Musik 4Y von mikifou (Diese eine Person, die...) ================================================================================ Kapitel 10: #MögendieSpielebeginnen ----------------------------------- Kapitel 10: Nachdem ich am Mittwoch mit Timothy gesprochen und unseren, nennen wir es Status, geklärt hatte, lief alles wie gewohnt weiter. Wir sahen uns nicht mehr als sonst und schrieben auch nicht mehr als vorher. Kurz gesagt, wir hingen es nicht an die große Glocke. Trotzdem glaubte ich nicht, dass niemand bemerken würde, wie wir miteinander umgingen. So etwa am Freitag, als ich zum Rechtsseminar ging. Kurz vor der alten, hölzernen Eingangstür zum Vorlesungsraum hielten mich zwei Kommilitoninnen auf. Sie waren Kunststudentinnen und wir kannten uns aus dem Rechtsseminar. Eigentlich kannten nur sie mich. Mir waren sie ehrlich gesagt noch nie aufgefallen. Das lag daran, dass der Großteil meiner Aufmerksamkeit auf Timothy und seinen Unsinn gerichtet gewesen war. Andererseits hätte ich die beiden nicht mal wahrgenommen, wenn Timothy nicht da gewesen wäre. Sie saßen nämlich hinter uns. Und wer achtete während einer Vorlesung schon auf die Person, die hinter einem saß? „Verzeih, falls du es eilig hast“, begann das eine Mädel. „Wir sitzen in Recht hinter dir und … naja, wir hatten etwas hin und her überlegt, aber wollten dir das hier dann doch geben.“ „Bitte nimm es an“, fügte das zweite Mädel hinzu und reichte mir ein A4-Blatt in einer Folie. Nickend, aber noch leicht verwirrt, was das hier werden sollte, nahm ich das Blatt mit der Rückseite nach oben entgegen. Zugleich trat jemand von hinten an uns heran und legte seinen Arm auf meiner Schulter ab. „Nanu? Sag nicht der Knirps bekommt eine Liebeserklärung“, sagte Timothy. Seine Stimme klang leicht und amüsiert, während seine Augen nichts davon widerspiegelten. Mein Herz stolperte beim Klang seiner Stimme so nah an meinem Ohr. Die beiden Mädels wurden indes sehr hibbelig und unterdrückten nur schwer ihre Freude über Timothys Erscheinen. Dass sie so quirlig wurden, nur weil er auftauchte, nervte mich etwas. Die Augen verdrehend, zuckte ich mit der Schulter und schenkte ihm einen genervten Blick über diese hinweg. „Runter von mir und kümmre dich um deinen Kram.“ „Nichts lieber als das, aber ich fürchte das wird nicht möglich sein.“ „Und warum bitte? Das interessiert dich sonst auch nicht.“ „Was denn, was denn? Sei nicht eifersüchtig. Das macht kleine Leute nur noch kleiner“, erwiderte Timothy mit einem amüsierten Grinsen im Gesicht. Diesmal war es echt. Es stimmte mich milder. Ich bildete mir ein, dass sein richtiges Lächeln von nun an mir vorbehalten war und dass er sich nur einmischte, weil er eifersüchtig, neugierig oder beides war. „Oder darf ich nicht wissen, was du hier treibst?“ Als ob ich das hätte geheim halten wollen oder können, dachte ich schnippisch. Das eine Mädel fasste sich ein Herz und trat etwas näher an uns heran. Zugleich lehnte sich Timothy ein wenig mehr auf mich. Er musste lässig wirken, mutmaßte ich. Kein Wunder also, dass sie ihm näherkommen wollte oder dass mein Herz noch etwas schneller schlug, weil ich mehr von seinem Gewicht spürte. Mehr Nähe fühlte. „Wir … wir sitzen in Recht hinter euch und haben letztens ein Bild von euch gemalt“, begann sie Timothy zu erzählen. „Wir wollten fragen, ob es ok für euch ist, wenn wir die Zeichnung in unsere Seminararbeit einfließen lassen.“ Bittend und ernst sah sie uns an. Ihre Wangen waren rot geworden, was ihr ziemlich gutstand. Ich entspannte mich etwas und auch Timothy war weniger misstrauisch. Er legte seinen Arm kumpelhaft um meinen Nacken, sodass seine Hand locker über meiner Schulter und Brust hing. Neugierig drehte ich das Blatt um. Ich hielt ein gezeichnetes Bild in Händen. Die Bleistiftlinien waren filigran und gekonnt gesetzt. Man erkannte sofort die Personen auf dem Bild. Timothy auf seinen Armen liegend und mich, wie ich meine Finger durch seine Haare gleiten ließ. Es war so real gezeichnet, dass ich sofort das Gefühl der weichen Zotteln zwischen meinen Fingern spürte. „Eigentlich seid ihr die ganze Zeit am Streiten, aber das war so süß. Wir konnten nicht anders“, erzählte das zweite Mädel, ebenfalls rot geworden. Ich blinzelte und studierte das Bild. „Ihr seid also Kunststudentinnen? Das ist wirklich … gut geworden“, sagte ich. „Wirklich?! Danke schön!“, sagte das erste Mädel. Beide wirkten sichtlich erleichtert. Timothy spannte seinen Arm etwas an, während sein Ton freudig und unbefangen klang. „Ihr habt wirklich ein sehr gutes Auge. Diese Mikrobe hier so detailreich einzufangen, zeugt wahrlich von Talent.“ „Hast du was gesagt?“, fragte ich mit genervtem Blick über meine Schulter und rollte das Blatt locker zusammen. Gott, ich musste so aufpassen nicht rot anzulaufen. „Habe ich?“ „Weiß nicht, hast du?“ Ich schüttelte seinen Arm ab und wandte mich ihm voll zu. Timothy neigte seinen Kopf und lächelte charmant. Mistkerl, dachte ich. Je öfter wir uns sahen, desto mehr Nuancen und Feinheiten fielen mir auf. Dinge so flüchtig und echt, dass sie mein Herz zum stolpern brachten. „Ist der Kleine etwa schüchtern und freut sich darüber, dass ich ein Bild von ihm gelobt habe?“ „HA! Als ob!“ Ich machte auf dem Absatz kehrt und ging in den Seminarraum. Leider hatte Timothy den Nagel auf den Kopf getroffen. Ich hätte nie erwartet, dass ein Bild von mir in einer so langweiligen Situation gezeichnet werden würde und ich sah trotzdem noch gut aus. Ich war hübsch, aber Timothy war gutaussehend! Zwischen uns gab es deutliche Unterschiede im Stil. Dass man ihn zeichnete war logisch. Eben, weil er auf dem Campus einen gewissen Ruf besaß. Aber mich? Auf dem Bild sah ich nach rechts und stützte mein Kinn auf meiner Hand ab. Trotzdem erfassten die Künstlerinnen genau, wie ich mich in jenem Moment gefühlt hatte und wie warm mir gewesen war. Ich behielt die Zeichnung und verwahrte sie für den Moment sicher in einem Ringblock in meinem Rucksack. Timothy belagerte mich während der Vorlesung immer wieder, ich solle ihm das Bild noch mal zeigen. Aber würde ich das machen, bekäme ich die Zeichnung wohl nie wieder und erhielt obendrein auch noch spöttische Kommentare. Nein, nein, ich konnte das Ego dieses Sängers nicht noch mehr pushen. Einmal schielte ich nach hinten und sah die Augen der Mädchen leuchten. Sie und Timothy hatten mir eindeutig zu viel Spaß an dieser Situation hier. Am Wochenende wurde ich zum Grillen in die Musiker-WG eingeladen. Keiner wusste, dass sich offiziell etwas zwischen Timothy und mir ergeben hatte. Dass wir, im Volksmund gesprochen, zusammen waren. Ich vermutete stark, dass es unserem Verhalten auch nicht gerade abzulesen war. Wir saßen nicht aufeinander, hielten Händchen oder schickten verliebte Blicke hin und her. Das Gegenteil war der Fall. Timothy nahm jegliche Möglichkeit wahr, mich zu triezen und zu schikanieren, dass es selbst mir zu viel wurde. Ich revanchierte mich auf die gleiche Art. Das hatte zur Folge, dass wir beim Essen soweit auseinandergesetzt wurden, wie es den anderen nur möglich war. Als ich es bemerkte, sah ich leicht verwundert zu Timothy und hob eine Augenbraue, ehe ich amüsiert meinen Kopf schüttelte. Er lächelte nur. Ehrlich und warmherzig. Es zeigte mir, wie sehr er die Menschen an diesem Tisch schätzte. Menschen, die viel mehr über ihn wussten als ich momentan. Nur, wie er seine Zuneigung anderen gegenüber ausdrückte, verstand ich immer besser als sie. Nach dem Essen ging ich nach Hause. Timothy hatte vor mich zu bringen, doch Nayla spannte ihn beim Abwasch ein. Es war schon etwas schade. Ich hätte ihn durchaus gerne nochmal geküsst, aber was nicht war, war eben nicht. Ich schenkte ihm ein wissendes, abschätziges Lächeln, winkte in die Runde und ging meiner Wege. Wie eine Beziehung zu laufen hatte, wusste ich nicht. Ich kannte nur die Norm, von der alle erzählten, wie eine Beziehung sein musste. Aber all das Geturtel und Geschmachte war nichts für mich. Vor allem nicht in der Öffentlichkeit. Was ging es die anderen an, wen ich mochte? Was musste ich meine Gefühle offenlegen, nur um mich zu profilieren? Ich fand es wichtig, dass Timothy und ich wussten, wer was für wen empfand. Wenn man es genau nahm, waren unsere ständigen Anschuldigungen, Streitereien und Beschimpfungen der beste Liebesbeweis, den wir im Moment finden konnten. Und es reichte vollkommen aus, dass wir uns gegenseitig verstanden. Der Dienstag kam und das Rechtsseminar war meine erste Vorlesung für diesen Tag. Ich packte gerade meinen Rucksack, als sich die Haustür öffnete und Timothy hereinkam. „Das ist eine Überraschung“, gestand ich und starrte ihn von der Couch aus an. Er schloss die Tür hinter sich und grinste frech. Mein Herz machte einen Saldo und tausende von Schmetterlingen wirbelten in meinem Bauch herum. „Nicht wahr? Wenn wir schon nicht gemeinsam Mittag essen können, dachte ich, ich hole dich ab. Zuvorkommend von mir, nicht?“ Er blieb am Eingang stehen und wartete, während ich mich von der Couch erhob und mit skeptischem Blick und kribbelnden Fingern auf ihn zu ging. „Wer sich selbst lobt, ist ziemlich selbstverliebt. Aber ich wusste bereits, wie narzisstisch du bist“, konterte ich und blieb vor ihm stehen. Sobald wir beide alleine waren, wurde die Anziehung zwischen uns beinahe greifbar. Ich hob meine Arme und legte sie langsam um seinen Nacken. Das Dunkelbraun erwiderte meinem Blick. Er kam mir näher und als ich den warmen Atem spüren konnte, schloss ich meine Augen. Der Kuss sollte simpel sein. Jedoch verlor ich mich keine zwei Sekunden später in dem brennenden Gefühl, welches die bloße Berührung unserer Lippen in mir auslöste. Ich zog mich an ihm hoch und forderte ein, was ich seit dem Grillabend hatte haben wollen. Timothy legte seine Arme um mich und erwiderte ebenso hitzig. Ich wollte nicht zurückweichen, selbst als die Luft knapp wurde. Widerwillig ließ ich den Kuss abebben, aber stahl mir zugleich kleinere Küsse von seinen Lippen. Selbst als er zu grinsen begann, wollte ich kein bisschen Nähe aufgeben. Ich spürte seinen Körper an meinen, sein Herz schlug schnell gegen meines und ich sah die Freude und das Verlangen in seinen Augen. Jetzt verstand ich auch warum er grinste und tat es ihm gleich. Ich musste genauso bescheuert aussehen, wie er gerade. „Hast du schon gefrühstückt?“, fragte ich ihn und strich eine seiner dunklen Strähnen hinter sein Ohr. Versuchsweise, denn sie hielten dort nie lange still. „Ja, gerade eben.“ Ich schnaufte und gab ihn einen Klaps auf den Hinterkopf. „Ich meinte ein richtiges.“ „Oh, bist du dazu schon bereit? Hmm, aber ich glaube, das wird zu knapp vor der Vorlesung“, sinnierte er. Es brauchte einen Moment, ehe es klick machte. Ich zog an den dunklen Zotteln und dirigierte seinen Kopf damit leicht nach hinten, aber sein dümmliches Grinsen blieb. „Wie du willst. Idiot.“ Ich stellte mich auf meine Zehenspitzen und zog mich zusätzlich an ihm hoch, nur um meine Zähne in seiner Halsbeuge zu versenken. Nachdem er überrascht, scharf Luft eingeatmet hatte, leckte ich über die Stelle und löste mich erst, als ein roter Fleck von Zähnen umrahmt seine Haut zierte. „Mik…“ „Ich habe auch gefrühstückt. Wir können los“, erwiderte ich trocken und löste mich von ihm. Meinen Rucksack holend, ließ ich ihn stehen und schielte von der Couch flüchtig rüber. Die Röte auf seinen Wangen war mehr geworden und sein sprachloses Gesicht gefiel mir durchaus. Grinsend streckte ich die Zunge heraus. Der Knutschfleck verschwand hinter Timothy Jackenkragen. Im Nachhinein war es besser so, dachte ich. Wenngleich es schade für mich war, da ich mein Werk nicht betrachten konnte, würde es ein zu großes Ärgernis werden, sollten die falschen Augen dieses Prunkstück erspähen. Indes erfüllte es mich mit äußerster Genugtuung zu beobachten, wie Timothy sich wiederholt an diese Stelle fasste. Es war das erste Seminar, in dem ich deutlich mehr Spaß hatte als Timothy. Nach dem Seminar verließen wir zusammen den Raum. Ich überlegte, wo wir hingehen könnten, um die wenigen Minuten auszunutzen, welche wir für heute noch hatten, während Timothy den Inhalt seines Handys studierte. Es nervte etwas, aber seine Miene hatte sich verdüstert, als er es kurz vor Schluss gezückt hatte. Wer auch immer geschrieben hatte oder was auch immer er tat, schien wichtig zu sein. Ich wartete schweigend und ging neben ihm her. Wir verließen das Gebäude und gingen noch ein paar Meter, ehe Timothy stehen blieb. Er seufzte schwer genervt und steckte sein Handy weg. „Was machst du-“, wollte ich fragen, ehe ich unterbrochen wurde. „Mikael! Timothy! Wartet mal!“ Da wir bereits standen, rührten wir uns nicht vom Fleck und drehten unsere Köpfe in die Richtung, aus der der Ruf gekommen war. Quer über den heiligen Rasen des Campus‘ kam eine Kommilitonin gerannt. Ich kannte sie nur vom Hören her. Sie war eine Freundin von Ramira, ebenfalls Tänzerin und im selben Tanzkurs wie Timothy (welchen er nur selten besucht, aber wundersamerweise trotzdem zu bestehen schien). Einmal hatte ich sie mit Ramira in der Mensa gesehen und beide gegrüßt. Es war seltsam, dass sie so aufgeregt auf uns zu kam. „Cool, danke“, sagte sie etwas außer Atem als sie uns erreichte. Sie legte sich eine Hand auf die Brust und atmete tief ein und aus, um ihren Atem zu regulieren. „Was gibt’s?“, fragte Timothy. Etwas an seinen Ton ließ mich zu ihm Aufsehen. Seine Mimik war normal, doch sein Ton klang kälter als sonst. „Ich wollte fragen, ob ihr Lust habt, heute mit zum Karaoke zu kommen.“ Ihre Fröhlichkeit war ungebrochen, während ich noch etwas verdattert zurücksah, antwortete Timothy bereits mit einem klaren „Nein.“ „Wirklich nicht? Heute gibt es Prozente und-“ „Ich verstehe ja, warum du Timothy fragst, aber warum sollte ich mit zum Karaoke kommen?“, fragte ich sie. Sie blinzelte beinahe niedlich, ehe sie lächelte und zur Antwort gab: „Aber du bist doch auch ein guter Sänger.“ Mir lief ein Schauer den Rücken hinab und ich spürte, wie meine Finger kalt wurden. Im Nachhinein betrachtet, hätte ich dieser Situation auch mit Redegewandtheit entkommen können. Jedoch erinnerte mich ihr schlichter Satz an eine unschöne Szene aus einem Interview, zu einer Zeit in der ich bereits darum gekämpft hatte Luft zu bekommen. Das beklemmende Gefühl von damals hatte mich sofort wieder im Griff. Statt ruhig zu bleiben und erstmal zu zuhören, fühlte ich mich gefangen. Eingeengt, nicht ausreichend, nicht präsentabel genug. Sicherlich wären sie enttäuscht, würde ich wirklich ein Mikrofon in die Hand nehmen und singen. „Als ihr zusammen gesungen habt, hörte sich das richtig gut an. Das wollte ich einfach mal Live erleben.“ „Mit Timothy zusammen?“, fragte ich monoton nach. Ich blamierte ihn doch nur! „Wir kommen nicht mit“, sagte Timothy derweil. Das Mädel legte ihren Kopf schief und schien so unbeholfen wie dumm zu sein. „Ramira war ein bisschen sauer auf dich, weil du wolltest, dass sie das Video von ihrer Seite nimmt. Es hatte so viele Klicks“, sagte sie schmollend. „Welches Video?“, fragte ich weiter mit starrem Blick und ballte meine eiskalten Finger zu Fäusten. „Oh, hast du das noch nicht gesehen?“, fragte sie unschuldig nach. „Ramira hatte ein kurzes Video, wie ihr zusammen gesungen habt. Das war richtig cool. Man erkannte zwar nicht wer das war, aber Timothy war deutlich rauszuhören und im Untertext stand: 'Ständig nur am Streiten, aber Singen können sie'. Ramira hat so von euch geschwärmt.“ Mein Blick flog zu Timothy. Ich war so angespannt, dass ich kaum reden konnte. Hunderte Fragen schwirrten durch meinen Kopf. Welches Video? Wer hatte das alles gesehen? Welcher Untertext? Wo war das Video zu sehen? Erkannte man mich wirklich nicht? Warum erfuhr ich erst jetzt davon?! Wusste Daniel davon? Timothys Blick war düster und verärgert. Er sah mich flüchtig an und ich schob meine Fragen auf. Schwer schluckend, wand ich mich von dem Mädel ab. „Ramira hätte fragen können, ob wir damit einverstanden sind, bevor sie das Video reinstellt. Darum habe ich sie gebeten es zu löschen. Wenn ihr die Klickzahlen lieber sind als Freunde, kann sie es gerne wieder reinstellen. Ich denke, das hatte ich ihr letztens schon deutlich genug gesagt. Wenn du uns jetzt entschuldigst. Wir haben noch was zu erledigen.“ Timothy machte auf den Absatz kehrt und wollte zurück ins Gebäude, aus welchem wir gerade gekommen waren. Da ich mich erst nicht bewegte, legte er mir seine Hand an den Hinterkopf und zog mich mit sich. Ich folgte ihm, ließ mich von ihm durch die schwere Eingangstür des Gebäudes schieben und ignorierte alle die uns passierten. Ihre verwirrten Blicke hätte ich sowieso nicht deuten können. War es, weil Timothy mich grob mit sich zog oder weil ich abwesend schien, oder weil Timothy schaute, als wollte er jemanden umbringen? Ich wurde durch noch eine Tür geschoben, die laut hinter mir ins Schloss fiel. Erst jetzt bemerkte ich, dass wir zurück im Rechtsseminarraum waren. Allerdings allein. Selbst der Dozent war bereits gegangen. „Es gibt ein Video?“, fragte ich schockiert nach. „Sie hat es denselben Abend noch reingestellt.“ „Das ist eine Woche her! Warum weiß ich davon nicht? Du wusstest doch davon. Warum hast du es mir nicht erzählt?!“ „Hätte es was gebracht, es dir zu erzählen?“ „Es ist besser es zu wissen, als es erst dann zu erfahren, wenn es schon die Runde gemacht hat!“ „Man konnte dich nicht erkennen. Allerdings war deine Stimme sehr gut zu hören. Darum wollte ich, dass sie es rausnimmt.“ „Klasse! Welche Plattform hat sie benutzt?“ „Unwichtig.“ „Sehr wichtig! Wenn es sich verbreitet und die falschen Leute es sehen…! Du hättest es mir gleich sagen sollen!“ „Warum? Kennst du dich mit dem Internet so gut aus, dass du alle Spuren eines Videos löschen kannst?“ „Nein … aber … ich könnte jemanden bitten, das für mich zu tun.“ „Das brauchst du nicht“, sagte Timothy erstaunlich sanft, was mich in meiner Panik etwas aus dem Takt brachte. „Wie meinst du das?“, fragte ich skeptisch nach und sah ihn erstmals richtig an. Sein Blick war nicht mehr kalt und mörderisch, sondern bedacht und vollkommen auf mich gerichtet. Die Panik wallte wieder auf. Es hätte mir klar sein müssen, dass die anderen darüber reden würden, wenn ich mit Timothy sang. Ein Architekt der so gut singen kann? Never! Aber ich war nachlässig gewesen. Nun gab es nicht nur die Mundpropaganda, sondern auch ein Video und Timothy war in all das bereits verwickelt worden! „Tim … wie meinst du das?“ „Ich habe mich um die meisten Einträge bereits gekümmert.“ „Wie … Du? Kennst du dich mit dem Technikkram aus?“ „Ist nicht sonderlich schwer, wenn man sich einmal eingelesen hat“, meinte er schulterzuckend. Ungläubig sah ich ihn einen Moment an. „Selbst wenn … du willst doch Musiker werden. Auf den Bühnen stehen und singen. Wenn man dich beim Hacken erwischt oder was auch immer du gemacht hast, kannst du das vergessen.“ „Ich werde aber nicht erwischt.“ „Das kannst du nie wissen“, sagte ich eindringlicher. „Du kannst nicht dafür sorgen, dass alles nach deinem Kopf läuft. Das wird nicht funktionieren. Irgendwas kommt immer dazwischen. Oder hat das mit dem zu tun, was du mir noch erzählen wolltest?“ „Du wechselst das Thema, Mik. Mein Problem ist gerade nicht wichtig.“ „Ist es wohl! Du willst doch Sänger werden und-“ „Und du willst das Singen wirklich aufgeben?“ Ich stockte. „Ich …“ „Mik. Ich erzähle dir noch von meinen Sachen, aber jetzt gerade will ich wissen, was damals vorgefallen ist.“ „Kennst du doch alles schon“, sagte ich und wand mich von ihm ab. Scharm und Pein krochen mir die Beine hinauf. „Ich kenne das, was im Netz kursiert. Die Seite der Medien. Aber das kann unmöglich alles gewesen sein.“ Ich drehte meinen Kopf weiter zur Seite, nur um ihn nicht ansehen zu müssen. Alles von damals war mir so peinlich und so erbärmlich und leider … auch nicht mehr zu ändern. So sollte mich mein nicht-mal-eine-Woche-alter fester Freund nicht sehen. Timothy stand in nur zwei Schritten vor mir und griff nach meinem Kinn, aber ich entzog mich ihm. „Du brauchst dich da nicht einzumischen!“, keifte ich ihn an. Seine Hand verweilte in der Luft. Er atmete langsam aus und ich spürte im nächsten Moment seine Hand an meinem Hals. Sie berührte mich sachte und glitt immer höher. Daumen und Zeigefinger waren gespreizt und gelegten sich unter meinen Kiefer. Gerade so, als wollte er mir Zeit geben mich doch noch abzuwenden, ehe ein forscher Ruck seiner Hand meinen Kopf anhob und ich nicht mehr wegsehen konnte. Ich starrte in dunkles, verärgertes Braun. „Wenn du dich weiterhin selbst belügen willst, nur zu. Aber versuche nicht mir weiß zu machen, dass du das Singen aufgeben willst. Verkaufe andere für Blöd“, begann er im erstaunlich ruhigen Ton. „Ich kenne dich mittlerweile gut genug, um mir das ein oder andere zusammenreimen zu können. Wenn du nicht willst, dass ich mich da einmische, gut. Aber dann sage das auch klar und deutlich. Bis du mir nicht direkt verboten hast, Dinge auf meine Weise zu handhaben, will ich wissen, was vorgefallen ist.“ Timothy endete mit einem scharfen Tonfall, jedoch war sein Blick etwas milder geworden. Seine Hand löste sich von meinem Kiefer und glitt langsam meinen Hals hinab. Ich sah weiterhin nach oben, fasziniert von der Person, die vor mir stand. Meine vorherige Panik, mischte sich mit der Angst ihn zu enttäuschen und der Ruhe, die seine Worte mir brachten. Es stimmte, dass ich mich seit damals hinter meinen Ängsten verkrochen hatte. Dass ich mir täglich Lügen erzählte, um mich nicht mit der unbequemen Wahrheit auseinander setzen zu müssen. Aber seit einer Weile spürte ich, dass es so nicht weiter gehen konnte. Ich wollte Musik machen. Seit ich fünf Jahre alt gewesen war, hatte ich nur Noten und Melodien im Kopf. Architektur war interessant, aber … ich wollte singen. Ich schluckte unbequem und holte Luft, ohne einmal meinen Blick abzuwenden. „Vor acht Jahren waren die sozialen Medien noch nicht so verbreitet wie heute. Vor allem war es nur als Hobby oder Freizeitnutzung im Gespräch. Aber an so was hatte ich kein Interesse. Eine Plattform auf der ich Stunden damit verbringe mir das Leben anderer anzusehen, war nur ein Zeitfresser. Ich brauchte jede Minute an den Instrumenten und um mir Texte und Melodien auszudenken. Woher hätte ich denn wissen sollen, dass dort getratscht wurde? Oder dass die Meinung von ein paar wenigen, alle anderen so sehr beeinflussen würden? Oder dass die Medien sich lieber an Skandalen beteiligten als die Wahrheit aufzudecken?“ Ich ließ meinen Kopf hängen und betrachtete unsere Schuhe. Für den Moment dachte ich nicht darüber nach, wie ich mich fühlte, es Timothy zu erzählen oder was dieser sagen würde, wenn er auch meine bemitleidenswerte Sichtweise erfuhr. „Meine Eltern waren mir keine Hilfe. Sie verstanden nicht unter welchem Druck ich stand. Mein Manager versuchte sein Bestes, verkannte aber die allgemeine Stimmung und meine Verfassung. Mit den anderen Sängern in meinem Alter hatte ich kaum Kontakt und keinen verlässlichen Freund, dem ich mich voll und ganz hätte anvertrauen können. Ich war überlastet mit den Meinungen von außen. Kritisierten sie meine Musik oder mich selbst? Das Erste was ich im Showbusiness gelernt hatte, war niemanden zu zeigen wie es mir wirklich ging. Man hatte mir verdeutlicht, dass es als unprofessionell galt und dass alle großen Stars ein Fernsehgesicht und ein privates Gesicht hatten. Zu Beginn gab ich wenig darauf. Aber als ich mehr Fans hatte und bei den Autogrammstunden nach einem Konzert zu hören bekam, was sie an mir mochten, wurde ich auf der Bühne mehr und mehr zu dem, was sie sehen wollten und nicht der, der ich bin. Als die Kritiken größer wurden, versuchte ich auf Teufel komm raus, der zu sein, den sie sehen wollten.“ Ich ließ meine Schultern hängen. Wie oft hatte ich vor dem Spiegel gestanden und mich nicht wiedererkannt, bis es mir egal war, wen ich vor mir sah? Ich verstand nicht, was falsch gelaufen war. Wann hatte ich einen Fehler gemacht? Welcher war der schwerste Fehler gewesen? „Eh ich mich versah, hatte ich mich selbst ins Aus geschossen. Im letzten Interview stellte die Moderatorin Fragen zu meiner Single und ich saß lächelnd und gut gelaunt auf ihrer Couch. Eigentlich hatte ich das Interview nicht geben wollen. Ich spürte jeden Blick auf mir und vermutete hinter jedem noch so gelangweilten Augenpaar eine Anschuldigung. Ich war seit Wochen angespannt, hatte kaum geschlafen und empfand mein letztes Lied als das Schlechteste, was ich je geschrieben hatte. Aber es war das, was die Fans wollten. Also lieferte ich, dachte ich.“ „Das habe ich gesehen“, sagte Timothy und ich sah auf. Natürlich hatte er es gesehen. Mein damaliger Ausraster wurde parodiert. „Ich fand ihre Fragen etwas unverschämt. Heute würdest du sie in Grund und Boden reden können.“ Ich blinzelte. Hatte ich mich verhört? Aber Timothy ließ sein nachdenkliches Gesicht fallen und schenkte mir ein warmes, wenngleich amüsiertes Lächeln. „Ach halt die Klappe!“, sagte ich trotzig und boxte ihn in den Oberarm. „Natürlich hast du gerade dieses Video gesehen! Tss. War mein Ausraster lustig anzusehen?“ Die Moderatorin hatte mir weitere Fragen zu meiner Fröhlichkeit gestellt, obwohl ich in den sozialen Medien einen Shitstorm hinter mir herzog. Ihre falsche Bewunderung machte mich unachtsam. Ich bedankte mich für ihre Aufmerksamkeit und fühlte mich gelobt für mein falsches Spiel. Zumindest bis sie mich fragte, ob an den Gerüchten, ich würde nicht selbst singen, etwas dran wäre. ‚Sie singen doch selbst, nicht wahr?‘, hatte sie gefragt. Ich hörte etwas in mir reißen und wusste, dass ich mich nicht gehen lassen durfte, um hier keinen weiteren Skandal loszutreten. Aber obwohl ich das dachte, war ich bereits aufgesprungen und hatte sie ins Gesicht geschlagen. Meine danach gewählten Worte waren harsch und voller Frust gewesen. „Ein bisschen“, gestand Timothy. „Gerade, wenn man dich, wie ich, jetzt erst kennengelernt hat, war dieser Ausraster einfach nur lächerlich.“ Sein Grinsen legte sich als er weitersprach. „Und danach? Es gab nur wenige Artikel. Das Meiste davon laß ich in den Fanforen. Aber selbst da legte sich nach einigen Wochen die Hetze und man fragte sich, wo du abgeblieben bist.“ Es klang fast so, als hätte Timothy sich Wochen an Einträgen in verschiedenen Foren durchgelesen. Wobei es hunderte von Einträgen an einem Tag in einem Forum geben konnte, wenn das Thema hitzig genug diskutiert wurde. Andererseits konnte ich auch nicht glauben, dass er seine Recherche halbherzig angegangen war. „Ein Bekannter hatte mich aufgenommen. Ich war so durcheinander, dass ich nicht mal meine Eltern sehen wollte. Er war es auch, der mir beim Ausstieg als Sänger, der Nachhilfe für eine Privatschule und meiner Immatrikulation geholfen hat.“ „Mhm“, brummte Timothy nachdenklich. „Und … wer ist das?“ „Den stell ich dir ein anderes Mal vor“, winkte ich ab. „Wichtiger ist, was wir wegen des Videos machen.“ Diesmal winkte Timothy ab, griff nach meinem Kinn und beugte sich zu einem Kuss herab. „Das Video ist lange runter. Mach dir keine Sorgen“, sagte er. Der Kuss beschwichtigte mich tatsächlich etwas, aber anders als vor sechs Jahren blieb ich auf der Hut. Nur weil das Video weg war, hieß es nicht, dass nicht mehr geredet wurde. Aber zu jenem Zeitpunkt stellte ich mir diese Frage noch nicht. Nach diesem katastrophalen Interview damals, brauchte ich einige Wochen, um überhaupt wieder klar zu kommen. Die Gespräche mit Daniel, ein Bekannter meiner Eltern, halfen mir und er verstand es auch, alle Medieneinflüsse, sogar die Tageszeitung, von mir fernzuhalten. Ohne wirklich mitzubekommen, was außerhalb von Daniels Haus, seinem Grundstück oder dem Zimmer, welches ich bewohnte, alles passierte, erholte ich mich. Nach zwei Monaten sprach ich das erste Mal mit meinen Eltern. Leider musste ich gestehen, dass ich nie wirklich mit ihnen warm geworden war. Als Kind, ja, da brauchte ich sie, denn sie holten mir jedes Instrument, das ich haben wollte und bezahlten meinen Musikunterricht. Aber nach meinem Debüt und vielleicht auch, weil ich mein eigenes Geld verdiente, brauchte ich sie nicht mehr. Mich hat es nie nach elterlicher Fürsorge gedürstet. Sie waren da. Ich war da. Das war es auch schon. Demnach verstand ich auch nicht, was sie mir sagen wollten, als sie mich bei Daniel besuchen kamen. Ihre Reue und Vorwürfe waren überdeutlich und wirkten auf mich wiederum wie gefälschte Gefühle. Sie sorgten sich um mich und verstanden nicht, was in mir vorging. Warum ich nicht nach Hause kam und lieber bei Daniel blieb. Ich hörte mir eine Weile an, was sie alles hätten anders machen können, wo sie hätten aktiver sein sollen. Doch ihr Blick war ebenso vernebelt gewesen wie der meine. Sie waren so stolz auf ihren Sohn, den Star, gewesen und folgten dem Manager mit blinden Vertrauen, als er meinte, ich machte mich gut und es gäbe keinen Grund zur Sorge. In meinen Ohren klang es schlichtweg falsch und heuchlerisch. Allerdings musste ich zugeben, dass unser Verhältnis nicht ihretwegen so schlecht war. Vielleicht hatte ich mich zu früh von ihnen losgesagt und nun fehlte mir ein Stückchen Vertrautheit, welches ich in jungen, vorpubertären Jahren noch hätte erlernen können. Es war wie es war. Meine Gedanken dazu waren unzählige Male im Kreis gewandert. Da ich mich kaum mehr an jene Monate erinnerte, war es schwer für mich, herauszufinden, wer die Hauptschuld trug. Falls es in all dem Chaos überhaupt einen Hauptschuldigen gab. Viel eher vermutete ich, dass es eine Verkettung unglücklicher Zufälle war, die sich auftürmten wie ein zerbrechliches Kartenhaus, dass schließlich in sich zusammenfiel. Daniel, mit vollem Namen Daniel Cuvert, schlug im Gespräch mit meinen Eltern vor, dass ich erstmal auf eine private Schule gehen sollte, raus aus dem Musikgeschäft und zur Ruhe kommen. Er wollte, dass ich mich finde und wieder so werde, wie vorher. Mir war es einerlei. Daniel und meine Eltern unterhielten sich darüber was zukünftig aus mir werden könnte. Im Nachhinein bin ich ihnen dankbar. Wer wusste schon, wo ich sonst heute wäre? Dank Timothys Worten drehte ich nicht gleich durch. Seit damals hatte sich einiges verändert. Ich war älter, hatte mehr erlebt und andere Sichtweisen kennengelernt. Ich lief nicht mehr blindlings in eine Richtung, sondern wog die Dinge ab. Zwar war ich zeitweise noch aufbrausend, aber nahm nicht mehr alles persönlich. Wenn ich an mein fünfzehnjähriges Ich zurückdachte, bemitleidete ich mich selbst für mein Verhalten. Ich hätte schlauer sein müssen, mich nicht so in eine Ecke drängen lassen dürfen. An guten Tagen verstand ich nicht mal, wie ich mich so hatte gehen lassen können. Es war vergleichbar mit dem Frosch, der in kalten Wasser sitzt und nicht merkt wie es immer heißer wird, bis es kocht und er stirbt. Alle Wenns, Hätte, Könnte, Sollte schwirrten in meinem Kopf herum, ehe es mir zu viel wurde und ich mir Musik anmachte. Die Lieder lenkten mich ab und ich begann nebenbei die Küche aufzuräumen. Ich wischte über die Arbeitsplatte und war fast fertig, als ein Lied begann, dass ich nicht erwartet hatte. Die Aufnahme von den Bandproben hatte sich in meine Playlist geschmuggelt. Ich hielt inne und lauschte. Mein Blick glitt zur Tür und ich stellte mir vor wie Timothy durch die Haustür kommen würde. In meinem Bauch bildete sich ein Kribbeln, dass bis in meine Finger wanderte. Schlimmer noch… ich wollte ihn sehen. Ich warf den Lappen in die Spüle und ging in mein Zimmer. Besser nicht, dachte ich. Würde ich ihn sehen, verlor ich meine Konzentration. Ich hatte einiges an Unikram zu erledigen und wenig Lust dazu. Aber alles war besser, als ins Netz zu schauen und das Gerede zu verfolgen, wenn es welches gab. Die Vorstellung das Ramiras Video kaum jemand gesehen haben könnte und von denen wiederum niemand so schnell geschalten hatte, um mich zu erkennen, war tröstlich. Aber nicht gerade realistisch. Das wäre mit Glück verbunden, von dem ich nicht viel hatte. Trotz meiner Befürchtungen geschah in den nächsten zwei Wochen nichts außerhalb der Norm. Ich spürte keine Blicke auf mir ruhen oder hörte Getuschel, wenn ich an anderen vorbei ging. Timothy sah ich im Seminar oder traf mich am Wochenende mit ihm. Er wirkte müde und wenn wir allein waren, lehnte er sich an und schloss die Augen. Dann… Es war Mittwoch und ich hatte mit Fred und Marvin zu Mittag in der Mensa gegessen, erhielt ich einen Anruf. Daniel war am anderen Ende. Seit meinem Bachelorabschluss hatte ich ihn weder gesehen noch gesprochen. Es war untypisch, dass er anrief, sofern keine Feier oder ein Problem anlag. Für gewöhnlich rief ich ihn an, wenn es mir besonders schlecht ging. Aber das war seit zwei Jahren nicht mehr der Fall gewesen. Gespannt hörte ich ihm zu. Daniels Stimme war ruhig, doch ich hörte eine leichte Sorge heraus. Er berichtete, von einem Video und dass dieses bereits wieder verschwunden war (dank Timothy). Leider war es weniger der Inhalt der Daniel aufstieß, sondern die darunter verlinkten Hashtags. Hashtags, so lernte ich, waren ein Graus, was anderen Usern ermöglichte ihre Interessen schnell zu finden und die Suche nach etwas oder jemanden in Medien wie Twitter, Instagram oder was es sonst noch gab, deutlich zu erleichtern. Unter dem originalen Video (Ramiras) stand nur Nonsens, wovon das Anstößigste #neueSänger? war. Aber wie gesagt, war das Glück nicht auf meiner Seite. Irgendein Nerd hatte genauer hingesehen, hatte vielleicht eine Ahnung gehabt, wusste was er tat oder hatte so lange recherchiert, bis er Antworten gefunden hatte. Wie auch immer, den genauen Verlauf hatte selbst Daniel mir nicht sagen können. Fakt war, dass es mindestens eine Person gegeben hatte, die dieses Video mit mir verknüpfte, es in ein altes Fan Forum stellte, ein Hashtag mit meinem Künstlernamen setzte und sich die Posts mehrten wie Mäuse die zum Käse liefen. Überraschenderweise wurde auch dieses Video nach nur einem Tag aus dem Forum gelöscht. Im Moment sei der Verlauf entspannt, sogar recht positiv, weswegen ich mir keine Sorgen machen sollte, fügte Daniel hinzu. Das meiste seien nur Spekulationen, wo ich abgeblieben war, ob ich je wieder Musik machen würde und dergleichen, aber scheinbar keine konkreten Fakten. Demnach war meine Identität als Architekturstudent sicher und ich musste kein Gerede auf dem Campus oder in den Seminaren fürchten. Die Vorstellung, dass es so sein könnte, dass mein altes Leben mich nach nur sechs Jahren wieder eingeholt hatte, war beängstigend. Innerlich fürchtete ich mich bereits vor dem, was mit kalten Händen aus den Tiefen des Internets versuchte nach mir zu greifen. Und dass nur, weil ich einmal, nur einmal (!), unachtsam gewesen war und singen wollte. Nach zehn Minuten war das Gespräch beendet und ich starrte eine Weile auf den Bildschirm meines Handys. Abschließend hatte Daniel gesagt: „Miki, du bist mittlerweile erwachsen und kannst tun und lassen was du willst. Wenn du singen willst, singe, wenn du Häuser bauen willst, baue Häuser. Ich wünsche mir nur, dass du das tust, was du wirklich machen willst.“ Ich hatte genickt, was er natürlich nicht sehen konnte. „Okay. Bis dann.“ Viel zu viele Frage und Emotionen wirbelten in mir herum, aber ich schob sie vorerst zur Seite, denn… mir waren zwei Dinge klar geworden. Erstens: Selbst, wenn ich Singen wollte, hielt ich mich selbst zurück, aus Angst, mir könnte das Gleiche nochmal passieren. Als Architekt war ich auf der sicheren Seite und noch traute ich mich nicht, dieses befestigte Ufer zu verlassen und auf das schwankende Schiff der Musik zu springen. Zweitens: Timothy tat weit mehr als nur ein Video löschen. Es war nur eine Ahnung, wie ein schlechtes Gefühl im Bauch. Aber wenn Timothy das erste Video hatte löschen können (ob direkt oder indirekt durch Ramira selbst), war ich mir ziemlich sicher, dass es ihm auch mit einem Unbekannten gelingen würde, der das Video ins Forum gestellt hatte. Was auch immer er tat, es machte mich wütend. Nichts davon hatte mit ihm zu tun. Oder lag es daran, dass er sich gerne in die Angelegenheiten von anderen einmischte? Wollte er deswegen mit mir gehen? Nein, das würde nicht passen. Auch wenn das reinstellen des ersten Videos vor unserer Aussprache geschah, so bezweifelte ich, dass Timothy unsere Beziehung dafür nutzte mich im Netz schlecht zu machen. Es war nicht seine Art und er brachte sich selbst in die Schusslinie, wenn herauskäme, dass er seine Finger im Spiel hatte. Zudem war ich mir sicher, dass er nichts tun würde, was ihm keinen persönlichen Vorteil einbrachte. In welcher Form auch immer. Timothy war zu schlau für Flüchtigkeitsfehler. Idiotischer Weise vertraute ich Timothy, was im Widerspruch zu der Wut stand, die in mir hochkochte. War ich auf ihn wütend oder auf jemand anderes? Ich hatte Marvin und Fred gesagt, dass ich etwas zu erledigen hätte und ließ sie in der Mensa zurück. Mit großen, eiligen Schritten ging ich zu den WGs. Mittlerweile kannte ich Timothys Wochenplan und sofern er nicht in der Bibliothek war, musste er zuhause sein. Wir texteten ein wenig mehr als vorher, aber sicherlich immer noch zu wenig für ein frisch zusammengekommenes Paar. Wie auch immer… was ich zu sagen hatte, war besser persönlich zu erledigen. Ich sah das Haus und lunschte beim vorbei gehen durch das Küchenfenster. Ohne Gardinen, konnte man durch das gesamte Zimmer sehen, wenn das Licht günstig stand. Ich erkannte zwei Personen im hinteren Bereich der Wohnstube und dass das Terrassenfenster geöffnet war. Meinen Schwung ausnutzend, ging ich um das Haus herum und wollte gleich von hinten einsteigen. Die Rückseite des Hauses erreicht, wappnete ich mich für das kommende Thema, als ich Stimmen vernahm. Timothy und Nayla unterhielten sich hitzig. „Hör endlich auf mit dem Mist! Du schadest dir nur selbst!“, hörte ich Nayla schimpfen. „Das hast du nicht zu entscheiden“, konterte Timothy gelassen und leicht kühl. „Ahhhh! Du bist immer so! Auch schon damals im Heim! Nur weil ich die Therapie brauchte-“ „Du brauchtest sie und ich habe sie zu meinem Vorteil genutzt. Wir sind Familie, Nayla. Ich würde dich nie im Stich lassen, nur damit es mir besser geht oder weil du denkst, dass es mir Umstände bereitet.“ Ich hörte ein Fußstampfen. Vermutlich Nayla, denn sie atmete hörbar und genervt aus. Als sie sprach, war ihre Stimme gefestigt und erzwungen ruhig. „Okay. Das Thema mal beiseite, finde ich trotzdem, dass du dich nicht in die Dinge von Mik einmischen solltest. Es ist schade um ihn, aber das hat nichts mit dir zu tun. Denk an deine Karriere. Wenn man herausfindet, dass du in fake-“ Abermals unterbrach Timothy seine Schwester und er klang gefährlich ruhig dabei. „Ich werde nicht erwischt.“ „Das kannst du nie wissen!“ „Doch kann ich.“ Es folgte eine Pause und ich ergänzte die Zeile „Bisher hat das immer geklappt“ in meinem Kopf. Timothy sagte es nicht, aber ich hatte das Gefühl, dass es nicht das erste Mal war, dass er seine Intelligenz und seine Manipulation dazu nutzte, seinen Willen zu bekommen. „Tiiiiim“, flehte Nayla nun. „Ich versteh ja, dass die Sache mit Mikael tragisch war. Ich hätte nie gedacht, dass meine Frage beim Abendbrot so ‘ne Diskussion auslösen würde. Aber auch wenn er mal ein super Sänger war – Du bist du und du machst es viel besser als er. Ich will nicht, dass du auch als gescheiterter Musiker endest, wenn das so weiter geht.“ Ich gab zu, an dieser Stelle fühlte ich mich etwas von ihr hintergangen und ihr Wortlaut tat weh. Hatte sie letztens noch zu meinem Lied singen wollen, hielt sie nun zu ihrem Bruder. Was irgendwie nachvollziehbar war. Diese beiden hielten zusammen wie Pech und Schwefel. Ehe Timothy noch etwas sagen konnte, trat ich durch das Terrassenfenster. „Du hast Recht. Ich finde es auch unnötig, dass er sich einmischt“, sagte ich etwas zu scharf. Die Geschwister waren still. Nayla wich die Farbe aus dem Gesicht und Timothy presste seine Kiefer aufeinander. Ich schenkte ihm einen Seitenblick und merkte, dass ich ihm nicht böse war. Mir war es wie Nayla gegangen. Ich wollte nicht, dass er sich selbst verbaute. Ich hatte mir Sorgen gemacht, dass er sich selbst schadete. Das würde ich vor ihm nicht zugeben, aber es beruhigte mich, dieses Gefühl verstanden zu haben. „Aber du irrst dich auch“, sagte ich und sah Nayla an. „Timothy ist viel schlauer als ich und denkt um Ecken, die mir nicht mal einfallen würden. Ich bin einfach blindlings nach vorne gerannt, ohne mich umzusehen. Ich hatte nur Musik im Kopf.“ Nayla fasste sich und wollte sich verteidigen, aber ich fuhr gleich fort. „Es gibt noch mehr Unterschiede. Ich war Elf und wurde als Gewinner einer Kinder-Musik-Show berühmt. Timothy ist erwachsen und lernt sein Handwerk von Grund auf. Persönlichkeit, die Umgebung, der Zuspruch, das Talent, das Internet, die Medien. Unsere Umstände sind vollkommen verschieden. Selbst wenn er Dinge tut, die er nicht tun sollte, glaube ich nicht, dass es ihm wie mir ergehen wird.“ Unbewusst hatte ich mich beim Sprechen vorgebeugt und sie war zurückgewichen. Ich musterte sie, steckte meine Hände in die Jackentaschen und stellte mich gerade hin. „Mik“, begann Timothy hinter mir, aber ich achtete nicht auf ihn. Auf dem Absatz kehrt machend, betrat ich den Flur, öffnete die Haustür und ging hinaus. Ich war nicht mehr in der Stimmung, um mit ihm über die Sache mit den Foren zu reden. Meine Wut war komplett verflogen. Naylas Worte nagten an mir. War ich so ein Verlierer gewesen? Als ob ich mir ausgesucht hätte, wie alles gelaufen war! Niemand hatte das alles mehr richten wollen als ich! Ehe ich mich weiter in Selbstmitleid suhlen konnte, wurde ich forsch am Arm nach hinten gezogen. Fahrig drehte ich mich um und sah Timothys gehetztes Gesicht. Meine Worte blieben mir im Hals stecken und als er mich in eine Umarmung zog, versiegte das letzte bisschen falscher Stolz. Was fiel ihm ein mich hier und jetzt zu umarmen? Dieser Idiot! Wir standen mitten auf dem Fußweg, nur ein kleines Stück von der WG entfernt! Verdammt. Mir wurde warm. So öffentlich umarmt zu werden, war ich nicht gewohnt. Noch weniger von jemanden, der mir etwas bedeutete. Ich wusste nicht wohin mit meinen Armen. Das Gefühlschaos in mir war sagenhaft. Freude, wegen der Umarmung. Scham, weil er mich so schwach gesehen hatte. Selbsthass, weil ich bereute wie meine Karriere geendet hatte und Sehnsucht nach ihm. Timothy ließ mich los. Flüchtig sah ich mich um, ob jemand diesen peinlichen Moment beobachtet hatte – erkannte auf die Schnelle aber niemanden. Vorsichtig strich mein Gegenüber mir eine Strähne aus der Stirn hinters Ohr. Ich sah auf. „Du kommst reingestürmt, machst eine Szene und gehst. An dir ist wirklich eine Bühnendiva verloren gegangen.“ Verärgert schlug ich seine Hand weg und nahm meinen Kopf in einer trotzigen Bewegung zurück. „Man gewöhnt sich an Dinge. Was willst du noch?“ „Dich fragen, was du wolltest.“ Tss, natürlich wusste er, dass ich einen Grund haben musste, wenn ich ungeplant vorbeikam. Es freute mich, aber mein Ego war noch immer angekratzt. „Nicht wichtig. Darüber können wir einen anderen Tag reden“, sagte ich und verschränkte meine Arme. „Okay“, sagte er und studierte mich einen Moment. „Nimm Nalyas Worte nicht so schwer. Sie sieht süß aus, handelt und redet aber wie ein Bauarbeiter. Sie meinte nicht, was sie gesagt hat.“ Ich sagte nichts und sah zur Seite. Trotzdem waren seine Worte wie Balsam. „Nun schmoll nicht. Sie ist besorgt, weil sie meine Geburtstagsfeier geplant hat und wollte nicht, dass ich den ganzen Abend am PC hänge.“ „Ich dachte, du hättest nur das Video von Ramira gelöscht. Aber scheinbar tust du weitaus mehr als nur das“, platzte es trotzig aus mir heraus. „Wie könnte ich nicht? Wenn irgendwelche Halbstarken das beleidigen, was mein ist.“ Timothys Stimme klang zu sanft und zu fröhlich. Er hatte sichtlich Spaß mich in meiner Lage zu sehen, während ich mich anstrengte, meine Wut und Empörung aufrecht zu halten, meine Verzweiflung zu unterdrücken und nicht rot wegen seiner Worte zu werden. Schlimmer noch. Ich wollte mich am liebsten zurück in seine Arme werfen. „Klappe“, sagte ich forsch. Trotzdem wandte ich mich ihm mehr zu. „Du hast Geburtstag?“ „Mhm.“ „Heute?“ „Letzte Woche“, sagte Timothy und lächelte viel zu glücklich über mein Interesse. „Und das sagst du nicht früher!“, ranzte ich ihn verärgert an und seufzte. „Was wünschst du dir?“ „Von dir? Ohhh~ einiges. Aber … wie wäre es, wenn ich heute bei dir übernachte? Geht das?“ „Wenn du es dir wünscht, geht das“, meinte ich und sah milder gestimmt zur Seite. Es war nicht so, dass ich irgendwelche Termine hätte verschieben müssen. Mein Abend war frei und wenn Timothy vorbeikam, hieß es nur er und ich. „Gut, dann bis heute Abend“, sagte er und lächelte noch immer. „Bis heute Abend.“ Ich schielte zu ihm hoch, ehe ich ging. Ich war in den letzten Minuten durch verschiedene Emotionen gerannt. Wut, Sorge, Pein, Scham, abermals Wut mit leicht verzweifelter Frustration, und nun kam die Vorfreude auf heute Abend hinzu. Wobei die Vorfreude schnell alles andere in den Schatten stellte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)