selbst hatte es vor seinem Psychologen zugegeben. Leider hatte er diesem nie erzählt, dass er Schmerzen nicht ausstehen konnte, weswegen er diese ihm angehängte Tat unmöglich hätte begehen können! Zudem war sie stillos und plump. Timothy sah, dass man ihm nicht glauben würde. Er sah auch die Zwiespältigkeit der Menschen. Ihre Kurzsichtigkeit und Blindheit. Die einzige Konstante, welche allen Menschen zu geschrieben werden konnte, war ihr eigener Vorteil. Timothy blieb vorerst nichts anders übrig als sich zu fügen. Würde er rebellieren, könnte er auch Nayla gefährden, welche die Therapiesitzungen dringend brauchte. Durch gute Führung konnte Timothy nach fast einem dreiviertel Jahr die Tabletten reduzieren. Er wurde der Beste in der Klasse und von vielen als der „Hilfsbereiteste“ bezeichnet. Dabei war alles nur Fake. Timothys Ziel war es, mit guten Noten, schnell von hier wegzukommen. Allerdings musste er nun den offiziellen Wegen gehen, was ein Schauspiel unerlässlich machte. Nur Nayla gegenüber war er offen und er selbst. Sie kannte ihn länger als jeder andere und billigte seine Scharade widerwillig, nachdem er ihr seinen Plan erklärt hatte. Der Zufall brachte es diesmal, dass ihn mit fünfzehn Jahren erstmals ein Quäntchen Glück traf. Die neue Musiklehrerin erkannte sein Potenzial und schulte Timothy im Gesang. Die darauffolgenden drei Jahre vergingen wie im Flug und Timothy wechselte zur Uni. Diese neue Freiheit fühlte sich süß und beängstigend zu gleich an. ~*~ Chris war Mikael hinterher gegangen und hatte zugesehen wie dieser in der Höhle des Löwen verschwand. Unschlüssig blieb er auf der Treppe stehen, als ein erstes Rumsen zu hören war. Ob er vielleicht lieber nachsehen sollte? Nayla hatte es ebenfalls gehört. Ihr Zimmer lag direkt neben dem ihres Bruders. Verwundert steckte sie ihren Kopf aus der Tür. Chris hob einen Finger an seine Lippen und bat sie leise zu sein. Auf Zehenspitzen schlich sie zu ihrem Mitbewohner an der Treppe. „Was ist los?“, fragte sie geflüstert und setzte sich auf die erste Treppenstufe. „Mik ist in Tims Zimmer“, flüsterte Chris ebenso leise zurück und setzte sich neben Nayla. „Er kam vorbei und wollte mit ihm reden.“ „Und du lässt ihn zu meinem Bruder? Er hatte doch extra-“ Ein zweites Rumsen ließ sie ihren Satz abbrechen. Beide Tänzer schauten unschlüssig zur geschlossenen Tür. „Ich hab‘ ihn vorgewarnt“, merkte Chris besorgt an. „Beim nächsten Mal schauen wir nach“, sagte Nayla flüsternd. Sie schien sich selbst nicht sicher zu sein, ob es eine gute Idee war, die beiden allein zu lassen. Einerseits sah man Mikael und Timothy sofort rumzetern und stänkern, wenn sie aufeinander hockten, andererseits hatte sie ihren Bruder selten so viel lächeln gesehen wie in Gegenwart des Architekturstudenten. Dazu der gestrige Karaokeabend als die beiden zusammen gesungen hatten. Nayla hatte nicht erwartet, dass Mikael so gut singen konnte und zugleich mit ihrem Bruder harmonierte. Es war frustrierend zuzugeben, dass nicht sie es war, die mit Timothy mithalten konnte. Mikael nahm ihren Bruder anders wahr als sie es tat und das schien Timothy gut zu tun. Sie wollte ihnen die Zeit geben, die sie brauchten, um miteinander zu reden. ~*~ Als Timothy seine Augen öffnete, war ihm warm und sein Herz raste. Mikael bot einen wunderschönen Anblick. Seine Wangen waren rot geworden und die haselnussbraunen Augen funkelten ihn an. Er konnte es nicht fassen, dass er diesen Knirps gerade geküsst hatte. Nein, er hatte ihn verschlingen wollen. Die Anziehung, die er dabei empfunden hatte, spürte er immer noch. Timothy hielt seinen Blick auf den anderen Sänger gerichtet, seinen Kopf geneigt, verschleierten seine Wimpern die Hälfte seiner dunklen Augen. Mikael kam ihm indes näher und küsste seine Lippen, nur um an der Oberen verspielt zu ziehen. „Mik“, sprach Timothy und wunderte sich, wie rau seine eigene Stimme klang. „Mhm“, summte Mikael verspielt. Der Schalk tanzte in seinen Augen, wirkte aber nicht übermäßig aktiv. Im Gegenteil, noch ehe Timothy seine Frage von eben wiederholen konnte, antwortete Mikael auf diese. „Was mir vorschwebt, solltest du selbst erraten können. Ich denke ich habe dir genügend Anhaltspunkte gegeben, damit du deine Schlüsse ziehen kannst.“ Timothy sah von einem ins andere Auge. Er konnte viel in Menschen lesen, aber was er wollte, war eine konkrete Antwort. Was war das zwischen ihnen? Mikael verweilte entspannt in seinen Armen. Sie hatten kein bisschen an Nähe verloren und lehnten noch immer an der Tür. Die Arme um Timothys Nacken und Finger in seinen Haaren. Mikael schmunzelte. Er neigte seinen Kopf verspielt zur Seite und blinzelte einmal verführerisch. Seine Wimpern waren lang, die Wangen noch gerötet und die Lippen rot geküsst. Timothy schluckte unbewusst und Mikael zog sich näher. Die Anziehung zwischen ihnen baute sich von Neuem auf und Timothy schmeckte die Lippen ein weiteres Mal. Sie legten sich hauchzart auf seine. Eine Berührung wie ein Federstrich, doch es entfachte so viel in ihm. Er schloss seine Augen. Als er sie nach diesem Genus erneut öffnete, sah er in sicheres, helles Braun. Ein Grinsen zupfte an Mikaels Lippen. Timothy erwiderte das Lächeln. Er hatte es verstanden. Die ganze Zeit tänzelten sie umeinander herum, neckten sich oder machten sich nieder. Während sie sich neckten, baute sich eine Anziehung auf, die in Zuneigung umgeschlagen war. Es stimmte schon, dass Timothy lieber eine verbale Antwort haben wollte, jedoch war Mikael anders. Zwischen ihnen war es anders. Es ging darum den anderen zu lesen, ihn zu beobachten und seine Gedanken zu erraten. Quasi wie ein Vorspiel in aller Öffentlichkeit. Mikael sagte ihm alles was er wissen musste, mittels seiner Aktionen. Hinzukam ein anderes Gefühl, das Timothy so noch nie gespürt hatte. „Du hast Recht“, gestand er und legte eine Hand an Mikaels Wange. Sein Daumen strich über die warme Haut. „Du willst die ungeschönte Wahrheit? Für dich gelten die gleichen Regeln.“ Mikael nickte kaum merklich. Timothy atmete tief durch und ließ langsam vom Kleineren ab. Sich aus den Armen entziehend, ging er zu seinem Bett und setzte sich abermals auf das Bettende. Seinen Blick gesenkt, sammelte er sich. „Eine Frage vorweg. Du warst mal ein erfolgreicher Sänger, nicht wahr?“ Er sah auf und fixierte seinen Besuch an der Tür. Mikael schien für einen Moment mit der Tür verschmelzen zu wollen, so sehr wie er sich an diese drückte. Ein Blinzeln später, entspannte er sich, senkte seinen Blick, ehe er aufsah und die fast schon rhetorisch gemeinte Frage mit unerwarteter Ernsthaftigkeit im Blick beantwortete. „Ja.“ Timothy schmunzelte und fuhr sich durch die wilden Haare. „Kaum zu glauben, dass ich nicht schon früher draufgekommen bin.“ Er seufzte schwer und ließ seinen Kopf nach vorne fallen. „Jetzt will ich dir noch weniger von früher erzählen.“ Mikael löste sich von der Tür und ging zum freien Fenster. „Glaube nicht, dass bei mir alles rosig lief.“ Sein Blick glitt auf die Straße vor dem Haus. Abwartend, bis Timothy zu erzählen begann, ging er weiter zum Schreibtisch. Auf diesem lag ein Stapel geordneter Notenpapiere, bunte Fineliner und am offensichtlichsten eine weiße Chipkarte. Timothy beobachtete seinen Besuch bei jeder Bewegung, die er tat. Mikael hatte ihm damals die Chipkarte zu seiner Wohnung nicht freiwillig gegeben. Dies war seine Chance die Karte wieder an sich zu nehmen. Timothy würde ihn nicht aufhalten, obwohl er sich wünschte, sie würde liegen bleiben. Mikael nahm die Chipkarte in die Hand und betrachtete sie von beiden Seiten. Kommentarlos legte er sie zurück auf den Tisch und nahm stattdessen die erste Seite der Notenblätter in die Hand. Omphalos. Der Anfang hatte sich leicht geändert, doch das Thema, welches Timothy einst im Seminar geschrieben hatte, war gleichgeblieben. Achtsam legte er das Blatt Papier zurück auf den Stapel. Währenddessen hatte Timothy die Luft angehalten und bemerkte seine Anspannung erst abfallen, als Mikael sich vom Schreibtisch abwandte. Er schielte zur Chipkarte und sah sie immer noch dort liegen. Allein der Gedanke an diese bedeutsame Geste ließ sein Herz einen Schlag aussetzen. „Du musst mir nicht alles erzählen“, begann Mikael. „Erzähl mir das Wichtigste, was ich noch nicht weiß.“ „Das könnte alles oder nichts sein“, sagte Timothy und fasste seine Möglichkeiten zusammen. Allerdings ging er davon aus, dass Mikael wirklich die ehrliche Haut war, die er nach außen hin verkörperte und nicht so verschroben und berechnend wie er selbst. „Du interessierst dich für das Thema, dass du „düster“ nennst, nicht wahr?“ „Wenn du damit anfangen willst…“ Der Ex-Sänger war vor Timothy stehen geblieben und sah ihn direkt an. Der Sitzende sah auf und fand geduldige, helle Augen, welche ihn abwartend und neugierig studierten. Es lag wohl in der Natur der Sache, dass man solche Dinge wissen wollte, wenn man sie erstmal bemerkt hatte, dachte Timothy und schmunzelte geschlagen. „Ok“, sagte er schließlich und stützte sich mit einem Arm nach hinten ab. Sein Blick wanderte Mikaels schlanke Gestalt hoch. Die Hüften eingefasst in eine schwarze Jeans. Dazu trug er ein Shirt, welches seinen Oberkörper und die Arme umschmeichelte. Der Kragen war etwas ausgeleiert. Timothy hatte Bilder von früher gesehen. Im Internet fand man noch allerhand über den Ex-Sänger. Vieles war der übliche Medienmist und einiges übles Gerede. Interessanter waren die Fotos und wenigen Videos, die es noch von seinen Auftritten gab. Mikaels Kleidungsstil war famos, herausfordernd und voller Accessoires gewesen. Im Vergleich dazu wirkte er heute brutal schlicht. Jedoch war dieses Schlichte das, wovon Timothy gerade nicht die Augen lassen konnte. Er rutschte näher an die Bettkante und streckte beide Arme aus. Mikael bei der Hüfte gefasst, zog er ihn näher, direkt zwischen seine Beine. Die Arme um den schlanken Körper geschlungen, versteckte er sein Gesicht an dem flachen Bauch. ‚Sei nicht feige‘ hatte Mikael ihn ermahnt. Das war einfach gesagt, aber für Timothy je nach Sache ein schwerer Schritt. Normalerweise würde er nicht einmal Nayla auf diese Weise umarmen. Er hätte schon längst Witze gerissen oder mit einem verschlagenen Lächeln alle auf Abstand gehalten. Mikael strahlte derweil eine Ruhe aus, die es Timothy leichter machte, nicht den Clown spielen zu müssen. Vielleicht beruhigte ihn auch nur der Gedanke, dass es eh keinen Sinn machte, Mikael etwas Falsches vor zu spielen, wenn dieser es fast augenblicklich durchschauen konnte. Damit würde er nur sich selbst belügen und ihr junges, eben entstandenes, Einverständnis zueinander mit Füßen treten. Nein, er wollte Mikael die Ehre erweisen und ihm vertrauen. „Was du meinst, sind einfach nur Phasen in denen ich down bin. Mental erschöpft, könnte man sagen. In solchen Momenten ist mir so ziemlich alles egal. Ich brauche dann niemanden und will niemanden sehen.“ „Das ist gelogen“, entkam es Mikael. Timothy grinste gegen dessen Bauch. So schnell kam er nicht aus seiner Haut heraus, wie es schien, selbst wenn er es sich vornahm ehrlich zu sein. Vielleicht könnten sie es als Test ansehen. Immerhin ging es um ein Thema, welches mehr als nur persönlich war. „Aber ich verstehe schon. Red‘ ruhig weiter“, sagte der Ex-Sänger mit sanfter Stimme von oben. Eine seiner Hände fand ihren Weg in die dunklen Zotteln und strich sanft durch diese. Timothy hätte wegen so viel Zuneigung heulen können, tat es aber nicht. Früher wäre es ihm schwerer gefallen sich zurückzuhalten, aber heute nahm er solche Worte und Gesten dankend an und sog sie auf, wie ein vertrockneter Schwamm das Wasser. „Ich verstehe die Menschen und die Welt nicht. Logisch betrachtet, ist alles sehr einfach. Es gibt eine Ursache und eine Wirkung. Auf jede Aktion folgt eine Reaktion. Das ist in der Chemie so, wie in allen wissenschaftlichen Bereichen auch. Nur der Mensch verkompliziert alles. Er ist eigennützig, egoistisch, selbstzerstörerisch. Die Wenigsten tun etwas, um einem anderen ohne Gegenleistung zu helfen. Du sagtest, man hört es in meinen Texten und der Melodie. Wenn es so offensichtlich für dich ist, dann brauche ich hier nicht weiterzuerzählen. Meine Eltern sind nicht der Rede wert. Meine Mutter ist schon lange tot. Von meinem Vater höre ich ab und an noch etwas, allerdings will ich keinen Kontakt mehr zu ihm haben. Nayla ist die Einzige, die mir geblieben ist.“ Timothy hielt kurz inne, ehe er seine hinaufblickte. Das Haselnussbraun war ruhig und geduldig. Ebenso sanft wie die Finger in Timothys Haaren. „Ich bin kein netter Mensch, Mik. Auch wenn ich es toll finde, dass du Interesse an mir hast, verstehe ich es nicht. Du könntest so viel mehr erreichen mit deinem Talent. Warum willst du das hier?“ „Muss es für alles einen Grund geben?“ „Die Meisten haben einen.“ Mikael seufzte leise und sah gerade aus. „Ich folge einfach meinem Gefühl. Ja, du interessierst mich, aber da ist noch mehr. Ich weiß auch nicht. Einfach … ein Gefühl eben.“ „Das ist sehr vage.“ „Ich weiß“, seufzte Mikael gequält, ehe er wieder nach unten sah. „Ich bin beinahe verrückt geworden, als ich darüber nachgedacht habe. Es passt so gar nicht in meine Planung rein. Aber dem nicht nachzugeben, würde ich noch mehr bereuen.“ Timothy grinste frech und neigte seinen Kopf. „Wie passend. Das Gefühl kenn ich.“ „Warum hast du dich dann zurückgehalten?“, fragte Mikael. „Wie du, brauchte ich eine Weile, um mich zu entscheiden. Schon beim Karaoke hätte ich dich am liebsten in einen extra Raum gezogen, aber das wäre der falsche Zeitpunkt gewesen. Du warst aufgewühlt und hattest andere Sorgen.“ „Du konntest nicht wissen, dass das sowas passieren würde.“ „Ich hätte es aber nachprüfen können“, erwiderte Timothy über sich selbst verärgert. Er hätte in das System der Karaokebar gucken und das Lied für den Tag entfernen können oder ähnliches. Mikael griff in die dunklen Haare und zog an ihnen bis Timothy seinen Kopf erzwungen zurücknahm. „Du kannst nicht alles und jeden steuern noch alles vorhersehen. Es ist doch alles gut gegangen, also Schwamm drüber. Und immerhin weiß ich nun über Jamil Bescheid.“ Timothy lachte kurz und Mikael löste seinen forschen Griff. Entspannter schmiegte Timothy seinen Kopf erneut an den Bauch vor sich. „Seit der ersten Probe saß er auf heißen Kohlen.“ „Wusstest du davon?“, fragte Mikael nach. „Kurz vor dem Auftritt hat es Klick gemacht. Aber mit Jamil sprach ich erst nach dem Karaoke.“ Mikael strich sanft durch die Haare und brummte zustimmend. „Was hat es mit dem düster auf sich?“ „Willst du das unbedingt wissen?“ „Ich glaube, es ist wichtig“, mutmaße Mikael. Timothy verstärkte seine Umarmung und ließ wieder locker. „Nicht heute“, erwiderte Timothy bittend. Mikael verzog verstimmt den Mund und sah zum Fenster. Diese Antwort gefiel ihm nicht, doch bohrte er nicht weiter nach. Indes genoss Timothy die Nähe zum anderen und wie geborgen er sich hier fühlte. Er würde Mikael davon erzählen, aber alles nach und nach. Schließlich konnte er nicht riskieren diese einzigartige Person sofort zu vergraulen. Er schmunzelte gegen den Bauch und biss versuchsweise in das Shirt und den Bauch darunter, während seine Finger sich vorwitzig unter den Stoff schoben. Mikael spannte sich sofort an und schob Timothy von sich. Einen halben Schritt zurückgetreten, hielt er seine Arme leicht abwehrend vor sich. „Nein. Nicht heute.“ Timothy ließ seine Arme sinken und trauerte dem Verlust der Nähe nach. „Ok.“ Seine defensive Haltung aufgebend, begann Mikael von neuem durch das Zimmer zu wandern. „Da wir das jetzt geklärt haben, was machen wir wegen dem an-“ Mikael kam nicht dazu weiterzusprechen, da er mit seinem Fuß an der Schlaufe eines Rucksackes hängen blieb, der versteckt in der dunklen Seite des Zimmers lag. Kurz taumelnd, fiel er Länge nach hin. Er war dabei sich mit den Armen zu forderst aufzurappeln, als die Zimmertür aufflog und Flurlicht das halbdunkle Zimmer erhellte. Nayla stürmte als erste hinein, dicht gefolgt von Chris. Sie war bereit alles möglich zu tun oder zu sagen, um die beiden Streithähne auseinander zu bringen. Doch was sie sagen wollte, blieb ihr jäh im Hals stecken, als sie die Szene im Zimmer erkannte. Mikael lag bäuchlings auf dem Boden, rappelte sich gerade hoch und rieb sich das Kinn, während sich Timothy auf seinem Bett scheckiglachte. „Ehhhh“, entkam es Nayla. „Was macht ihr hier?“, fragte Chris und übersetzte Naylas ungläubigen Blick. „Nach was sieht es denn aus?“, fragte Mikael mit leicht genervtem Unterton. „Machst du das bitte nochmal?“, fragte Timothy seinen am Boden sitzenden Gast. Er unterdrückte sein Lachen so sehr, dass ihm der Bauch bereits weh tat. Stattdessen zierte ein gefälliges Grinsen sein Gesicht. „Haa? Vergiss es. Das tat weh. Was hockst du hier auch im Dunkeln?“, entkam es Mikael. „Was kommst du hier auch einfach rein.“ „Wenn du nicht antwortest, wenn man klopft.“ „Aus guten Grund, wie du jetzt weißt. Haaach~ eine Horde Amöben ist cleverer als die Mikrobe vor meinen Augen“, seufzte Timothy theatralisch gespielt. Mikael rappelte sich auf und ging zum verdunkelten Fenster. Schwungvoll zog er die Vorhänge zurück. „Dann gibt es ja jetzt kein Problem mehr, oder? Herr Vampir?“ Timothy hielt sich die Hände schützend vor sein Gesicht, wobei ihn kein Sonnenstrahl direkt traf. „Ah~ Ich unwürdige Seele.“ „Du spinnst echt…“, stellte Mikael ernüchternd fest. Den Schauspielkünstler mit seinen Scherzen alleine lassend, wandte er sich den beiden anderen zu. „Und warum seid ihr hier?“ „Wir haben es ein paar Mal Rumpeln gehört. Da haben wir uns Sorgen gemacht“, antwortete Chris ehrlich wie er war. Nayla verschränkte ihre Arme und schenkte ihrem Bruder einen abfälligen Blick. „Man kann euch echt nicht alleine lassen!“ Timothy zuckte desinteressiert mit den Schultern und stützte sich entspannt nach hinten ab. „Wie du meinst. Jedenfalls haben wir uns noch nicht die Köpfe eingeschlagen.“ Seine Augen schielten zu Mikael. Flüchtig nur, doch schimmerte das Dunkelbraun verheißend. „Eine Unstimmigkeit wegen … des Karaokes gestern“, sagte Mikael stockend und zuckte ebenfalls mit den Schultern. Abermals unschlüssig was zu tun war, haderten beide Tänzer, ob sie rausgehen oder lieber bleiben sollten. „Wie auch immer. Ich hoffe nur, dass wird jetzt nicht zur Gewohnheit, dass hier jeder in mein Zimmer reinplatzt, wie es ihm beliebt.“ „Oh, entschuldige“, sagte Chris und fühlte sich sofort angesprochen. „Wir waren nur besorgt ehrlich. Aber da nichts weiter ist … naja, gehen wir wieder?“, fragte er und sah Nayla unschlüssig an. Sie ließ ihren Blick in aller Ruhe über Timothy gleiten, dann über Mikael. „Mhm. Aber benimm dich jetzt“, forderte sie ihren Bruder auf. Dieser hob abwehrend seine Hände und verdeutlichte damit seine Unschuld. Mikael, der ihm mindestens an zwei von drei Rumplern die Schuld gab, verdrehte die Augen. „Schon ok. Ich habe eigentlich alles geklärt, was ich wissen wollte“, sagte der Ex-Sänger entspannt und stemmte seine Faust locker in seine Hüfte. „Oh~ hast du das?“, fragte Timothy und legte seinen Kopf amüsiert schief. „Kay, dann sehen wir uns gleich unten“, warf Chris ein und ging aus dem Zimmer. Nayla verweilte einen Moment länger, ehe sie ihrem Mitbewohner folgte. Die Tür ließen sie sperrangelweit offenstehen. Timothy seufzte leise, stand auf und schloss die Tür. „Die beiden haben echt Ohren wie ein Luchs.“ „Mein Sturz war auch nicht zu überhören. Und in ihren Augen, sind wir wie Feuer und Wasser.“ „Hast Recht. Aber bald nicht mehr, oder willst du es geheim halten?“ Mikael überlegte und zuckte mit den Schultern. „Ich nehm‘ es, wie es kommt.“ „Klingt gut“, sagte Timothy zustimmend. Er schob seine Hände in die Hosentaschen und stockte, als er einen Gegenstand darin ertastete. Vergesslich wie er war, zog er heraus, was er selbst in die Taschen gesteckt hatte. Es waren Kaugummis. Nachdem er Nayla gestern ins Bett gebracht hatte, war er so unruhig gewesen, dass er zu einem der Automaten auf dem Gelänge gegangen war. Von Getränken über kleine Snacks bis zu kleinen Nähsets für unterwegs oder Kaugummis gab es dort eigentlich alles. Batterien, Stifte, Magnete, in manchen auch Kondome und Unterwäsche. Man musste nur wissen, wo sie standen. Alkohol und Zigaretten wurden auf dem Campusgelände nicht verkauft, wenngleich es den Studenten freistand, diese zu besitzen. Timothy hatte die Kaugummis gewählt, um seiner nächtlichen Unruhe Abhilfe zu verschaffen. Natürlich hatte es nicht geholfen. Im Endeffekt hatte er sie in die Tasche gesteckt, seine Musik laut aufgedreht und zu viele Zigaretten geraucht. „Dann bis Freitag zu Recht“, sagte Mikael und riss Timothy aus seinen Gedanken. Der Kleinere war nähergekommen und maß ihn mit einem neugierigen Blick auf die Packung in seiner Hand. Timothy schmunzelte ungewollt. Mochte er diese Kaugummis etwa? Die Szene erinnerte ihn an die Sache mit den Mandarinen. Auch da hatte Mikael stumm auf das Produkt gestarrt, fragte aber nicht, ob er etwas haben könnte. Es bleib an Timothy herauszufinden, was sein neuer Lover damit bezweckte. Er war sich sicher, dass Mikael ihm darauf nie eine ehrliche Antwort geben würde. Das war ok. Anders würde es keinen Spaß machen. Für jetzt war er sich sicher, den Blick entschlüsselt zu haben. „Ja, bis Freitag“, erwiderte Timothy, nahm sich zwei Kaugummi aus der Packung und steckte sie sich in den Mund. Der Blick der haselnussbraunen Augen folgte seiner Bewegung. Timothy unterdrückte ein Grinsen und legte eine Hand unter Mikaels Kinn. Er beugte sich zum anderen hinab und küsste wie selbstverständlich die schmalen Lippen. Mikael zog flüchtig seine Augenbrauen tiefer, ehe er seine Augen schloss und entspannter den Kuss annahm. Ihre Lippen drängten aneinander, der Geschmack von vorhin wurde vom fruchtig-scharfem Aroma des Kaugummis überschattet. Wenig später lösten sie sich, ohne dass dieser Kuss die Hitzigkeit von vorhin erreicht hatte. Timothy grinste verschlagen und kaute nebenbei auf seinem Kaugummi. „Und du hast wirklich alles, weswegen du hergekommen bist?“ Mikael wischte sich mit dem Handrücken über die untere Lippe. „Ja, habe ich. Danke.“ Nayla und Chris hatten sich gerade an den Tisch im Wohnzimmer gesetzt, als sie Schritte die Treppe herunterkommen hörten. Neugierig starrten beide auf die Tür zum Flur, welche meistens offenstand, außer wenn gekocht wurde. Einen Augenblick später trat Mikael in ihr Sichtfeld. Die Hände in den Hosentaschen wirkte er entspannt. „Habt ihr alles geklärt?“, rief Chris ihn fragend zu. Mikael blieb in der Tür stehen und nickte schlicht. „Mik“, begann Nayla, „Wenn mein Bruder mal zu anstrengend oder komisch werden sollte“, sprach sie weiter, ohne ihren Satz je zu beenden. Mikael machte eine blaue Blase, ließ sie platzen und kaute weiter. „Keine Sorge“, sagte Mikael, den Kaugummi in seine Wange geschoben. „Ich denke, ich habe ihn ganz gut im Griff.“ Mit einem frechen Grinsen, winkte er beiden Tänzern zu, ging zur Tür und verließ das Haus. Dann ging er den schmalen Weg entlang und blieb auf dem Fußgängerweg stehen. Die Hände noch immer in den Taschen sah er auf. Das linke Fenster gehörte Timothy, welcher wie zufällig gegen die Scheibe lehnte und hinabsah. Den Blick haltend, formte Mikael eine neue Kaugummiblase und ließ sie platzen. Die Person am Fenster tat selbiges. Ein Grinsen huschte über Mikaels Gesicht, ehe er auf dem Absatz kehrt machte und heim ging. Timothys Blick folgte ihm lange nach sowie ein sanftes Ziehen in der Brust. Freude gepaart mit Sehnsucht war wie der fruchtig-scharfe Geschmack des Kaugummis. Kapitel 10: #MögendieSpielebeginnen ----------------------------------- Kapitel 10: Nachdem ich am Mittwoch mit Timothy gesprochen und unseren, nennen wir es Status, geklärt hatte, lief alles wie gewohnt weiter. Wir sahen uns nicht mehr als sonst und schrieben auch nicht mehr als vorher. Kurz gesagt, wir hingen es nicht an die große Glocke. Trotzdem glaubte ich nicht, dass niemand bemerken würde, wie wir miteinander umgingen. So etwa am Freitag, als ich zum Rechtsseminar ging. Kurz vor der alten, hölzernen Eingangstür zum Vorlesungsraum hielten mich zwei Kommilitoninnen auf. Sie waren Kunststudentinnen und wir kannten uns aus dem Rechtsseminar. Eigentlich kannten nur sie mich. Mir waren sie ehrlich gesagt noch nie aufgefallen. Das lag daran, dass der Großteil meiner Aufmerksamkeit auf Timothy und seinen Unsinn gerichtet gewesen war. Andererseits hätte ich die beiden nicht mal wahrgenommen, wenn Timothy nicht da gewesen wäre. Sie saßen nämlich hinter uns. Und wer achtete während einer Vorlesung schon auf die Person, die hinter einem saß? „Verzeih, falls du es eilig hast“, begann das eine Mädel. „Wir sitzen in Recht hinter dir und … naja, wir hatten etwas hin und her überlegt, aber wollten dir das hier dann doch geben.“ „Bitte nimm es an“, fügte das zweite Mädel hinzu und reichte mir ein A4-Blatt in einer Folie. Nickend, aber noch leicht verwirrt, was das hier werden sollte, nahm ich das Blatt mit der Rückseite nach oben entgegen. Zugleich trat jemand von hinten an uns heran und legte seinen Arm auf meiner Schulter ab. „Nanu? Sag nicht der Knirps bekommt eine Liebeserklärung“, sagte Timothy. Seine Stimme klang leicht und amüsiert, während seine Augen nichts davon widerspiegelten. Mein Herz stolperte beim Klang seiner Stimme so nah an meinem Ohr. Die beiden Mädels wurden indes sehr hibbelig und unterdrückten nur schwer ihre Freude über Timothys Erscheinen. Dass sie so quirlig wurden, nur weil er auftauchte, nervte mich etwas. Die Augen verdrehend, zuckte ich mit der Schulter und schenkte ihm einen genervten Blick über diese hinweg. „Runter von mir und kümmre dich um deinen Kram.“ „Nichts lieber als das, aber ich fürchte das wird nicht möglich sein.“ „Und warum bitte? Das interessiert dich sonst auch nicht.“ „Was denn, was denn? Sei nicht eifersüchtig. Das macht kleine Leute nur noch kleiner“, erwiderte Timothy mit einem amüsierten Grinsen im Gesicht. Diesmal war es echt. Es stimmte mich milder. Ich bildete mir ein, dass sein richtiges Lächeln von nun an mir vorbehalten war und dass er sich nur einmischte, weil er eifersüchtig, neugierig oder beides war. „Oder darf ich nicht wissen, was du hier treibst?“ Als ob ich das hätte geheim halten wollen oder können, dachte ich schnippisch. Das eine Mädel fasste sich ein Herz und trat etwas näher an uns heran. Zugleich lehnte sich Timothy ein wenig mehr auf mich. Er musste lässig wirken, mutmaßte ich. Kein Wunder also, dass sie ihm näherkommen wollte oder dass mein Herz noch etwas schneller schlug, weil ich mehr von seinem Gewicht spürte. Mehr Nähe fühlte. „Wir … wir sitzen in Recht hinter euch und haben letztens ein Bild von euch gemalt“, begann sie Timothy zu erzählen. „Wir wollten fragen, ob es ok für euch ist, wenn wir die Zeichnung in unsere Seminararbeit einfließen lassen.“ Bittend und ernst sah sie uns an. Ihre Wangen waren rot geworden, was ihr ziemlich gutstand. Ich entspannte mich etwas und auch Timothy war weniger misstrauisch. Er legte seinen Arm kumpelhaft um meinen Nacken, sodass seine Hand locker über meiner Schulter und Brust hing. Neugierig drehte ich das Blatt um. Ich hielt ein gezeichnetes Bild in Händen. Die Bleistiftlinien waren filigran und gekonnt gesetzt. Man erkannte sofort die Personen auf dem Bild. Timothy auf seinen Armen liegend und mich, wie ich meine Finger durch seine Haare gleiten ließ. Es war so real gezeichnet, dass ich sofort das Gefühl der weichen Zotteln zwischen meinen Fingern spürte. „Eigentlich seid ihr die ganze Zeit am Streiten, aber das war so süß. Wir konnten nicht anders“, erzählte das zweite Mädel, ebenfalls rot geworden. Ich blinzelte und studierte das Bild. „Ihr seid also Kunststudentinnen? Das ist wirklich … gut geworden“, sagte ich. „Wirklich?! Danke schön!“, sagte das erste Mädel. Beide wirkten sichtlich erleichtert. Timothy spannte seinen Arm etwas an, während sein Ton freudig und unbefangen klang. „Ihr habt wirklich ein sehr gutes Auge. Diese Mikrobe hier so detailreich einzufangen, zeugt wahrlich von Talent.“ „Hast du was gesagt?“, fragte ich mit genervtem Blick über meine Schulter und rollte das Blatt locker zusammen. Gott, ich musste so aufpassen nicht rot anzulaufen. „Habe ich?“ „Weiß nicht, hast du?“ Ich schüttelte seinen Arm ab und wandte mich ihm voll zu. Timothy neigte seinen Kopf und lächelte charmant. Mistkerl, dachte ich. Je öfter wir uns sahen, desto mehr Nuancen und Feinheiten fielen mir auf. Dinge so flüchtig und echt, dass sie mein Herz zum stolpern brachten. „Ist der Kleine etwa schüchtern und freut sich darüber, dass ich ein Bild von ihm gelobt habe?“ „HA! Als ob!“ Ich machte auf dem Absatz kehrt und ging in den Seminarraum. Leider hatte Timothy den Nagel auf den Kopf getroffen. Ich hätte nie erwartet, dass ein Bild von mir in einer so langweiligen Situation gezeichnet werden würde und ich sah trotzdem noch gut aus. Ich war hübsch, aber Timothy war gutaussehend! Zwischen uns gab es deutliche Unterschiede im Stil. Dass man ihn zeichnete war logisch. Eben, weil er auf dem Campus einen gewissen Ruf besaß. Aber mich? Auf dem Bild sah ich nach rechts und stützte mein Kinn auf meiner Hand ab. Trotzdem erfassten die Künstlerinnen genau, wie ich mich in jenem Moment gefühlt hatte und wie warm mir gewesen war. Ich behielt die Zeichnung und verwahrte sie für den Moment sicher in einem Ringblock in meinem Rucksack. Timothy belagerte mich während der Vorlesung immer wieder, ich solle ihm das Bild noch mal zeigen. Aber würde ich das machen, bekäme ich die Zeichnung wohl nie wieder und erhielt obendrein auch noch spöttische Kommentare. Nein, nein, ich konnte das Ego dieses Sängers nicht noch mehr pushen. Einmal schielte ich nach hinten und sah die Augen der Mädchen leuchten. Sie und Timothy hatten mir eindeutig zu viel Spaß an dieser Situation hier. Am Wochenende wurde ich zum Grillen in die Musiker-WG eingeladen. Keiner wusste, dass sich offiziell etwas zwischen Timothy und mir ergeben hatte. Dass wir, im Volksmund gesprochen, zusammen waren. Ich vermutete stark, dass es unserem Verhalten auch nicht gerade abzulesen war. Wir saßen nicht aufeinander, hielten Händchen oder schickten verliebte Blicke hin und her. Das Gegenteil war der Fall. Timothy nahm jegliche Möglichkeit wahr, mich zu triezen und zu schikanieren, dass es selbst mir zu viel wurde. Ich revanchierte mich auf die gleiche Art. Das hatte zur Folge, dass wir beim Essen soweit auseinandergesetzt wurden, wie es den anderen nur möglich war. Als ich es bemerkte, sah ich leicht verwundert zu Timothy und hob eine Augenbraue, ehe ich amüsiert meinen Kopf schüttelte. Er lächelte nur. Ehrlich und warmherzig. Es zeigte mir, wie sehr er die Menschen an diesem Tisch schätzte. Menschen, die viel mehr über ihn wussten als ich momentan. Nur, wie er seine Zuneigung anderen gegenüber ausdrückte, verstand ich immer besser als sie. Nach dem Essen ging ich nach Hause. Timothy hatte vor mich zu bringen, doch Nayla spannte ihn beim Abwasch ein. Es war schon etwas schade. Ich hätte ihn durchaus gerne nochmal geküsst, aber was nicht war, war eben nicht. Ich schenkte ihm ein wissendes, abschätziges Lächeln, winkte in die Runde und ging meiner Wege. Wie eine Beziehung zu laufen hatte, wusste ich nicht. Ich kannte nur die Norm, von der alle erzählten, wie eine Beziehung sein musste. Aber all das Geturtel und Geschmachte war nichts für mich. Vor allem nicht in der Öffentlichkeit. Was ging es die anderen an, wen ich mochte? Was musste ich meine Gefühle offenlegen, nur um mich zu profilieren? Ich fand es wichtig, dass Timothy und ich wussten, wer was für wen empfand. Wenn man es genau nahm, waren unsere ständigen Anschuldigungen, Streitereien und Beschimpfungen der beste Liebesbeweis, den wir im Moment finden konnten. Und es reichte vollkommen aus, dass wir uns gegenseitig verstanden. Der Dienstag kam und das Rechtsseminar war meine erste Vorlesung für diesen Tag. Ich packte gerade meinen Rucksack, als sich die Haustür öffnete und Timothy hereinkam. „Das ist eine Überraschung“, gestand ich und starrte ihn von der Couch aus an. Er schloss die Tür hinter sich und grinste frech. Mein Herz machte einen Saldo und tausende von Schmetterlingen wirbelten in meinem Bauch herum. „Nicht wahr? Wenn wir schon nicht gemeinsam Mittag essen können, dachte ich, ich hole dich ab. Zuvorkommend von mir, nicht?“ Er blieb am Eingang stehen und wartete, während ich mich von der Couch erhob und mit skeptischem Blick und kribbelnden Fingern auf ihn zu ging. „Wer sich selbst lobt, ist ziemlich selbstverliebt. Aber ich wusste bereits, wie narzisstisch du bist“, konterte ich und blieb vor ihm stehen. Sobald wir beide alleine waren, wurde die Anziehung zwischen uns beinahe greifbar. Ich hob meine Arme und legte sie langsam um seinen Nacken. Das Dunkelbraun erwiderte meinem Blick. Er kam mir näher und als ich den warmen Atem spüren konnte, schloss ich meine Augen. Der Kuss sollte simpel sein. Jedoch verlor ich mich keine zwei Sekunden später in dem brennenden Gefühl, welches die bloße Berührung unserer Lippen in mir auslöste. Ich zog mich an ihm hoch und forderte ein, was ich seit dem Grillabend hatte haben wollen. Timothy legte seine Arme um mich und erwiderte ebenso hitzig. Ich wollte nicht zurückweichen, selbst als die Luft knapp wurde. Widerwillig ließ ich den Kuss abebben, aber stahl mir zugleich kleinere Küsse von seinen Lippen. Selbst als er zu grinsen begann, wollte ich kein bisschen Nähe aufgeben. Ich spürte seinen Körper an meinen, sein Herz schlug schnell gegen meines und ich sah die Freude und das Verlangen in seinen Augen. Jetzt verstand ich auch warum er grinste und tat es ihm gleich. Ich musste genauso bescheuert aussehen, wie er gerade. „Hast du schon gefrühstückt?“, fragte ich ihn und strich eine seiner dunklen Strähnen hinter sein Ohr. Versuchsweise, denn sie hielten dort nie lange still. „Ja, gerade eben.“ Ich schnaufte und gab ihn einen Klaps auf den Hinterkopf. „Ich meinte ein richtiges.“ „Oh, bist du dazu schon bereit? Hmm, aber ich glaube, das wird zu knapp vor der Vorlesung“, sinnierte er. Es brauchte einen Moment, ehe es klick machte. Ich zog an den dunklen Zotteln und dirigierte seinen Kopf damit leicht nach hinten, aber sein dümmliches Grinsen blieb. „Wie du willst. Idiot.“ Ich stellte mich auf meine Zehenspitzen und zog mich zusätzlich an ihm hoch, nur um meine Zähne in seiner Halsbeuge zu versenken. Nachdem er überrascht, scharf Luft eingeatmet hatte, leckte ich über die Stelle und löste mich erst, als ein roter Fleck von Zähnen umrahmt seine Haut zierte. „Mik…“ „Ich habe auch gefrühstückt. Wir können los“, erwiderte ich trocken und löste mich von ihm. Meinen Rucksack holend, ließ ich ihn stehen und schielte von der Couch flüchtig rüber. Die Röte auf seinen Wangen war mehr geworden und sein sprachloses Gesicht gefiel mir durchaus. Grinsend streckte ich die Zunge heraus. Der Knutschfleck verschwand hinter Timothy Jackenkragen. Im Nachhinein war es besser so, dachte ich. Wenngleich es schade für mich war, da ich mein Werk nicht betrachten konnte, würde es ein zu großes Ärgernis werden, sollten die falschen Augen dieses Prunkstück erspähen. Indes erfüllte es mich mit äußerster Genugtuung zu beobachten, wie Timothy sich wiederholt an diese Stelle fasste. Es war das erste Seminar, in dem ich deutlich mehr Spaß hatte als Timothy. Nach dem Seminar verließen wir zusammen den Raum. Ich überlegte, wo wir hingehen könnten, um die wenigen Minuten auszunutzen, welche wir für heute noch hatten, während Timothy den Inhalt seines Handys studierte. Es nervte etwas, aber seine Miene hatte sich verdüstert, als er es kurz vor Schluss gezückt hatte. Wer auch immer geschrieben hatte oder was auch immer er tat, schien wichtig zu sein. Ich wartete schweigend und ging neben ihm her. Wir verließen das Gebäude und gingen noch ein paar Meter, ehe Timothy stehen blieb. Er seufzte schwer genervt und steckte sein Handy weg. „Was machst du-“, wollte ich fragen, ehe ich unterbrochen wurde. „Mikael! Timothy! Wartet mal!“ Da wir bereits standen, rührten wir uns nicht vom Fleck und drehten unsere Köpfe in die Richtung, aus der der Ruf gekommen war. Quer über den heiligen Rasen des Campus‘ kam eine Kommilitonin gerannt. Ich kannte sie nur vom Hören her. Sie war eine Freundin von Ramira, ebenfalls Tänzerin und im selben Tanzkurs wie Timothy (welchen er nur selten besucht, aber wundersamerweise trotzdem zu bestehen schien). Einmal hatte ich sie mit Ramira in der Mensa gesehen und beide gegrüßt. Es war seltsam, dass sie so aufgeregt auf uns zu kam. „Cool, danke“, sagte sie etwas außer Atem als sie uns erreichte. Sie legte sich eine Hand auf die Brust und atmete tief ein und aus, um ihren Atem zu regulieren. „Was gibt’s?“, fragte Timothy. Etwas an seinen Ton ließ mich zu ihm Aufsehen. Seine Mimik war normal, doch sein Ton klang kälter als sonst. „Ich wollte fragen, ob ihr Lust habt, heute mit zum Karaoke zu kommen.“ Ihre Fröhlichkeit war ungebrochen, während ich noch etwas verdattert zurücksah, antwortete Timothy bereits mit einem klaren „Nein.“ „Wirklich nicht? Heute gibt es Prozente und-“ „Ich verstehe ja, warum du Timothy fragst, aber warum sollte ich mit zum Karaoke kommen?“, fragte ich sie. Sie blinzelte beinahe niedlich, ehe sie lächelte und zur Antwort gab: „Aber du bist doch auch ein guter Sänger.“ Mir lief ein Schauer den Rücken hinab und ich spürte, wie meine Finger kalt wurden. Im Nachhinein betrachtet, hätte ich dieser Situation auch mit Redegewandtheit entkommen können. Jedoch erinnerte mich ihr schlichter Satz an eine unschöne Szene aus einem Interview, zu einer Zeit in der ich bereits darum gekämpft hatte Luft zu bekommen. Das beklemmende Gefühl von damals hatte mich sofort wieder im Griff. Statt ruhig zu bleiben und erstmal zu zuhören, fühlte ich mich gefangen. Eingeengt, nicht ausreichend, nicht präsentabel genug. Sicherlich wären sie enttäuscht, würde ich wirklich ein Mikrofon in die Hand nehmen und singen. „Als ihr zusammen gesungen habt, hörte sich das richtig gut an. Das wollte ich einfach mal Live erleben.“ „Mit Timothy zusammen?“, fragte ich monoton nach. Ich blamierte ihn doch nur! „Wir kommen nicht mit“, sagte Timothy derweil. Das Mädel legte ihren Kopf schief und schien so unbeholfen wie dumm zu sein. „Ramira war ein bisschen sauer auf dich, weil du wolltest, dass sie das Video von ihrer Seite nimmt. Es hatte so viele Klicks“, sagte sie schmollend. „Welches Video?“, fragte ich weiter mit starrem Blick und ballte meine eiskalten Finger zu Fäusten. „Oh, hast du das noch nicht gesehen?“, fragte sie unschuldig nach. „Ramira hatte ein kurzes Video, wie ihr zusammen gesungen habt. Das war richtig cool. Man erkannte zwar nicht wer das war, aber Timothy war deutlich rauszuhören und im Untertext stand: 'Ständig nur am Streiten, aber Singen können sie'. Ramira hat so von euch geschwärmt.“ Mein Blick flog zu Timothy. Ich war so angespannt, dass ich kaum reden konnte. Hunderte Fragen schwirrten durch meinen Kopf. Welches Video? Wer hatte das alles gesehen? Welcher Untertext? Wo war das Video zu sehen? Erkannte man mich wirklich nicht? Warum erfuhr ich erst jetzt davon?! Wusste Daniel davon? Timothys Blick war düster und verärgert. Er sah mich flüchtig an und ich schob meine Fragen auf. Schwer schluckend, wand ich mich von dem Mädel ab. „Ramira hätte fragen können, ob wir damit einverstanden sind, bevor sie das Video reinstellt. Darum habe ich sie gebeten es zu löschen. Wenn ihr die Klickzahlen lieber sind als Freunde, kann sie es gerne wieder reinstellen. Ich denke, das hatte ich ihr letztens schon deutlich genug gesagt. Wenn du uns jetzt entschuldigst. Wir haben noch was zu erledigen.“ Timothy machte auf den Absatz kehrt und wollte zurück ins Gebäude, aus welchem wir gerade gekommen waren. Da ich mich erst nicht bewegte, legte er mir seine Hand an den Hinterkopf und zog mich mit sich. Ich folgte ihm, ließ mich von ihm durch die schwere Eingangstür des Gebäudes schieben und ignorierte alle die uns passierten. Ihre verwirrten Blicke hätte ich sowieso nicht deuten können. War es, weil Timothy mich grob mit sich zog oder weil ich abwesend schien, oder weil Timothy schaute, als wollte er jemanden umbringen? Ich wurde durch noch eine Tür geschoben, die laut hinter mir ins Schloss fiel. Erst jetzt bemerkte ich, dass wir zurück im Rechtsseminarraum waren. Allerdings allein. Selbst der Dozent war bereits gegangen. „Es gibt ein Video?“, fragte ich schockiert nach. „Sie hat es denselben Abend noch reingestellt.“ „Das ist eine Woche her! Warum weiß ich davon nicht? Du wusstest doch davon. Warum hast du es mir nicht erzählt?!“ „Hätte es was gebracht, es dir zu erzählen?“ „Es ist besser es zu wissen, als es erst dann zu erfahren, wenn es schon die Runde gemacht hat!“ „Man konnte dich nicht erkennen. Allerdings war deine Stimme sehr gut zu hören. Darum wollte ich, dass sie es rausnimmt.“ „Klasse! Welche Plattform hat sie benutzt?“ „Unwichtig.“ „Sehr wichtig! Wenn es sich verbreitet und die falschen Leute es sehen…! Du hättest es mir gleich sagen sollen!“ „Warum? Kennst du dich mit dem Internet so gut aus, dass du alle Spuren eines Videos löschen kannst?“ „Nein … aber … ich könnte jemanden bitten, das für mich zu tun.“ „Das brauchst du nicht“, sagte Timothy erstaunlich sanft, was mich in meiner Panik etwas aus dem Takt brachte. „Wie meinst du das?“, fragte ich skeptisch nach und sah ihn erstmals richtig an. Sein Blick war nicht mehr kalt und mörderisch, sondern bedacht und vollkommen auf mich gerichtet. Die Panik wallte wieder auf. Es hätte mir klar sein müssen, dass die anderen darüber reden würden, wenn ich mit Timothy sang. Ein Architekt der so gut singen kann? Never! Aber ich war nachlässig gewesen. Nun gab es nicht nur die Mundpropaganda, sondern auch ein Video und Timothy war in all das bereits verwickelt worden! „Tim … wie meinst du das?“ „Ich habe mich um die meisten Einträge bereits gekümmert.“ „Wie … Du? Kennst du dich mit dem Technikkram aus?“ „Ist nicht sonderlich schwer, wenn man sich einmal eingelesen hat“, meinte er schulterzuckend. Ungläubig sah ich ihn einen Moment an. „Selbst wenn … du willst doch Musiker werden. Auf den Bühnen stehen und singen. Wenn man dich beim Hacken erwischt oder was auch immer du gemacht hast, kannst du das vergessen.“ „Ich werde aber nicht erwischt.“ „Das kannst du nie wissen“, sagte ich eindringlicher. „Du kannst nicht dafür sorgen, dass alles nach deinem Kopf läuft. Das wird nicht funktionieren. Irgendwas kommt immer dazwischen. Oder hat das mit dem zu tun, was du mir noch erzählen wolltest?“ „Du wechselst das Thema, Mik. Mein Problem ist gerade nicht wichtig.“ „Ist es wohl! Du willst doch Sänger werden und-“ „Und du willst das Singen wirklich aufgeben?“ Ich stockte. „Ich …“ „Mik. Ich erzähle dir noch von meinen Sachen, aber jetzt gerade will ich wissen, was damals vorgefallen ist.“ „Kennst du doch alles schon“, sagte ich und wand mich von ihm ab. Scharm und Pein krochen mir die Beine hinauf. „Ich kenne das, was im Netz kursiert. Die Seite der Medien. Aber das kann unmöglich alles gewesen sein.“ Ich drehte meinen Kopf weiter zur Seite, nur um ihn nicht ansehen zu müssen. Alles von damals war mir so peinlich und so erbärmlich und leider … auch nicht mehr zu ändern. So sollte mich mein nicht-mal-eine-Woche-alter fester Freund nicht sehen. Timothy stand in nur zwei Schritten vor mir und griff nach meinem Kinn, aber ich entzog mich ihm. „Du brauchst dich da nicht einzumischen!“, keifte ich ihn an. Seine Hand verweilte in der Luft. Er atmete langsam aus und ich spürte im nächsten Moment seine Hand an meinem Hals. Sie berührte mich sachte und glitt immer höher. Daumen und Zeigefinger waren gespreizt und gelegten sich unter meinen Kiefer. Gerade so, als wollte er mir Zeit geben mich doch noch abzuwenden, ehe ein forscher Ruck seiner Hand meinen Kopf anhob und ich nicht mehr wegsehen konnte. Ich starrte in dunkles, verärgertes Braun. „Wenn du dich weiterhin selbst belügen willst, nur zu. Aber versuche nicht mir weiß zu machen, dass du das Singen aufgeben willst. Verkaufe andere für Blöd“, begann er im erstaunlich ruhigen Ton. „Ich kenne dich mittlerweile gut genug, um mir das ein oder andere zusammenreimen zu können. Wenn du nicht willst, dass ich mich da einmische, gut. Aber dann sage das auch klar und deutlich. Bis du mir nicht direkt verboten hast, Dinge auf meine Weise zu handhaben, will ich wissen, was vorgefallen ist.“ Timothy endete mit einem scharfen Tonfall, jedoch war sein Blick etwas milder geworden. Seine Hand löste sich von meinem Kiefer und glitt langsam meinen Hals hinab. Ich sah weiterhin nach oben, fasziniert von der Person, die vor mir stand. Meine vorherige Panik, mischte sich mit der Angst ihn zu enttäuschen und der Ruhe, die seine Worte mir brachten. Es stimmte, dass ich mich seit damals hinter meinen Ängsten verkrochen hatte. Dass ich mir täglich Lügen erzählte, um mich nicht mit der unbequemen Wahrheit auseinander setzen zu müssen. Aber seit einer Weile spürte ich, dass es so nicht weiter gehen konnte. Ich wollte Musik machen. Seit ich fünf Jahre alt gewesen war, hatte ich nur Noten und Melodien im Kopf. Architektur war interessant, aber … ich wollte singen. Ich schluckte unbequem und holte Luft, ohne einmal meinen Blick abzuwenden. „Vor acht Jahren waren die sozialen Medien noch nicht so verbreitet wie heute. Vor allem war es nur als Hobby oder Freizeitnutzung im Gespräch. Aber an so was hatte ich kein Interesse. Eine Plattform auf der ich Stunden damit verbringe mir das Leben anderer anzusehen, war nur ein Zeitfresser. Ich brauchte jede Minute an den Instrumenten und um mir Texte und Melodien auszudenken. Woher hätte ich denn wissen sollen, dass dort getratscht wurde? Oder dass die Meinung von ein paar wenigen, alle anderen so sehr beeinflussen würden? Oder dass die Medien sich lieber an Skandalen beteiligten als die Wahrheit aufzudecken?“ Ich ließ meinen Kopf hängen und betrachtete unsere Schuhe. Für den Moment dachte ich nicht darüber nach, wie ich mich fühlte, es Timothy zu erzählen oder was dieser sagen würde, wenn er auch meine bemitleidenswerte Sichtweise erfuhr. „Meine Eltern waren mir keine Hilfe. Sie verstanden nicht unter welchem Druck ich stand. Mein Manager versuchte sein Bestes, verkannte aber die allgemeine Stimmung und meine Verfassung. Mit den anderen Sängern in meinem Alter hatte ich kaum Kontakt und keinen verlässlichen Freund, dem ich mich voll und ganz hätte anvertrauen können. Ich war überlastet mit den Meinungen von außen. Kritisierten sie meine Musik oder mich selbst? Das Erste was ich im Showbusiness gelernt hatte, war niemanden zu zeigen wie es mir wirklich ging. Man hatte mir verdeutlicht, dass es als unprofessionell galt und dass alle großen Stars ein Fernsehgesicht und ein privates Gesicht hatten. Zu Beginn gab ich wenig darauf. Aber als ich mehr Fans hatte und bei den Autogrammstunden nach einem Konzert zu hören bekam, was sie an mir mochten, wurde ich auf der Bühne mehr und mehr zu dem, was sie sehen wollten und nicht der, der ich bin. Als die Kritiken größer wurden, versuchte ich auf Teufel komm raus, der zu sein, den sie sehen wollten.“ Ich ließ meine Schultern hängen. Wie oft hatte ich vor dem Spiegel gestanden und mich nicht wiedererkannt, bis es mir egal war, wen ich vor mir sah? Ich verstand nicht, was falsch gelaufen war. Wann hatte ich einen Fehler gemacht? Welcher war der schwerste Fehler gewesen? „Eh ich mich versah, hatte ich mich selbst ins Aus geschossen. Im letzten Interview stellte die Moderatorin Fragen zu meiner Single und ich saß lächelnd und gut gelaunt auf ihrer Couch. Eigentlich hatte ich das Interview nicht geben wollen. Ich spürte jeden Blick auf mir und vermutete hinter jedem noch so gelangweilten Augenpaar eine Anschuldigung. Ich war seit Wochen angespannt, hatte kaum geschlafen und empfand mein letztes Lied als das Schlechteste, was ich je geschrieben hatte. Aber es war das, was die Fans wollten. Also lieferte ich, dachte ich.“ „Das habe ich gesehen“, sagte Timothy und ich sah auf. Natürlich hatte er es gesehen. Mein damaliger Ausraster wurde parodiert. „Ich fand ihre Fragen etwas unverschämt. Heute würdest du sie in Grund und Boden reden können.“ Ich blinzelte. Hatte ich mich verhört? Aber Timothy ließ sein nachdenkliches Gesicht fallen und schenkte mir ein warmes, wenngleich amüsiertes Lächeln. „Ach halt die Klappe!“, sagte ich trotzig und boxte ihn in den Oberarm. „Natürlich hast du gerade dieses Video gesehen! Tss. War mein Ausraster lustig anzusehen?“ Die Moderatorin hatte mir weitere Fragen zu meiner Fröhlichkeit gestellt, obwohl ich in den sozialen Medien einen Shitstorm hinter mir herzog. Ihre falsche Bewunderung machte mich unachtsam. Ich bedankte mich für ihre Aufmerksamkeit und fühlte mich gelobt für mein falsches Spiel. Zumindest bis sie mich fragte, ob an den Gerüchten, ich würde nicht selbst singen, etwas dran wäre. ‚Sie singen doch selbst, nicht wahr?‘, hatte sie gefragt. Ich hörte etwas in mir reißen und wusste, dass ich mich nicht gehen lassen durfte, um hier keinen weiteren Skandal loszutreten. Aber obwohl ich das dachte, war ich bereits aufgesprungen und hatte sie ins Gesicht geschlagen. Meine danach gewählten Worte waren harsch und voller Frust gewesen. „Ein bisschen“, gestand Timothy. „Gerade, wenn man dich, wie ich, jetzt erst kennengelernt hat, war dieser Ausraster einfach nur lächerlich.“ Sein Grinsen legte sich als er weitersprach. „Und danach? Es gab nur wenige Artikel. Das Meiste davon laß ich in den Fanforen. Aber selbst da legte sich nach einigen Wochen die Hetze und man fragte sich, wo du abgeblieben bist.“ Es klang fast so, als hätte Timothy sich Wochen an Einträgen in verschiedenen Foren durchgelesen. Wobei es hunderte von Einträgen an einem Tag in einem Forum geben konnte, wenn das Thema hitzig genug diskutiert wurde. Andererseits konnte ich auch nicht glauben, dass er seine Recherche halbherzig angegangen war. „Ein Bekannter hatte mich aufgenommen. Ich war so durcheinander, dass ich nicht mal meine Eltern sehen wollte. Er war es auch, der mir beim Ausstieg als Sänger, der Nachhilfe für eine Privatschule und meiner Immatrikulation geholfen hat.“ „Mhm“, brummte Timothy nachdenklich. „Und … wer ist das?“ „Den stell ich dir ein anderes Mal vor“, winkte ich ab. „Wichtiger ist, was wir wegen des Videos machen.“ Diesmal winkte Timothy ab, griff nach meinem Kinn und beugte sich zu einem Kuss herab. „Das Video ist lange runter. Mach dir keine Sorgen“, sagte er. Der Kuss beschwichtigte mich tatsächlich etwas, aber anders als vor sechs Jahren blieb ich auf der Hut. Nur weil das Video weg war, hieß es nicht, dass nicht mehr geredet wurde. Aber zu jenem Zeitpunkt stellte ich mir diese Frage noch nicht. Nach diesem katastrophalen Interview damals, brauchte ich einige Wochen, um überhaupt wieder klar zu kommen. Die Gespräche mit Daniel, ein Bekannter meiner Eltern, halfen mir und er verstand es auch, alle Medieneinflüsse, sogar die Tageszeitung, von mir fernzuhalten. Ohne wirklich mitzubekommen, was außerhalb von Daniels Haus, seinem Grundstück oder dem Zimmer, welches ich bewohnte, alles passierte, erholte ich mich. Nach zwei Monaten sprach ich das erste Mal mit meinen Eltern. Leider musste ich gestehen, dass ich nie wirklich mit ihnen warm geworden war. Als Kind, ja, da brauchte ich sie, denn sie holten mir jedes Instrument, das ich haben wollte und bezahlten meinen Musikunterricht. Aber nach meinem Debüt und vielleicht auch, weil ich mein eigenes Geld verdiente, brauchte ich sie nicht mehr. Mich hat es nie nach elterlicher Fürsorge gedürstet. Sie waren da. Ich war da. Das war es auch schon. Demnach verstand ich auch nicht, was sie mir sagen wollten, als sie mich bei Daniel besuchen kamen. Ihre Reue und Vorwürfe waren überdeutlich und wirkten auf mich wiederum wie gefälschte Gefühle. Sie sorgten sich um mich und verstanden nicht, was in mir vorging. Warum ich nicht nach Hause kam und lieber bei Daniel blieb. Ich hörte mir eine Weile an, was sie alles hätten anders machen können, wo sie hätten aktiver sein sollen. Doch ihr Blick war ebenso vernebelt gewesen wie der meine. Sie waren so stolz auf ihren Sohn, den Star, gewesen und folgten dem Manager mit blinden Vertrauen, als er meinte, ich machte mich gut und es gäbe keinen Grund zur Sorge. In meinen Ohren klang es schlichtweg falsch und heuchlerisch. Allerdings musste ich zugeben, dass unser Verhältnis nicht ihretwegen so schlecht war. Vielleicht hatte ich mich zu früh von ihnen losgesagt und nun fehlte mir ein Stückchen Vertrautheit, welches ich in jungen, vorpubertären Jahren noch hätte erlernen können. Es war wie es war. Meine Gedanken dazu waren unzählige Male im Kreis gewandert. Da ich mich kaum mehr an jene Monate erinnerte, war es schwer für mich, herauszufinden, wer die Hauptschuld trug. Falls es in all dem Chaos überhaupt einen Hauptschuldigen gab. Viel eher vermutete ich, dass es eine Verkettung unglücklicher Zufälle war, die sich auftürmten wie ein zerbrechliches Kartenhaus, dass schließlich in sich zusammenfiel. Daniel, mit vollem Namen Daniel Cuvert, schlug im Gespräch mit meinen Eltern vor, dass ich erstmal auf eine private Schule gehen sollte, raus aus dem Musikgeschäft und zur Ruhe kommen. Er wollte, dass ich mich finde und wieder so werde, wie vorher. Mir war es einerlei. Daniel und meine Eltern unterhielten sich darüber was zukünftig aus mir werden könnte. Im Nachhinein bin ich ihnen dankbar. Wer wusste schon, wo ich sonst heute wäre? Dank Timothys Worten drehte ich nicht gleich durch. Seit damals hatte sich einiges verändert. Ich war älter, hatte mehr erlebt und andere Sichtweisen kennengelernt. Ich lief nicht mehr blindlings in eine Richtung, sondern wog die Dinge ab. Zwar war ich zeitweise noch aufbrausend, aber nahm nicht mehr alles persönlich. Wenn ich an mein fünfzehnjähriges Ich zurückdachte, bemitleidete ich mich selbst für mein Verhalten. Ich hätte schlauer sein müssen, mich nicht so in eine Ecke drängen lassen dürfen. An guten Tagen verstand ich nicht mal, wie ich mich so hatte gehen lassen können. Es war vergleichbar mit dem Frosch, der in kalten Wasser sitzt und nicht merkt wie es immer heißer wird, bis es kocht und er stirbt. Alle Wenns, Hätte, Könnte, Sollte schwirrten in meinem Kopf herum, ehe es mir zu viel wurde und ich mir Musik anmachte. Die Lieder lenkten mich ab und ich begann nebenbei die Küche aufzuräumen. Ich wischte über die Arbeitsplatte und war fast fertig, als ein Lied begann, dass ich nicht erwartet hatte. Die Aufnahme von den Bandproben hatte sich in meine Playlist geschmuggelt. Ich hielt inne und lauschte. Mein Blick glitt zur Tür und ich stellte mir vor wie Timothy durch die Haustür kommen würde. In meinem Bauch bildete sich ein Kribbeln, dass bis in meine Finger wanderte. Schlimmer noch… ich wollte ihn sehen. Ich warf den Lappen in die Spüle und ging in mein Zimmer. Besser nicht, dachte ich. Würde ich ihn sehen, verlor ich meine Konzentration. Ich hatte einiges an Unikram zu erledigen und wenig Lust dazu. Aber alles war besser, als ins Netz zu schauen und das Gerede zu verfolgen, wenn es welches gab. Die Vorstellung das Ramiras Video kaum jemand gesehen haben könnte und von denen wiederum niemand so schnell geschalten hatte, um mich zu erkennen, war tröstlich. Aber nicht gerade realistisch. Das wäre mit Glück verbunden, von dem ich nicht viel hatte. Trotz meiner Befürchtungen geschah in den nächsten zwei Wochen nichts außerhalb der Norm. Ich spürte keine Blicke auf mir ruhen oder hörte Getuschel, wenn ich an anderen vorbei ging. Timothy sah ich im Seminar oder traf mich am Wochenende mit ihm. Er wirkte müde und wenn wir allein waren, lehnte er sich an und schloss die Augen. Dann… Es war Mittwoch und ich hatte mit Fred und Marvin zu Mittag in der Mensa gegessen, erhielt ich einen Anruf. Daniel war am anderen Ende. Seit meinem Bachelorabschluss hatte ich ihn weder gesehen noch gesprochen. Es war untypisch, dass er anrief, sofern keine Feier oder ein Problem anlag. Für gewöhnlich rief ich ihn an, wenn es mir besonders schlecht ging. Aber das war seit zwei Jahren nicht mehr der Fall gewesen. Gespannt hörte ich ihm zu. Daniels Stimme war ruhig, doch ich hörte eine leichte Sorge heraus. Er berichtete, von einem Video und dass dieses bereits wieder verschwunden war (dank Timothy). Leider war es weniger der Inhalt der Daniel aufstieß, sondern die darunter verlinkten Hashtags. Hashtags, so lernte ich, waren ein Graus, was anderen Usern ermöglichte ihre Interessen schnell zu finden und die Suche nach etwas oder jemanden in Medien wie Twitter, Instagram oder was es sonst noch gab, deutlich zu erleichtern. Unter dem originalen Video (Ramiras) stand nur Nonsens, wovon das Anstößigste #neueSänger? war. Aber wie gesagt, war das Glück nicht auf meiner Seite. Irgendein Nerd hatte genauer hingesehen, hatte vielleicht eine Ahnung gehabt, wusste was er tat oder hatte so lange recherchiert, bis er Antworten gefunden hatte. Wie auch immer, den genauen Verlauf hatte selbst Daniel mir nicht sagen können. Fakt war, dass es mindestens eine Person gegeben hatte, die dieses Video mit mir verknüpfte, es in ein altes Fan Forum stellte, ein Hashtag mit meinem Künstlernamen setzte und sich die Posts mehrten wie Mäuse die zum Käse liefen. Überraschenderweise wurde auch dieses Video nach nur einem Tag aus dem Forum gelöscht. Im Moment sei der Verlauf entspannt, sogar recht positiv, weswegen ich mir keine Sorgen machen sollte, fügte Daniel hinzu. Das meiste seien nur Spekulationen, wo ich abgeblieben war, ob ich je wieder Musik machen würde und dergleichen, aber scheinbar keine konkreten Fakten. Demnach war meine Identität als Architekturstudent sicher und ich musste kein Gerede auf dem Campus oder in den Seminaren fürchten. Die Vorstellung, dass es so sein könnte, dass mein altes Leben mich nach nur sechs Jahren wieder eingeholt hatte, war beängstigend. Innerlich fürchtete ich mich bereits vor dem, was mit kalten Händen aus den Tiefen des Internets versuchte nach mir zu greifen. Und dass nur, weil ich einmal, nur einmal (!), unachtsam gewesen war und singen wollte. Nach zehn Minuten war das Gespräch beendet und ich starrte eine Weile auf den Bildschirm meines Handys. Abschließend hatte Daniel gesagt: „Miki, du bist mittlerweile erwachsen und kannst tun und lassen was du willst. Wenn du singen willst, singe, wenn du Häuser bauen willst, baue Häuser. Ich wünsche mir nur, dass du das tust, was du wirklich machen willst.“ Ich hatte genickt, was er natürlich nicht sehen konnte. „Okay. Bis dann.“ Viel zu viele Frage und Emotionen wirbelten in mir herum, aber ich schob sie vorerst zur Seite, denn… mir waren zwei Dinge klar geworden. Erstens: Selbst, wenn ich Singen wollte, hielt ich mich selbst zurück, aus Angst, mir könnte das Gleiche nochmal passieren. Als Architekt war ich auf der sicheren Seite und noch traute ich mich nicht, dieses befestigte Ufer zu verlassen und auf das schwankende Schiff der Musik zu springen. Zweitens: Timothy tat weit mehr als nur ein Video löschen. Es war nur eine Ahnung, wie ein schlechtes Gefühl im Bauch. Aber wenn Timothy das erste Video hatte löschen können (ob direkt oder indirekt durch Ramira selbst), war ich mir ziemlich sicher, dass es ihm auch mit einem Unbekannten gelingen würde, der das Video ins Forum gestellt hatte. Was auch immer er tat, es machte mich wütend. Nichts davon hatte mit ihm zu tun. Oder lag es daran, dass er sich gerne in die Angelegenheiten von anderen einmischte? Wollte er deswegen mit mir gehen? Nein, das würde nicht passen. Auch wenn das reinstellen des ersten Videos vor unserer Aussprache geschah, so bezweifelte ich, dass Timothy unsere Beziehung dafür nutzte mich im Netz schlecht zu machen. Es war nicht seine Art und er brachte sich selbst in die Schusslinie, wenn herauskäme, dass er seine Finger im Spiel hatte. Zudem war ich mir sicher, dass er nichts tun würde, was ihm keinen persönlichen Vorteil einbrachte. In welcher Form auch immer. Timothy war zu schlau für Flüchtigkeitsfehler. Idiotischer Weise vertraute ich Timothy, was im Widerspruch zu der Wut stand, die in mir hochkochte. War ich auf ihn wütend oder auf jemand anderes? Ich hatte Marvin und Fred gesagt, dass ich etwas zu erledigen hätte und ließ sie in der Mensa zurück. Mit großen, eiligen Schritten ging ich zu den WGs. Mittlerweile kannte ich Timothys Wochenplan und sofern er nicht in der Bibliothek war, musste er zuhause sein. Wir texteten ein wenig mehr als vorher, aber sicherlich immer noch zu wenig für ein frisch zusammengekommenes Paar. Wie auch immer… was ich zu sagen hatte, war besser persönlich zu erledigen. Ich sah das Haus und lunschte beim vorbei gehen durch das Küchenfenster. Ohne Gardinen, konnte man durch das gesamte Zimmer sehen, wenn das Licht günstig stand. Ich erkannte zwei Personen im hinteren Bereich der Wohnstube und dass das Terrassenfenster geöffnet war. Meinen Schwung ausnutzend, ging ich um das Haus herum und wollte gleich von hinten einsteigen. Die Rückseite des Hauses erreicht, wappnete ich mich für das kommende Thema, als ich Stimmen vernahm. Timothy und Nayla unterhielten sich hitzig. „Hör endlich auf mit dem Mist! Du schadest dir nur selbst!“, hörte ich Nayla schimpfen. „Das hast du nicht zu entscheiden“, konterte Timothy gelassen und leicht kühl. „Ahhhh! Du bist immer so! Auch schon damals im Heim! Nur weil ich die Therapie brauchte-“ „Du brauchtest sie und ich habe sie zu meinem Vorteil genutzt. Wir sind Familie, Nayla. Ich würde dich nie im Stich lassen, nur damit es mir besser geht oder weil du denkst, dass es mir Umstände bereitet.“ Ich hörte ein Fußstampfen. Vermutlich Nayla, denn sie atmete hörbar und genervt aus. Als sie sprach, war ihre Stimme gefestigt und erzwungen ruhig. „Okay. Das Thema mal beiseite, finde ich trotzdem, dass du dich nicht in die Dinge von Mik einmischen solltest. Es ist schade um ihn, aber das hat nichts mit dir zu tun. Denk an deine Karriere. Wenn man herausfindet, dass du in fake-“ Abermals unterbrach Timothy seine Schwester und er klang gefährlich ruhig dabei. „Ich werde nicht erwischt.“ „Das kannst du nie wissen!“ „Doch kann ich.“ Es folgte eine Pause und ich ergänzte die Zeile „Bisher hat das immer geklappt“ in meinem Kopf. Timothy sagte es nicht, aber ich hatte das Gefühl, dass es nicht das erste Mal war, dass er seine Intelligenz und seine Manipulation dazu nutzte, seinen Willen zu bekommen. „Tiiiiim“, flehte Nayla nun. „Ich versteh ja, dass die Sache mit Mikael tragisch war. Ich hätte nie gedacht, dass meine Frage beim Abendbrot so ‘ne Diskussion auslösen würde. Aber auch wenn er mal ein super Sänger war – Du bist du und du machst es viel besser als er. Ich will nicht, dass du auch als gescheiterter Musiker endest, wenn das so weiter geht.“ Ich gab zu, an dieser Stelle fühlte ich mich etwas von ihr hintergangen und ihr Wortlaut tat weh. Hatte sie letztens noch zu meinem Lied singen wollen, hielt sie nun zu ihrem Bruder. Was irgendwie nachvollziehbar war. Diese beiden hielten zusammen wie Pech und Schwefel. Ehe Timothy noch etwas sagen konnte, trat ich durch das Terrassenfenster. „Du hast Recht. Ich finde es auch unnötig, dass er sich einmischt“, sagte ich etwas zu scharf. Die Geschwister waren still. Nayla wich die Farbe aus dem Gesicht und Timothy presste seine Kiefer aufeinander. Ich schenkte ihm einen Seitenblick und merkte, dass ich ihm nicht böse war. Mir war es wie Nayla gegangen. Ich wollte nicht, dass er sich selbst verbaute. Ich hatte mir Sorgen gemacht, dass er sich selbst schadete. Das würde ich vor ihm nicht zugeben, aber es beruhigte mich, dieses Gefühl verstanden zu haben. „Aber du irrst dich auch“, sagte ich und sah Nayla an. „Timothy ist viel schlauer als ich und denkt um Ecken, die mir nicht mal einfallen würden. Ich bin einfach blindlings nach vorne gerannt, ohne mich umzusehen. Ich hatte nur Musik im Kopf.“ Nayla fasste sich und wollte sich verteidigen, aber ich fuhr gleich fort. „Es gibt noch mehr Unterschiede. Ich war Elf und wurde als Gewinner einer Kinder-Musik-Show berühmt. Timothy ist erwachsen und lernt sein Handwerk von Grund auf. Persönlichkeit, die Umgebung, der Zuspruch, das Talent, das Internet, die Medien. Unsere Umstände sind vollkommen verschieden. Selbst wenn er Dinge tut, die er nicht tun sollte, glaube ich nicht, dass es ihm wie mir ergehen wird.“ Unbewusst hatte ich mich beim Sprechen vorgebeugt und sie war zurückgewichen. Ich musterte sie, steckte meine Hände in die Jackentaschen und stellte mich gerade hin. „Mik“, begann Timothy hinter mir, aber ich achtete nicht auf ihn. Auf dem Absatz kehrt machend, betrat ich den Flur, öffnete die Haustür und ging hinaus. Ich war nicht mehr in der Stimmung, um mit ihm über die Sache mit den Foren zu reden. Meine Wut war komplett verflogen. Naylas Worte nagten an mir. War ich so ein Verlierer gewesen? Als ob ich mir ausgesucht hätte, wie alles gelaufen war! Niemand hatte das alles mehr richten wollen als ich! Ehe ich mich weiter in Selbstmitleid suhlen konnte, wurde ich forsch am Arm nach hinten gezogen. Fahrig drehte ich mich um und sah Timothys gehetztes Gesicht. Meine Worte blieben mir im Hals stecken und als er mich in eine Umarmung zog, versiegte das letzte bisschen falscher Stolz. Was fiel ihm ein mich hier und jetzt zu umarmen? Dieser Idiot! Wir standen mitten auf dem Fußweg, nur ein kleines Stück von der WG entfernt! Verdammt. Mir wurde warm. So öffentlich umarmt zu werden, war ich nicht gewohnt. Noch weniger von jemanden, der mir etwas bedeutete. Ich wusste nicht wohin mit meinen Armen. Das Gefühlschaos in mir war sagenhaft. Freude, wegen der Umarmung. Scham, weil er mich so schwach gesehen hatte. Selbsthass, weil ich bereute wie meine Karriere geendet hatte und Sehnsucht nach ihm. Timothy ließ mich los. Flüchtig sah ich mich um, ob jemand diesen peinlichen Moment beobachtet hatte – erkannte auf die Schnelle aber niemanden. Vorsichtig strich mein Gegenüber mir eine Strähne aus der Stirn hinters Ohr. Ich sah auf. „Du kommst reingestürmt, machst eine Szene und gehst. An dir ist wirklich eine Bühnendiva verloren gegangen.“ Verärgert schlug ich seine Hand weg und nahm meinen Kopf in einer trotzigen Bewegung zurück. „Man gewöhnt sich an Dinge. Was willst du noch?“ „Dich fragen, was du wolltest.“ Tss, natürlich wusste er, dass ich einen Grund haben musste, wenn ich ungeplant vorbeikam. Es freute mich, aber mein Ego war noch immer angekratzt. „Nicht wichtig. Darüber können wir einen anderen Tag reden“, sagte ich und verschränkte meine Arme. „Okay“, sagte er und studierte mich einen Moment. „Nimm Nalyas Worte nicht so schwer. Sie sieht süß aus, handelt und redet aber wie ein Bauarbeiter. Sie meinte nicht, was sie gesagt hat.“ Ich sagte nichts und sah zur Seite. Trotzdem waren seine Worte wie Balsam. „Nun schmoll nicht. Sie ist besorgt, weil sie meine Geburtstagsfeier geplant hat und wollte nicht, dass ich den ganzen Abend am PC hänge.“ „Ich dachte, du hättest nur das Video von Ramira gelöscht. Aber scheinbar tust du weitaus mehr als nur das“, platzte es trotzig aus mir heraus. „Wie könnte ich nicht? Wenn irgendwelche Halbstarken das beleidigen, was mein ist.“ Timothys Stimme klang zu sanft und zu fröhlich. Er hatte sichtlich Spaß mich in meiner Lage zu sehen, während ich mich anstrengte, meine Wut und Empörung aufrecht zu halten, meine Verzweiflung zu unterdrücken und nicht rot wegen seiner Worte zu werden. Schlimmer noch. Ich wollte mich am liebsten zurück in seine Arme werfen. „Klappe“, sagte ich forsch. Trotzdem wandte ich mich ihm mehr zu. „Du hast Geburtstag?“ „Mhm.“ „Heute?“ „Letzte Woche“, sagte Timothy und lächelte viel zu glücklich über mein Interesse. „Und das sagst du nicht früher!“, ranzte ich ihn verärgert an und seufzte. „Was wünschst du dir?“ „Von dir? Ohhh~ einiges. Aber … wie wäre es, wenn ich heute bei dir übernachte? Geht das?“ „Wenn du es dir wünscht, geht das“, meinte ich und sah milder gestimmt zur Seite. Es war nicht so, dass ich irgendwelche Termine hätte verschieben müssen. Mein Abend war frei und wenn Timothy vorbeikam, hieß es nur er und ich. „Gut, dann bis heute Abend“, sagte er und lächelte noch immer. „Bis heute Abend.“ Ich schielte zu ihm hoch, ehe ich ging. Ich war in den letzten Minuten durch verschiedene Emotionen gerannt. Wut, Sorge, Pein, Scham, abermals Wut mit leicht verzweifelter Frustration, und nun kam die Vorfreude auf heute Abend hinzu. Wobei die Vorfreude schnell alles andere in den Schatten stellte. Kapitel 11: Atempause --------------------- Kapitel 11: Punkt halb Elf öffnete sich meine Wohnungstür und Timothy trat mit einem Rucksack über der Schulter ein. Ich hatte es mir auf der kleinen Couch bequem gemacht und ein Buch zur Hand. Nachdem ich heimgekehrt war, hatte ich flott die Couchecke, also die Mitte meines Wohnzimmers, und mein Zimmer in Ordnung gebracht. Leider besaß ich nur eine Bettdecke. Sie war breit genug, dass wir beide Platz haben würden. Trotzdem fragte ich mich, ob das ausreichte. Timothys Übernachtungswunsch machte mich nervös. Zum einem, weil ich ihn für eine ganze Nacht für mich allein haben würde, zum anderen, weil wer weiß was passieren könnte. Von Zärtlichkeiten bis zum Streit schloss ich nichts aus. Um aus meinen Gedankenchaos zu entfliehen, hatte ich mir Goethes Faust geschnappt. Die Sprache war so alt, dass ich mich stark konzentrieren musste, um der Handlung zu folgen. Ich setzte mich auf und legte das Buch zur Seite. Timothy hatte in der Zeit seine Schuhe ausgezogen und war an die Couch getreten. Wenn er wollte, konnte er verdammt große Schritte tun. „All-“ Meine Begrüßung wurde verschluckt und ich gegen die Rückenlehne gedrückt. Meinen Kopf in beiden Händen haltend küsste er mich gierig. Die Fahrigkeit wich nur langsam und der Kuss wurde fester, inniger. Seine Zunge mit meiner umspielend, bekam ich eine Gänsehaut, die meinen Rücken und beide Arme heiß herunterlief. Als wir uns lösten, wurde ich von freudesprühenden, braunen Augen begrüßt. Seine Hände hielten mein Gesicht und ich schmiegte meinen Kopf in seine Handfläche. Eigentlich sollte alles noch neu sein. Aber seine Berührungen und Küsse fühlten sich vertraut an und stimmten eine Saite in meiner Seele an, die pure Freude durch meinen Körper schickte. „Alles Gute nachträglich zum Geburtstag.“ „Danke.“ Damit ließ er mich los und setzte sich neben mich. Sein Kopf fiel augenblicklich gegen meine Schulter. Es wirkte vertraut, intim sogar. Es war erstaunlich einfach mit Timothy auf einer Wellenlänge zu sein. Wie ein altes Ehepaar, dachte ich schmunzelnd. „Wie war die Party?“, fragte ich indes. „Zu laut und zu viele Leute“, jammerte er. „Nayla hat gefühlt alle eingeladen. Zum Glück gab es nur wenig Alkohol. Die ersten gingen, als der alle war.“ „Du hast aber nicht viel getrunken“, stellte ich fest. Die Note von Alkohol hatte ich nur entfernt herausgeschmeckt. „Natürlich nicht. Ich habe doch heute noch was vor“, sagte er verheißend und sah mich von meiner Schulter aus an. Diesmal konnte ich nicht verhindern, dass ich rot wurde. Als Ablenkung zerzauste ich sein Haar. „Ja, als ob!“ Er drückte seinen Kopf gegen meine Hand und lächelte zufrieden. „Hast schon Recht“, sagte er leiser. „Ich will heute nur bei dir schlafen.“ Überrascht, dass Timothy nur platonische Gedanken hegte, begann ich ihn zu kraulen. „Ich dachte mir schon, dass du müde sein musst. Trotzdem kommt es überraschend.“ „Warum?“, fragte er mit geschlossenen Augen. „Weiß nicht. Ich hätte nicht gedacht, dass dir mal die Energie ausgehen würde.“ Timothy schwieg, aber ich wusste, dass er noch nicht eingeschlafen war. „Du solltest nicht so oft nachts im Netz surfen oder was auch immer du da machst.“ „Mhm“, brummte er und neigte seinen Kopf etwas mehr zu mir. „Wie gesagt, eine Notwendigkeit. Aber ich denke, ich kann mein Pensum etwas zurückschrauben.“ Er sah auf und sein Hundeblick ließ mich mein Verhört auf später verschieben. Er sah wirklich müde aus. „Dann ab ins Bett mit dir. Brauchst du noch etwas?“ „Ein Kuscheltier?“ „Du wirst ein perfektes Kuscheltier abgeben“, konterte ich grinsend. „Haha haha. Ich dachte, das würdest du übernehmen?“ „Wir werden sehen“, gestand ich und wurde rot. Zugegeben, ich war noch eine Weile skeptisch, dass Timothy nur hier schlafen wollte. Aber nachdem wir Zähne geputzt und jeweils das Nachtoutfit des Anderen begutachtet hatten (wir trugen beide eine Shorts und ein Schlafshirt), verlor sich meine Skepsis. Ich krauchte als erster auf mein Bett und schlug die Decke zurück. Die Vorhänge hatte ich zugezogen. Somit war die kleine Leuchte an der Wand neben dem Bett unsere einzige Lichtquelle. Braune Augen folgten mir, gefolgt von Händen, welche sich vorsichtig abstützten und zu mir kamen. Sein Gesicht war über meinem und ich musste unvermittelt Grinsen. Das hier war aufregend! Die Anziehung spürbar. Timothys Blick war verheißungsvoll je näher er kam. Der Kuss schmeckte frisch und blieb sanft, fast schon zärtlich. Ich spürte Timothys Gewicht, welches er nach und nach auf mir abzulegen versuchte. Ehe er komplett lag, hatte ich uns umgedreht und pinnte ihn in das Kissen. Überrascht sah er mich an und lachte. „Was?“, fragte ich echauffiert. „Nichts. Ich hatte nur so eine Ahnung, dass du das machen würdest.“ „Aha und woher? Soweit ich weiß, kennst du meine Vorlieben noch nicht.“ „Stimmt“, gestand Timothy, hob eine Hand und strich mir über die Wange. „Aber letztens hast du zurückgezuckt, als ich in deinen Bauch beißen wollte.“ „Das lag nur an der Situation. Es war zu früh“, meinte ich leise. „Stimmt schon, aber da war auch der Knutschfleck mit Biss.“ „Du hast es doch provoziert mit deinem ‚Ich habe schon gefrühstückt‘.“ „Mhm, aber das reicht doch, um zu erkennen, was für einen außerordentlichen Wildfang ich vor mir habe.“ Er hob seine zweite Hand, passierte meine roten Wangen und verflocht seine Finger in meinen Haaren. Das Gewicht seiner Hände in meinem Nacken war angenehm und feuerte das Kribbeln in meinem Bauch etwas an. „Von diesen drei Momenten willst du wissen, wie ich mich im Bett verhalte? Glaube ich nicht.“ Timothy lachte leise und zog mich näher. „Auch gut. Ich finde schon raus, ob ich recht habe.“ Es folgte ein sanfter Kuss, dann schaltete ich das Licht aus. Ruhe kehrte ein. Ich lag bequem auf Timothys Brust und genoss die Nähe zu ihm. Sein Herzschlag war gleichmäßig und lullte mich ein. Ich war beinahe eingeschlafen, als er uns auf die Seite drehte und seine Arme um mich schlang. Damit wäre wohl geklärt, wer das Kuscheltier war, dachte ich noch und schlief ein. Ich wachte vor meinem Wecker auf und war leicht verwirrt. Ein Blick nach links brachte mich ins Hier und Jetzt. Vorsichtig rollte ich mich auf die Seite und stützte meinen Kopf ab, damit ich den Langschläfer neben mir betrachten konnte. Timothy war ein lausiger Schläfer. Er lag auf dem Rücken, einen Arm auf dem Bauch, den anderen ausgestreckt, sodass ich meinen Kopf darauflegen konnte. Die Decke war zum Großteil bei mir und bedeckte nur noch seine Beine und seinen Bauch. Fasziniert starrte ich auf sein Gesicht. Seine Wimpern waren nicht übermäßig lang, besaßen aber einen Schwung, der sie lang erscheinen ließ. Seine Nase war fast gerade und besaß im Seitenprofil einen kleinen Schwung an der Nasenspitze. Seine Lippen waren nicht zu dünn und nicht zu dick und aus Erfahrung konnte ich sagen, dass sie sich gut küssten. Mein Blick wanderte über seinen restlichen, aufgedeckten Körper. An seinem Hals erkannte ich eine feine Narbe, welche wie eine Schürfwunde wirkte und für gewöhnlich nicht zu sehen war, wenn er sich normal bewegte. Sein Oberkörper war nicht schlaksig und ein wenig trainiert. Auf seinem ausgestreckten Arm zeichneten sich einige Muskeln unter der Haut ab. Vielleicht vom Verstärker tragen, dachte ich schmunzelnd. Weniger schön war der Anblick der Narben am Unterarm. Kurz vor der Armbeuge war eine Narbe von circa 3,5 cm Länge. Sie war gut verheilt und nur leicht heller als die Haut drum herum. Direkt darunter erstreckte sich eine Narbe bis zum Handgelenk. Es wirkte, als habe man am Ellenbogen begonnen und mit Schwung die Haut zum Handgelenk hin aufgeschlitzt. Mein Finger fuhr die Narbe entlang und endete am Handballen, wo sie spitz zu lief. Auch diese Narbe war gut verheilt und kaum mehr sichtbar. Trotzdem ... Die Narbe verlief knapp neben einer Vene. Ob er sich selbst aufgeschlitzt hat? Gab es eine Zeit in Timothys Leben, die so unerträglich gewesen war, dass er sich lieber tot hatte sehen wollte? Ich seufzte und stahl mich aus dem Bett. Im Bad machte ich mich frisch und tagfertig. Mein Schlafdress behielt ich erstmal an, die Haare band ich locker zusammen. Da Timothy noch schlief, als ich aus dem Bad kam, stahl ich mich ins Wohnzimmer und lehnte die Tür an. Ich hatte keine Ahnung, wie lange Timothy schlafen würde, also machte ich mich daran ein kleines Frühstück zu zubereiten. Toast mit Käse und Spiegelei, dazu etwas Obst – war ausreichend, oder? Mein Bauchgefühl sagte mir, dass Timothy morgens gar nichts aß. Aber wenn er schon bei mir schlief, musste er was essen. Fertig, aus. Ich legte Toast und Käse bereit und machte mich daran das Obst zu schneiden. Mir wurde gerade bewusst, dass ich erstaunlich wenig über ihn und seine alltäglichen Gewohnheiten wusste. Zum Glück war ich niemand, der es auf Teufel komm raus ganz genau wissen musste, um es seinem Partner recht zu machen. Entweder er nahm was ich für ihn zu bereitete oder eben nicht. Zudem war da dieses Gefühl, eine unbestimmte Klarheit, die mir sagte, dass das zwischen uns perfekt war und ich ihm vertrauen konnte. Während ich werkelte, hörte ich immer wieder ein leises Brummen. Endlich stutzig geworden, legte ich das Messer zur Seite und sah nach. Auf dem Couchtisch neben Goethe lag Timothys Handy. Das Vibrieren hörte gerade auf und ich erkannte auf seinem Display, dass er drei Anrufe von Nayla verpasst hatte. Zumindest nahm ich an, dass sie es war. Statt eines Namens sah ich nur zwei Emoji. Eine Ziege und ein rotes Herz. Davon abgesehen war sein Akku beinahe leer. Ich schaute nach dem Ladeanschluss und da ich den selbigen hier hatte, nahm ich es mit zum Küchentresen und steckte es an ein Kabel. Das Obst war fertig geschnitten und ich heizte die Pfanne an. Während die zwei Spiegeleier brieten, klingelte sein Telefon noch drei weitere Male. Ich stellte den Herd aus und nahm das Handy von der Ladebuchse. Dann ging ich in mein Zimmer, trat an mein Bett und neben Timothy. Er lag noch immer so da, wie ich ihn liegen gelassen hatte. Das Handy begann zu vibrieren und ich weckte ihn freundlich. „Hey“, sagte ich laut genug, um ihn zum Murren zu bringen. Ein braunes Auge öffnete sich träge und verschlafen. Ich hielt ihm das Handy direkt vors Gesicht. Er hob eine Hand und lehnte den Anrufer ab. „Morgen“, murrte er. „Morgen“, grüßte ich zurück und legte das Handy auf seine Brust. Lieb wie ich war, ging ich wieder raus und ließ die Tür diesmal weit offenstehen. Noch ehe ich draußen war, vibrierte das Handy erneut und Timothy stöhnte genervt. Dieser Ton ließ meine Ohren kribbeln. Er war tief und kehlig gewesen und sorgte für eine gewisse Anspannung in meinem Körper. Ich schüttelte den unsittlichen Gedanken ab und stellte den Wasserkocher an. Dann legte ich das Ei auf das Toastbrot und bereitete zwei Tassen mit Kaffeepulver vor. Timothys Stimme drang leise aus meinem Zimmer, versiegte und wurde von nackten Fußtapsen ersetzt, welche stetig näherkamen. Ich konnte aus den Augenwinkeln sehen, wie er zu mir kam, sich den Bauch kratzte und gähnte. Genauso hatte ich es mir vorgestellt. Schmunzelnd nahm ich den Wasserkocher und goss den Kaffee auf, als Arme sich von hinten um mich schlangen und ich die Schwere eines Kopfes auf meiner Schulter fühlte. „Ausgeschlafen?“, fragte ich amüsiert und erhielt ein verneinendes Murren. Er zog seine Arme fester um mich und schmiegte seinen Körper an mich. Feine Küsse legten sich an meinen Hals. Ich stellte den Wasserkocher ab und sah über meine Schulter. Außer dunklen Locken sah ich nichts. „Du scheinst wacher zu sein, als du aussiehst“, stellte ich fest und verlagerte mein Gewicht so, dass ich meinen Hintern ein wenig ausstrecken konnte. Heißer Atem streifte meinen Nacken und bescherte mir eine Gänsehaut. Herrje~, wenn er so weiter machte, könnte ich nicht ablehnen. Allerdings… Mein Blick wich zur Uhr über der Haustür. ‚Dafür‘ könnte es reichen, rechnete ich meine Zeit bis zum Beginn meiner Vorlesung zusammen. „Ab auf die Couch mit dir“, forderte ich und drückte mich von der Arbeitsplatte ab. Ich spürte seine Verwirrung mehr, als dass ich sie hörte oder sah, also fügte ich hinzu: „Nun geh schon und setz dich hin.“ Seine Umarmung war lockerer geworden und ich drehte mich zu ihm um, wodurch ich ihn direkt ansehen konnte. Einen kurzen auffordernden Blick später, saß Timothy artig auf der kleineren Couch. Sein Schlafshirt lag locker an, während der Stoff der Shorts sich bereits spannte. „Also wirklich“, seufzte ich gespielt theatralisch. „Du bist keine fünf Minuten wach und baust schon Zelte?“ Timothy grinste und neigte seinen Kopf etwas nach unten, sodass sein Blick nach oben besonders unschuldig wirkte. „Ich hatte einen schönen Anblick, als ich wach wurde“, gestand er mir. „So? Ich hatte nur einen versabberten“, konterte ich und grinste hämisch. Dann kniete ich mich vor ihn hin und griff nach dem Bund seiner Shorts. Er kooperierte und hob seine Hüften hoch, sodass ich den Stoff über seinen Hintern ziehen konnte. „Ich kann das auch alleine machen. Hattest du nicht Frühstück gemacht? Kaffee gibt es auch, nicht wahr?“ Die Shorts bis zu den Knöcheln heruntergezogen, hatte ich weitere Narben entdeckt. Ich schob meine Neugierde auf und griff nach seinem halbharten Glied. So wie meine Finger sich um ihn schlossen, zuckte das gute Stück. Grinsend mit einer Augenbraue nach oben gezogen, sah ich auf. „Oh, sicher kannst du das“, begann ich und fuhr die Länge mit meinen Fingern hoch und runter. „Aber der hier will eindeutig etwas anderes.“ Timothy schluckte und seine Hände drückten sich in die Sitzfläche der Couch. Ich strich mir eine Strähne aus der Stirn und führte meine Lippen zur Spitze. Seine Ungeduld war hier unten deutlich zu spüren. Allein das Streicheln meiner Finger hatte ihn härter werden lassen. Ich leckte über die Spitze, öffnete meinen Mund und nahm sie zwischen meine Lippen. Ich spürte wie er wuchs. Versuchsweise schob ich ihn so weit in meinen Mund, wie ich konnte. Meine Zunge leckte über erste pulsierende Adern, dann entließ ich ihn. Als ich aufsah, fand ich auf mich fixierte braune Augen. Sie waren dunkel und lustverhangen. Na bitte. Timothy war auch nur ein Mann. Ich schmunzelte hämisch und nahm meine Arbeit wieder auf. Das Glied in meiner Hand war schwer geworden. Seine Größe war gut bis beachtlich. Noch etwas größer und es würde selbst mir schwer fallen ihn ganz in den Mund zu nehmen. Aber noch war alles gut, so gab ich mein Bestes ihn vollständig zu verwöhnen. Damals als Musiker hatte ich den ein oder anderen geblasen bekommen. Meist von Fans und meist von Mädchen, das verstand sich von selbst. Doch das beste Mal war von einem Jungen in meinem Alter gewesen. Er war auch Sänger und wir unterhielten uns oft und lange über Musik und unsere Stimmen. Irgendwann kam es dazu, dass er mir einen blies. Das war das erste Mal gewesen, dass ich dabei Sterne sah. Auf die Frage, woher er das so gut konnte, erhielt ich eine ernüchternde Antwort. Anders als ich ließ er die Avancen der Erwachsenen nicht aus. Da ich nicht von Erwachsenen lernen wollte, lernte ich von ihm. Es hatte was von einem Déjà-vu. Aber nur fast. Denn Timothy war anders als der Junge von damals. Seine Hände hatten sich in meine Haare gestohlen und das Haargummi entfernt. Mit festem Griff hielt er mir die Haare aus dem Gesicht und ließ mir gerade genug Spielraum um meinen Kopf gut bewegen zu können. Ich saugte an der Eichel und kratzte mit den Zähnen über die Haut des Schaftes. Ihn tief in den Mund genommen, begann ich zu saugen. Das Glied zuckte in meinem Mund und Timothy atmete schwer. Es war weit von dem kehligen Geräusch von vorhin entfernt, aber ein Anfang. Ich intensivierte meine Bemühungen. Mein Kopf bewegte sich rhythmisch vor und zurück. Seine Länge erreichte meinen Rachen mühelos. Ich tastete mich ran und nahm ihn bei jedem Mal etwas tiefer auf. Meine Würgereflexe hatte ich soweit im Griff, wenn ich mich an das, was ich tat, gewöhnte. Als ich mir sicher war, dass mein Rachen mitspielen würde, nahm ich ihn zur Gänze rein. Meine Lippen berührten seine Haut an der Wurzel und ein Zucken ging durch Timothys Hüften. Selbst wenn man darauf gefasst war, überraschte es einen, wenn ein Stoß kam, dachte ich. Ich ließ meine Hände zu seinen Oberschenkeln gleiten und drückte sie etwas auseinander. Mir wurde warm hier unten. Meine Wangen glühten sicherlich schon. Trotzdem führte ich Timothy weiter zu seinem Höhepunkt, dachte ich. Ich saugte und setzte meine Zähne ein. Zugleich packten Timothys Hände meinen Hinterkopf fest an. Seine Hüfte hatte meinen Rhythmus aufgenommen und stieß zu, wenn ich ihn aufnahm. Ich kniff die Augen zusammen und neigte meinen Kopf so, dass es angenehmer für mich war, wenn er sich versenkte. Ein weiterer Stoß und er hielt mich an sich gedrückt. Meine Lippen fest gegen seine Scham gepresst, kam er. Seine Stimme so tief wie ich es mir vorgestellt hatte. Ich hatte nicht vorgehabt zu schlucken, aber was blieb mir in dem Moment anderes übrig? Es war schwer und viel und warm … mir kamen ungewollt die Tränen und dann ließ der Druck nach. Seine Hände waren aus meinen Haaren verschwunden und ich nahm meinen Kopf langsam zurück. Vermehrt blinzelnd, legte ich meine Hände an seine Wurzel und ich ließ das nun mehr schlaffe Glied aus meinem Mund gleiten. Langsam, weil ich mir nicht sicher war, ob ich alles drin behalten würde, wenn ich es zu schnell machte. Die Eichel entwich meinen Lippen und ich hielt das Glied in meiner Hand. Mit der freien Hand wischte ich mir über den Mund und schluckte nochmal. Zeitgleich versuchte ich meine Sicht klar zu blinzeln. Das war härter gewesen als ich es angenommen hatte. Nie im Leben hätte ich das als Vierzehnjähriger überstanden ohne mir die Stimmbänder zu verletzten, hätte ich einem Erwachsenen einen geblasen! Noch ehe ich aufsehen konnte, legten sich zwei Hände an mein Gesicht und zogen mich nach oben. Lippen suchten meine und ich sah die zusammengekniffenen Augenbrauen über den geschlossenen Augen vor mir. Dankbar nahm ich den Kuss an und genoss die Zärtlichkeit seiner Finger. Natürlich würde er sich schuldig fühlen und das auch zurecht! Er hätte mich wenigstens vorwarnen können! „‘Tschuldi-“ „Shhh“, unterbrach ich ihn und stellte mich auf meine Knie. Ich schob meine Hände durch seine Haare und stahl mir noch einen Kuss. Seine Wangen waren noch etwas gerötet und seine Pupillen weit. „Eine Vorwarnung hätte gereicht, also entschuldige dich nicht, sonst machst du meine Arbeit noch zunichte.“ Timothy musterte mich wie einen Alien oder als sähe er mich heute zum ersten Mal. Dann lachte er leise und seine Daumen strichen unter meinen Augen lang, verwischten die restliche Feuchtigkeit. „Das würde mir im Traum nicht einfallen.“ „Brav“, lobte ich ihn und stand auf. „Zieh die Büx hoch. Es gibt Frühstück“, forderte ich und räusperte mich etwas. Es kam nicht überraschend, aber mein Hals kratzte etwas. „Du hast noch Hunger?“ Ich rieb mir leicht den Hals und sah ihn von der Seite an. „So viel war’s nun auch nicht. Und wenn, würde ich morgens gerne etwas nahrhaftes zu mir nehmen.“ „Wir könnten auch einfach ins Schlafzimmer gehen und weiter machen. Ich bekomme dich schon voll.“ Einen Moment war es still und ich musterte ihn eingehend, ehe ich mein Knie zwischen seine geöffneten Beine schob und sein Kinn mit einem Finger anhob. Ich spürte ein Zucken an meinem Knie und sah herausfordernd in die dunklen Augen. Ernsthaft seine Libido war viel zu aktiv. Das könnte für mich noch zu einem Problem werden. „Bekommst du das?“, fragte ich tief und fast schon verführerisch. „Abgesehen davon, dass ich gleich ein Seminar habe, bezweifle ich, dass du wach genug bist, es voll und ganz mit mir aufzunehmen.“ Mein Fingernagel strich sein Kinn gerade herunter, über seinen Kehlkopf, wo meine Hand sich drehte und ich sie auf seine Schlüsselbeine legte, nur um mit der Handfläche fest nach oben zu streichen, bis sein Kehlkopf sich zwischen meinen gespreizten Daumen und Zeigefinger befand. Zeitgleich kam ich seinen Lippen nahe und zog an der unteren. „Ich schlage vor, wir machen weiter, wenn wir alles für heute erledigt haben, oder was meinst du?“ Ich spürte sein Schlucken an meiner Hand und sah wie seine Verblüffung in Vorfreude umschlug. „Ok.“ Keine fünf Minuten später saßen wir auf der Couch jeder einen Toast in der Hand, den Kaffee in der anderen und das Obst auf dem Couchtisch. Timothy hatte sich angezogen und schielte immer wieder zu mir rüber. „Deinem Hals geht es gut?“, fragte er. „Ja doch! War schließlich nicht der erste Blowjob, den ich gemacht habe.“ Allerdings der erste nach langer Zeit und leider tat mir mein Hals wirklich etwas weh. Timothy beäugte mich und ich glaubte sogar, dass er darauf achtete wie ich schluckte. „Hast du es jetzt?“, fragte ich genervter als ich war. „Wann hast du es gelernt?“ „Was? Zu Blasen?“ „Ich würde gerne auf die Uni tippen, aber wahrscheinlich schon früher, oder? Als du noch gesungen hast?“ „Was bringt es dir, das jetzt zu wissen?“, fragte ich nach. Timothy verzog flüchtig den Mund und sah eine Sekunde nach unten, ehe er seinen Kopf gespielt nach hinten nahm und desinteressiert tat. „Nur so. Wollte wissen, an welchen Lehrer ich meine Dankeskarte schicken muss.“ Ich schmunzelte, lehnte mich mit meinem Kaffee in den Händen zurück und zog die Beine auf die Couch. „Mhhh~ Nur deswegen?“, fragte ich nach und sah ihm die Eifersucht an der Nasenspitze an. „Natürlich! Leider muss ich gestehen, bin ich nicht sehr gut im Blasen. Vielleicht gibt diese Person mir Nachhilfe?“ Sein Lächeln war so falsch, wie es nicht unschuldig war. „Hahaha haha. Ich werde dir sicher keine Namen nennen. Wer weiß mit was du sie Blackmailen würdest. Und untersteh dich das bei irgendjemanden von früher zu versuchen“, ergänzte ich energischer und trat mit meinen Fuß gegen seinen Oberschenkel. „Es reicht schon, dass du dich ins aktuelle Geschehen einmischst und mir nichts sagst. Außerdem…, wenn du wirklich so schlecht bist, bring ich es dir schon bei.“ „Versprochen?“, fragte er nach und seine Augen blitzten listig auf. Erst jetzt bemerkte ich seine Absichten. Dieser Teufel war zu vielschichtig. Ich hatte gedacht, er wollte seine Eifersucht an Personen von Früher auslassen. Dabei ging es ihm nur darum, dass ich ihm mehr Intimität zugestand. Oder nein… er testete mit der ersten Frage, wie weit er gehen konnte und würde sicherlich weiterbuddeln, während er mich glauben lassen wollte, dass seine erste Frage nur eine Ablenkung waren, damit ich ihm ein Zugeständnis machte. „Ich warne dich“, sagte ich, als es klick gemacht hatte. Timothy lachte leise. Leider wusste ich diesmal nicht, ob er sich freute, dass ich ihm auf die Schliche gekommen war oder weil er es ohnehin tun würde. Wahrscheinlich wieder beides… Nachdem ich mich angezogen hatte, verabschiedete ich mich und eilte zu meinem Seminar. Timothy hatte gegen Mittag eine Vorlesung und musste vorher nach Hause. Sein Telefonat mit Nayla war weniger gut ausgegangen. Sie hatte nicht mitbekommen, dass er letzte Nacht bei mir übernachten wollte und hatte sich die ganze Nacht gesorgt, dass er nicht nach Hause gekommen war. Somit hatte ich noch genügend Zeit mit Fred und Marvin zu Mittag zu essen. Ab Eins war ich zu Hause und wartete auf Timothy. Wir texteten noch etwas, während er im Seminar saß und ich erfuhr wie es dazu kam, dass ich nicht zu jener Party eingeladen worden war. Eigentlich war es mir einerlei, das war schließlich vorbei und ich hatte etwas besseres bekommen als eine Party. Timothy schrieb mir trotzdem, dass Nayla von irgendwoher von meiner Musikerkarriere erfahren hatte und nicht wollte, dass mein Pech auf ihn abfärbte. Fies, verständlich, aber fies und ich war gewillt, ihr nicht so schnell zu vergeben. Ein anderer Grund für meine Nicht-Einladung war, dass Timothy von Anfang an nie vorgehabt hatte lange zu bleiben und mich als Notfallplan in Reserve halten wollte. Nachdem ich das Handy weggelegt hatte, schwirrten meine Worte von heute Morgen abermals in meinem Kopf herum. Ich hatte ihn quasi eingeladen herzukommen und den restlichen Tag unzüchtig zu sein. Nicht, dass es mich störte. Aber irgendwie … Ich ging die gesamte WG durch, räumte hier und da auf. Ordnete die Shampoos im Bad neu, richtete mein Bett und ersetzte meine Bettdecke durch ein dünneres Laken und einem zweitem zum zudecken. Ich packte alle Unisachen ordentlich zur Seite, wischte die Küchenplatte ab und sah sogar in das freie Zimmer, ob alles ordentlich war. Als ich unschlüssig in der Mitte des Wohnzimmers stand und meine Aktion reflektierte, verstand ich, warum ich so nervös war. Ich freute mich auf ihn. Es würde ein Abenteuer werden. Eben auch, weil sich meine Sexualpartner an drei Fingern abzählen ließen. Bei Timothy war ich mir nicht so sicher. Entweder hatte er viel Erfahrung gesammelt oder er war ein verdammtes Naturtalent. Unabhängig von Timothys Erfahrungen, war es mir egal, ob ich einen Mann oder eine Frau als Partner hatte. Meine Neugierde führte mich und was ich nicht praktisch erlernte, las ich mir an. Nachdem ich meine Erfahrungen mit dem Blasen gemacht hatte, war ich durchaus neugierig gewesen. In der Theorie war ich aufgeklärt. Sex mit einem Mann hatte ich bis dato noch nicht, da war ich genau genommen noch jungfräulich. Allerdings ließ mich meine zweite Bekanntschaft viel austesten. Oral, vaginal, anal oder zwischen ihren Brüsten. Es war ein intensives Erlebnis und hielt nur eine Woche. So betrachtet hatte ich durchaus Erfahrungen im Analbereich, jedoch nicht bei mir selbst. Und irgendwie ging ich davon aus, dass Timothy nicht passiv war. Ich warf mich auf die Couch und griff nach Goethe. Nach vier unverständlichen Seiten hörte ich das Klicken der Kartenentriegelung und die Tür ging auf. Ich ließ das Buch sinken und beäugte meinen Gast. Mein Herz schlug gleich schneller. „Was hast du da?“, fragte ich nach. „Asiatisch“, antwortete Timothy und hielt die Tüte mit dem mitgebrachten Essen hoch. Ich hob eine Augenbraue und setzte mich auf. „Danke, aber ich hätte auch für uns gekocht“, merkte ich an. „... Jetzt fühle ich mich etwas dumm“, gestand Timothy trocken und ich vermutete stark, dass er es auch so meinte. Allein sein unbeholfener Blick war Gold wert. Ich lachte laut los und hielt mir den Bauch. „Egal, lass uns essen“, brachte ich zwischendrin hervor. Timothy zog eine Schnute und seine Schuhe aus, ehe er meiner Aufforderung folgte und das Essen auf den Couchtisch stellte. Dank meines Aufräumwahns hatten wir genügend Platz für die vielen Plastikbehälter. „Du kannst kochen?“, fragte Timothy und reichte mir die Einwegstäbchen. „Sicher. Und du isst immer so ungesundes Zeug?“, fragte ich und brach meine Stäbchen entzwei. „Nicht immer. Manchmal kocht Jamil. Aber sein Essen ist immer sehr scharf.“ „Wow...“, entkam es mir trocken und ich war ein bisschen sprachlos. „Als Sänger solltest du schon etwas auf dich achten.“ Zu viel scharfes Essen war da nicht hilfreich… Timothy grinste breit und brach seine Stäbchen auseinander. „Ich denke, dafür habe ich jetzt dich“, sagte er und zwinkerte mir vielsagend zu. Mein Herz machte einen Satz und ich sah zur Seite. Ich hatte dem nicht viel entgegen zu setzen. Es war mir lieber, er verließ sich dabei auf mich, als dass er seinen ungesunden Lebensstil weiterführte. Jedoch wanderten meine Gedanken geraden andere Pfade entlang. Ein kleiner Flirt reichte und ich spürte die Ungeduld in mir aufsteigen. Timothy verheimlichte es nicht mal. Er sah mich offen an, während er kaute und ich schwöre bei meiner Stimme, dass er mich zur Hälfte bereits ausgezogen hatte. „Wenn du mich weiter so anguckst, wird jedem klar sein, dass du mich nicht nur mit den Augen ausziehst.“ Timothy verschluckte sich und begann zu husten. Derweil stellte ich mein Essen weg und legte die Stäbchen zur Seite. Es brachte ja nichts weiter umeinander herumtänzelten. Wir wollten beide mehr und abgesehen davon, dass es erst nachmittags war, war jede weitere Verzögerung eine Qual. Ich stand auf und ging in die Küche, um mir dort die Hände zu waschen. Diese getrocknet, stemmte ich meine Faust in die Hüfte und sah zu Timothy, der sich kein Stück gerührt hatte, aber mit Husten fertig war. „Kommst du?“, fragte ich trocken. Ich war super nervös und das klang gerade super ungeschickt. Aber nur für ihn hielt ich die coole Miene aufrecht. Timothy stellte sein Essen weg und trat auf mich zu. Meine Hand zeigte auf das Waschbecken. „Hände waschen“, ordnete ich an. Timothy grinste schief. „Ich wusste nicht, dass kleine Leute so kleinlich sind.“ Ich schnaufte und schenkte ihm einen abschätzigen Blick. „Wenn du mich schon anfasst, will ich das Chinafutter nicht riechen.“ Timothy lachte leise, tat aber wie gebeten und folgte mir danach in mein Zimmer. Er schloss die Tür hinter sich und kam zu mir, der ich in der Mitte des Raumes stehen geblieben war und ihn eingehend beobachtete. Ich war aufgeregt und riss mich gerade noch arg zusammen. Als er vor mir stehen blieb, sah er runter und hatte einen amüsierten, aber sanften Gesichtsausdruck. Ich bekam eine Gänsehaut. So hatte er bisher noch nie geschaut und es half nicht meine Aufregung zu zügeln. Ich trat näher an ihn heran und reduzierte die Distanz zwischen uns, um wortlos an seinem Shirt zu ziehen. Ich war wirklich ungeschickt, oder? Aber ich war bisher noch nie in einer Situation wie dieser gewesen. Ich wollte die Kontrolle behalten und zugleich wollte ich sie so gerne verlieren. Timothy hatte sich umgezogen und trug nun ein pastelgelbes Shirt, statt einem Hemd und einer Weste. Sein Schmuck war auch weg. Nur die schwarze Hose und die Stulpe am Arm war geblieben. Da keine Reaktion kam, schob ich beide Hände unter das Shirt und berührte seinen Bauch, den er sofort anspannte. Seine Haut war warm unter meinen Fingern. „Etwas zu spät für Bauchtraining“, kommentierte ich amüsiert. „Ich hätte mehr machen sollen, oder?“ Es klang wie eine Frage, war aber keine. Sein ironischer Unterton war schwächer als üblich. Ich sah zu ihm auf und fragte mich, wie aufgeregt er wohl sein musste, weil seine Schlagfertigkeit bereits unter einer schlichten Berührung litt. Ob es ihm wie mir ging? „Nein, dass passt“, sagte ich leise amüsiert und schob sein Shirt höher. Die Brust freigelegt setzte ich einen Kuss auf die warme Haut. Dann noch einen und noch einen. Ich wanderte höher und erreichte seinen Hals. Blind schob ich das Shirt über seinen Kopf. Timothy entledigte sich des restlichen Stoffes und ließ es zu Boden fallen. Ich liebkoste sein Schlüsselbein und erreichte seine Schulter. Meine Finger strichen sanft über seine Brust und den Bauch. Dann ließ ich von ihm ab, nahm seine linke Hand und brachte sie vor meinen Mund. Gemächlich leckte ich über die Handfläche, küsste den Übergang zu jedem Finger und schob meine Zunge zwischen Zeige- und Mittelfinger. Timothys Lippen waren zu einer dünnen Linie gepresst, seine Augen ruhten auf dem was ich tat. Ich erreichte die Fingerkuppen beider Finger und küsste diese, ehe ich sie in den Mund nahm und Glied um Glied mit den Zähnen anknabberte. „Dein Mund ist wirklich so klein wie er sich angefühlt hat“, kommentierte Timothy und bewegte seine Finger, sodass er mit meiner Zunge spielen konnte. Ich erwiderte das Spiel und merkte meine Wangen glühen, ehe ich meinen Kopf zurückzog und die Finger entließ. „Dann gewöhn dich schon mal dran.“ „Bleibt mir wohl nichts anderes übrig“, antwortete Timothy und legte mir seine linke Hand an die Wange. Die angeleckten Finger hinterließen feuchte Spuren auf meiner Wange. Timothy sah mir in die Augen und neigte seinen Kopf zu einem Kuss, doch ich wich verspielt aus. Als hätte ich ihn nicht bemerkt, küsste ich seinen Hals und hörte ihn vernehmlich seufzen. Schmunzelnd behielt ich mein Vorspiel bei und kratzte über seine Brust. Meine Lippen strichen über seine Haut, hinab zur Brustwarze und nahmen diese in den Mund. Die andere fand sich zwischen meinen Fingern wieder und erfuhr die harte Behandlung, während jene zwischen meinen Lippen sanft angesaugt wurde. Timothy neigte seinen Kopf und hauchte in mein Ohr. „Mik. Mund“, forderte er und wollte, dass ich ihn küsse. „Nein“, sprach ich gegen seine Brust und setzte nun meine Zähne ein. Es amüsierte mich, wie sein Atem sich beschleunigte oder er ihn anhielt, aber er sollte nicht glauben, eine schlichte Bitte würde mich von dem abhalten, was ich hier zu tun gedachte. Ein bisschen musste ich meinen Freund doch erziehen. Wie sollte er sonst wissen, was ich mochte und was nicht? Ich saugte fester und hörte ihn ausatmen. Es dauerte noch einen für ihn quälenden Moment, ehe er nach meinem Kinn griff und sich den Kuss einforderte, den er unbedingt haben wollte. Ich grinste amüsiert und ließ ihn gewähren. Meine Arme schlangen sich um seinen Nacken und ich zog mich näher. Hitzig trafen sich unsere Zungen und begannen ein erstes Tänzchen. Die bis eben angehaltene Spannung explodierte zu einem enormen Kribbeln in meiner Brust. Stolpernd drängte Timothy mich nach hinten bis ich gegen das Bett stieß. Keine Sekunde später war ich auf mein Bett gepinnt worden. Timothy hielt meine Handgelenke neben meinen Kopf fest und sah mit begierigen Augen auf mich herab. Ich grinste breit. „Was?“, fragte er. „Ich wusste, du lernst schnell“, antwortete ich und schenkte ihm ein überlegenes Grinsen. Timothy erwiderte mein Grinsen und schüttelte seinen Kopf. Dann beugte er sich vor und küsste meinen Hals am Übergang zu meinem Unterkiefer. Ich überstreckte meinen Kopf und ließ ihn machen. Ein wohliger Schauer durchfuhr mich und ich sank mehr in die Matratze. Genau hier wollte ich sein, dachte ich voller Vorfreude. Als er zu saugen begann, gewann ich etwas von meinem Verstand zurück und schob mich mit den Beinen weiter aufs Bett. Timothy ließ meine Handgelenke los und folgte mir. Als er erneut ansetzten wollte, wiederholte ich das Spiel. Er grinste und folgte, stemmte dann eine Hand über meine Schulter in die Matratze, sodass ich nicht weiter fliehen konnte und saugte sich sogleich an meinem Hals nahe des Kehlkopfes fest. Mir entkam ein Murren und ich schob ihn weg. Sicherlich zu spät, aber besser jetzt als nie. „Keine Knutschflecke am Hals“, forderte ich. Er musterte mich einen Moment, schloss seine Augen halb und strich mit seinem Finger über die Stelle an meinem Hals. „Aber wo soll ich sonst welche machen? Als Winzling hast du nicht viel Fläche zu bieten.“ Seine Finger glitten meinen Hals hinab und blieben absichtlich an meinem Kragen hängen. Mein Herz machte einen erneuten Satz. „Denk dir was aus, wie du Platz bekommst“, erwiderte ich und spürte seine Hand weiter nach unten wandern. Sie hielt an dem Saum meines Shirts und schob diesen etwas hoch. Überlegend legte sich seine Hand an meine Jeans und öffnete langsam den Knopf und anschließend den Reißverschluss. Seine Augen sahen zu mir auf und waren so intensiv braun, wie noch nie bisher. Ihn von dort ablenkend, drückte ich meine Hüfte und Schultern mehr in die Matratze und erzeugte eine elegante Welle mit meinem Oberkörper. Der Aufforderung folgend, schob Timothy endlich mein Shirt hoch. Er folgte der Bewegung, die ich machte, sodass er mir das Stück Stoff ohne Probleme über Kopf und Armen ziehen konnte. Es landete unachtsam auf dem Boden. Deutlich freizügiger grinste ich vor Anspannung und Vorfreude. Timothy beugte sich vor und begann einen neuen Streifzug. Ich spürte seine Lippen mein Schlüsselbein entlangwandern, über mein Sternum nach unten bis er meinen Bauchnabel erreicht hatte. Endlich den Ort gefunden, welchen er einnehmen wollte, ließ ich ihn gewähren als er abermals anfing Knutschflecke zu fabrizieren. Seine Hände strichen meine Seiten auf und ab. Mal nur mit den Fingerkuppen, mal mit der gesamten Hand, was sich fantastisch anfühlte. Ein fester Griff der meinen Körper eine Grenze aufzeigte und ihn zugleich handhabte wie etwas Zerbrechliches. Ich nahm meinen Kopf in den Nacken und genoss. Es war besser als ich es mir vorgestellt hatte. Er sollte noch mehr auf mir spielen, auf dass sich das Gefühl seiner Hände auf mir einbrannte. Schließlich griffen seine Hände nach meiner Jeans, gingen unter den Stoff und schoben sich auf meinen Po. Ich schluckte leicht. Jeans und Shorts wurden zugleich runtergezogen, sodass ich keine Zeit hatte so etwas wie Scham zu empfinden. Timothys Lippen berührten meine Hüftknochen, meinen Schambereich, meinen Oberschenkel, dessen Innenseite, das Knie und schließlich meinen Knöchel. Als ich zu ihm sah, schlug mir blanke Begierde entgegen. Begierde, die meine eigene war und meine Beine schwach werden ließ. Er entließ meinen Fuß und krauchte zwischen meine Beine. Die Hände rechts und links von meiner Hüfte gestellt, beugte er sich vor und biss mich in den linken Hüftknochen, der scheinbar verführerisch hervorstand. Mir entkam ein Schmerzenslaut. Mehr vor Überraschung, als wirklichem Schmerz. Er saugte und biss und es war viel zu schnell vorbei. Als ich hinabsah, erkannte ich einen neuen Knutschfleck umrahmt von geraden Zähnen. Ich schüttelte meinen Kopf. Das war ganz klar die Revanche für letzte Woche. Timothy umfasste derweil mein Becken, hob es leicht an und drängte sich gegen mich. Begehrlich setzte er Küsse auf meine Brust und knabberte an meiner Haut. Gekonnt zog ich mein linkes Bein zwischen uns und drückte ihn von mir weg. „So ungeduldig?“, fragte ich und erntete einen wahrlich ungeduldigen Blick. Ich lächelte und schob ihn noch etwas weiter weg, bis er sich zurücksetzte und ich meinen Fuß bequem gegen seine Schulter stellen konnte. Was konnte er doch brav sein, dachte ich für mich und war äußerst zu frieden. Aber ich wollte ihn nicht hinhalten. Ich griff unter mein Kopfkissen und warf ihn eine Tube Gleitgel zu. „Vorbildlich vorbereitet.“ „Ich hab die Kondome vergessen“, gestand ich ihm. Ungelogen … mir war’s entfallen… „Doch nicht so vorbildlich“, kommentierte Timothy mit einem Schmunzeln. Seine Begierde war für den Moment verschwunden, aber wer wusste schon wie lange? Schalk tanzte dafür in dem Braun. Timothy legte meine Beine über seine Oberschenkel, tat etwas Gel auf seinen Finger und führte ihn zwischen meine Pobacken. Das Gel war kühl und ließ mich ungewollt zusammenzucken. „Shh“, beruhigte er mich, grinste dabei wie der Teufel persönlich. „Ach klappe. Das ist kalt“, argumentierte ich zurück. „Gleich nicht mehr“, sagte er und führte seinen Finger ein. Ich schluckte und ermahnte mich entspannt zu bleiben. Den Vorgang kannte ich ja, aber es zu fühlen war … Durch das Gleitgel fühlte sich alles glitschiger an, jedoch angenehmer als erwartet. Ein zweiter Finger folgte und es wurde komisch. Ich spannte mich an, griff mit beiden Händen ins Laken und zog meine Beine zu mir, um ihm mehr Platz zu bieten. „Tuts weh?“ „Nein, es fühlt sich komisch an.“ Timothy sagte nichts weiter und tastet mit seinem Finger weiter in mir rum. Er spreizte sie und drückte gegen die innere Wand. Ich zuckte und wand meine Hüfte etwas, was er durch seine freie Hand unterband. „Was machst du da?“, fragte ich angespannt und sah nur das Lächeln und seinen konzentrierten Blick. „Warte noch.“ Ich beruhigte mich und fühlte. Was blieb mir anderes übrig? Abgesehen von dem mulmigen Gefühl, wenn Timothy mich innerlich berührte, war alles ok. Selbst als er den dritten Finger einführte, fühlte ich mich gut, wenngleich es zwickte. Trotzdem waren seine Bewegungen merkwürdig. Er weitete mich nicht nur, es war als suchte er etwas. Ab und an berührte er Punkte, die mich zusammenzucken ließen. Mir wurde heiß und ich wusste nicht wohin mit mir. „Tim“, sagte ich warnend. Aber ich spürte ein Ziehen und drückte meinen Kopf in den Nacken. „Ngh.“ Timothy machte weiter, scheinbar gefunden, was er gesucht hatte, massierte er den Punkt unaufhörlich und ehe ich noch einmal protestieren konnte, entkam mir ein wimmernder wie erregter Ton und alles wurde tuffig weich. Timothy zog seine Hand zurück und betrachtete mich. Ich merkte es immer, wenn sein Blick auf mir ruhte. Selbst im Nachklang eines Höhepunktes. So gut ich mich gerade fühlte, war ich doch etwas verstimmt, schon gekommen zu sein. Etwas mehr bei Sinnen, wollte ich die Schweinerei betrachten und ihn zurechtweisen. Jedoch perlten sich nur wenige Tropfen Vorsaft von meinem nicht voll erregtem Glied. Das war neu und es brachte mich etwas aus dem Takt. Warte … war ich dann trocken gekommen? Nur von seinen Fingern? Ging das überhaupt? Sprach das jetzt für seine Fingerfertigkeit oder dass ich leicht zu haben war? „Wieso kannst du sowas?“, fragte ich unvermittelt und setzte mich auf. „Ich kannte mal eine Person, die drauf bestand, alle Lustpunkte zu kennen. Ich dachte nicht, dass mir das mal nützlich sein könnte, aber jetzt musste ich es einfach ausprobieren.“ „Bin ich dein Versuchskaninchen oder was?“ „Eher so was wie ein neues Spielzeug“, kommentierte er und zog mich auf seinen Schoß. Er fischte nach meinen Lippen, aber ich entzog mich ihm bockig. Ein beherzter Griff nach meinem Kinn und der Kuss saß. Ich ließ ihn gewähren und öffnete meinen Mund weit, um seine Zunge zu begrüßen. Timothy drängte mich zurück, bis ich lag. Seine Hände glitten über meine entblößte Haut und schienen nicht genug zu bekommen. Genauso hatte ich es gewollt, nur wollte ich gerade mehr. Als er genug in sein Tun vertieft war, fasste ich ihn mit beiden Beinen an er Hüfte und drehte uns. Der Kuss brach und überraschtes Braun sah zu mir auf. Ich lächelte siegreich und drückte ihn zurück in die Matratze als er versuchte sich aufzurichten. Erst als er gehorsam liegen blieb, legten sich meine Hände an seine Hose und öffneten diese langsam. Es würde mich nicht wundern, wenn er dieses kleine Hindernis in seiner Lust vergessen hatte. Ich zog ihm die Hose aus und ließ seine Strümpfe folgen. Die Stulpe am Arm, hatte er vorher irgendwann ausgezogen. Seine Beine breit aufgestellt, blieb nur noch die Shorts übrig. Meine Hand strich über die Beule darin. Da ich bereits heute Morgen erlebt hatte, was mich erwartete, konnte ich das hier etwas auskosten. Ich suchte seine Spitze und drückte meinen Daumen dagegen. Er zog scharf Luft ein und je länger ich spielte, desto feuchter wurde der Stoff der Shorts. Dem noch nicht genüge getan, beugte ich mich vor und nahm die Spitze samt Stoff zwischen meine Lippen und saugte etwas daran. Seine Reaktion war ein Zucken seiner Hüften und seine fest zusammen gepressten Lippen. Ich sah zu ihm auf und zeigte ihm meine Zähne, welche selbst durch die Shorts zu spüren sein müssten. Ich beendete das kleine Schauspiel und zog ihm seine Shorts endlich runter. Timothys Glied richtete sich auf und zeigte seinen roten Kopf. Abermals drückte ich gegen seinen Schlitz. Die Spitze bog sich leicht nach oben und ich war neugierig wie sie sich anfühlen würde. Das Glied in die Hand genommen, pumpte ich ihn beherzt, ehe ich über ihn krabbelte und mich positionierte. Seine Hand kam dazu und hielt sich selbst in Position, während ich mich mit einer Hand vorne abstützte und mit der anderen eine Backe zur Seite zog. Das Raufsetzen stellte ich mir nicht so kompliziert vor. Ich spürte seine Spitze bereits und wie sie durch das Gleitgel keinen richtigen Halt fand. Timothys Hand hielt sie fest und ich setzte mich auf ihn. Erst ein Stück, dann noch eines. Mein Herz begann wild zu schlagen. Der Anfang war ok, das Mittelstück breiter als gedacht. Ich schluckte und hielt vielleicht sogar die Luft an, als ich mich vollends auf ihn gleiten ließ. Erst dann lehnte ich mich zurück und atmete durch. Es zwickte mehr als gedacht, dachte ich und spürte das Grinsen an meinem Mundwinkel zupfen. Ich spürte ihn. In mir. Warm, pulsierend und wartend. Kein schlechtes Gefühl, dachte ich weiter und mein Bauch kribbelte, wenn ich daran dachte, dass dieses harte Ding in mir gleich Chaos stiften würde. Timothys Hände schoben sich auf meine Oberschenkel. Sein Blick war neugierig, abwartend. Auch wenn er gerade nicht lächelte, sah man ihm an, wie viel Spaß er gerade hatte. Ich grinste breit und begann meine Hüfte zu rollen. Langsam erst, mein Blick auf die Person unter mir gerichtet und auf das Gefühl in mir achtend. Seltsam, aber gut. Verlockend. Eine Bewegung gefunden, die sich gut anfühlte, begann ich ihn stärker zu reiten. Es war mein erstes Mal. Ich wollte gut abschneiden und mehr noch wollte ich mehr von Timothy spüren. Diesen Gedanken folgend, hob ich meinen Hintern und rutschte an ihm runter. Ich keuchte auf. Das raus und wieder rein war reizvoller als gedacht. Timothy hielt still, weshalb es einfach für mich war, das Tempo anzuziehen. Mir wurde verdammt warm dabei und immer, wenn seine Spitze etwas in mir traf, wurden meine Beine weicher. Ich riss mich zusammen, die Zähne zusammengebissen, bis Timothy das erste Mal zustieß. Ich stöhnte ungewollt auf, mein Atem mit mal unregelmäßig. Seine Hände hielten meine Hüfte fest genug, dass ich ihn spürte, aber locker genug, dass ich weiter machen konnte. Meine Töne waren mir zunächst unangenehm, aber mittlerweile konnte ich kaum mehr darauf achten laut oder leise zu sein. Timothy hatte einen Punkt gereizt, den ich mehr spüren wollte. Kräftiger ließ ich mich runter, gezielter schob er sich hoch. Mein Kopf begann sich zu drehen. Mal atmete ich, mal hielt ich die Luft an. Noch etwas mehr, dachte ich. Noch ein paar Mal, flehte ich innerlich und biss mir auf die Unterlippe. Mein Wunsch wurde erhört und ich sah nach wenigen weiteren Treffern Sterne. Ich spannte mich an, streckte den Rücken durch und nahm den Kopf in den Nacken. Noch ganz in der Bewegung drin, machte mein Hüfte weiter und ritt ihn langsam aus. Als ich wieder Luft bekam, rollte mein Kopf schwer nach vorne. Mein Atem ging schwer. Auf Timothys Bauch befand sich eine kleine Schweinerei, während sein Brustkorb sich ebenso schnell hob und senkte wie meiner. Seine Wangen waren gerötet und seine Augen glänzten herrlich. Meine Finger legten sich auf seine und lösten seine Hände von meiner Hüfte. Seine Fingernägel hatten sich in meine Haut gebohrt und hinterließen zehn halbrunde Abdrücke. Es störte nicht. Ich fühlte mich gerade zu gut, um etwas anderes als das zu fühlen. „Heb deinen Arm“, forderte ich. Ich war froh, dass Timothy meinen Blick dazu verstanden hatte, denn meine Stimme war rau und mein Hals trocken. Er legte seinen linken Arm ausgesteckt neben sich hin und ich ließ mich langsam von ihm gleiten. Mein Körper wurde schwerer, glühte nach und ich wollte nur noch runter hier. Neben Timothy liegend, bettete ich meinen Kopf auf seinem Oberarm und schloss einen Moment meine Augen. Seine Hand kam und zog mich näher an ihn heran. Obwohl mir warm war, wollte seine Nähe spüren. „Nimm das Laken“, murmelte ich mit geschlossenen Augen. Vielleicht sah er hinter sich, ich weiß nicht, aber ich hörte das Laken rascheln, welches ich vorbereitet hatte. Er wischte mit einer Ecke über seinen Bauch, ehe er den sauberen Teil über uns zog. Auf die Seite gerollt, küsste er meine Stirn. Etwas ausgeruhter, öffnete ich meine Augen und sah zuerst die Narbe auf seiner Brust, dann seinen gesäuberten Bauch. Stimmt ja… ich hatte noch mehr gefunden. Ich hob meinen linken Arm und griff nach seinem Rechten. Keine Ahnung, ob das der passende Moment für diese Frage war, aber mein Hirn war gerade von Hormonen überschwemmt, sodass es mir ziemlich egal war. Wichtig war nur, dass er mir nah war. So, als sei ich dann komplett. „Warst du das selbst?“, fragte ich ihn und sah ihn direkt an. „Nicht meine Glanzstunde, aber …“ „Erzähl mir davon“, forderte ich sanft und ich wusste, dass er wusste, dass er es diesmal nicht aufschieben konnte. „Von allen“, setzte ich dazu und brachte ihn zum Seufzten. „Wie du weißt, bin ich kein Fan davon zu leben. Es ist anstrengend. Alles was man tut, wirkt wie eine Ablenkung davon, auf den Moment zu warten, an dem man endlich stirbt. Als meine Mutter starb, versuchte ich das erste Mal meinen inneren Schmerz mit externen Schmerz zu betäuben. Ich dachte, ein gerader, langer Schnitt wäre das Beste und sähe nicht so schrecklich aus, wie bei denen, die sich ritzten und sich die Narben übereinander türmten. Aber der Schnitt war nicht tief genug, also stach ich zu. Dann hielt mich Nayla auf. Mich zu verletzten hatte mir nicht viel gebracht, außer, dass ich jetzt wusste, dass sich selbst zu verletzen mir nicht das bringt, was ich haben will.“ Timothy endete und ich sah die Trauer über sein Scheitern in seinen Augen. Es war nicht viel und vielleicht brachte es nichts, aber ich setzte einen Kuss auf sein Handgelenk und seinen Unterarm. Dann stemmte ich mich hoch und küsste ihn. Seinen Arm loslassend, strich ihm eine Strähne aus der Stirn. Dann deutete ich auf die Narbe an seinem Hals. „Ist das auch deswegen?“, fragte ich nach. Timothy hob seine Hand und legte sie auf meine. „Der Deckenbalken im Wohnheim sah so verlockend aus. Die Schwestern fanden mich und holten mich runter.“ „War das dein einziger Versuch?“ „Was einen direkten Selbstmord angeht, ja. Ich konnte mich nicht mit dem Messer verletzten und ersticken ist nicht so angenehm, wie man vielleicht glauben mag. Ich wollte einen schönen Abgang hinlegen.“ „Was ist dann hiermit?“, fragte ich und tippte auf die Narbe auf seiner Brust. Diese war dunkler als die anderen und wirkte nicht wie ein Schnitt. „Das war noch ein Versuch, ob es mit äußeren Schmerzen besser gehen würde. Leider war es noch schlimmer als ein Messerschnitt. Ich hatte eines der großen Küchenmesser mit einem Feuerzeug erhitzt und die Rückseite auf meine Haut gedrückt. Ein widerlicher Schmerz und die Heilung tat mehr weh als gedacht. Ich ließ das Messer fallen und es blieb in meinem Fuß stecken. Danach war klar, dass ich mich nicht mehr selbst verletzten wollte.“ Ah, daher die kleine Narbe auf seinem Fußrücken, dachte ich und setzte einen Kuss auf seinen Hals und seine Brust. „Was ist mit der Narbe am linken Arm?“, murmelte ich gegen seine Haut. „Meine Mutter wollte in einer ihrer schlechteren Phasen mit einer Stricknadel auf Nayla losgehen. Ich ging dazwischen und sie kratzte mich mit dem Ding.“ „Die am Oberschenkel?“ „Vor zwei Jahren während einer Party fuchtelte jemand mit einem Cuttermesser rum. Ich dachte mir, lieber ich als die Mädels neben mir.“ „Am Schienbein?“ „Der Kater beim Wohnheim. Frag nicht, die Geschichte ist peinlich.“ Ich lachte leise und schmiegte mich an ihn. Letzteres hatte ich mir schon gedacht. Es waren drei parallele Kratzer quer über sein Schienbein. „Mit anderen Worten, du lässt dich jetzt lieber verletzten als es selbst zu tun?“ „Körperlich gesehen, ja“, sinnierte Timothy, als hätte er selbst noch nicht darüber nachgedacht. „Was tust du, sollte es mal wieder schlimmer werden? Wenn du niemanden hast, der dir zufällig weh tut? Verletzt du dich wieder selbst oder bringst dich um?“, fragte ich mit hochschnellendem Puls. Grob genommen konnte ich nicht glauben, dass ich dieses Gespräch führte. Jetzt vor allem. Die Frage war mir unangenehm. Nicht weil ich fürchtete zu privat zu werden, sondern weil ich Angst hatte ihn verlieren zu können. Trotzdem musste ich sie stellen, denn ich wollte auf etwas bestimmtes hinaus. „Ich weiß nicht …“, gab er ehrlich zur Antwort. „Warum fragst du?“ Ich schob meine Angst zur Seite und schmunzelte. Langsam stemmte mich mit einen Arm nach oben und drehte Timothy zurück auf seinen Rücken. „Du hast mich noch nicht gefragt, ob ich so gnädig wäre, dich umzubringen. Und ehe du fragst, sage ich dir, nein, das werde ich nicht.“ Timothys Gesicht wechselte von überrascht, freudig erregt zu schmollend. „Wie geizig von dir.“ „Nicht wahr?“, fragte ich scherzhaft nach und überspielte das Unbehagen in mir. „Aber ich bin gerne geizig. Immerhin möchte ich noch eine Weile was von dir haben. Zumindest so lange, bis du mich satthast.“ Er streckte seine Hand aus und strich über meine Wange in meine Haare. „Ich glaube kaum, dass das so schnell der Fall sein wird.“ „Gut, dann…“, ich schob mich runter zu seinem Bauch und nagte neben seinem Bauchnabel an der Haut. Ich saugte und biss solange, bis es Timothy zu unangenehm wurde. Wieder aufsehend sagte ich zu ihm: „Wenn es dir nochmal schlecht geht und du allein bist, darfst du dich von mir aus, genau da, einmal mir einer Zigarette verbrennen. Besser du machst es nicht, die Bestrafung würdest du nicht aushalten. Aber so oder so, wirst du fortan jedes Mal an mich denken müssen, sollte ein neuer Schub kommen.“ Timothy sah mich an wie einen Geisteskranken. Ich stimmte ihm zu. Auf solch eine Idee, würde nur ein Geisteskranker kommen. Aber Timothy machte sowieso, was er wollte. Wenn ich ihm verbieten würde, etwas zu tun, wäre der Reiz das Gegenteil zu tun viel zu groß für ihn. Also erlaubte ich ihm eine Stelle, eine Methode und gab ihm zugleich eine Verknüpfung, mit der er etwas positives Assoziierte. Jedenfalls hoffte ich, dass ich etwas Positives in seinen Augen war. Timothy lachte herzhaft los. Dann zog er mich zu sich hoch und küsste beide Wangen und meine Lippen. „Einverstanden. Jetzt sag du mir, warum ich deinen Hals nicht küssen darf.“ „Küssen darfst du ihn, aber keine Knutschflecke eben.“ „Warum?“, hakte er nach. „…“ Wie schnell sich der Wind doch drehen konnte, dachte ich und fühlte mich in eine Ecke gedrängt. Ehrlich gesagt, gab es darauf nur eine Antwort und diese auszusprechen war mir peinlich. Es ließ meine Bitte sinnlos werden. „Weil es für einen Sänger nicht gut aussehen würde, dort Knutschflecke zu haben?“, fragte Timothy. Ich senkte meinen Kopf und sah zur beschämt Seite. Erraten… Fans sahen sowas nicht gerne an denen, die sie vergötterten. Allerdings war ich kein Sänger mehr, hatte keine Fans und wurde nicht vergöttert. „Mik?“, erklang Timothys Stimme sanft und fragend. Ich sah ihn an, auch wenn ich nicht motiviert war. „Willst du wieder ein Musiker werden?“ Ich antwortete ihm nicht. „Warum bist du Architekt geworden?“ Ich antwortete ihm nicht. Ich antwortete ihm eine ganze Weile nicht. Es war peinlich, aber der Grund war, dass ich Angst hatte. Angst wieder auf einer großen Bühne zu stehen, bejubelt zu werden und hintenrum Kritik zu ernten. „Ich …“, begann ich mit dünner Stimme. „Ich liebe es Musik zu machen, aber ich denke, dass meine Zeit als Musiker vorbei ist.“ Ich senkte meinen Blick und war so in Gedanken, dass ich nicht merkte wie trübselig und traurig ich wirkte. Wie schlecht ich meine Emotionen verbergen konnte und wie listig das Braun unter mir funkelte. „Was hältst du von einem Deal?“ „Was für ein Deal?“, fragte ich und sammelte mich wieder. „Es ist schwer deiner Bitte nachzukommen. Immerhin ist dein Hals sehr attraktiv. Ich werde aber darauf verzichten, wenn du mit mir auf einer Bühne stehst.“ Was auch immer ich für ein Gesicht machte, ich fasste nicht, was er gerade vorgeschlagen hatte. Mein Inneres fuhr Achterbahn. Mit Timothy zu singen war das eine, mit ihm auf einer Bühne zu stehen das andere! „Tim, ich werde nie wieder auf einer Bühne stehen“, sagte ich mit Nachdruck. „Dann halte ich mich auch nicht zurück“, erklärte er schulterzuckend. Ich verzog miesgelaunt meinen Mund. Sein Vorschlag war inakzeptabel, aber ... stöhnte genervt. „Denk dir was anderes aus“, forderte ich. „Nein.“ „Warum nicht?“ „Weil es mein Wunsch ist, einmal mit dir zusammen auf einer Bühne zu stehen“, gestand er mit einem zärtlichen Blick, der jeglichen Protest im Keim erstickte und mich glauben ließ, dass Timothy nie ehrlicher zu mir gewesen war, als in diesem Moment. „Argh… ich hasse dich“, gestand ich und willigte damit in seinen Deal ein. Er zog mich zu einem Kuss und schien äußerst zufrieden mit sich zu sein. Ich hasste mich selbst genauso sehr. Diese Ehrlichkeit von ihm machte mich schwach und nachgiebig. „Darf ich eine rauchen?“, fragte Timothy unvermittelt. Ich sah auf ihn herab und war immer noch sauer wegen eben. Da änderte ein kleiner Kuss auch nichts dran. Außerdem … Rauchen nach dem Sex… bitte! „Nein“, sagte ich strickt und schob das Laken zur Seite. „Das würde heißen, du bist hier schon fertig“, stellte ich weiter fest und krabbelte auf ihn. Mich schwermachend, beugte ich mich runter bis zu seinem Ohr. „Bist du etwa schon fertig?“ Kapitel 12: Ein hehres Ziel --------------------------- Kapitel 12: Ein hehres Ziel Das Rechtsseminar war langweilig wie immer. Trotzdem gab es einen Hoffnungsschimmer für Timothy. Wenngleich die Ankündigung der ersten schriftlichen Prüfung zu den Dingen gehörte, die einen Studenten stöhnen ließ, war der Anblick der Person neben ihm jede noch so unangenehme Ankündigung wert. Sein Tag wurde bisher nur besser und besser. Dass Timothy letzte Nacht bei Mikael übernachtet hatte, sollte sich von selbst verstehen. Mikael war anders als seine bisherigen Errungenschaften. Obwohl … im Vergleich zu Mikael war niemand eine nennenswerte Begegnung gewesen. Mikael war als Partner wirklich speziell. Öffentlich, hielten sie sich nicht bei den Händen, tauschten verstohlene Berührungen aus oder sahen sich zu intensiv in die Augen. Sie berührten einander nicht unnötig, sofern sie nicht alleine waren. Argumente und wüst klingende Beschimpfungen flogen wie eh und je und sie genossen es, den jeweils anderen übertrumpft zu haben. Etwa wie sich streitende Freunde. Vielleicht aber auch nur zwei Kerle, die sich nicht leiden konnten, aber nicht mit und nicht ohne einander konnten. Wie auch immer sie von außen wahrgenommen wurden, beide Varianten zauberten ein Schmunzeln auf Timothys Gesicht. Sobald sie allein waren – sei es in einem ihrer Zimmer oder einem leeren Vorlesungssaal – wurden die Töne weniger anfeindend und ihre Gespräche tiefgründiger. Mikael setzte sich direkt neben Timothy, sodass sich ihre Beine oder Schultern berührten. Sein Blick war sanfter und seine Resistenz gegenüber Timothys liebevolleren Sticheleinen schwächer. Es war leichter eine zarte Röte auf seine Wangen zu zaubern oder ihn verlegen wegsehen zu lassen. In Timothys Zimmer erlaubte Mikael Küsse, ihn zu halten und schlichte Zärtlichkeiten. Waren sie beim Ex-Sänger in der WG schien jegliche Zurückhaltung vor der Tür zu bleiben. Mikael schien sich hier am wohlsten zu fühlen und zeigte ungehemmt sein wirkliches Ich. Er kochte viel zu gesunde Gerichte mit mehr Grün als Timothy in den letzten 5 Jahren gegessen hatte, er war laut, ausfallend und scheute sich nicht seinen Gast, sowie Lover, mit Beschimpfungen zu überhäufen oder ihn mal zu boxen. Aber meistens nur dann, wenn Timothy es mit seinen Sticheleinen übertrieb. Es tat nicht weh, auch wenn es brutal aussehen musste, aber Mikael legte kaum Kraft in seine Tritte oder Schläge. Seine scheinbare Wut und Verärgerung wurden von klarer Verlegenheit übertrumpft. Ein Anblick, der, in Timothys Augen, jeden Tritt oder Schlag wert war. Mikael war laut, ehrlich und nahm kein Blatt vor dem Mund. Er war ein begnadeter Sänger, ein guter Architekt, wenngleich Timothy immer noch nicht verstand, wie es dazu gekommen war. Aber bedachte man, dass Mikael unter seiner lauten Art eine sanfte und fürsorgliche Person war, konnte man sich vorstellen, wie sehr er unter dem damaligen Gerede gelitten haben musste. Es machte Timothy wütend, wie es damals abgelaufen war. Aus heutiger Sicht war es nichts, was nicht auch verhindert hätte werden können. Egal… all das lag in der Vergangenheit. Selbst wenn Timothy kurzweilig sauer werden sollte, reicht ein Blick der haselnusshellen Augen, ein freches Zucken der Mundwinkel oder eine sanfte Berührung aus, damit der Sänger allen Klatsch vergas. Vergangenes war vergangen. Was er beschützen wollte, war das, was noch kommen würde. Mikael hatte sich in seinem Herzen eingenistet und ließ ihn alle möglichen Gefühle empfinden. Das schönste und stärkste von allen, war am schwierigsten zu benennen. Es war als wäre schon immer ein Platz in ihm gewesen, den nur Mikael einnehmen konnte. Einen Teil von ihm, den nur dieser Knirps ausfüllte. Er machte Timothy irgendwie heile, emotional stabil. Sicherlich rutschte seine Laune dann und wann ab, aber es war nicht so schlimm wie früher. Gestern Abend wurde Timothy klar, dass Mikael nackt am schönsten war. Angezogen sah er gut aus, aber diese Kleiderschichten von ihm zu schälen, versetzte den Sänger in begierige Vorfreude. Denn im Bett zeigte sich eine noch bestimmendere, kontrollierendere Seite des Ex-Sängers. Zu gerne gab er den Ton an und Timothy ließ ihn gewähren. Artig folgte er den Anweisungen und brach nur dann das Schema, wenn er selbst zu ungeduldig wurde. Jedoch ging selbst dem kratzbürstigsten Kätzchen mal die Puste aus. Wenn Timothy übernahm, nutzte diese Gunst, um seinen nun mehr als gefügigen Lover vollständig einzunehmen. Mikael zu berühren, war wie ein Instrument zu spielen. Es galt ihm die schönsten Töne zu entlocken und sie sinnlichsten Blicke einzufangen. Erschlagen und erschöpft fiel Mikael ins Bett und schaffte es nach einigen schnellen Atemzügen einen scharfen Blick zum Sänger zu schicken. Eine Warnung, ein Fluch, aber nichts verbittertes. Ohhh~ wie sehr es ihm nach diesem Knilch verlangte! Wie eine Symphonie deren Ende noch nicht geschrieben wurde. Zufrieden zog Timothy an der Zigarette, ehe er sie weiter reichte. Der Andere nahm einen Zug und reichte sie an Timothy zurück. „Wie spät ist es eigentlich?“, fragte Mikael ausatmend. „Ehm … halb sechs“, sagte Timothy, nachdem er auf sein Handy geschaut hatte, dass vorhin auf den Boden gefallen war. Ihre Kleider lagen verstreut im Zimmer. Einen Zug nehmend, streckte Timothy sich und aschte in eine Tasse ab. Einen Aschenbecher hatte sein Freund leider nicht. „Ahhh~ kein Wunder, dass ich Hunger habe“, stöhnte Mikael und setzte sich schwerfällig auf. „Das liegt wohl eher daran, dass du dich eben ausgetobt hast, wie eine Katze auf Katzengras“, summte Timothy amüsiert und nahm einen letzten Zug, ehe er die Zigarette in die Tasse warf. „Haaah?“, machte der Kleinere aggressiv, wenngleich die Kraft dahinter fehlte. „Wer hat sich hier bei wem ausgetobt? Wenn du mich nochmal so lange hinhältst, dann-“ „Jaa~, dann was?“, fragte Timothy schnurrend zurück. Er rückte nah an Mikael heran und sah ihm in die überraschten Augen. Ihre Nasen berührten sich, als Timothy seinen Kopf fragend neigte. „Bestrafst du mich? Nur zu gerne. Aber darf ich dich daran erinnern, dass du es trotz aller Flüche genossen hast? Wer hat denn um „mehr“ und „nochmal“ gebeten? Hmm~“ „D-Das kann ja mal passieren“, sagte Mikael ausweichend. Sowohl mit seinen Worten, als auch mit seinem Blick. Eine feine Röte zog sich über seine Wangen und seine Augen leuchteten. Timothy überbrückte den letzten Zentimeter und küsste was sein war. Ja, er war so besitzergreifend, dass er Mikael nach fast drei Monaten in denen sie sich kannten, dreieinhalb Wochen offiziellen Zusammenseins und einem Tag Intimität als Seins deklarierte. Nicht um sonst hatte er viele Knutschflecke und Bisse hinterlassen und er hatte es noch lange nicht satt. Diese Lippen küssten sich zu gut, schmiegten sich an ihn voll Begierde, entzogen sich ihm und protestierten, nur um doch wieder eingefangen zu werden. Timothy drückte Mikael zurück in das Kissen und hielt den Kuss sinnlich. Mikaels Protest ignorierte er so lange, bis dieser ihn forscher von sich schob, ihm eine Handkante auf den Kopf setzte und verärgert verkündete, dass er jetzt essen wollte. Wenngleich Timothy seine Beute körperlich ziehen ließ, schnurrte er stänkernde Worte. Auch das hatte seinen Reiz. Wenn Mikael nackt vor ihm stand, mit roten Wangen und verlegen-verärgertem Blick auf ihn hinab starrte, ehe er sich ein Hemd von seinem Bürostuhl und die Shorts vom Boden griff und überzog. Timothy mochte, dass es lang genug war den runden Hintern in den Shorts zu verdecken, während vorne nur drei Knöpfe zugemacht wurden. Seine Freude im Stillen genießend, zog er sich Shorts und ein Shirt an, ehe er dem Knilch zurück in die Wohnstube folgte. Sie erwärmten das Essen und ließen nichts übrig. Besser gesagt, Mikael aß den Großteil und holte sich im Anschluss noch einen Pudding aus dem Kühlschrank, den sie sich teilten. Nachdem sie alles abgeräumt und weggeworfen hatten – Mikael war auch pedantisch und liebte es ordentlich – kuschelten sie sich auf die Couch. Timothy setzte sich seitlich und zog Mikael zwischen seine Beine. Seine Arme umschlangen den flachen Bauch und sein Kopf bettete sich schwer auf die Schulter vor sich. Es wurde still, begleitet von sanften Berührungen über seinen Unterarm. Timothy störten die Narben nicht mehr. Er hatte gelernt mit ihnen zu leben. Trotzdem zog er sich gerne eine Armstulpe über den rechten Arm. Als Sänger war es nicht so vorteilhaft, würde man diese eine Narbe sehen können. Selbst wenn einmal der Tag kommen sollte, dass er berühmt wäre und man würde ihn darauf ansprechen, wäre es keine große Sache für ihn. Sollten sie doch denken, was sie wollen. Für Mikael waren Timothys Narben noch neu. Konnte er deswegen nicht von seinem Arm lassen? „Meintest du das mit düster?“, fragte Mikael schließlich in ihre Stille hinein. „Dass du auch nur ein depressiver Emo bist, allem überdrüssig und keinem vertrauend? Manipulierst du andere deswegen so gerne und bist ein Arsch?“ Timothy prustete und zog die Umarmung enger. „Fast. Ich manipuliere andere gerne, weil ich gut darin bin und es Spaß macht, wenn andere nach meiner Pfeife tanzen.“ Ein schweres Seufzen und der Körper in seinen Armen lehnte sich mehr an ihn. „Du hast recht. Du bist wirklich kein guter Mensch.“ Timothy lachte leise und küsste den nahen Hals. „Und du? Mein lieber Kael?“ Ein freches Grinsen legte sich auf Timothys Lippen, während sein Freund beim Klang des Namens zusammenzuckte. Es war zu offensichtlich gewesen, wirklich! Umso mehr die Frage, warum Timothy so lange gebraucht hatte, es zu bemerken. Mikaels Künstlername war schlicht Mi Kael. Zusammen mit seinem spanisch klingenden Nachnamen konnte es auch „Mein Kael“ heißen. Wenngleich sein Name durch die Kindershow bekannt geworden war, nannten seine Fans ihn kaum ein Jahr später nur noch Kael hier, Kael dort. Seit dem Karaoke juckte es ihn in den Fingern Mikael so zu nennen und endlich konnte er seine Karte ausspielen. „Nahh“, entkam es dem Ex-Sänger genervt. „Halt die Klappe! Sag mir lieber, was du im Internet machst“, verlangte er und zog seine Beine an. Timothy wusste nicht ganz, ob sein Freund sich verstecken wollte oder eingeschnappt war. So oder so passte er nun noch perfekter zwischen seine Beine und in seine Umarmung. Der Sänger zog die Umarmung fester und setzte neue Küssen auf dessen Hals, welcher bis auf einen kleinen Fleck unterm Kehlkopf noch immer makellos war. „Was denn nun? Soll ich die Klappe halten oder mit dir reden? Hmm~ endlich macht sich deine Größe bezahlt. Uff.“ Timothy erhielt einen Ellenbogenstoß in die Rippen. Amüsiert lachte er und zog Mikaels Arm langsam nach vorne, um von der Schulter hinab Küsse zu setzten. „Jeder ist im Internet unterwegs. Du musst schon konkreter werden.“ „Ich habe gehört, dass in den alten Foren zu „Mi Kael“ viel geschrieben wird. Auslöser war wohl das Video von Ramira. Ich weiß nichts genaues, aber die allgemeine Meinung war wohl skeptisch bis schlecht, bis irgendwer einige überzeugende Gegenargumente gebracht hat.“ „Interessant. Und was hat das mit mir zu tun? Soweit ich weiß, benutzen die Leute in Foren nicht ihre richtigen Namen. Wie kommst du da auf mich?“ Mikael schnaufte abfällig. „Selbst mit einem Alias erkennt man deine Schreibweise sofort.“ „Und wann und wo hast du es gelesen, wenn mein Knirps sich für gewöhnlich nicht ins Internet traut?“ „Ein Bekannter hat es mir vorgelesen“, antwortete der Kleinere und sah über die Couchlehne, nur um Timothy ungewollt mehr Platz zu bieten. „Er hat das gesehen und mich angerufen und … ahh Tim, ich will hier mit dir reden!“ Der Angesprochene nahm seine Lippen von Mikaels Ohr und schmunzelte wissend. „Ich weiß. Aber du bist so angespannt. Warum interessiert dich das, wenn du nicht mehr singen willst.“ Ein Protest wollte dem Ex-Sänger entweichen, wurde jedoch erfolgreich zurückgedrängt. Timothys Lächeln wurde breiter. Er wusste, dass Mikael singen wollte und auch, dass dieser sich selbst zurückhielt. Hätte Mikael es ausgesprochen, hätte er das Thema von den Medien weggelenkt. Fakt war nämlich, dass der junge „Sänger“ in seinen Armen noch lange nicht die Bezeichnung „Ex“ oder „ausgebrannt“ verdient hatte. Nicht in Timothys Augen. Leider konnte er nur so viel Helfen, wie der Sturkopf seine Hilfe auch annehmen wollte. Es war ein kleines bisschen frustrierend, dass gab er zu, aber er konnte warten und schlussendlich würde er das bekommen, was er sich wünschte. Für diesen Moment aber, erlöste Timothy seinen Freund und gab zu auf einigen Foren gewesen zu sein und vielleicht die ein oder andere „nett gemeinte“ E-Mail an „nicht nette“ Personen geschickt zu haben. Es würde seine Vorgehensweise nie zugeben und schon gar nicht vor so zarten Persönlichkeiten wie Mikael. Wahrscheinlich würde dieser sich alles viel zu sehr zu Herzen nehmen. Mikael lehnte sich mehr in Timothys Umarmung und die Anspannung verließ seinen Körper. Ein schweres Seufzen, ein Hadern, was er sagen sollte und dann …: „Wirst du erwischt, schadest du deiner Karriere.“ Mikaels Stimme war leise und matt. Die Sorge deutlich herauszuhören. „Keine Sorge, my Love, ich habe mir eine andere Strategie ausgedacht.“ Er setzte einen Kuss auf Mikaels Ohr und sah im nächsten Moment in die nahen haselnussbraunen Augen. „Was?“, entkam es dem Kleineren ungläubig. „Tim! Hör auf! Ich weiß nicht mal, warum du das alles machst, das ist doch … Versprich mir, dass … Ahhh~“ Timothy hatte Mikael in seinen Armen gedreht und seinen Sorgenprotest mit Küssen unterbrochen. Er sah, wie sehr der andere hin und her gerissen war, ihm zu rechtzuweisen oder sich ihm hinzugeben. Frustriert stöhnte Mikael auf und krallte fest sich in Timothys Haare. Timothy dachte gerne an letzte Nacht zurück. Er war stolz auf sich, das leidliche Thema auf so anregende Weise beendet und zugleich die Planung für den restlichen Abend festgelegt zu haben. Mikael war ein Kunstwerk an sich. Anmutig, betörend und verführend. Der Kontrast dazu saß nun neben ihm auf einem harten Stuhl im Rechtssaal und wechselte erstaunlich oft die Position. Ohhh, wie Timothy sich freute! Nicht nur, weil Mikael bei Bemerkungen zu seinem Benehmen verlegen wegsah und sich immer neue Ausreden ausdachte, sondern auch, weil Timothy es kaum erwarten konnte, bis dieser von seiner genialen Strategie erfuhr. Dem aufmerksamen Beobachter wäre nicht entgangen, dass ein gewisser Sänger seit geraumer Zeit sein Handy sehr oft zückte und allerlei Bilder schoss. Bilder von denen niemand was zu sehen bekam. Nur ein verschmitztes Grinsen auf Timothys Gesicht. Sein Plan war noch recht jung. Gerade geschlüpft. Jedoch nicht unbemerkt. Timothy war überrascht, wie das Interesse an seiner Aktion wuchs. Die Zahlen stiegen an und erreichten in der ersten Woche einige Hundert. Nicht ganz, was er sich vorgestellt hatte, aber ein Anfang. Es bedurfte täglicher Pflege. Das Antworten auf Nachrichten war zunächst das Wichtigste, denn er musste seine Autorität und Glaubhaftigkeit unter Beweis stellen. Besser gesagt, die von Mikael. Das Erstellen von Bildern und hochladen, war hingegen wie ein Spaziergang im Park. Nebenbei genoss er die Zeit daheim oder wenn er mit Mikael unterwegs war. Dieser bemerkte nichts oder wenig. Stutzig wurde Mikael als einige Mädels an ihnen vorbei gingen und übertrieben quietschten. Aber bis auf „handelt sich wohl um deinen Fan-Club“, interessierte es den Rothaarigen nicht. Mikaels Haare waren für gewöhnlich hellbraun mit einem sanften Rotstich und seine Locken lang und quirlig. Aber seitdem die Sonne an Kraft zugelegt hatte, kräftigte sich der rote Schimmer seiner Locken. Wann immer Timothy ihn Rotschopf nannte, erntete er eine kleine Fluchtirade und wich den halbherzigen Tritten oder Schlägen gekonnt aus. War seine Mikrobe nicht allerliebst, wenn sie tobte? „Und? Kommst du mit?“, fragte Timothy und wich dem letzten Schlag aus. „Muss ich?“ „Nein. Nur wenn du möchtest. Ich dachte nur, dass du vielleicht deine Schande vom letzten Mal ausbügeln wollen würdest.“ „Was meinst du mit Schande?“, fragte Mikael genervt zurück, die Hände in seine Hosentaschen gesteckt. „Na…Du hast nur ein Lied gesungen, damit habe ich gewonnen.“ „Haaa? Das zählt doch gar nicht!“, stieg Mikael auf die leichte Provokation ein. „Oh, doch. Das zählt“, summte Timothy amüsiert. „Kommt sonst noch jemand?“ „Nein. Nur du und ich. Vielleicht noch Nayla und Jamil, wenn du magst. Die anderen haben eh keine Zeit.“ Die dunklen Augen sahen, wie der Rotschopf nachdachte, wie er der Versuchung nicht widerstehen konnte. Singen, selbst wenn es nur Karaoke war, fühlte sich gut an. Timothy hatte bemerkt, dass sein Freund bei sich zu Hause oft summte. Mit Musik oder ohne. Er erhoffte sich, dass Mikael die Zeit genießen würde und mit ihm zusammen sang. Natürlich sollten dabei auch einige schöne Schnappschüsse entstehen. „Nur weil Wochenende ist“, sagte Mikael zu und Timothy grinste wissend. Karaoke war ein Heidenspaß gewesen. Sie waren zu viert mit Nayla und Jamil. Jamil war überglücklich über diese kleine Runde und noch mehr, als Mikael mehr als nur ein Lied sag. Es war amüsant zu sehen, wie der Älteste im Raum sich zusammenriss, um nicht zum Fangirl zu werden. Mit Nayla und Mikael war es zunächst schwieriger. Timothy vermutete, dass Mikael ihr die Worte von damals noch nachtrug. Erst als Jamil sich unschuldig fragend einmischte, redeten sie miteinander. Das Missverständnis geklärt, verlief der restliche Abend entspannt. Timothy beobachtete mit Genugtuung, dass die zwei wichtigsten Personen in seinem Leben ruhig miteinander reden und auskommen konnten. Der Knall kam fast eine Woche danach. Ob Timothy sich bewusst war, wie viele der neuen Datenschutzgesetzte er übertreten hatte? Sicher. Ob es ihn störte oder er die Wut der betreffenden Person fürchtete? Mit Nichten. Aber zunächst kam Jamil. Montagmorgen klopfte er an Timothys Tür und hielt dem Sänger sein Handy viel zu nah vors Gesicht. „Warst du das?“, fragte er ernst, wenngleich unterdrückte Freude in seinen Augen zu erkennen war. „Hm? Oh … Wer weiß~“, antwortete Timothy, doch sein Grinsen verriet ihn. „Ist Mik da?“ „Nein~“ Ohne weiteres Federlesen ging Jamil an Timothy vorbei in dessen Zimmer. Timothy schloss die Tür hinter sich. Jamils Auftauchen konnte er gut gebrauchen und für sich nutzen. „Wie hast du’s herausbekommen?“, fragte der Sänger und verschränkte amüsiert die Arme. „Mik würde so was nie machen“, kam es als schlichte Antwort mit skeptischem Blick. Gerade so, als ob das nicht offensichtlich sei. Timothy neigte überlegend seinen Kopf und ja, doch … genau betrachtet, war es sehr offensichtlich. Mit breiterem Grinsen trat er an Jamil heran und sah ihn herausfordernd an. „Und? Verpetzt du mich oder hilfst du mir?“ Jamils Hilfe war eine Bereicherung. Wenngleich es jenem Morgen noch einige Zweifel aus dem Weg zu räumen galt. Etwa, dass all das hinter Mikaels Rücken passierte. Dass sie sich auf dünnem Eis bewegten. Dass sie beide tot wären, sobald Mikael davon Wind bekäme. Timothy lachte auf den letzten Kommentar hin. Es stimmte schon, doch konnte er Jamil beruhigen. Immerhin war all das Timothys Idee gewesen und sollte jemand drei Meter oder tiefer begraben werden, würde das wohl er sein. Jamil willigte ein, wenngleich seine Vorbehalte nie ganz verschwanden. Dann wiederum stellte er sich vor, was passieren würde, wenn alles gut ginge und Timothys Idee wirklich fruchtete. Allein der Gedanke daran brachte ein freudiges Grinsen auf Jamils Gesicht. Die Arbeit, welche Timothy vorher allein erledigte hatte, teilte sich auf zwei auf. Jamil hielt sich meist in den Foren auf und mischte sich in die Gespräche ein, welche gegen das neue Profil oder gegen Mikael an sich gingen. Er hatte den Skeptikern schon immer eins reinwürgen wollen. Gegen jeden Star, ob alt oder neu, gab es Kritiker, aber diese hier waren einfach nur penetrante Pestfliegen! Dank Timothy, der ihm einige gewandte Antwortmöglichkeiten zusammengestellt hatte, fiel es Jamil erstaunlich leicht, diese Leute ruhig zu halten. Timothy nutze die Chancen, die er hatte, und bearbeitete das erstellte Profil. Er hatte sich unter seinen Lieblingsbaum gesetzt und tippte fleißig Antworten. Eines der Bilder vom Karaoke letzte Woche hatte er bereits bearbeitet und reingestellt. Das Grinsen auf seinem Gesicht sprach Bände über seine Sorglosigkeit gegenüber der Wut, die ihn bald erreichen sollte. ~*~ Jasmine war spät dran. Sie hatte sich mit ihrer Freundin verquatscht und musste nun rennen, um noch kurz etwas zu Essen aus der Mensa zu holen, ehe sie zum Tanzstudio am Rande des Campus‘ musste. Um etwas an Zeit zu sparen, lief sie abseits der Wege. Es war nicht verboten, allerdings auch nicht gerne gesehen. Wie auch immer. Als sie das kleine Wäldchen passierte, wurden ihre Schritte langsamer. Sie sah jemanden unter einem Baum sitzen und wäre beinahe an ihm vorbeigelaufen. Sie hatte ihn schon ein paar Mal dort sitzen sehen, aber es nie für nötig gehalten ihn anzusprechen, hauptsächlich weil sie zu schüchtern und verliebt gewesen war. Mit Timothys Abweisung hatte sie eine Weile zu kämpfen gehabt, aber jetzt ging es ihr gut. Vielleicht war es wirklich Glück im Unglück, dass sie NUR verliebt war und ihn nicht liebte. Das war auf eine Weise einfacher und tröstlicher. Den Zeitdruck vergessend, kam sie dem Sitzenden näher. Sie hatten derzeit kein Projekt zusammen und sahen sich selten. Nach dem Karaoke damals war sie sehr beschäftigt gewesen und ehrlich gesagt, hatte sie ihn auch nicht sehen wollen. Es war nicht so, dass sie gleich losheulen musste, aber es tat weh zu wissen, dass er sie nicht auf die gleiche Weise mochte, wie sie ihn. Er hatte sie nie so angesehen. Leider. Die Gedanken der Klarheit waren schmerzlicher als der Korb, aber sie schaffte es trotzdem durch den Tag. Nach beinahe einem Monat, den sie nicht mit ihm gesprochen hatte, wollte sie zu mindestens „Hi“ sagen. Selbst wenn sie dadurch definitiv zu spät kommen würde. Sie war ein wenig aufgeregt. Das lag sicher daran, weil sie sich lange nicht gesprochen hatten. Genau. Sie war über ihn hinweg und … ihr Herz machte einen Satz, als sie sah, wie Timothy lächelte. Voller Freude und Zuneigung. Was er sich wohl ansah? Sie schloss aus, dass es etwas mit ihr zu tun hatte. Vielleicht die Person, die ihm wichtig war? Wegen der sie einen Korb bekommen hatte? Missmut dämpfte ihre Freude und ließ sie unbewusst leiser werden. Sie näherte sich von der Seite, denn Timothy war immer sehr aufmerksam. Sie wollte nicht per se Lauschen oder Lunschen, aber wenn sie ihn direkt fragen würde, bekäme sie keine Antwort und im Moment schien Timothy sehr in seine Gedanken und sein Handy vertieft zu sein. Als sie den Handybildschirm sehen konnte, trat sie auf einen Stein. Der Schmerz ließ sie zucken und brachte ihren Stand zum wackeln, weshalb Timothy sie bemerkte. Er neigte seinen Kopf zur Seite und musterte sie verwundert, ehe er sein Handy mit dem Bildschirm nach unten weglegte. Jedoch … sie hatte es gesehen. „Jassi“, sprach er sie an und lächelte. Wie üblich. Nicht so warmherzig wie eben, aber freundlich. Gott, wie hatte sie nur denken können, er hätte sie verliebt angesehen? Dieses nette Lächeln war nichts im Vergleich zu dem, dass sie eben gesehen hatte! Der Gedanke schmerzte und zog an ihrem Herzen. Zugleich kribbelten ihre Finger, allein weil er sie angesprochen hatte, ohne irgendeine Feindschaft zu hegen. „Hi“, sagte Jasmine. Sie sprachen kurz miteinander. Die üblichen Floskeln, ehe Jasmine sich entschuldigte und ihren Zeitdruck vorschob. Es war keine wirkliche Ausrede, aber irgendwie doch. Sie hatte unterschätzt, wie sehr sie an ihm hing. Er sah immer noch so gut aus, seine Stimme war melodisch, allein wenn er redete, und seine Augen durchdringend. Eilig rannte sie zur Mensa und beruhigte ihren Atem, während sie anstand. Sie kam sowas von zu spät, aber egal. Sie hatte Timothy gesehen, was sie mehr als freute, und … sie hatte DAS gesehen. Timothy hatte sich ein Foto angesehen, auf der er und eine weitere Person zu sehen war, die Timothy ein Eis hinhielt. Sie wusste nicht, was schlimmer war. Die Person auf dem Foto neben Timothy oder die Plattform auf der sie es gesehen hatte. Ein Blick zur Schlange sagte ihr, dass sie noch nicht dran war. Gut, dachte sie und zückte ihr Handy. Den Alias kannte sie nicht, aber das Profilbild. Zwei Versuche später hatte sie es gefunden. Der Name, das Bild … ihr kam die Galle hoch. Sie scrollte seine Posts durch, ehe ein unfreundliches Räuspern sie aus ihren Gedanken riss. Schnell bezahlt und das Essen verstaut, wollte sie gehen. Sie war spät dran und konnte sich jetzt nicht mit „dieser Person“ beschäftigen. Sie war sogar gewillt, das Thema vorerst fallen zu lassen. Wenn da nicht sie Sache mit dem Zufall wäre. Dort … nahe am Ausgang … nur wenige Meter von ihr entfernt, saß ihre selbst ernannte Nemesis und lachte. Was fiel ihm ein?! Was erlaubte er sich!? Jasmine wusste, dass es keine gute Idee war, hier eine Szene zu machen. Aber ihre Beine waren schneller als sie. Ihre Hand schlug hart auf den Tisch und verschaffte ihr die Aufmerksamkeit aller am Tisch Sitzenden, sowie von ein, zwei Tischen drum herum. „Was fällt dir eigentlich ein? Kümmere dich um deine Angelegenheiten und zieh andere nicht mit rein“, entkam es ihr wütender, als sie gedacht hatte. Ein Teil von ihr wusste, dass es falsch war, ihn so anzumachen. Timothy mochte diesen Architekten, warum auch immer. Er würde es nicht gutheißen, wenn er sie hier sehen würde. Aber … sie konnte nicht anders. Timothy war immer noch ihr ein und alles. Ein Sänger, eine Person, die sie verehrte! Wie konnte Mikael es wagen, ein Bild mit sich und Timothy auf seiner Instagram Seite zu posten? „‘Tschuldige. Wer bist du?“, fragte einer der anderen zwei Dödel am Tisch. Sicher auch ein Architekt oder was ähnlich Nutzloses. „Schon gut“, meinte Mikael zu seinem Freund und sah Jasmine ruhig an. „Und was genau soll ich getan haben?“ Gott! Seine Haltung war so arrogant, seine Stimme so unschuldig! Als wüsste er es nicht. Jasmine atmete kurz durch und lehnte sich ihm entgegen. „Mir ist es scheiß egal, ob du ein Insta Account hast oder nicht. Gott, ich hätte dir nicht mal zugetraut zu wissen, wie man damit umgeht. Aber egal. Poste was du willst über dein langweiliges Leben, aber lasse Timothy da raus. Er hat größeres vor als du. Er will Sänger werden und muss auf sein Image achten. Stell nicht so unbedarft Fotos von ihm rein, wenn ihr euch nicht mal vertragen könnt.“ Jasmine sah zu, wie die Farbe aus Mikaels Gesicht wich. Richtig so. Sollte ihm seine Tat bewusst werden. Zufrieden schnaubte sie und machte auf dem Absatz kehrt. Verdammt, sie kam so was von zu spät! ~*~ Der Tag war angenehm warm. Um die Mittagszeit war es besonders ruhig auf dem Campus. Die meisten saßen in der Mensa oder aßen an den belebteren Orten des Geländes. Dieses kleine Wäldchen hingegen, war wenig besucht, weil es zu weit vom allgemeinen Trubel entfernt lag. Timothy sah immer noch auf sein Handy. Amüsiert darüber, welches Foto er als nächstes reinstellen sollte. Aber gemach. Mikael selbst war sicherlich niemand, der täglich postete oder seinen Account sehr pflegte. Wenn er alle paar Tage ein Foto postete, reichte das vollkommen aus. Zudem hatte Timothy nie vor alle seine Fotos, die er von Mikael hatte, reinzustellen. Mikael war seins alleine. Warum er all das tat? Ein hehres Ziel brauchte selbige Maßnahmen. Zunächst hatte Timothy Mikael nicht davon erzählen wollen. Aber selbst jemand wie er ließ sich bekehren. Jamils Vorsicht und seine Anmerkungen, wie Mikael reagieren könnte, sollte er auf falschem Wege davon erfahren, ließen Timothy seinen Plan ändern. In ein paar Tagen würde er ihm davon erzählen, hatte er zu Jamil gesagt. Das war eine Woche her. Seine Freude dämpfte sich etwas. Erst hatte Timothy es an den Klickzahlen festmachen wollen, dann an den Followern. Einfach um Mikael etwas zu bieten und seine Aktion zu beweisen, zu rechtfertigen. Warum? Sonst war er nicht so vorsichtig mit seinen Aktionen und die Reaktionen von anderen waren ihm egal, denn am Ende würde alles so fallen, wie er es geplant hatte. Warum hatte er sich dann bisher nicht getraut Mikael davon zu erzählen? Genau genommen war es irrsinnig von ihm gewesen, Mikael ein Instagram Profil zu erstellen, ohne ihn zu fragen. Andere würden Fragen, ob er sie noch alle hatte oder was mit ihm nicht stimmte. Erstaunlicher Weise hatte Timothy darauf keine Antwort. Er hatte ein Ziel und dieses Profil war nur ein Schritt dorthin. Vielleicht war er wirklich etwas Irre geworden mit den Jahren… Timothy sah erneut auf sein Handy und öffnete ein anderes Bild. Mikael, wie er versuchte einen Döner zu essen und sich dabei die Soße bis an die Wangenknochen schmierte. Es war einer der wenigen Tage gewesen, an denen Timothy ihn zu „nicht selbst gekochten, gesunden“ Essen verführen konn- Das Handy aus der Hand gerissen, sah er auf. Mikael stand vor ihm. Er hatte ihn gar nicht kommen hören… War er so in Gedanken gewesen? Warte nein. Warum riss Mikael ihm das Handy weg? Timothys Gedanken ratterten im Akkord, während seine Augen Mikael musterten. Das blasse Gesicht, die tief gezogenen Augenbrauen, der sanfte Rotschimmer der Haare, die sein Gesicht umrahmten, das bittere Lächeln, dass ihn traf und versteinerte. Mikael ließ das Handy auf Timothys Schoß fallen und ging. Er sagte kein Wort, tobte nicht. Er ging einfach. Es war lange, sehr lange her, dass Timothy das Gefühl von Panik zuletzt in sich gespürt hatte. Dass ihm etwas entglitt, dass er so unbedingt festhalten wollte. Seine Augen weit offen und sein Mund trocken. Er sprang auf, griff seine Habseligkeiten und rannte Mikael hinterher. Kapitel 13: Komm zu mir ----------------------- Kapitel 13: Da war es wieder. Das Gefühl in kaltes Wasser getaucht zu werden und zu versinken. Immer weiter. Immer weiter. Eben noch hatte ich darüber nachgedacht, dass es seltsam war, Blicke zu ernten, wenn Timothy nicht bei mir war. Dass Mädels kicherten, wenn sie zu zweit irgendwo langgingen, hatte ich darauf geschoben, dass ich neben Timothy her ging. Immerhin hatte dieser einen Fanclub und da war das eine berechtigte Annahme. Doch eben hatte ich alleine angestanden, Marvin hinter mir. Wir unterhielten uns normal, machten nicht mal einen Witz. Warum lächelte das Mädel mich an? Hatte ich etwas im Gesicht? Sicherlich bildete ich es mich nur ein. Es war fast so wie damals, als ich selbst noch einen Fanclub hatte. Nervtötend, wenngleich mich heute keiner Ansprach und ein Autogramm wollte. Wahrscheinlich war diese Überempfindlichkeit noch eine Macke von früher, als es verständlich war, dass ich angelächelt wurde. Es war nicht verletzend, aber seltsam. Mir war, als würde ich etwas übersehen. Etwas sehr Wichtiges, nur kam ich nicht drauf. Seufzend stellte ich mein Tablett mit Essen auf den Tisch und ließ mich auf den Stuhl fallen. „Was los?“, fragte Fred, der bereits saß. „Hast du ein neues Parfüm oder dich in einer Vorlesung daneben benommen?“, fragte Marvin, der sich ebenfalls setzte. „Weder noch. Ich kenn die nicht mal“, erklärte ich ernüchternd. „Habe ich irgendwo Klopapier zu hängen?“ „Nope, habe nichts gesehen“, sagte Marvin, als hätte er tatsächlich darauf geachtet. Ich lächelte gequält und begann zu essen. Vielleicht wüsste Timothy etwas. Immerhin steckte er seine Nase in alle möglichen Dinge und seine Informationen zu dem, was auf dem Campus vor sich ging, waren erstaunlich genau. Woher auch immer er all das wusste. Manchmal war ich froh über sein Wissen, manchmal seltsam stolz, aber öfter als normal nervte er mich damit. Wenn man nicht aufpasste, stellte er aus Langeweile irgendwas an, was andere ausbaden durften. Nayla teilte diesbezüglich ihr Leid beim letzten Grillen mit mir. Timothys kleine Verschwörungen, Scherze, Aktionen. Ob nun in der Schule, im Heim oder hier im Studium. Niemand schien verschont zu bleiben, selbst Dozenten und Lehrer nicht. Sie hatten mein ehrliches Mitleid und mit einem Seitenblick zu Timothy fragte ich mich damals schon, wann ich mich damit rumschlagen müsste. Laut den anderen, war Timothy erstaunlich ruhig in den letzten Monaten. Fast wie die Ruhe vor einen großen Sturm. Meine Gedanken wurden unterbrochen, als eine Hand auf unseren Tisch geknallt wurde. Fred, Marvin und ich sahen gleichermaßen erstaunt auf. Jasmine stand vor uns und sah erbost zu mir runter. Da hatten wir den Sturm ja schon, dachte ich beiläufig. „Was fällt dir eigentlich ein? Kümmere dich um deine Angelegenheiten und zieh andere nicht mit rein“, fauchte sie mich an. „‘Tschuldige. Wer bist du?“, fragte Fred und erntete einen giftigen Seitenblick, der ihn verstummen ließ. Sein Mut in allen Ehren, aber mit Frauen, wenn sie sauer waren, legte man sich besser nicht an. Eigentlich hatte ich gedacht, wir verstünden uns ganz gut. Bis auf die Sache mit dem Kuss, den sie Timothy gestohlen hatte, wovon aber nur ich wusste. Es wurmte mich im Nachhinein immer noch, aber ich war fest entschlossen, diese Sache zu vergessen. Immerhin hatte sie den Korb und ich Timothy bekommen. „Schon gut“, meinte ich und sah Jasmine ruhig an. Brachte ja nichts auch aus der Haut zu fahren, nicht? „Und was genau soll ich getan haben?“ „Mir ist es scheiß egal, ob du ein Insta Account hast oder nicht. Gott, ich hätte dir nicht mal zugetraut zu wissen, wie man damit umgeht. Aber egal. Poste was du willst über dein langweiliges Leben, aber halte Timothy da raus. Er hat größeres vor als du. Er will Sänger werden und muss auf sein Image achten. Stell nicht so unbedarft Fotos von ihm rein, wenn ihr euch nicht mal vertragen könnt.“ Ich saß einfach da und fühlte wie meine Finger kalt wurden und sich mein Magen umdrehte. Ihre Verachtung war mir egal, aber diese Anklage, für etwas, dass ich nicht getan hatte, schleuderte mich sofort sechs Jahre zurück. Ich war nicht erwachsener geworden, ich hatte nur vergessen wie schrecklich alles gewesen war. Ein eisiger Schauer rollte mir den Rücken runter. Ich bemerkte nicht mal, dass sie bereits gegangen war. Die Stimmen meiner Kommilitonen drangen nur gedämpft zu mir. „Was will sie?“, fragte Marvin. „Er kann posten, was er will. Wenn Timothy nicht will, dass man ihn sieht, muss er es sagen. Oder gar nicht erst Fotos mit Mik machen“, erwiderte Fred und zuckte mit den Schultern. „Aber was meint sie überhaupt?“, fragte Marvin nach. Eine Frage, die ich mir auch stellte. Es beruhigte mich etwas, dass diese beiden auch nichts wuss- „Das Foto is‘ strunz normal. Nichts womit man sich seine Karriere irgendwie versauen könnte. Eher verwirrend für alle, die die beiden vom Campus kennen“, ergänzte Marvin nachdenklich, aber nicht besorgt. Seine Worte waren wie ein nasser Lappen mitten ins Gesicht. Wie eingefroren saß ich da. Sie… wussten, wovon Jasmine gesprochen hatte?! „Eben. Es sind normale Fotos eines normalen Studenten. Was ist daran schon verwerflich? Oder hast du sie irgendwie verärgert?“, fragte Fred und sah mich fragend an. Ich hob meinen Kopf kaum merklich an und versuchte gefasst zu bleiben. „Ihr wisst, wovon sie redet?“, fragte ich erstaunlich ruhig, dafür, dass ich innerlich fast auseinanderbrach. „Von deinem Instagram Account“, sagte Marvin, als sei es nicht genug gewesen, dass Jasmine es einmal erwähnt hatte. „Meinem … was?“ „…“ Ich sah beide an und scheinbar bemerkten sie meine Anspannung. Marvin legte seine Gabel nieder und Fred hob beschwichtigend die Hände, wusste aber nicht, wie er anfangen sollte. Warum sollte ich auf Instagram sein? Ich!!! Ich habe bis vor drei Wochen sogar vehement verneint mit ihnen zum Karaoke zu gehen und oft genug gesagt, dass ich nichts von diesen Medienmist halte. Warum?! „Mik, sorry, wir dachten du hättest deine Meinung geändert“, begann Fred. „Ja, du sagst zwar, dass du die sozialen Medien nicht magst, aber als wir das gesehen haben, haben wir uns nichts bei gedacht“, ergänzte Marvin. „Deine Antworten waren auch wie immer, also…“ Meine Antworten? Hieß das, dass sich jemand für mich ausgab? Beim Gedanken daran lief es mir eiskalt den Rücken runter und mein Puls schnellte nach oben. „Wenn es nicht dein Account ist, wurdest du vielleicht gehakt. Sollen wir zur Polizei gehen?“, fragte Fred, aber seine Fürsorge erreichte mich nicht. Ich stand bereits, griff gerade noch so nach meiner Tasche und ließ den Rest stehen. Ich hatte nicht viele Bekanntschaften auf dem Campus. Nicht viele Leute, die ich an mich ranließ und noch weniger, die mich gut genug kannten, um für mich antworten zu können, ohne dass auffallen würde, dass nicht ich es war, der schrieb. Aber … Warum? Warum sollte er etwas derart Mieses und Verräterisches tun? Nein, warte… ich wollte niemanden beschuldigen, ehe ich nicht wirklich wusste, was vor sich ging. Aber … es war so eindeutig! Und es war schwer zwischen all der Panik, der Kälte, der Angst und der Wut, die in mir tobten, einen klaren Gedanken zu fassen. Jetzt, wo ich mich bewegte, wusste ich nicht, wie ich eben noch so ruhig hatte bleiben können. Mein Atem war zu schnell und mir war schlecht. Mein Gang war hektisch. Keine Ahnung, ob andere das seltsam fanden. Es gab immer mal Studenten, die warum auch immer, über den Campus rannten und ich hatte ein klares Ziel vor Augen. Mein erstes Anlaufort war ein Volltreffer. Am Wäldchen angekommen, fand ich Timothy an seinem üblichen Platz. Unbekümmert saß er da und sah auf sein Handy. Ich griff es mir und sah ein Bild von mir. Sicher, ich wusste, dass er Fotos machte. Er war mein Freund, verdammt! Da war mir das egal. Mit schnellen Fingerbewegungen hatte ich das Foto geschlossen und öffnete Instagram auf seinem Handy. Ich wusste, dass er sich auf allen möglichen Seiten rumtrieb. Instagram war eine der weniger dubiosen. Ich sah seinen Account. Alles wie gewohnt. Dann tippte ich etwas weiter rum. Nur weil ich es nicht nutzte, hieß es nicht, dass ich nicht wusste, wie man damit umging. Timothy ließ mich auf sein Handy sehen, wenn wir zu zweit waren. Es sei denn, er plante etwas, dann legte er es schnell weg, oder schloss die Anwendung. Als ich mir einmal meine Fotos in seiner Galerie angesehen hatte, hatte ich bemerkt, dass hoch geladene Fotos einen Extraordner in der Galerie bekamen. Dort sah ich es. Fotos. Viele. Szenen, die ich kannte, die aber nicht im üblichen Ordner waren oder seinen Account. Ich ließ das Handy fallen und ging. Meine Beine kamen mir schwer vor, aber mit jedem Schritt wurde ich schneller. Mein Kopf war leer. Ich wusste nicht, ob ich wütend, verletzt oder traurig war. Mir war übel. Ich kam an meiner Haustür an und öffnete sie. Abwesend ging ich in die Wohnung und blieb dann einfach stehen. Langsam schloss sich die Tür hinter mir und ich sah nach oben, ließ meinen Kopf schwer in den Nacken fallen und hielt meine Tränen zurück. Natürlich war er mir gefolgt. Wie üblich spürte ich seinen Blick auf mir und diesmal brannte er regelrecht. „Mi-“ „Warum?“, fragte ich kratzig. „Ich wollt’s dir sagen.“ „Hast du aber nicht!“, blaffte ich ihn an und drehte mich zu ihm um. Timothy stand vor mir und sah zum ersten Mal hilflos aus. Aber ich war viel zu wütend, um auf seine Befindlichkeiten zu achten. „Hast du bei Instagram einen Account von mir erstellt?“ „…“ Die Antwort zog sich, aber schließlich. „Ja.“ Ich schnaufte abfällig und begann unruhig hin und her zu laufen. „Hast du sie noch alle?! Du weißt, wie sehr ich das alles nicht leiden kann. Du weißt, was passiert ist und warum ich das nicht will.“ „Eben darum ja. Aber Mik-“ „Nichts ‚Aber‘! Ich habe dir gesagt, misch dich da nicht ein! Aber nein, der Herr macht was er will und scheißt auf Regeln und Bitten. Selbst dann, wenn sein Freund ihm sagt, er soll verdammt noch mal die Finger davon lassen!“ Ich wurde immer lauter, aber Timothy blieb ruhig. Warum blieb er so verdammt ruhig?! „Du bist sauer, verständlich, aber lass mich dir erklä-“ „Natürlich bin ich ‚sauer‘. Was denkst du denn? Dass ich mich freuen würde, dass man mich wieder in die Öffentlichkeit stellt? Dass ich gerne im Unklaren gelassen werde und mich von dahergelaufenen Idioten beschimpfen lasse?“ „Wer beschimpft dich?“, fragte Timothy und seine Augen blitzten kurz auf. Ich schnaufte abfällig auf seine aufblühende, beschützende Art hin. „Interessiert es dich?“, fragte ich höhnisch. „Als ob deine Aktion in irgendeiner Weise anders wäre, als öffentlich beschimpft zu werden. Für Dinge, die nicht ich gemacht habe.“ Ich stöhnte verärgert auf, blieb stehen und fuhr mir durchs Gesicht. „Beende das“, forderte ich. „Nein, Mik, dass ist-“ „Ich sagte, beende das!“, wiederholte ich lauter. Frustrierter. Verdammt! Wollte er denn nicht verstehen? Gerade war alles gut, alles heile. Irgendwie. Es war nicht perfekt, sicher, aber es fühlte sich fast so an. Kein Druck, kein Schauspiel, keine Fehler. Timothy als festen Freund, der mir den letzten Nerv raubte und nach dem ich mich zugleich so unendlich sehnte. „Lass es mich doch erst erklären!“, konterte Timothy ebenso laut. Sein Blick und seine Stimme durchsetzt von Frust. Ich holte Luft. Die Wut stieg mir zu Kopf und was ich auf der Zunge hatte, würde ihn verletzen, aber das war mir egal. Ich wollte meine Ruhe, ich wollte nicht singen, kein Star sein. Das alles wusste er und trotzdem tat er sowas! Aber bevor ich Dinge sagen konnte, die mir später definitiv leid getan hätten, klingelte es. Ich stockte. Timothy ebenso. Niemand bewegte sich. Es klingelte erneut. Timothy fing sich als erster und ging zur Tür. Erst nachdem es ein drittes Mal geklingelt hatte, öffnete er die Tür. Marvin und Fred standen mit besorgten Gesichtern davor und wunderten sich Timothy in der Tür zu sehen. Aber dieser hatte die Tür weit genug geöffnet, sodass beide Kommilitonen auch mich sehen konnten. „Ähm … Mikael, wegen eben-“ „Raus hier“, sagte ich unnachgiebig. Fred stockte in seinen Versuch sich zu erklären. Einen Schritt in die Wohnung zu tun, traute er sich gar nicht erst. Mein Blick glitt zu Timothy, er sah zurück und hielt mir stand. Trotzdem war er es, der den Blickkontakt abbrach und stumm hinaus ging. Die Tür hinter sich schließend, leise, zu sanft für das, was ich gerade fühlte. Frustriert gaben meine Beine nach und ich saß, wo ich eben gestanden hatte. Die Beine angezogen, die Arme um meinen Kopf gewickelt. Ich wollte schreien, aber das brachte nichts, also versuchte ich mich zusammenzuhalten so fest ich konnte. Unschlüssig saß ich im Wohnzimmer. Die Spannung von eben ließ langsam nach, mein Herz raste immer noch und drum herum setzte sich gemütlich, wie ein guter, alter Freund, die Schwere. Eine Mischung aus Angst, Furcht und Trauer. Meine Gedanken wurden träge, dann hörten sie gänzlich auf. Ich fühlte mich müde, war aber nicht in der Lage mich von der Stelle zu bewegen. Ich blieb sitzen, stumm, erschüttert, traurig, verletzt. Nach einer Weile, bewegte ich mich doch. Wie ferngesteuert ging ich in Richtung meines Zimmers. Aus den Augenwinkeln sah ich Papiere auf dem Küchentisch liegen. Stimmt, meine Hausarbeit. Ich musste sie Donnerstag abgeben, dachte ich mechanisch. Donnerstag… Ich nahm mein Handy und rief im Sekretariat an. Meine Stimme klang rau und matt. Ich musste mich nicht mal anstrengen Krank zu klingen. Eine Magenverstimmung vorschiebend, meldete ich mich bis Mittwoch ab. Danach machte ich mein Handy komplett aus. Ich tat diese paar Tage wenig. Vor allem dachte ich kaum etwas. Ich fühlte mich wie damals nach dem Interview, in welchem ich die Reporterin geschlagen hatte. Leer und ausgelaugt. Zu nichts mehr gut und nutzlos. Von der Welt vergessen. Meine Chance vertan. Es war erschreckend, wie schnell ich in dieses alte Loch, in dieses Muster zurückgefallen war. Wenngleich mein Kopf auf irgendeine trübselige Weise abgeschaltet hatte, funktionierten die grundlegenden Dinge noch recht gut. Essen, Trinken, Duschen, Toilette, Schlafen. Schuld an dieser Routine war Daniel. Nachdem er mich aufgenommen hatte, war ich wütend auf mich und alles andere. Ich schlug seine Hilfen aus, schrie ihn an und verfluchte alles. Nach ein paar Mal sah er mich ruhig an und sagte: „Wie du magst. Du weißt, wo die Küche und das Bad sind. Bediene dich, du bist hier Gast. Wenn du reden willst, komm zu mir.“ Damit ging er und ich hatte meine Ruhe. Endlich. Doch sein Nachsatz hallte noch Stunden in meinen Kopf wider. „Wenn du hier stirbst, bekomme ich das erst mit, wenn du am verwesen bist.“ Zunächst tat ich auch das als bloßes Ärgernis ab. Aber mit der Zeit bekam ich Hunger. Dann Durst. Beides ignorierte ich. Eine Toilette befand sich in der Nähe meines Zimmers, somit musst ich nie weit weg. Aber ohne Nahrung, fiel auch das weniger aus. Ich wurde müder, schwächer und hungriger. Am vierten Tag war mein Hirn so weit, dass ich die Wörter vor meinen Augen tanzen sehen konnte. „Niemand kommt und sieht nach dir.“ „Du wirst alleine sterben.“ „Erst wenn du ein Skelett bist, findet er dich.“ „Er meinte es nur gut.“ „Er wird nicht kommen.“ „Es ist deine Schuld.“ „Niemand kommt.“ „Deine Schuld.“ „Du musst den ersten Schritt tun.“ „Du wirst hier sterben.“ Nun, ich war stur und gab ungerne auf. Ich kämpfte mich durch, selbst wenn mein Trotz mich durch den größten Modder führte. Was mich daran am Meisten nervte, waren meine eigenen Gedanken. Irgendwann schrie ich ihnen entgegen, dass ich nicht sterben würde. Dass es nicht nur meine Schuld war. Dass alle verrotten könnten und ich niemanden brauchte. Dass es egal war, wenn niemand kam, ich niemanden interessierte. Dass es mir egal war, dass ich alleine war. Die Unwahrheiten und meinen Trotz ausgesprochen, setzte mein Hirn wieder ein. Ich ging zum Wasserhahn im Bad. Das Leitungswasser tat gut, aber ich war zu hastig und erbrach er fast sofort wieder. Verärgert über meinen unfähigen Körper, griff ich den Zahnputzbecher und füllte ihn mit Wasser. Wenn große Schlucke es nicht taten, dann eben kleine. Ein Mensch brauchte nur genügend Wasser zum Überleben! Zumindest für eine Weile. Ich dachte, wenn ich mit dem Wasser etwas an Stärke gewinnen könnte, schaffte ich es auch in die Küche. Fakt war: Ich wollte nicht sterben und ich würde nicht „so“ sterben. Ich fand meine Motivation weiter zu machen, zu leben und stur zu bleiben. Das Essen wurde täglich mehr und ich bewegte mich öfter durch das große Haus. Am liebsten nachts oder wenn Daniel nicht da war. Ich wollte nicht mit ihm reden oder ihn sehen. Noch sah ich erbärmlich aus und wenn er mich sah, wollte er sicherlich reden. Aber … ich wusste noch nichts. Meinen Willen zum Leben hatte ich gefunden, aber wie es weiter gehen sollte, wie ich ‚leben‘ wollte… davon hatte ich keine Ahnung. Heute war ich schlauer. Ich hatte zumindest den Plan als Architekt ruhig zu leben. Aber war das noch möglich? Egal. Nicht drüber nachdenken. Noch nicht. Erst Donnerstag. Genau. Erst dann… Ich gebe zu, ich war sehr deprimiert und verletzt. Wenngleich ich nicht über das Thema-welches nachdenken wollte, beschäftigte ich mich mit anderen Sachen. Sicherlich, alles lag nah beisammen, aber ich blendete es so gut ich konnte aus. Im Blind-durch-die-Gegend-gehen war ich sehr gut. Die Sache war die… Was Timothy getan hatte, verzieh ich ihm nicht. Es war seine Verantwortung und nicht meine. Vielleicht würde ich es Daniel erzählen, dann konnten sie sich miteinander darum streiten. Ich wollte damit nichts zu tun haben. Somit konzentrierte ich mich auf das Einzige, was nicht korrumpiert war. Mein Studium. Die Hausarbeit musste ich Donnerstag abgeben, sonst fiel ich durch. Ich musste auch bald die Seminare besuchen, damit niemand glaubte, es sei etwas. Seit ‚damals‘ wollte ich niemanden mehr auf der Tasche liegen. Oder besser gesagt, ich scheute es, mir nochmal an einem Tiefpunkt von jemand anderen helfen zu lassen. Es war ein Eingeständnis von Schwäche und als Mann vertrug mein Ego nicht allzu viel davon. Ich kam mit mir überein, dass ich wenigstens so tun wollte, als sei alles ok. Als sei ich stark genug, dass Problem von meiner Schulter zu wischen. Genau genommen, war nichts weiter passiert, außer dass meine Welt zusammengebrochen war. Hah! Das zweite Mal, wohl gemerkt. Also nahm ich einen imaginären Kleber und wickelte ihn um alles, was mich ausmachte. Es war nicht perfekt und tat immer noch weh, aber ich würde weiterleben und lernen können. Wie ich mit Timothy, Marvin, Fred oder sonst jemanden umgehen würde, wusste ich noch nicht. Erstmal wollte ich niemanden sehen, was ich durch meine kleine Krankmeldung geschafft hatte. Dann würde ich mit Scheuklappen vor den Augen raus gehen und schauen was mich erwartete. Woher ich die Motivation dafür nahm? Ich hatte keine. Es war schlicht … die Welt drehte sich weiter. Egal, ob ich im Haus bleiben würde, mich im Bett verkroch, mir das Leben nahm oder eine Bank ausraubte, diese beschissene, beschissene, beschissene Welt würde sich weiterdrehen. Ihr war es egal, ob jemand auf der Straße überfahren wurde, ob Kinder rauchten oder jemand im Park vergewaltigt wurde. Der Welt war es egal. Und mit Welt, meinte ich alles. Die Menschen, die Tiere, diesen sich verdammt nochmal ewig weiterdrehenden Planeten, das soziale Gefüge, alles. Das Schlimmste an niederschmetternden Erfahrungen war, zu sehen wie die Sonne aufging und ein schöner Tag seinen Lauf nahm. Es war wie Ironie, die auf das eigene Leid spukte. Das Gute an solchen Erfahrungen war, dass es irgendwann leichter wurde. Erträglicher und je nachdem, konnte man auch wieder lachen. So war der Lauf der Dinge. Hoch und Runter. Gut und Schlecht. Glück und Pech. Das bedeutete nicht, dass ich wieder ganz war. Dass ich alles vergessen und vergeben hatte. Oh nein. Ich wusste nicht mal, ob ich so etwas überhaupt verzeihen konnte. Der Donnerstag kam. Ich war geduscht, angezogen und sah bis auf ein paar Augenringe ganz ok aus. Ich schaltete mein Handy ein und ließ es auf lautlos. Es kamen einige Nachrichten, die ich weitestgehend ignorierte oder nur eine knappe Antwort auf wichtige Dinge schrieb. Timothy zählte ich nicht dazu. Ordnungsgemäß gab ich die Arbeit ab und hielt meine Ausrede mit der Magenverstimmung aufrecht. Mein Lächeln war schwach. Die Dozentin hatte mir nichts getan. Es wäre nicht fair sie anders als sonst zu behandeln. Durch meine Ausrede würde sie mein Benehmen schlicht auf mein Unwohlsein schieben. Ich wollte nicht riskieren, dass meine schlechte Laune meine Note gefährdete. Wer wusste schon, wie objektiv Dozenten benoteten. Auf dem Weg in meine nächste Vorlesung sah ich flüchtig auf mein Handy. Drei verpasste Anrufe von Daniel. Irgh… den wollte ich ja gar nicht sprechen. Ich verdrehte die Augen, aber just da rief er nochmals an. Also ging ich ran. Besser es gleich hinter mich bringen, als es ewig aufzuschieben. Die Erinnerung, wie ätzend er sein konnte, wenn er schmollte, reichte damit ich ranging. „Hi, Was gibt’s?“, fragte ich, so gut gelaunt wie ich konnte. Können wir reden?< 17:44 Wir können, dachte ich. Wir müssen aber nicht. Zudem hatte ich keine große Lust ihn zu sehen. Es reichte doch, wenn wir morgen in Recht nebeneinandersitzen würden. Ich hatte überlegt zu schwänzen, aber wie ich Timothy kannte, würde er nur noch mehr nerven, wenn er mich nicht einmal live gesehen hatte. Er war schließlich das Dramaqueen von uns beiden, mit dem Hang zur Selbstverletzung und ich traute ihm zu, dass er mir zutraute, dumme Sachen zu machen. Tss. Der Freitag kam schneller als mir lieb war. Ich machte die gleiche Routine wie jeden Morgen, aber meine Beine wurden schwerer und langsamer, je näher ich dem Vorlesungssaal kam. Ich war nicht bereit Timothy zu sehen. Meine blanke Wut war zwar verflogen, aber ich war immer noch sauer und verziehen hatte ich ihm auch nicht. Sofern er nicht mit der Nachricht kam, dass er alles gelöscht hatte oder alles nur ein schlechter Prank gewesen war, hatte ich ihm nichts zu sagen. Ich seufzte schwer und ging zu meinem Platz, wobei ich einige Studenten aufscheuchte, ehe ich mich setzen konnte. Timothy war da. Wie immer spürte ich seinen Blick auf mir, musternd, abwartend. Ich sah seinen Stift nervöser als sonst auf sein Blatt tippen, abgesehen davon, sah ich ihn nicht an oder begrüßte ihn. Ich sah auch nicht, wie die beiden Malerinnen hinter uns einen besorgten Blick austauschten. Selbst wenn, wäre es mir egal gewesen. Der Dozent kam, begrüßte alle und begann mit der Vorlesung. Als sie zu Ende war, packte ich schweigend meine Sachen zusammen und trat nach dem neben mir sitzenden Studenten hinaus. Es war mir nicht schwer gefallen ihn zu ignorieren. Ich war immer noch sauer genug. Aber es war schwerer geworden, je länger ich neben ihm gesessen hatte. Ich spürte seine Nähe, seine Blicke und hätte mich zu gerne an ihn gelehnt, aber ich konnte nicht. Timothy hatte Scheiße gebaut und sollte es auch zu spüren bekommen. Als ich den Raum verließ, drehte ich mich nicht um und das allein zog an meinem Herzen. Der Freitag verging so ereignislos wie das Wochenende darauf. Da ich meine Wohnung nicht verließ, hatte ich meine Ruhe. Ich hatte eigentlich mit Marvin und Fred gerechnet. Die beiden konnten es nicht lange ertragen, wenn dicke Luft herrschte. Aber sie kamen nicht. Der Grund war mir egal. Ich stürzte mich in mein Studium, lernte, kochte, probierte aus, was ich da hatte. Da ich nicht rausgehen wollte, aber eigentlich einkaufen musste, hatte ich nicht viel Auswahl. Sonntag schrieb Timothy erneut, dass wir reden sollten, aber ich ließ seine Nachricht, wie die beiden zuvor, ungelesen. Die neue Woche begann, der letzte Junitag verstrich. Dienstag, 1. Juli, Rechtsvorlesung. Die Sonne schien kräftig und heizte den Campus und die Gebäude auf. Jeder der konnte war froh in einem alten, kühlen Vorlesungssaal zu sitzen. Jedoch ahnte ich noch nicht, das mir bald eiskalt sein würde. Da es am Freitag gut gelaufen war, begann ich den Dienstag ebenso. Kurz vor Beginn betrat ich den Raum, scheuchte alle Studenten in der Reihe von meinem Sitz hoch, setzte mich und konzentrierte mich auf die Vorlesung. Ich spürte Timothys Blick. Ich spürte ihn immer. Es war als würde ein Eisblock über meine Haut gleiten und heiße Spuren zurücklassen. Für gewöhnlich mochte ich es, wenn er mich so ansah, genoss das Kribbeln. Für gewöhnlich. Ein paar Minuten nach Beginn wurde Timothy unruhig. Er raschelte mit seiner Kleidung und den Armbändern um sein Handgelenk. Ich hatte gesehen, dass er ein T-Shirt trug und die schwarze Stulpe über seinem rechten Unterarm. Darüber eine Uhr und ein Kettenarmband, aus großen Gliedern bestehend. Hätte ich ihn genau angesehen, wäre ich sicherlich mehr ins Schwärmen gekommen, aber ich war immer noch sauer. Als ich nicht reagierte, schob er seine Hand näher zu mir. Als sie zu nah kam, schob ich sie zurück. Die Berührung war kurz und flüchtig gewesen. Trotzdem kribbelten meine Fingerspitzen. Timothys Hand war kalt. Seine Hand wegzuschieben, reichte leider nicht aus, sie kam wieder. Machte Anstalten etwas in meinen Block schreiben zu wollen oder stupste meine Hand leicht an. Als seine Hand meine berühren wollte, reichte es mir. „Hast du es jetzt mal?!“, fauchte ich ihn an. Der ganze Saal war still. Ehe Timothy etwas hätte erwähnen können, räusperte sich der Dozent. „Porter, Ashline. Ruhe da oben.“ Ich brauchte einen Moment. Dummerweise hatte ich Timothy angesehen. Seit einer Woche hatte ich ihn nicht angesehen und im ersten Augenblick wollte mir das Herz aufgehen, ehe ich seinen erschrockenen Blick registrierte. Sicherlich… er musste ja auf seinen Ruf achten, schoss es mir giftig in den Kopf. Besser ich benahm mich artig und fiel nicht auf, wie? Ich sah zum Dozenten und hielt meinen Blick nach vorne gerichtet. Der Gedanke, dass selbst Timothy mich als Last sehen könnte, tat noch mehr weh, als Jasmines Worte. Es drückte mein Herz fest zusammen und es viel mir schwer ruhig zu atmen. Aber… er wusste doch wie ich war. Er kannte mich doch! Oder hatte ich mir das nur eingebildet? Wie war das nochmal mit ihm zu Streiten ohne es ernst zu meinen? Wie waren wir da gewesen? Timothy sagte nichts mehr. Sicher, er musste auf seinen Ruf achten. Scheiße… ich konnte mich nicht mehr auf Recht konzentrieren. Die Worte des Professors hörten sich dumpf und wie unter Wasser gesprochen an. Der Gedanke, dass Timothy denken könnte, dass ich lästig für seine Karriere sein könnte, setzte mir zu. Auch wenn ich bisher nicht über ihn nachgedacht hatte, hatte ich irgendwie angenommen, dass zwischen uns trotzdem alles war wie … naja, davor. Dass er mich schon verstehen würde und so. Dass das, was immer da zwischen uns war, stark genug war und alles zusammenhielt. Sein Blick ging mir nicht aus dem Kopf. War ich vielleicht doch zu unberechenbar, zu ungenau? Hatte ich mich nicht genug auf ihn eingelassen? Aber… nein, ich war doch sauer auf ihn. Er hatte etwas getan, was er für sich rechtfertigte. Warum durfte ich es dann nicht auf dieselbe Weise handhaben? Zunehmende Lautstärke riss mich aus meinen Gedanken. Die Vorlesung war vorbei und ich hatte nichts mitbekommen. Verwirrt blinzelte ich nach vorne, aber der Dozent war bereits gegangen. Die Reihen lichteten sich vor und hinter, sowie neben mir. Besser ich ging, dachte ich. Schweigend packte ich meine Sachen und schulterte meine Tasche. Ich war in keiner Verfassung jetzt mit Timothy ein Beziehungsgespräch zu führen oder generell über irgendwas zu reden. Ich wollte hier nur weg. „Warte“, kam es von hinter mir und ich blieb stehen. Etwas in seiner Stimme zog an meinem Herzen. Er klang geknickt, verletzt. Ein Teil in mir sorgte sich um Timothy. Ich wusste von seinen Neigungen und ich wollte nicht, dass er wegen mir in etwas reinrutschte und sich selbst verletzte. Aber… „Lass uns reden.“ Der Großteil von mir wollte einfach nur weglaufen. Wenn er verletzt war, weil ihm seine Aktion leid tat, dann war es nur rechtens. Ich selbst war in keiner Verfassung jemanden zu trösten! Warum konnte ich ihn dann nicht einfach ignorieren? „Was willst du noch reden? Du hast mir doch schon alles gezeigt.“ Woher ich die Kraft nahm ihn anzusehen, wusste ich nicht. Aber ich sah, dass meine Worte ihn trafen. Seine Augenbrauen verengten sich ein wenig und seine Lippen pressten sich mehr aufeinander. „Das verstehst du falsch“, erwiderte Timothy ruhig und sah mich an. „Hör mir zu. Du musst nicht mal was sagen, bi-“ „Ich finde, du hast deinen Standpunkt überaus deutlich gemacht!“, fauchte ich ihn an. Leiser als vorhin, aber immer noch verärgert genug. „Welchen Standpunkt?“, fragte Timothy skeptisch nach. „Ich dachte, es wäre ausreichend, sauer auf dich zu sein und dich zu ignorieren. Du hast verdammt noch mal Mist gebaut und ich habe keine Lust deinen ach so tollen Plan dahinter zu verstehen. Und da du es bist, wird es sicherlich einen Plan geben. Aber wenn du mich fertig machen wolltest, hättest du es auch anders haben können. Ich habe jedes Recht sauer zu sein.“ „Fertig machen- ...? Warum sollte ich das machen? Mik, verdreh das nicht.“ „Ich verdrehe hier gar nichts. Du mischst dich in mein Leben ein und ich habe dir mehr als einmal gesagt, ‚lass das sein‘. Du willst Sänger werden? Gut, mach das, aber zieh mich nicht mit rein. Ich werde artig sein und deinem Ruf nicht im Wege stehen. Benehme mich, wie die Randfigur, die ich bin. Meine Zeit ist lange vorbei, also lass-“ „Du stehst nicht im Weg und deine Zeit ist nicht vorbei“, unterbrach er mich. Seine Stimme sanft, bedacht sogar, aber auf so was achtete ich gerade nicht. Mit jedem Wort zog es mehr an dem, was ich die letzten Tage erfolgreich in mir verschlossen hatte. Die Frustration und die Zurückweisung wuchsen. Konnte er das nicht sehen?! „Sie ist es“, zischte ich, „Also lass mich mit deinem Kram in Ruhe.“ „Nein, Mik. Ist sie nicht. Du kannst noch mehr und du willst es auch.“ Seine so sacht gewählten Worte taten weh, weil sie stimmten. Leider hatte ich nicht die Kraft mich all dem noch mal zu stellen. Ich war zu ängstlich. „Hör auf damit“, forderte ich leise und ballte meine Hände zu Fäusten. „Dass ich es dir nicht gleich gesagt habe, tut mir leid, aber du kannst mehr.“ „Hör auf.“ „Deine Wut macht dich blind. Sei nicht wieder so kindisch und mach die Augen auf. Du bist ein sehr guter Sänger. Es ist nicht wie damals. Es ist nichts passiert. Nichts ist vorbei und niemand ist einfach nur eine Randfigur. Dass ich mir wünsche, mit d-“ „Hör auf mir deine Wünsche aufzubürden!“, rief ich und meine Faust flog. Der Schlag war dumpf, aber ich spürte ihn brennend auf meinen Knöcheln. Ich sah Timothys zur Seite gedrehtes Gesicht und die Rötung, die auf seiner Wange sichtbar wurde. Ich stockte und sah erschrocken zu Timothy. Unser Umgang war grob miteinander, ja, aber ich hatte ihn nie ernsthaft geschlagen. Nie vorgehabt ihm weh zu tun. Wie konnte mir nur die Hand so dermaßen ausrutschen? Als Timothy seinen Kopf langsam zu mir drehte, waren seine Augen düster und seine Mimik unlesbar. Mir lief ein kalter Schauer über den Rücken, aber ich konnte mich nicht bewegen. Nicht mal als seine Hand nach meinem Handgelenk griff und meine noch kribbelnde und geschlossene Faust ansah. „Wie du magst. Dann machen wir es eben so.“ Seine Stimme war kalt und unnachgiebig. Seine Hand umfasste mich fester. „Sei sauer, wüte, tobe, schrei, aber benimm dich nicht wie der letzte Trottel. Du bist laut und unfreundlich, gut. Sei wer du bist, zeig den Leuten, was ich kenne und lass alle Filter weg. Zeig ihnen, wie du bist und dann komm zu mir.“ Seine letzten Worte waren sanft, jedoch erreichte es nicht seinen Blick. Sein Daumen strich beruhigend über meine Haut, aber meine Faust war zu kalt geworden, als dass ich die Geste hätte fühlen können. Da Timothy nichts mehr sagte, riss ich meine Hand von ihm los und stürmte aus dem Vorlesungssaal. Ich sah mich nicht nochmal um, sah nicht sein sanftes Lächeln, während er sich an die geschlagene Wange fasste oder etwa, dass die Kunstmädels hinter uns noch da waren. Dass sie alles gesehen und gehört hatten und nun besorgte Fragen an Timothy stellten. Ich hatte nicht geglaubt noch tiefer fallen zu können, aber das war ein Irrtum. Auch wenn Timothy ein manipulatives Arschloch war, so war er mein fester Freund. Ich … ich vertraute ihm wie bisher noch keinem und auch wenn er dieses Vertrauen mit seiner Aktion tief erschüttert hatte, so hatte sich an meinen Gefühlen für ihn nichts geändert. Wie hatte ich ihn nur schlagen können? Wie hatte ich mich so vergessen können? Timothy war … er war mir wichtig. Nicht wie die Reporterin damals. Nicht wie Daniel, den ich mehrfach von mir stieß. Timothy war wie fester Boden unter den Füßen zu haben. Und nun stand ich auf einer wackligen Planke. Allein. Mir war kalt und ich hatte mich noch nie so sehr selbst gehasst. Im Flur bemerkte ich erstmals, wie mich fragende Blick verfolgten. Vielleicht, weil wir zum wiederholten Mal aufgefallen waren? Ich beruhigte meinen Schritt und versuchte selbiges mit meiner Atmung. Mein Herz raste immer noch. Erst nachdem ich eine Weile kopflos Richtung Mensa gegangen war, machte es klick. /Sei sauer, wüte, tobe, schrei, aber benimm dich nicht wie der letzte Trottel./ Timothys Worte hallten nach und sie brachten mich dazu nachzudenken, klarer zu sehen. Ich wurde langsamer und blieb ein paar Meter vor dem Eingang zur Mensa stehen. Es gab einen Unterschied zwischen den Blicken von Studenten, die an mir vorbei gingen und sich vielleicht fragten: „Warum bleibt der Idiot mitten im Weg stehen“, und denen auf deren Gesicht Interesse, klare Fragen und Neugierde zu sehen waren. Wie hatte ich das nicht sehen können? Fuck, rannte ich von einem Misthaufen in den Nächsten? Ich zwang mich zur Seite zu gehen, verschränkte die Arme und ließ meinen Blick schweifen. Innerlich war ich zum Zerreißen gespannt, aber nach außen gab ich mich betont ruhig. Allein meine Augenbrauen waren tiefergezogen als üblich und meine Fingerknöchel brannten noch etwas. Die Studenten gingen an mir vorbei. Viele beachteten mich nicht. Nur ab und an, fing ich einen Blick auf. Auf zehn Leute gerechnet, waren das vielleicht zwei, was bei der Masse an Studenten quasi nichts war. Ich beruhigte mich und setzte ich mich Richtung des nächsten Supermarktes in Bewegung. Mein Kühlschrank war nach wie vor leer und ich brauchte mehr frische Luft. In der Mensa waren zu viele Menschen. Eigentlich nichts was mich störte, da ich es gesellig mochte, aber ich brauchte diesen Moment für mich. /Sei wer du bist, zeig den Leuten, was ich kenne und lass alle Filter weg./ Seine Worte waren schwer zu verstehen, aber nach der ersten Erkenntnis fügten sich die Teile fast wie von selbst zusammen. Ich wusste noch immer nicht, warum Timothy mir einen Account erstellt hatte, aber dass ich noch immer unwissend war, war meine eigene Schuld. Er hatte mir oft genug angeboten zu reden, einfach zuzuhören, damit er sich erklären konnte. Aber sein augenscheinlicher Verrat hatte mich blind gemacht. Tss. Da brüstete ich mich damit, erwachsen geworden zu sein und machte die gleichen Fehler wie damals. Ich war so verletzt und engstirnig, dass ich nur noch mich sah und nicht zwischen Segen und Fluch unterscheiden konnte. Ich dachte zurück und fragte mich, wie Timothy immer noch so ruhig sein konnte. Zumindest glaubte ich, dass er ruhig gewesen war. Gott, ich war so dumm! Wie hatte ich nur denken können, dass ich eine Last für ihn war?! Es ging um Timothy! Dieser Mistkerl tat nichts ohne Grund. Selbst das Geschirr spülte er nur ab, um mich danach mit seinen Seifenfingern ärgern zu können! Wenn er einen Account erstellt hatte, hatte er etwas vor. Etwas das mir definitiv nicht gefiel, aber von dem nicht gesagt war, ob es Gut oder Schlecht sein würde. /Zeig ihnen wie du bist und dann komm zu mir./ Und er hielt immer noch an seinem Plan fest. Das hätte mir bewusst sein sollen! Dieses Insta-Ding lief noch und alle gingen davon aus, ich würde das sein. Ich hatte keine Ahnung was Timothy postete oder ob er derzeit überhaupt etwas hochlud, aber es würde sicherlich einen Knick in der Optik geben, wenn die Posts nicht zu meinem Benehmen in der Öffentlichkeit passten. Ich hasste ihn dafür, mir auf diese Weise die Hände zu binden und meine Freiheit einzuschränken. Schlimmer noch! Ich schlug ihn und er belehrte mich. Gab mir subtile Hinweise, lockte meinen Verstand aus seiner Umnachtung und er hatte Erfolg damit. Ich war so wütend auf ihn, mich, alles! Ich könnte im Boden versinken! Eilig tütete ich den Einkauf ein und ging zurück. Wütender denn je, dass ich mich so einfach von ihm lenken ließ. Daheim angekommen, verstaute ich den Einkauf und ging in mein Zimmer. Die Schachtel Zigaretten lag seit Timothys erster Übernachtung hier. Ich nahm eine Zigarette, stellte mich an mein geöffnetes Fenster und zündete den Glimmstängel an. Der erste Zug tat gut. Der nächste auch. Ich genoss die leicht benebelnde Wirkung vom Nikotin in meinen Kopf. Es beruhigte mich und brachte mich runter. Nach der zweiten Zigarette schloss ich das Fenster und zog die Vorhänge zu. Mit dem Handy in der Hand setzte ich mich auf mein Bett. /Komm zu mir./ Noch nicht, aber … so konnte ich es nicht stehen lassen. Ich wählte seine Nummer und wartete. Es klingelte länger, als ich erwartet hatte. Gerade als ich auflegen wollte, wurde der Hörer abgenommen und mich empfing Stille. Keine Begrüßung, kein Vorwurf, keine Stimme… Ich schluckte schwer. Ich konnte ihm nicht verübeln, wenn er sauer wegen des Schlages war. Nur machte diese Stille es mir nicht leichter und lag wie ein Stein auf meinem Herzen. „Tim?“, fragte ich vorsichtig nach. Von der anderen Seite kam ein zustimmendes Brummen. Es erleichterte mich für einen Atemzug, ihn zu hören, ehe meine Anspannung mich wieder hatte. Da er nichts sagte und mich nicht drängte, ließ ich mir Zeit und sammelte mich. Ich wollte die richtigen Worte finden, nachdem ich ihn geschlagen und stehen lassen hatte. „Der Schlag tut mir leid.“