Musik 4Y von mikifou (Diese eine Person, die...) ================================================================================ Kapitel 3: Manchmal machen die Dinge keinen Sinn ------------------------------------------------ Kapitel 3 In einer vierer WG zu wohnen bedeutete, dass irgendeiner immer Krach machte. Für Timothy war das Teil von Normalität. Nur an Tagen wie heute, fiel es ihm besonders schwer das Geklapper und Gerede nicht auszublenden. Es bohrte sich wie ein kleiner Nagel immer wieder in sein Hirn und löste dort neben innerlicher Unruhe auch einen pulsierenden Kopfschmerz aus, der seiner allgemeinen Laune nicht zuträglich war. Er wollte nicht aufstehen, nichts lernen, nichts sehen oder hören. Wenn er es schaffte seinen Arm zu heben, fiel dieser augenblicklich zurück auf die Matratze. Schwer wie ein Stein bestehend aus Pudding. Wie sollte er so aufstehen? Sich auf den Beinen halten? Sicherlich würde sein Körper nicht einfach zusammenfallen. Seine Knochen und Muskeln würden ihn tragen. Sein Gefühl jedoch sagte ihm, dass er innerlich schwer wie ein Stein und zerbrechlich wie Glas war. Weit hinten in seinen Geist spuckte der Gedanke, dass er keine Zeit hatte, hier rumzuliegen. Der Auftritt zum 1. Juni stand bald an. Dieses Mal war es eine Gruppenarbeit. Musiker mussten sich mit Tänzern zusammentun. Ein einfaches Lied zu einer einfachen Choreo. Natürlich mussten sie wie immer alle Hintergrundarbeiten selbst erledigen. Das war es auch, was ihm derzeit so zusetzte. Der Leistungsdruck, der Anspruch an sich selbst, die Erwartungen seiner Freunde und des Publikums. Dazu der laufende Unibetrieb, Hausarbeiten, Bibliothekszeiten, das Eigenstudium. Es war hart und für gewöhnlich konnte Timothy es gut wegstecken. Doch wenn unvorhergesehene Proben und Streitereien seinen Zeitplan durcheinanderbrachten, stresste ihn das zusätzlich. Dann war es nur eine Frage der Zeit bis ihm die Decke über den Kopf zusammenbrach und er sich unter dem Schutthaufen seiner Gedanken und Empfindungen nicht mehr bewegen konnte. Timothy drehte sich schwerfällig auf seine andere Seite, zog seine Decke enger und rollte sich darin ein. Er hatte wirklich keine Zeit hier rumzuliegen. In weniger als zwei Stunden musste er zum Rechtsseminar, danach trafen sie sich zum Proben. Er hatte Tage zuvor die Melodie fertig komponiert und sie fingen an, alles zusammenzufügen. Doch etwas passte nicht. Timothy kam nicht drauf, ob es an den Noten, dem Text oder den Tänzern lag. Vielleicht das Tempo? Unwichtig. Heute blieb er hier liegen. An Tagen wie diesen, war alles unwichtig. Selbst wenn er nichts machte, würde sich die Welt weiterdrehen. Die Probe würde trotzdem stattfinden, auch wenn er nicht dazu sang. Diese Welt würde einfach weiter machen, selbst wenn er nicht daran teilnehmen würde. Wenn er … Timothys Stimmungsschwankungen und Depressionen begleiteten ihn seit … einer Weile. Er konnte sehr produktiv sein, wenn er wollte und motiviert war. Das waren die guten Tage, welche zum Glück überwogen. An schlechten Tagen wurde er depressiv und rutschte in ein emotionales Loch. Meistens konnte er seine Niedergeschlagenheit vertuschen. Sein Umgang mit anderen war schon immer sehr speziell und an schlechten Tagen grob gewesen. Man kannte es von ihm nicht anders. Wenn er dann ein flüchtiges Lächeln dann und wann nachschob, war alles ok. Niemand ahnte wie er sich fühlte und das war ok. Wenn er down war, suchte er nicht nach Bestätigung und Verständnis. Er suchte etwas viel Schlichteres. Sein wechselndes Verhalten hatte ihm als Kind viele Schwierigkeiten bereitet. Als er Anfing Gesangsunterricht zu nehmen, sorgte seine Lehrerin für den benötigten Ausgleich. Das hieß, sie setzte sich dafür ein, dass seine Lebenssituation sich besserte und er in ärztliche Betreuung kam. Kinder wie er wurde nicht gerne behandelt, aber man gab ihnen freizügiger Medikamente, welche ihnen „helfen“ sollten. Lange Rede kurzgefasst: Nach Ermittlung seiner Verhaltensstörung wurde er medikamentös eingestellt. An Tagen wie diesen nahm er eine dieser Pillen, welche seine Stimmung aufheiterte. Normalerweise jedenfalls. Seit einigen Monaten versuchte Timothy davon wegzukommen. Sicherlich nahm er keine harten Drogen und sie erfüllten ihren Zweck. Es war sein eigener Ansporn der ihn antrieb. Er wollte gerne er selbst sein, sich nicht von Tabletten umgestalten lassen und dadurch handzahmer werden. Sie machten ihn träge und sein Denken langsamer. Und wenn sein Denken langsamer wurde, fühlte er sich noch mehr gefangen, als er es ohnehin schon tat. Timothy hatte von Methoden der Gedankenkontrolle gelesen, mit deren Hilfe man sich selbst motivieren konnte. Doch es war schwer am Ball zu bleiben. Gerade heute, wo er keinen klaren Gedanken fassen konnte, war es schwierig. Es war als würde ein schwerer Vorhang über seinen Augen lungern, seine Lider herunterdrücken und seinen Kopf vernebeln. Seine Gedanken waren so getrübt, dass der „Versuch zu denken“ sich wie ein Jucken im Hirn selbst anfühlte. Wenn er dem zulange nachging, bekam er Kopfschmerzen so wie jetzt gerade. Sicher, er hatte es bis hierher geschafft. Er war zwanzig Jahre alt geworden. Seine Musik war gut, er erreichte die Zuhörer und bekam positives Feedback. Seiner Schwester ging es gut. Ihre Zukunft war so gesehen gesichert. Aber … wofür machte er das nochmal? Lohnte sich der ganze Aufwand wirklich? Keiner sagte, dass er Erfolg haben würde. Vielleicht ein Lied, dann würde er vergessen werden und dort landen, wo er hergekommen war. Das Ganze machte keinen Sinn. Es war nur eine Ablenkung. Eine Verlängerung eines öden, anstrengenden Lebens. Er könnte gleich liegen bleiben. Die Tür zu seinem Zimmer wurde weit und laut geöffnet. „Du liegst immer noch!“, plärrte eine weibliche Stimme. Die Stimme war eigentlich sehr sanft und geschmeidig. Nur verärgert war sie höher und schriller als üblich. „Mach die Vorhänge auf und hör auf zu pennen“, befahl seine Schwester. Als Timothy sich nicht rührte, griff sie nach seiner Bettdecke und zog forsch daran. Timothy hielt die Decke fest, doch der Ruck machte seinen Körper unangenehm wach. Schwerfällig setzte er sich auf. Das T-Shirt zerknittert und verrutscht. Er tat es nicht, weil er wollte, sondern aus Reflex. Würde er trübselig wie er sich fühlte, liegen bleiben, bereitete er seiner Schwester nur Sorgen, worauf hin sie Fragen stellte und sich kümmern wollte. Aber das war nicht das, was er wollte. Es würde sie beide nur zusätzlich auslaugen. „Nun steh schon auf“, sagte sie gereizt, die Arme in die Hüfte gestemmt. Für eine zwei Jahre jüngere Schwester, welche mittels eines Stipendiums wegen ihrer guten Tanzkünste anfangen durfte, war ihr benehmen grauenhaft. Nayla sah aus wie Timothy, nur in einem etwas helleren Braunton. Ihre langen Locken fielen quirlig auf ihre Schultern, wenn sie mal nicht hochgebunden waren. Seine Größe hatte sie zum Glück nicht erhalten. Sie war ganze elf Zentimeter kleiner als er. Für eine Frau eine gute Größe und für eine Tänzerin war es von Vorteil, zierlicher als ein Mann zu sein. „Ist irgendwas passiert?“, fragte Timothy und rieb sich die Augen. So wie er selbst mit Tiefs zu kämpfen hatte, hatte sie ein kleines Aggressionsproblem. Nicht so schlimm, dass sie ebenfalls unter Tabletten gestellt wurde, aber an ihren sensiblen Tagen reichte eine Kleinigkeit aus, damit sie explodierte. Letztens war es Timothys Ablehnung zum Besuch eines Restaurants zu seinem Geburtstag gewesen. Sie wollte gerne feiern. Er sah keinen Grund einen solchen Tag zu feiern. Normalerweise verstand sie seine Gefühle gut. Was auch immer sie geplant hatte, war nichtig gewesen, als sie in einem Wutausbruch seinen MP3-Player aus der Tür geworfen hatte. Das Ganze war irrsinnig und haltlos gewesen. Sein Geburtstag war noch ewig hin. Nayla hatte von ihren Kommilitonen viel über deren Familien gehört. Sie ließ sich leicht verführen und einwickeln, wenn es um Dinge ging, die sie selbst haben wollte. Wie etwa ein normales Familienleben. Den Standard eben. Nayla war noch jung. Vielleicht zu jung. Ihre Noten waren gut, aber vielleicht hätte sie nach ihren Prüfungen ein halbes Jahr irgendwo Jobben sollen und erst zum Wintersemester anfangen? Egal, nun war es wie es war, dachte Timothy und freute sich über das bisschen Verstand in seinem Kopf. Nayla wusste von seinem Wunsch von den Tabletten wegzukommen. Sie unterstützte ihn, doch hielt Timothy sie aus allem raus. Vor seiner Schwester, der er nie der vorbildliche große Bruder hatte sein können, wollte er seine schlechten Tage nicht offenbaren. Darum bot es sich an, ihr manchmal etwas vorzuspielen, wie jetzt gerade. Sie würde es eh nicht verstehen. Wie sollte man jemanden begreiflich machen, dass man sich komplett kaputt und zerbrochen fühlte? Das man aufstehen und laufen konnte, essen, trinken, atmen, aber zugleich das Gefühl hatte zu ersticken. An jeder Bewegung, an jedem Bissen, an jedem Atemzug. Dass es Momente gab, in denen er verzweifelt einen Hoffnungsschimmer suchte, während er schlaksig neben seinen Freunden her ging. Dass er all das in sich aufstaute und verschloss, in der Hoffnung er würde die eine Sache finden, nach der er sich sehnte. „Nichts ist passiert. Bei dir etwa?“, fragte sie barsch. Ebenso wenig wollte Nayla ihm wegen der Kleinigkeiten belasten, welche sie ärgerten und ihr Innerstes aufwühlten. Ihre Unzulänglich- und Nutzlosigkeit sollte niemand sehen. „Nein“, gestand Timothy matt und rieb sich die Augen. „Lange Nacht gestern. Hast du Frühstück gemacht?“ „Würde ich dich sonst holen kommen?“ Ihr Umgang miteinander war speziell. Wollte man etwas nicht erzählen, dann weiter im Text. „Bin gleich da.“ Timothy seufzte als sie das Zimmer verlassen hatte. Trotzdem war er ihr dankbar. Diese kleine ungewollte Interaktion hatte ihn ein Stück weit aus dem Loch geholt, in welchem er sich suhlen wollte. Nun konnte er versuchen sich selbst den letzten Rest herausziehen. Wenn er Glück hatte, würde er es schaffen, wenn nicht wäre seine Stimmung den restlichen Tag getrübt. Für gewöhnlich besaß Timothy einen scharfen Verstand. Seine Umgebung nach seinen Wünschen zu leiten, war ein Leichtes. Nur heute würde er sich den Luxus gönnen von zwölf bis Mittag zu denken. Seinen Kopf abzuschalten, half etwas. Fertig angezogen und einmal durch die Haare gewuschelt, betrachtete er sich im Spiegel. Er sah aus wie immer. Das Kribbeln unter seiner Haut, die Unruhe in seiner Brust, die Übelkeit in seinem Magen, nichts sah man. Er hob eine Hand und zog einen Strich über den Hals seines Spiegelbildes. Timothy hasste unbeschädigte Spiegel. Nur wenn sie zerbrochen waren und ein ebenso zerbrochenes Spiegelbild wiedergaben, fand er, entsprach das Bild im Spiegel seinen Empfindungen. Er betrat die gemeinschaftliche Stube. Anders als die Plattenbauten, welche nur eine gemeinsame Küche, Bad und Flur besaßen, gab es in den neueren Blockhäusern ein Wohnzimmer als Treffpunkt für alle. Das war sehr angenehm und führte zu immer neuen Überraschungen. Die Blockhäuser waren einfach aufgebaut. Im ersten Stock gab es ein großes Bad und fünf Zimmer. Im Erdgeschoss gab es ein kleines Bad, eine Abstellkammer sowie ein Wohnzimmer mit offener Küche. Als Timothy neu eingezogen war, richteten sich seine anderen Mitbewohner gerade ein. Sie gestalteten eine Sitz- und Fernsehecke, welche ohne Couchtisch auch super zum Musizieren genutzt werden konnte. Nahe der Küche wurde ein großer Esstisch hingestellt, dazu ein Schrank für Teller und Tassen, fertig war der Lack. Timothy hielt sich raus. Er hatte keine Vorstellung oder Ansprüche wie ein zu bewohnender Raum auszusehen hatte. Nayla hatte den Tisch gedeckt. Chris, ein leicht introvertierter Tänzer, half beim Decken. Jamil, ein exzentrischer Instrumentenliebhaber, saß bereits und stöberte in einer seiner Zeitschriften. Timothy setzte sich zu ihm und schaute mit in das Heft. „Gibt es was neues?“, fragte er noch müde. „Die Saxophone sind gerade runter gesetzt.“ „Wolltest du nicht eines haben?“ „Schon, aber das sind nur die normal Goldenen. Die eingefärbten leider nicht…“, antworte Jamil, etwas geknickt. Jamil war mit seinen fast sechsundzwanzig Jahren am Ältesten. Er liebte Instrumente über alles und blühte vollkommen auf, wenn er spielte. Manchmal etwas zu sehr. Gerade am Schlagzeug übertrieb er es gerne. Jedoch hatte er alles umsetzen können, was Timothy je in den Sinn gekommen war. Egal wie schwer die Tempowechsel oder Übergänge waren. Er meisterte alles nach nur wenigen Versuchen. Jamil hatte zunächst Krankenpfleger gelernt, ehe er abgebrochen und sich an der Universität beworben hatte. Nun möchte er gerne Musiklehrer werden, wenn es mit einem Platz in einer Band nicht klappen sollte. Mit Jamil war es besonders nachts amüsant. Timothy hatte sich schon oft erschreckt, weil er seinen Mitbewohner im Dunkeln nicht gesehen hatte. Einiges davon war bestimmt Absicht gewesen. Finde mal einen schwarzen Menschen, wenn er in der hintersten Ecke steckt und sich nicht bewegt! Nayla hatte ihn sofort ins Herz geschlossen. In ihrem früheren Wohnviertel spielten alle Kinder zusammen. Egal ob schwarz, weiß, asiatisch oder grün gesprenkelt. Sie hatten miteinander auskommen müssen, denn die Erwachsenen hatten ihnen nicht geholfen. „Leg das Heft weg, die Brötchen sind fertig“, ermahnte Chris Jamil. Dieser murrte nur und löste widerwillig seinen Blick. „Tim, was hast du die Nacht gemacht? Du siehst voll fertig aus.“ „Hab noch über den Noten gehangen“, erwiderte Timothy matt. „Das Neue? Soll es für die Juniaufführung sein?“, fragte Nayla aufgeregt. Ihre Stimmung schien sich bereits gebessert haben. Wirklich, manchmal war sie wie ein Blatt im Wind. „Nein, dafür wird’s nicht rechtzeitig fertig.“ „Wenn es gut zum Tanzen ist, sag Bescheid. Ich brauch noch was für meine Hausarbeit“, meinte Chris beiläufig beim Brötchen schmieren. „Kannst du da nichts aus dem Netz nehmen?“, fragte Timothy etwas genervt. „Könnte schon, will aber nicht. Du schreibst gut. Selbst schuld.“ Das Kompliment würde im Normalfall runter gehen wie Butter. Auch wenn Timothy es nicht zeigte, hörte er gerne ein Lob. Vor allem über seine Lieder. Heute prallte die gute Laune des Anderen an ihm ab, wie Wasser auf Butter. Murrend begann Timothy zu essen. Vielleicht würde er eine Kopfschmerztablette nehmen. Das hob seine Stimmung nicht, aber wenigstens wäre das Pochen über seinen Augen weg. Chris gab wenig auf sein Gemurre, wie die anderen auch. Nach den zwei Jahren ihres Zusammenlebens kannte man sich gut genug, um sich nicht über alles zu wundern und Timothy hatte sich beigebracht zu funktionieren und normal zu wirken. Chris selbst war in dieser Zeit aufgetaut. Als Person war er sehr introvertiert und sozial unbeholfen, wenn er Jemanden nicht kannte. Erst nach Monaten öffnete er sich und ließ Jamil und Timothy an sich heran. Richtig wach schien er erst mit dem Auszug von Alex und Josephine geworden zu sein. Ihre Ex-Mitbewohner waren mit dem Studium bereits fertig. Nach ihnen zog Nayla ein, sodass momentan noch ein Zimmer frei war. Wenngleich Chris zu den älteren Mädels keinen Draht fand, waren Nayla und er nach nur zwei Wochen des Zusammenlebens ein Herz und eine Seele. Das war vielleicht so ein Tänzerding, dachte sich Timothy. Wie auch immer. Wenn Chris tanzte, schob er seine menschenscheue Seite in den Hintergrund und überzeugte mit Pirouetten ebenso wie mit Flickflacks. Diese Konzentration hatte Timothy schwer beeindruckt, wenngleich er das Chris nie gesagt hatte. So betrachtet waren sie ein Haufen von Fehlschlägen. Einer nach dem anderen fiel durch irgendeine Eigenart aus dem Rahmen. Aber zusammen waren sie ziemlich harmonisch. Nach dem Frühstück zog der junge Musiker sich an und nahm seine Unterlagen für sein Rechtseminar unter den Arm. Einfach hingehen und absitzen, proben, heim. Einfach. Wenngleich seine Kopfschmerzen sich dank der Tablette lichteten, waren seine Gedanken immer noch träge und tröpfelten dahin wie zäher Teer. Wozu sollte er seine Rechte wissen? War das nicht genauso sinnlos wie zu versuchen ein weltberühmter Musiker zu werden? Wenn er daheim geblieben wäre, würde er sicher der Boss irgendeiner Gang sein. Nicht auf Regeln oder die Norm achten zu müssen, war so viel freier als das hier. Er hätte viel zu sagen und auch keine Skrupel jemanden zu erschießen. Immerhin waren diese Maden nicht mehr wert als er. Sie könnten froh sein, wenn er so gnädig wäre und sie von ihrem Leben erlöste. „Hey!!“ Verwirrt sah Timothy von seinen Schuhen auf, welche er für mehrere Minuten angestarrt hatte. „Wieder da?“, fragte Chris. „War ich weg?“, fragte Timothy zurück. „Gedanklich weit, weit weg. Worüber grübelst du nach?“ Timothy blinzelte einmal, dann stand er auf. Chris und Jamil wussten nicht mal, dass er depressive Tiefs hatte. Wenn das so bleiben sollte, sollte er wohl besser aufpassen. Andererseits würden sie auf solch eine Diagnose nie von selbst kommen. Dinge, welche man selbst nicht kannte, erwog man nicht als Grund. „Nichts weiter. Wolltest du was?“, fragte Timothy schnell nach, während sie die WG verließen. Der Regen vom Wochenende hatte sich verflüchtigt. Die Feuchtigkeit, Düsterkeit und der Geruch von nassem Asphalt wich einer nun stetig zunehmenden Schwüle. Einige Schönwetterwolken zeichneten schattige Mosaike auf den Boden. Timothys Blick galt seinen Schuhen, sein Kopf zu schwer, um nach oben zu sehen. „Ich wollte wissen, ob Omph da sein wird.“ Seine Gedanken waren träge, zu träge… Omph… Ah ja, Mikael, den er seinen Freunden als Omphalos vorgestellt hatte. „Das werde ich erst sehen, wenn ich im Seminar bin.“ „Stimmt, stimmt“, stimmte Chris nervös zu. „Ich hab‘ ihn letztens auf dem Campus getroffen, aber er war gleich weg… Meinst du, er ist noch sauer?“ Timothy seufzte. Der kleine Anrempler von Chris an jenem Tag, beschäftigte ihn noch immer. Vor allem, nachdem Timothy so überzeugt von dem Neuen gesprochen hatte, war es Chris im Nachhinein unangenehm und er machte sich unnötige Gedanken. „Ich denke nicht, dass er sauer ist. Jedenfalls nicht auf dich“, ermutigte Timothy ihn. „Auf wen denn sonst?“ Timothy sah seinen Mitbewohner von der Seite her an und hob nur eine Augenbraue. „Auf dich? Warum?“ „Weil ich ihn als Omphalos vorgestellt habe. Sein Name ist Mikael. Ruf ihn so und er wird sicher nicht wegrennen.“ Chris war so schockiert über diese Neuigkeit, dass er glatt einige Nuancen blasser wurde. Timothy spürte wie sich seine Laune hob. „WAS! Tim wie kannst du nur! Oh man, oh man… und ich ruf ihn in der Menge so… Shit.“ „Beruhig dich. Ich habe das schon mit ihm geklärt. Außerdem ist er selbst schuld.“ „Warum das schon wieder?“ „Weil er mir seinen Namen nicht verraten hatte und nur meinte, ich soll ihn nennen wie ich mag.“ „… Seid ihr beide dumm?“, fragte Chris ungeniert und ernst. Es hätte beinahe gereicht, um den Musiker schmunzeln zu lassen. Aber nur beinahe. „Kay, kay. Wenn ich ihn nochmal sehe, stell ich mich richtig vor. Obwohl… wenn er doch eher dein Kaliber hat, lass ich das vielleicht sein…“, sinnierte Chris für sich, unsicher was die beste Wahl war. „Woher hast du seinen Namen eigentlich?“ „Verrate ich nicht“, erwiderte Timothy mit einem Fakegrinsen, welches hochmütiger nicht sein könnte. Kurz darauf trennten sich ihre Wege. Timothy konnte, abgesehen von seiner Eigenart, gut mit Menschen umgehen. Interaktionen waren leicht, denn die meisten Menschen waren einfach zu lesen. Ließ man sie über sich selbst reden, fühlten sie sich gut. War er dazu noch charmant, bekam er Informationen ohne danach fragen zu müssen. Schnell wurde er darum um Gefallen gebeten und konnte diese zu gegebener Zeit zurückfordern. Letztens bei jemanden in der Verwaltung. So kam er an Mikaels Unterlagen. Es wäre zu einfach gewesen, die gesamten persönlichen Daten zu lesen. Mikael schien interessant zu sein und nicht so langweilig wie die Meisten. Wenigstens konnte er Konter geben und vertrug auch einiges. Er würde sich selbst schlagen, sollte er sich die Spannung nehmen, diese Zwiebel nach und nach zu häuten. Name, Anschrift, Studentennummer und Studiengang reichten Timothy fürs Erste aus. Gelangweilt sah der Musiker auf den leeren Platz neben sich. Gerade angefangen und schon zwei Vorlesungen geschwänzt? Nein, der Dozent hatte das letzte Mal nur flüchtig in die Runde gesehen und nichts zu diesem leeren Platz gesagt. Sonst fragte er nach, ob jemand wisse, was mit dem oder dem war. Mikael schien nicht jemand nachlässiges zu sein. Sicherlich hatte er sich abgemeldet. Also wussten die Dozenten, was los war. Die einfachste Erklärung war, dass er krank war. Timothy bezweifelte, dass Mikael sich exmatrikulieren ließ. Architektur schien ihm etwas zu bedeuten. Obwohl… Bei den Noten und auch als sie im Café wegen des Namens für das Lied gesprochen hatten, schien Mikael dafür mehr zu brennen, als für staubige Gebäude. Wie eine Leidenschaft, die er unterdrückte. Warum? Er hatte Musikunterricht gehabt. Zehn Jahre lang. Trotzdem wehrte Mikael sich gegen das Singen oder versteckte seine musikalischen Talente. Noten zu lesen war das eine, das konnte jeder, der ein Instrument spielte. Aber daraus die Melodie zu hören, ohne ein Instrument, welche sie verbal wiedergab, war schwieriger. Eigentlich kannte Timothy nur zwei Personengruppen, welche das beherrschten. Sänger und Songwriter. Alle andern griffen zu ihrem Instrument und spielten die Takte nach. Erst dann erhielt man von ihnen eine Antwort. Mikael hatte sie fast augenblicklich gelesen. Timothy schielte auf die Tafel auf die der Professor einige Paragrafen schrieb. Ein Lächeln breitete sich zusammen mit der Erkenntnis und einer Idee auf seinen Lippen aus. Er musste Mikael danken. Es gab kaum Menschen, die Timothy überhaupt interessierten, geschweige denn interessant genug wären, über sie länger als einen Atemzug nachzudenken. Aber dieser widerborstige Architekt kratzte an Timothys Neugier, sodass er schneller aus seinem Tief heraus war, als er bemerkt hatte. Das war durchaus ein Danke wert. Für gewöhnlich half seine Lieblingsmusik, welche er sehr laut über seine Kopfhörer hörte. Manchmal half ein Gedanke oder eine feiste Idee, welche etwas Ablenkung und Amüsement versprachen. Wenn es arg schlimm wurde, half nur noch die Nähe zu Menschen, die ihm viel bedeuteten. Das waren nicht viele und nicht jeder war für jede Situation geeignet. Von seiner Idee motiviert, verging die restliche Stunde wie im Flug. Die Notizen ordentlich zusammengetragen, packte er seine Unterlagen ein und verließ den Seminarraum. Bis zu seiner Probe am Nachmittag hatte er noch Zeit. Wäre doch schade, diese nicht sinnvoll zu nutzen. Etwa für einen Krankenbesuch. Timothy war sich zu 90% sicher, dass Mikael krank sein musste. Wie auch immer. Er hatte sich die Adresse gemerkt und war auf den Weg zu einer der neueren WG’s. Anders als die Blockhäuser, wurde hier stylischer gebaut. Es waren Komplexe aus mindestens fünf Aufgängen. Vom Äußeren erinnerte es an einen Katamaran, da zwischen den drei Erdgeschosswohnungen schmale Bögen gezogen wurden, auf denen zwei weitere Wohneinheiten zu finden waren. Wie kamen die da hoch? Ah, auf der Rückseite war eine Treppe. Die Bauweise war für Timothys Geschmack zu abgedreht. Es hatte etwas von einem Kartenhaus oder aufeinander gestapelten Legos mit etwas Raum zwischen den Einheiten. Es sah sehr stabil aus, doch die Vorstellung, dass es wie ein Kartenhaus einstürzen könnte, amüsierte ihn. Der richtige Aufgang war schnell gefunden. Wie überall versperrte ein Kartenschloss die Tür. Unwichtig, er hatte eh keine Schlüsselkarte. Eine Sekunde der Besinnung, ob er wirklich klingeln sollte, ließ ihn innehalten, ehe sein Finger den kleinen Knopf drückte. Einmal. Zweimal. Ein drittes Mal, dann endlich wurde die Tür geöffnet. „Ja“, klang es genervt, als Mikael sich in den Türrahmen lehnte. Timothy musterte die Figur vor sich und ließ das Bild einen Platz in seinen Erinnerungen finden, ehe ein Grinsen sich breit und wissend auf sein ganzes Gesicht legte. Mikael seufzte alsbald er Timothy erkannt hatte und sein Blick wurde eine Spur kälter. Amüsant! Sehr amüsant. Es war die richtige Entscheidung gewesen hierher zu kommen, dachte Timothy. Mikael hob seine Stimmung besser als jeder sadistische Film. Vielleicht sogar besser als die Tabletten. „Urgh… du. Was willst du hier?“, fragte Mikael entnervt und lehnte seinen Kopf schwer gegen den Türrahmen. „Nach dir sehen. Offensichtlich.“ „Du willst mich doch nur wieder aufziehen.“ „Das auch. Aber ich dachte, du magst die Unterlagen zu Recht haben.“ Mikael schwieg einen Moment, dann trat er zur Seite und ging von der Tür weg. Timothy schob die Tür auf und betrat das moderne Gebäude. Die Wohnstube war anders, so rund. Die Tür fiel ins Schloss und Timothy zog seine Schuhe aus. „Will ich wissen, wie du herausgefunden hast, wo ich wohne?“, fragte Mikael, während er zu dem kleineren Sofa tigerte. Eindeutig ein Krankenlager. Eine Taschentuchbox stand auf dem Couchtisch, sowie eine Teetasse und Salzstangen. Die Küche zeigte weitere Spuren. Ein Topf, wahrscheinlich mit Suppe, stand auf dem Herd, unweit davon eine benutzte Schüssel und ein Löffel. Weitere Teepackungen und einige Medikamente. Auf dem Dreisitzer, lag eine zerwühlte Decke, einige Kissen und ein Körnerkissen. Abgesehen davon war Mikaels Nase leicht rot und seine Stimme kratzig. Sein Gesicht blasser als sonst und seine Augen glänzten noch etwas glasig. Somit war er wirklich krank gewesen, aber nichtsdestotrotz in der Lage sich alleine zu pflegen und gesund zu werden. Beneidenswert. Wäre er in derselben Situation, würde er wahrscheinlich in ein Tief rutschen und nichts essen oder trinken und nur notdürftig etwas gegen seine Erkältung tun, in der Hoffnung, er hätte es bald hinter sich. Aber hier saß der Kleinere, eine graue Jogger an, scheinbar auch zwei Paar Strümpfe, ein bedrucktes Shirt eines bekannten Musikers, welches er schnell hinter dem Zipper seines Parkers versteckte. Mikael war Timothy nicht nur wegen seines bissigen Charakters in Erinnerung geblieben. Seine Erscheinung machte auch was her. Klein, in Timothys Maß gemessen, aber gut gebaut. Sein Gesicht war schlank und die Wangenknochen hoch. Trotzdem besaß sein Gesicht etwas Rundliches. Die Gesichtszüge glitten sanft ineinander. Schmale Augenbrauen krönten haselnussbraune Augen. Das Ganze wurde von großen Locken umrahmt. Geöffnet fielen sie ihm fast bis auf die Schultern. Im Moment jedoch waren sie fahrlässig nach hinten gebunden. Die Locken waren größer als Timothys, hellbraun mit einem leichten Stich ins Rote. Dieser sanfte Rotton schimmerte vor allem in der Sonne auf. Timothy hatte bei einem Nachnamen wie Del Portas mehr südländische Einflüsse erwartet. Aber Mikael hatte weder die typische karamellbraune Haut noch die dunkle Augen- oder Haarfarbe. Seine Ahnenreihe wäre allein der Gene zum Namen wegen sehr interessant. Im Moment jedoch war von dem leicht braunen Teint und den flippigen Look nur der halbscharfe Blick der Haselnussaugen geblieben. Die fahle Haut und der allgemein erbärmliche Eindruck ließen Timothy beinahe etwas Mitleid empfinden. Auf die Frage hin, lächelte der Musiker kokett und war so frei sich auf dem Dreisitzer einen Platz frei zu schieben, ehe er sich setzte. „Warum stellst du Fragen, wenn du die Antwort nicht wissen willst?“ „Ich will sie wissen. Dass jemand wie du so einfach an Informationen kommt, gefällt mir gar nicht. Aber würde ich dich fragen, würdest du doch eh nur wieder ausweichen, oder nicht?“ „Da hast du wohl Recht“, pflichtete Timothy ihm bei. „Aber wie gesagt, habe ich nicht mehr als das aus den Untiefen des Uni-Archivs gefischt. Ich bleibe dabei, dass ich mich lieber mit dir unterhalte.“ Mikael sah ihn eindringlich an, sagte aber nichts weiter. „Glaub mir ruhig. In solchen Dingen lüge ich nicht“, ergänzte Timothy. „Ich weiß“, kommentierte der Kranke schlicht. Timothy war überrascht, wenngleich er es nicht zeigte. Er lehnte sich leicht nach vorne und stützte seine Unterarme auf seinen Knien ab. Sein Blick blieb forschend. „Ja? Woher? Die meisten schenken meinen Worten nicht schnell glauben. Sie glauben mir alles oder glauben mir gar nicht. Etwas dazwischen gibt es nicht.“ „Jetzt nimm dich nicht so wichtig. Ich mag dein Gedankengambling heute nicht. Ich weiß es einfach und Punkt. Glaub es oder nicht. Dein Problem. Aber dir blind zu vertrauen oder dich vollkommen abzulehnen, wäre viel zu voreilig.“ Mikael seufzte schwer und lehnte sich zurück, sein Kopf nach hinten auf die Rückenlehne gepackt. „Sicher du bist nervig und prahlst viel, aber ich glaube nicht, dass du ein Lügner bist. Manipulativ, ja.“ Etwas perplex harrte Timothy in seiner Pose aus, ehe er sich am Kopf kratze und ebenfalls zurücklehnte. Dass er nichts zu Antworten wusste, war neu. „Ist es viel?“ „Was meinst du?“, fragte Timothy erstaunlich gelassen nach. „Recht“, kam die einsilbige Antwort. „Nur etwa zehn Seiten. Viele Paragrafen und so.“ „Hmhm“, brummte Mikael. Er hatte die Augen geschlossen und sah aus, als ob er gerade innerlich mit etwas rang. Timothy hatte keine Ahnung mit was genau. Kopfschmerzen, Übelkeit, Müdigkeit. Es war ihm auch egal. So was zu wissen brachte nur Unruhe und zu viel Vertrautheit. Leider konnte er es auch nicht nicht beachten. „Ich kann es dir auch kopieren und langbringen“, schlug Timothy vor. „Schon gut. Die Tablette sollte gleich wirken. Gib mir mal das Wasser da“, verlangte Mikael und hielt eine Hand auf. Timothy sah zu seinen Füßen und nahm das besagte Wasser. Als er es der wartenden Hand reichte, spürte er die Hitze der Finger. „Hast du Fieber?“ „Nur der Rest. Nächste Woche bin ich wieder fit.“ Das klang so selbstsicher, dass Timothy es nicht in Frage stellte. Auch nicht, dass er nachgefragt hatte, obwohl er es nicht wollte. Mikael trank wenig vom Wasser, ehe er den Kopf nach vorne rollte und aus glasigen Augen aufsah. „Wenn du es jetzt gleich abschreiben willst, dahinten liegt ein Block.“ Für einen Kranken war er sehr forsch, dachte Timothy und wunderte sich, dass er aufstand und besagten Block holen ging. In dem runden Wohnzimmer gab es wenig Möbel. Einige hohe Regale, Pflanzen und zwei eher kleine Schränke. Auf einem lag der Block. Mikael räumte den Couchtisch leer und schob ihn näher an den Dreisitzer. „Ich hatte gemeint, ich reiche es dir rein. Wenn es dir schlecht geht, kann ich wieder gehen.“ „Wozu? Nun bist du hier und hast sicherlich auch Zeit mitgebracht, um mich zu triezen. Also nutz deine Zeit und schreib“, meinte Mikael mit einem amüsierten Lächeln auf den Lippen. Der Blick war trotz der glasigen Augen und geröteten Wangen kalt und die Worte fast schon schneidend. Abnormal, aber nichts was eine Gänsehaut rechtfertigte, welche ihm trotzdem einem Schauer gleich über den Rücken lief. Während Timothy die Seiten abschrieb, klaubte Mikael sich die Decke vom anderen Sofa und legte sich der Länge nach hin. Sein Blick war unstet, die Lider wirkten schwer. Doch nach einer Weile sahen zwei erhitzte hellbraune Augen wach und neugierig zu, wie Wort für Wort geschrieben wurde. „Du schreibst echt schnell. Kann ich das nachher überhaupt lesen?“ „Hmpf. Ich bezweifle, dass du das alles brauchen wirst“, antwortete Timothy und blätterte die Seite um. „Immerhin hast du in der Vorlesung kaum mitgeschrieben und stattdessen lieber Noten gelesen.“ „Mich überrascht, dass du mir tatsächlich Recht bringst und keine neue Komposition. Du hattest zwei Vorlesungen Zeit ungestört zu schreiben. Eigentlich müssest du fertig sein.“ Timothy hätte gerne geseufzt, doch diese Blöße wollte er sich nicht geben. „Mal passe ich auch auf.“ Schweigen breitete sich für einen Moment aus. „Kommst du denn voran?“ „Wenn du weniger redest, bin ich schneller mit abschreiben.“ Mikael verzog das Gesicht und setzte sich schwerfällig auf, um besser auf die sich bewegende Hand sehen zu können. „Das meinte ich nicht. Was macht … Omphalos?“ „Nenn es ruhig so. Und keine Sorge“, erklärte Timothy, während er Wort um Wort schrieb, aber nicht aufsah. „Ich habe Chris erklärt, dass das mit Omphalos nur ein Scherz war. Wäre cool, wenn du ihm demnächst nicht aus dem Weg gehst. Er sieht nicht so aus, aber er ist recht … sensibel.“ Mikael sah von der Hand zu dem konzentrierten Gesicht. Er musterte es eine Weile, ehe er stumm nickte. „Okay.“ Schweigen machte sich abermals breit. Länger diesmal. Rein das Kratzen des Stiftes über das Papier und das Rascheln der Seiten beim Umblättern dienten als Unterhaltung. Schließlich klickte der Kuli und wurde zur Seite gelegt, die Seiten geordnet und der Block zurückgeblättert. Timothy setzte sich auf und betrachtete den Kranken auf der anderen Couch. Mikael sah durch die tiefen Augenränder müde aus. Dennoch blickten die helleren Augen munter zurück. Gerade so als warteten sie auf etwas. Timothy ballte seine Hände zu Fäusten. Heute Morgen hatte er in seinem Tief alles hinschmeißen wollen und jetzt juckten seine Finger, weil er seine Noten weiterschreiben wollte. Faszinierend und etwas beängstigend, wenn er ehrlich war. Aber er wäre nicht er, wenn er diesen Drang nicht zurückhalten könnte. Das was man wollte nicht zu bekommen, darin hatte er Übung. Mit jemanden umzugehen der ihn intellektuell und emotional forderte, leider nicht. Mikael war interessant, aber wenn er Timothy mit solchen Augen ansah, schrie alles in ihm danach vorsichtig zu sein. Rumblödeln war das eine. Aber jemanden an sich heranlassen oder ihm die Möglichkeit zu geben, etwas von seiner Art zu verstehen, wollte der Musiker nicht. Ganz sicher nicht. Das konnte sowieso niemand. Dazu war er nicht bereit. „Kann ich mal dein Handy haben?“ Die Frage verließ Timothys Lippen, während er sein Innerstes gegen alles wappnete, was kommen sollte. Das Schlimme war, dass Timothy zum ersten Mal nicht vorhersehen konnte, was das sein sollte. Mikael setzte sich auf und griff hinter sich. Nach etwas Suchen, fand er das Objekt und reichte es seinem Gast. Dieser wischte über den Display und reichte es sofort zurück. „Entsperren bitte.“ Mikael grinste amüsiert. „Warum? Was willst du machen?“, fragte er und reichte zugleich das entsperrte Handy zurück. „Ist das nicht offensichtlich?“, fragte der Musiker. „Eigentlich dachte ich, du hättest meine Nummer längst“, meinte Mikael stichelnd. Timothy sah einen flüchtigen Moment vom Display hoch, dann wieder zurück. Das amüsierte Lächeln im kranken Gesicht mit den roten Wangen und den glasigen Augen, war nichts, was er jetzt bewältigen mochte. „Beim nächsten Mal informiere ich mich vollständig, damit ich deinen hohen Erwartungen auch gerecht werde.“ „Nein, bitte nicht. Es ist erfrischend, wenn Eure Eminenz sich auf mein Niveau herablässt. Es ist ein Privileg.“ Timothys Mundwinkel verzogen sich nach unten. Man hakte nicht auf Kranken rum und doch war er genau deswegen hergekommen. Seine Idee feuerte zurück und nun brachte er es nicht über sich, zu sticheln, während Mikael es voll ausnutzte. „Ich will deine Meinung zu dem Stück wissen, wenn es fertig“, sagte er schließlich und reichte das Handy zurück. „Und ich will nicht warten, bis zur nächsten Vorlesung, sollte es soweit sein.“ Timothy sah Mikael in die Augen und sah erneut dieses Leuchten, welches er kurzzeitig im Café beobachten konnte. Wie die heimliche Freude, wenn man Kekse gefunden hatte, die man nicht essen sollte. „Einverstanden.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)