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Eren

Geheimnisse der Turanos
von

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Das neue Experiment

Draußen vor dem Fenster regnet es in Strömen. Immer wieder erhellt ein Blitz den wolkenverhangenen Himmel und lauter Donnerknall durchbricht das stetige Trommeln der Wassertropfen gegen die Glasscheibe. Wegen den dichten, dunklen Wolken ist es für den Mann unmöglich zu sagen, welche Tageszeit gerade ist.
 

Er steht in einem gut fünfundzwanzig Quadratmeter großen Raum mit einer Fensterfront an der Außenmauer des Gebäudes, das so hoch ist, dass der Mann über die anderen Dächer der Stadt blicken kann. Das Büro liegt in Finsternis gehüllt, lediglich die zuckenden Blitze tauchen es für den Bruchteil einer Sekunde in ein bedrohliches Spiel aus Licht und Schatten. Der Strom ist ausgefallen. Zumindest in den überirdischen Stockwerken des Wolkenkratzers. Das Gewitter und seine Blitze sind nicht Schuld daran, sondern die Menge an benötigter Energie für das Geschehen in den geheimen, unterirdischen Bereichen. Den Vorgängen im Bunker. Der Sturm ist nur Tarnung, damit niemand Verdacht schöpft, weshalb eines der größten Gebäude der Stadt plötzlich ohne Strom dasteht.
 

Das Sakko seines feinen dunkelgrauen Anzugs hängt über seiner Stuhllehne und den Knoten der Krawatte hat er gelockert. Seine dunkelblonden Haare hat er zu einem kurzen Pferdeschwanz am Hinterkopf frisiert und der Bart ist frisch gestutzt. Der Mann sieht durch den Regen auf die Stadt hinaus. Ernst. Überlegend. Planend. Ungeduldig. Er wartet auf den Bericht der geheimen Etagen und geht bereits jetzt die nächsten Schritte seines Plans durch. Falls der Bericht zu seiner Zufriedenheit ausfällt. Dabei umklammert er dieTasse seines Kaffees so fest, als könne er die Antworten aus ihr herausquetschen.
 

Entlang der Wände links und rechts reihen sich deckenhohe Regale aneinander, überfüllt mit Ordnern, Büchern und Akten. Vor dem großen Schreibtisch mit Laptop und Papierstapeln stehen vier gemütliche Stühle für Kunden und Meetings bereit. Doch heute wird keiner kommen. Heute hat er keinen Kopf für die nervenaufreibenden Gespräche über Verkaufszahlen und Marketingideen. Nein. Schon seit Stunden kann er an nichts anderes mehr denken, als an das, was im Bunker geschieht. Seufzend stellt er seinen mittlerweile kalten Kaffee auf den Untersetzer am Schreibtischab.
 

Gegenüber der Fensterfront führt eine dunkle Doppeltür auf den Gang zu den anderen hochrangigen Büros hinaus. Doch die wissen nichts über das, was unter ihren Füßen vor sich geht. Das geht nur den Mann und die von ihm persönlich auserwählten Mitarbeiter etwas an. Alle anderen kümmern sich um die Scheingeschäfte der Firma.
 

Die Finger hinter dem Rücken ineinander verschränkt hängt er seinen Gedanken nach, ohne das Klopfen an der Tür zu bemerken. Erst als diese geöffnet wird und eine junge Frau den Kopf hereinstreckt, kehrt er in die Gegenwart zurück.
 

„Verzeihen Sie die Störung, Herr Turano, aber ich habe Neuigkeiten", berichtet sie.
 

Der Mann dreht sich vollständig um und winkt sie ungeduldig herein. Die Frau schließt die Tür hinter sich und bleibt vor dem Schreibtisch stehen. Ein paar rote Strähnen haben sich aus ihrem Dutt gelöst, die ihr jetzt ins Gesicht fallen.
 

„War das Experiment erfolgreich?", möchte er sogleich erfahren.
 

Die Frau schiebt ihre Brille hoch und holt ein kleines Tablet hervor, das sie unter ihrem langen Laborkittel versteckt hatte. Sie tippt kurz darauf herum, bis sie die richtige Stelle gefunden hat und sieht dann wieder ihren Chef an. Ihr Gesicht verrät nichts. „Experiment HHM-562, Kennung DEM, hat sowohl das unverdünnte DS0- als auch das ES0-Serum eingesetzt bekommen. Momentan ist es noch nicht einsatzbereit, aber bald. Somit ist es das erste Exemplar, das beide Seren angenommen hat", berichtet sie. Ein erschöpftes, aber strahlendes Lächeln erscheint auf ihrem Gesicht. „Herr Turano, es war ein Erfolg."
 

Die Abkürzungen und Codierungen sind Absicht, damit mögliche Lauscher nichts mit den Informationen anfangen können. Der Geschäftsleiter braucht einen Moment ehe er die Bedeutung ihrer Worte versteht. Langsam blinzelt er vor sich hin. „Sind Sie sicher?"
 

Sie nickt, geht einen Schritt vor und legt das Tablet vor ihm auf den Tisch. „Wir haben es geschafft."
 

Turano nimmt das Tablet in die Hand, um sich die Notizen und Ergebnisse darauf durchzulesen. Nach jeder Zeile verschwindet die Sorge über einen weiteren Fehlschlag mehr und mehr. Seit fast zwei Jahrzehnten versuchen die Firmenwissenschaftler schon diese Versuchsreihe erfolgreich abzuschließen. Bisher ist jedes Experiment gescheitert. Kein Ausgangsmaterial war stark genug beide Serumvarianten zugleich zu ertragen. Bis jetzt.
 

„Endlich. Gute Arbeit." Turano legt das Tablet zurück auf den Tisch, legt die Hände wieder hinter den Rücken und atmet einmal mit geschlossenen Augen tief durch. „Haben wir schon Daten über die Fähigkeiten?"
 

Die Wissenschaftlerin schüttelt bedauernd den Kopf. „Wir wollten abwarten bis wir sicher sein können, dass DEM mit den Seren klarkommt, bevor wir mit den Untersuchungen beginnen."
 

Der Mann nickt verstehend. „Gut. Bring es in eine Kammer und hol mich sobald es bereit ist. Ich will mir meine neue Errungenschaft ansehen. Und lass es von zwei Leuten bewachen."
 

„Natürlich, Herr Turano." Die Frau nimmt das Tablet wieder an sich, deutet eine leichte Verbeugung an und verlässt den Raum.
 

Sobald die Tür ins Schloss gefallen ist, dreht sich Herr Turano wieder zur Fensterscheibe um. Ein zufriedenes Lächeln hebt seine Mundwinkel an. Endlich hat es geklappt. Endlich haben sie jemanden gefunden, der stark genug ist, um beide Seren verkraften zukönnen. Es hat so lange gedauert, so viele Fehlversuche gekostet, so viele unkalkulierbare Probleme ergeben ... Aber das ist jetzt Vergangenheit. Jetzt beginnt endlich die nächste Stufe der Experimentreihe. Er ist nur der Anfang seines großen Traums.
 

Dann flackern die eingelassenen Lampen in der Zimmerdecke und erhellen das Büro. Der Strom ist wieder da und verleiht dem Mann eine unheimliche Maske aus Schatten. Ja, wenn HHM-562 soweit ist, kann Turano mit Projekt Apex Life beginnen. Auf diesen Moment wartet er schon eine gefühlte Ewigkeit.
 

Tief unter der Erde des Turano Industries Wolkenkratzers, dem TuranoTower, liegt der Bunker. Die Ebenen der geheimen Forschungen und Experimente. Der Aufzug, der dorthin fährt, ist mit einer nicht hackbaren Schlüsselkarte und einigen Sicherheitsschleusen und Scanns gesichert, sodass auf alle Fälle nur diejenigen Zutritt bekommen, die dort auch was zu suchen haben. Außerdem sind die Knöpfe für diese Etagen erst sichtbar, wenn alle Sicherheitsvorkehrungen bestanden wurden. Und selbst dann gibt es noch Einschränkungen. Nicht jeder der dort arbeitet darf in jedem Stock herumspazieren. Die einzige Ausnahme ist Herr Benedikt Turano selbst und eine kleine erlesene Gruppe aus den treuesten Mitarbeitern.
 

Das Stockwerk -01 beherbergt die verschiedenen Labore, Untersuchungs-, Missions- und Lagerräume für verschiedenste Geräte, Substanzen, Materialien und was sonst noch irgendwo Verwendung findet. In -02 sind eine große Sporthalle, etliche Fitnessgeräte und zwei Schwimmbecken zu finden. Hier werden die Experimente nach physischen und psychischen Fähigkeiten untersucht, getestet und gefördert. In dem wie ein Wagenrad aufgebautem Stockwerk -03 sind die überlebenden Experimente untergebracht, sortiert nach ihren Experimentnummern und Kennungen. Jede Speiche des Rads ist ein Gang, der mit einer Liste versehen ist, damit man auf einem Blick weiß, welche Experimente wo zu finden sind. Bis zu zehn Experimente können pro Speiche leben, fünf Zellen auf jeder Seite. Außerdem ist im Zentrum der verzweigten Gänge ein Aufenthaltsraum zu finden, einer der wenigen Orte, an denen sich die Experimente frei bewegen dürfen. Dennoch werden sie immer von Kameras und wachsamen Männern und Frauen in Uniformen beobachtet.
 

Die einzelnen Zellen sehen alle identisch aus. Ein neun Quadratmeter großer Raum in Weiß mit einer dicken Spezialglasscheibe als Zugang zum Flur. Ein paar kleine Löcher darin ermöglichen den Luftaustausch. Die Lampen sind hinter milchigen Plexiglasplatten in der Decke versteckt. Bis auf einem einfachen Bett und einer Toilette in der Ecke ist der Raum leer. Von außen sind die Insassen durch ihre Experimentnummern und Kennungen mit Klebefolie an der Scheibe gekennzeichnet.
 

Während in den meisten Gängen mindestens vier, fünf Insassen leben, ist in dem kurzen Flur mit der Beschriftung HHM-Reihe lediglich eine Zelle belegt. Vor dieser stehen zwei Wachen in dunklen Uniformen mit metallischen Schutzplatten an Armen, Beinen, Brust und Rücken und einer dicken Schutzweste offen darüber. Turano ist ein vorsichtiger Mann. Jeder trägt einen eingestickten Namen mit Mitarbeiternummer an der Schutzweste. Im Bunker sind nicht nur die Experimente ordentlich nummeriert.
 

In den Händen halten sie längliche, schwarze Kästchen: ein Notfallgerät, um die Experimente unter Kontrolle zu behalten, ohne ihnen zu schaden. Zumindest nicht zu sehr. Dafür sind sie zu wertvoll und zu teuer in der Herstellung gewesen.
 

Draußen ist die Sonne schon zur Hälfte aufgegangen, die Gewitterwolken haben sich vollständig verzogen und es verspricht ein schöner Tag zu werden. Doch das interessiert die Menschen im Bunker kein bisschen. Es gibt nicht einmal Fenster, durch die sie schöne Tage hätten bewundern können. Alles was sie hier sehen ist steril, weiß, kalt. Die einzige Abwechslung bieten die Experimente, die sie beobachten, trainieren und erforschen.
 

Das Experiment, dass die beiden bewachen, ist der neueste Erfolg der Firma: HHM-562, Kennung DEM. Kein lebloses Objekt, sondern ein echter, lebender Mensch. Der Junge ist etwa vier Jahre alt. Er liegt friedlich auf dem Rücken, die Arme links und rechts neben sich auf einer dünnen Baumwolldecke. Seine Haut ist blass, was nach all den Jahren hier unten kein Wunder ist. Bis vergangene Nacht hat er sein Leben im künstlichen Koma in einem Glaszylinder verbracht. So wie alle Probanden bis sie für ein Experiment ausgewählt werden.
 

Seit einigen Stunden liegt er ohnmächtig im Bett. Seine Brust hebt und senkt sich gleichmäßig. Wann er erwacht, lässt sich nicht vorhersehen. Deshalb sollen die beiden Männer ihn auch im Auge behalten. Deswegen und weil er nun mal der erste Überlebende der HHM-Reihe ist. Niemand kann sagen, wie er reagieren wird, wenn er erwacht. Von seinen Kräften einmal ganz abgesehen. Die sind von Experiment zu Experiment und Versuchsreihe zu Versuchsreihe unterschiedlich. Es ist immer eine Überraschung was dabei herauskommt.
 

Allmählich wird die Atmung des Jungen schneller, hektischer und der friedliche Ausdruck auf seinem kindlichen Gesicht verschwindet. Er wirkt jetzt verkrampft, so als hätte er Schmerzen. Die Augen fest zusammengekniffen, den Kiefer angespannt. Durch das leise Winseln werden auch die Wachen auf das veränderte Verhalten des Experimentjungen aufmerksam.
 

Der Mann mit den dunkelbraunen, kurzen Haaren und dem Schnauzbart mustert unsicher den Jungen durch die Scheibe. „Meinst ... Meinst du wir sollten jemandem Bescheid geben?"
 

Sein Kollege zuckt genauso unwissend mit den Schultern. „Keine Ahnung. Falls wir Turano umsonst nerven, feuert er uns doch, oder?"
 

„Ich weiß es nicht. Und wenn es genau das ist, was wir melden sollen?", grübelt der Erste weiter.
 

Keiner der beiden hat je zuvor diesen Wachdienst übernommen, dementsprechend verunsichert sind sie, was jetzt zu tunist. Als DEM plötzlich kurz aufschreit zucken die Männer erschrocken zusammen und umklammern überfordert ihre Kästchen.
 

„Ich ruf jetzt Turano an. Wenn er jetzt aufwacht und wir dran schuld sind, dass er es verpasst, dann ..." Ein Schauder unterbricht ihn. „Ich will mir das gar nicht vorstellen."
 

Er löst sein Funkgerät vom Gürtel und drückt auf den Knopf, es gibt nur eine Frequenz, sodass ihm erspart bleibt die richtige zu suchen. „Turano, Sir, Wache 1245 hier, können Sie mich hören?"
 

Es rauscht zunächst, dann meldet sich am anderen Ende eine verschlafen klingende Stimme: „Turano hier. Was ist?"
 

„Experiment HHM-562 zeigt Anzeichen dafür aufzuwachen." Die Stimme des Mannes zittert leicht. Er weiß, was ihn und seinen Kollegen erwartet, sollte es ein einfacher Fehlalarm sein. Turano ist nicht der Typ, der zweite Chancen verteilt.
 

Sofort scheint der Firmenchef, der wohl in seinem Büro eingeschlafen ist, hellwach zu sein. „Bin schon unterwegs."
 

Damit ist die Verbindung unterbrochen. Wache 1245 wartet noch einen Moment überrumpelt auf weitere Befehle oder Anweisungen oder Irgendwas. Aber es bleibt still. Er schluckt einmal und sieht dann zu seinem Partner. „Turano ist auf dem Weg."
 

Der Braunhaarige nickt, dann drehen beide ihre Köpfe zur Zelle und beobachten mit gemischten Gefühlen den Jungen, der seinen Kopf immer unruhiger von links nach rechts und wieder zurückwirft. Falten zerfurchen seine junge Stirn und seine Finger bohren sich verkrampft in die Decke. Es ist, als würde ein kleines Männchen mit einem Presslufthammer von Innen gegen seinen Schädel donnern. Es wird schlimmer und schlimmer bis es sich anfühlt, als würde sein Kopf jeden Moment wie ein Wasserballon platzen. Er hält es nicht mehr aus.
 

Von einer Sekunde auf die andere sitzt er aufrecht auf der Matratze, beide Hände krampfhaft an die Schläfen gepresst und schreit gegen den Schmerz an. Seine Stimme wird von den Wänden der Zelle zurückgeworfen, bringt die Glasscheibe zum Vibrieren und das Licht zum Flackern. Die Augen, die nicht mehr ganz menschlich wirken, hat er weit aufgerissen, die roten Adern darin treten deutlich hervor. Während das linke Auge eine goldene Iris besitzt, ist die des rechten rot, umrahmt von einer schwarzen Sklera. Immer mehr seiner braunen Haare färben sich, ohne einem bestimmten Muster zu folgen, schwarz oder weiß.
 

„Was ist denn jetzt los?!" Wache 1245 richtet abwehrend seine kleine Waffe auf die Zelle und tritt zwei Schritte zurück.
 

Der Braunhaarige drückt sich bereits an die Scheibe der gegenüberliegenden Zelle. „I-Ich habe keine Ahnung. Ist das normal? Passiert das bei allen Experimenten?"
 

„Glaubst du etwa, ich wüsste das?!", fragt der Wachmann überfordert. Für ihren ersten Wachdienst, ist das einfach zu viel. Weshalb gerade zwei Neulinge dafür ausgewählt wurden wissen sie nicht.
 

Das Schutzglas bekommt Risse. Ganz zart, klein zunächst, aber mit jeder Sekunde werden sie größer, länger bis die ganze Fläche wie ein Spinnennetz aussieht. Das Vibrieren erzittert die einzelnen Scherben so stark, dass bereits die ersten herausfallen, wodurch auch der Rest der instabil gewordenen Schutzscheibe in sich zusammenbricht. Ein Meer aus Glassplittern verteilt sich über den gefliesten Boden. Die Wachen weichen zitternd zurück.
 

Der Junge hat mittlerweile aufgehört zu schreien. Er sitzt mit geschlossenen Augen noch immer aufrecht im Bett, die Hände an den Schläfen. Nachdem er ein paar Mal tief ein- und ausgeatmet hat, um sein rasendes Herz zu beruhigen und die Kopfschmerzen zu mildern, öffnet er seine Lider. Nur um sie sofort wieder zuzukneifen. Das grelle Weiß überall blendet seine empfindlich gewordenen Augen. Nach wenigen Sekunden versucht er es erneut. Diesmal ist er auf die Helligkeit vorbereitet, sodass es zwar noch immer brennt, jedoch mit jedem Blinzeln erträglicher wird. Seine Haare sind plötzlich wieder einfarbig braun, auch seine Augen sehen wieder wie die jedes blauäugigen Menschen aus.
 

Das steigert die Panik der Wachen noch weiter. Ihnen wurde nämlich nicht einmal erklärt, wen oder was sie da genau bewachen.
 

Langsam lässt der Junge die Arme auf die Decke sinken und sieht sich in dem kleinen Raum um. Sonderlich viel zu sehen gibt es ja nicht, dennoch wird sein Blick immer verwirrter, immer verängstigter. Besonders als er das Scherbenmeer entdeckt und die beiden Männer in Schutzausrüstung, die sich noch panischer als er selbst soweit wie möglich an die Wand drücken und ihn mit ängstlichen Gesichtern beobachten. Dabei umklammern sie verkrampft die kleinen Kästchen, die Daumen schweben bereit über dem Fire-Knopf.
 

Verwirrt senkt der Experimentjunge die Augen, sieht sich erneut nach der Quelle der Angst der Beiden um und mustert schließlich sich selbst, als er sonst niemanden entdeckt. Er kann jedoch nichts Bedrohliches an sich feststellen. Er sitzt doch nur im Bett, trägt ein hässliches, einfarbiges T-Shirt, das ihm viel zu groß ist und eine dazu passende genauso hässliche Hose, die ihm etwas übers Knie reicht. Die Füße sind nackt. An seinen Handgelenken entdeckt er seltsame Ringe, wie Armreife. Sie sehen wie aufgemalt oder eintätowiert aus. Feine einfarbige Linien, nur einen Millimeter breit. Während der rechte Ring schwarz ist, ist der linke weiß. Dann fällt ihm noch etwas Merkwürdiges ins Auge. Er dreht die linke Handfläche nach oben, sodass er die Unterseite seines Unterarmes besser sehen kann. Dort wurde etwas eintätowiert. Zwei Zeilen mit einer seltsamen Buchstaben- und Zahlenkombi, die er nicht lesen kann. Vorsichtig fährt er mit den Fingern darüber und fragt sich, was das bedeutet.
 

Eigentlich, jetzt wo er so darüber nachdenkt, findet er überhaupt keine Informationen in seinem Kopf. Alles ist weg. Wie leergefegt. Wieso kann er sich an nichts erinnern? Und wo er schon dabei ist auszuflippen ... Wo ist er eigentlich? Dieser Ort kommt ihm alles andere als bekannt vor. Was macht er hier?
 

Sein Herzschlag wird wieder schneller, gleichzeitig nimmt der Kreisel in seinem Kopf an Schwung zu und etwas, das wie Säure brennt, rast durch seine Adern. Sein Blickfeld dreht sich bis er das Gefühl hat auf einem Schiff zu sein. Als auch noch sein Magen auf das Karussell aufspringt, wird er gezwungen die Augen zuschließen und eine Hand auf den Mund, die andere auf den Bauch zu drücken. So verharrt er ein paar Minuten, wartet darauf, dass die Karussellfahrt eine Pause einlegt.
 

Die Wachen wagen es nicht sich zu bewegen. Sie brauchen schon ihre gesamte Willenskraft, um überhaupt im Flur stehen zu bleiben und nicht pausenlos den Knopf zu drücken. Es ist schließlich nur ein Kind, zwar ein nicht ganz normales Kind, aber immer noch ein Kind. Turano würde sie umbringen, wenn sie seine kostbaren Experimente grundlos schädigen. Sie sind schließlich um ein vielfaches mehr wert als jeder gewöhnliche Mitarbeiter in diesem Gebäude. Das wurde ihnen auch sofort am ersten Arbeitstag klargemacht.
 

Keine fünf Minuten ist es her seit der Mann seinen Boss angerufen hat, als auch schon das Echo von eiligen Schritten durch die Gänge hallt. Den beiden Männern ist die Erleichterung und Anspannung deutlich vom Gesicht abzulesen. Sie wissen nicht was sie als nächstes erwartet. Vermutlich sollen sie die Scherben wegräumen und den Jungen verlegen. Genau davor graust es sie. Was die Leute im Labor mit ihm angestellt haben ist topsecret. Nur Turano und die Wissenschaftler wissen es. Gewöhnliche Wachen, die nur dafür sorgen sollen, dass alles ruhig bleibt, sind nicht befugt so etwas zuerfahren.
 

Natürlich hat auch das Kind die sich nähernden Schritte bemerkt. Es dreht den Kopf etwas, um mit einem Auge den Neuankömmling ansehen zu können. Die Übelkeit ist noch immerpräsent.
 

Turano bleibt für wenige Sekunden fassungslos vor dem Flur stehen. Seine Augen weiten sich beim Anblick der Scherben. Nicht vor Sorge oder Panik, nein, vor Begeisterung und Zufriedenheit. Mit jedem knirschenden Schritt steigt seine Vorfreude. Wie bei einem kleinen Kind an Weihnachten. Den zitternden Wachen wirft er einen strengen Blick zu, doch schon im nächsten Wimpernschlag liegt seine volle Aufmerksamkeit auf seiner neuesten Errungenschaft.
 

DEM senkt die Hand zurück auf die Decke. Wachsam beobachtet er die langsamen, vorsichtigen Bewegungen des fremden Mannes, der sich seinen Weg über den Glashaufen bahnt. Dabei bleiben die Augen ständig auf dem Kind haften. Dieses weiß nicht, was es von dem Mann halten soll, was er von ihm will. Ein mulmiges Gefühl breitet sich in seiner Magengrube aus, wodurch sein Bauch noch mehr verkrampft.
 

Der fremde Mann geht neben dem Bett in die Hocke, lässt seine Augen noch einmal über den Raum und das Experiment schweifen, ehe er an den blauen Augen hängen bleibt. „Hallo,Kleiner. Wie geht's dir?"
 

Der Junge ist sich nicht sicher, ob er antworten soll. Ob er überhaupt antworten kann. Sein Hals fühlst sich nämlich genauso geschunden an, wie der Rest seines Körpers.
 

„Du brauchst keine Angst zu haben. Du bist hier in Sicherheit." Turano bemerkt den inneren Aufruhr des Vierjährigen. Es ist nichts Unerwartetes. Bei vielen anderen war es genauso. Noch dazu ist dieser hier jünger als die durchschnittlichen Experimente, wenn sie erwachen. Das könnte schwieriger werden. Oder leichter. Er setzt zwar ein freundliches Lächeln auf, doch seine Augen kneift Turano forschend zusammen. „Weißt du wer ich bin? ... Und wer du bist?"
 

Frusttränen sammeln sich in den Kinderaugen und seine Finger graben sich in die Bettdecke. Was ist nur mit ihm geschehen? Hatte er einen Unfall? Eine starke Amnesie? Warum ist er dann nicht in einem Krankenhaus? Oder ist das hier eine Art Spezialklinik? Fragen über Fragen, die ihn nur noch mehr in Panik versetzen.
 

Eine warme Hand auf der rechten Schulter lässt den Experimentjungen erschrocken zusammenzucken und instinktiv zurückweichen. Aber das Bett ist nicht breit und steht direkt an der Wand, sodass er sich nur die Schulter stößt.
 

„Keine Sorge. Dein Gedächtnisverlust ist völlig normal", beginnt der Mann beruhigend, dabei setzt er sich auf die Bettkante. „Ich werde dir alles erklären, versprochen, aber zuerst bringen wir dich in dein Zimmer, damit du dich gründlich ausruhen kannst."
 

Das Kind schüttelt die Hände des Fremden ab, der ihm gerade aus dem Bett helfen wollte. Er schluckt einmal, um seine trockene Kehle zu befeuchten und wagt dann einen Sprechversuch. Seine Stimme klingt sehr heiser, sehr kratzig und jedes zweite Wort erstickt bevor es seinen Mund verlässt. „Wer ... du? ... ich?"
 

„Ich heiße Benedikt Turano, bin der Chef dieser Firma und der Einrichtung, in der du gerade bist. Und dein Name ist Eren." Turano stockt, scheint zu überlegen. Er wirft einen kurzen Blick zu seinen Wachen, die sich wieder etwas näher herangewagt haben. Dann sieht er mit einem warmen Ausdruck in den sonst so kalten Augen zu dem Jungen. „Ich bin dein Vater."

Die zwei Söhne

Die Wachmänner sehen sich erstaunt an, wagen es jedoch nicht einen Laut von sich zu geben. Eren bekommt die überraschten Blicke der Beiden nicht mit, seine Aufmerksamkeit liegt auf dem Mann vor ihm. Er ist also sein Vater? Ganz sicher ist sich der Kleine zwar nicht, aber in seinem Kopf wütet ohnehin schon ein Tornado aus Gedankengängen, sodass er keinem einzigen davon folgen kann, ohne sofort wieder von einem anderen abgelenkt zu werden. Deshalb beschließt er, dass Turanos Idee ein guter Vorschlag ist. Sich erst einmal auszuruhen, zu erholen und wieder klarer im Kopf zu werden klingt wahnsinnig verlockend. Vielleicht kehren seine Erinnerungen danach von selbstzurück?
 

„Na komm, Eren. Bringen wir dich in dein Zimmer."
 

Mit diesen Worten erhebt sich der Firmenchef, zieht die Decke vollständig beiseite und hält ihm auffordernd eine Hand entgegen. Kurz zögert das Kind noch bevor es sich einen Ruck gibt und die Hilfe annimmt. Schon bei der ersten Bewegung rast die Säure schneller durch seine Adern, lässt alles innerlich brennen. Angestrengt beißt er die Zähne zusammen, versucht den Schmerz zu unterdrücken, doch das verhindert nicht, dass sich sein Blickfeld wieder zu drehen beginnt und die nächsten Tränen über seine Wangen laufen.
 

Sofort ist Turano zur Stelle, nimmt den Jungen in den Arm, als dieser umzukippen droht. „Alles in Ordnung?"
 

Eren schüttelt leicht den Kopf, für mehr fühlt er sich zu schwach. Schon diese kleine Bewegung verleiht dem Kreisel neuen Schwung. Was ist nur mit ihm los? Warum fühlt er sich wie gerädert?
 

„Das wird wieder. Nach einer Runde Schlaf fühlst du dich besser", versichert der Mann mitfühlend. Er winkt die beiden Wachen zu sich, die zunächst Anstalten machen sich weigern zu wollen, doch nach einem finsteren Blick kommen sie doch herangetreten. „Wache 1245, du kommst mit mir. Wache 1327, du räumst die Scherben weg. Und schick Dr. Ryu zu mir aufs Anwesen. Sie soll sich Eren noch einmal ansehen."
 

„Ja, Sir!", sagen Beide synchron und salutieren.
 

1327 eilt sofort davon, sichtlich erleichtert. Die andere Wache bleibt mit gemischten Gefühlen zurück.
 

Der Vater schiebt währenddessen eine Hand unter die Kniekehlen des Kindes und stützt mit der anderen dessen Rücken. So hebt er ihn hoch und trägt ihn sicher über den Scherbenhaufen hinaus aus der Zelle.
 

„Sobald die Schmerzen schlimmer werden, sagst du mir sofort Bescheid, ja?", fordert der Mann ehrlich besorgt.
 

Eren, der mittlerweile ziemlich blass und etwas grün um die Nase ist, nickt leicht. In seinem Kopf dröhnt es, weshalb die Worte seines Vaters nur gedämpft an sein Trommelfell gelangen. Er hängt schlaff in Turanos Armen und hofft nur noch, dass er bald zurück ins Bett kann, die Augen schließen, schlafen und den Schmerzen entkommen.
 

Turano biegt am Hauptgang rechts ab, die Wache folgt ihm unaufgefordert. Eren bekommt nur verschwommene, weiße Bilder von der Umgebung mit. Er hat große Mühe seine Augen noch offenzuhalten. Die Realität scheint ihm mehr und mehr zu entgleiten, ohne dass er etwas dagegen tun kann. So dauert es auch gar nicht lange bis der Junge das Bewusstsein verliert.
 

Der Firmenchef zieht die Augenbrauen leicht zusammen beim Anblick des schlechten Zustandes seines neuen Experiments. Auch wenn Erens Atmung seit der Ohnmacht etwas gleichmäßiger geworden ist, befürchtet er das Schlimmste. Schließlich hat er nicht zufällig die Nummer HHM-562, was auf seinem Unterarm deutlich leserlich eintätowiert ist.
 

„Was ist passiert?", verlangt Turano von der Wache zu erfahren.
 

„Naja." Die Wache schlucht noch immer überfordert. „Zuerst hat er ganz friedlich geschlafen. Dann ist er unruhig geworden ... hat den Kopf hin und her geworfen und ist aufgewacht. Sir, gestatten Sie mir die Frage, was mit dem Junge gemacht wurde?"
 

„Nein", antwortet der Chef kurz und knapp. „Jetzt sag mir, was euch so erschreckt hat und wie das Panzerglas splittern konnte."
 

Stumm seufzend fährt der Mann fort: „Als er aufgewacht ist, waren in seinen Haaren schwarze und weiße Strähnen erschienen und seine Augen ... Sir, so etwas hab ich noch nie gesehen. Eines war weiß und golden, das andere schwarz und rot. Er hat geschrien und dadurch wohl irgendwie die Schutzscheibe zerstört. Sobald er aufgehört hat, sah er normal aus. So wie jetzt eben."
 

„Das klingt vielversprechend", meint der Firmenchef, den Blick noch immer auf das kindliche Gesicht gerichtet.
 

Bei jedem Wort ist das verschlagene, triumphale Funkeln in Turanos Augen noch heller geworden. Gleichzeitig bilden sich tiefe Falten auf seiner Stirn. Jetzt wo endlich jemand die Prozedur überlebt hat, würde der Mann es nicht verkraften diesen zuverlieren. Nicht so kurz nach seinem Erwachen. Sie haben ja noch nicht einmal seine Fähigkeiten herausgefunden, keinen einzigen Test absolviert, keine Daten gesammelt. Nichts. Hoffentlich gibt Dr. Ryu Entwarnung und es sind nur kleine Nebenwirkungen, die bald wieder verschwinden.
 

Alles in den Gängen, die sie passieren, ist ausnahmslos weiß: die Decke, die Wände, der Boden, sogar die Türen. Während zu ihrer Rechten die einzelnen Experimente in ihren Zellen sitzen und von jeweils zwei Wachen pro Flur beaufsichtigt werden, ist der Gemeinschaftsraum links komplett leer. Eine ganze Reihe Fenster zieht sich ab der Hälfte der Wände bis zur Decke einmal rundherum, sodass man von überall auf diesem Stockwerk hinein sehen kann. Natürlich einseitig verspiegelt, damit die Experimente im Inneren sich nie sicher sein können, wann sie beobachtet werden und wann nur die Kameras allein auf sie gerichtet sind.
 

Jede Wache, an der sie vorbeigehen, wirf dem Mann mit dem Vierjährigen im Arm fragende Blicke zu. Noch nie hat der Chef höchstpersönlich ein Experiment verlegt. Er hat zwar jedes einzelne als erstes begrüßt, sobald sie aufwachten, aber alles andere hat er sein Personal erledigen lassen.
 

„Sir, wenn Sie mir die Frage gestatten, was hat es mit den ...", beginnt Wache 1245, wird jedoch sofort unterbrochen.
 

„Nein, darfst du nicht. Erledige einfach deinen Job und kümmere dich nicht um die Details meiner Experimente. Hab ich mich klar ausgedrückt?" Warnend wirf Turano seiner Wache einen finsteren Seitenblick zu. Dieser schluckt eingeschüchtert und nickt nur. „Gut."
 

Nach fünf Minuten erreichen die Männer eine weiße Doppeltür mit einem schwarzen Türrahmen, um die Türflügel besser von den Wänden unterscheiden zu können. In unübersehbar großer Schrift steht dort „Zutritt für Unbefugte strengstens verboten!". Benedikt Turano ist einer der wenigen, die zu den Befugten für diese Tür gehören. Es gibt weder eine Klinke, noch einen Knauf oder irgendetwas anderes das so aussieht, als könne man damit die Tür öffnen.
 

Mit einem kurzen Seitenblick macht er dem Wachmann verständlich, er solle stehen bleiben. Eren wird an die Wache übergeben, die hektisch das kleine Kästchen in die Gürteltasche steckt und dann mit einem mulmigen Gefühl im Magen den Experimentjungen annimmt. Mit diesem im Arm dreht er der Tür den Rücken zu, die Augen dabei auf das Gesicht des Jungen gerichtet, um auf jedes Warnzeichen sofort reagieren zu können. Schließlich will er nicht so enden wie die Glasscheibe. Bei jedem noch so kleinen Zucken verkrampft sich sofort sein gesamter Körper.
 

Benedikt Turano legt währenddessen je eine Handfläche auf jeden Flügel der Doppeltür. Zunächst geschieht nichts, doch dann leuchten gelbe Kreise um seine Hände auf, die seinen Abdruck gründlichst scannen. Anschließend erscheint eine Tastatur aus leuchtenden Buchstaben und Zahlen, auf der er ein mehrstelliges Passwort eintippt. Zum Schluss fährt eine kleine Klappe neben dem Türrahmen hoch und ein Kartenlesegerät kommt zum Vorschein. Nachdem er einen Netzhautscan bestanden hat, verschwindet der Schutz über dem Lesegerät und er kann seine Berechtigungskarte hindurchziehen. Die Türflügel leuchten kurz hellgrün auf, dann erscheint eine Türklinke und die Autorisierung ist abgeschlossen.
 

Turano öffnet die Tür, bevor die Klinke wieder verschwinden kann und nimmt der Wache das Kind ab. „Such Ajax. Er soll zu mir kommen."
 

„Ja, Sir!" Wache 1245 salutiert und verschwindet.
 

Auch der Vater macht sich auf den Weg, geht durch die Tür und schließt diese hinter sich. Sofort verschwindet die Klinke wieder. Der Mann steht jetzt am Anfang eines langen, runden Tunnels. Eine Reihe Neonröhren erhellen die Strecke. Das schwache, flackernde Licht wird von den beiden Schienen am Boden reflektiert. Ein rechteckig geformter Wagen steht am Anfang der rechten Schiene bereit. Außen ist er schwarz lackiert mit silbernen Rändern und dem Logo der Firma an jeder Seite: ein großes rotes T und ein I, die miteinander verbunden im Zentrum eines Ringes stehen. Das Dach fehlt ab Höhe der Rückenlehnen. Der Innenraum bietet Platz für bis zu neun Leute, eine Sitzbank in der Vorderreihe und zwei sich gegenüberliegende dahinter. Die Bänke sind mit weinrotem Leder bezogen und sogar mit weich aussehenden Kissen bedeckt. Es gibt kein Lenkrad oder Pedale, nur zwei Knöpfe vor dem Fahrersitz zum Starten oder Stoppen das Gefährts. An der Wand neben der Tür befindet sich ein weiterer Knopf, mit dem man einen der beiden Wägen von der anderen Seite der Schiene rufen könnte, sollte keiner parat stehen.
 

Turano klettert auf die vorderen Sitze, legt das Kind behutsam neben sich ab und drückt auf den Startknopf. Kaum ohne einen Laut von sich zu geben setzt sich der Wagen in Bewegung. Es dauert keine zehn Sekunden bis die Höchstgeschwindigkeit erreicht ist. Der Fahrtwind zerrt an Turanos Pferdeschwanz während sie den Tunnel entlang rasen. Die Lampen an der Decke sind nur als leuchtende, unscharfe Striche zu erkennen, dennoch kann es dem Geschäftsführer nicht schnell genug gehen.
 

Nach wenigen Minuten erreichen sie ihr Ziel. Das private Anwesen von Benedikt Turano, das etwas außerhalb der Stadt auf einem kleinen Berg steht, der ebenfalls in Familienbesitz ist. Das Gebäude besteht aus altertümlichen Backsteinmauern mit Türmen, kleinen Zierzinnen und hohen Decken. Es wirkt wie ein Überbleibsel aus längst vergangenen Zeiten. Rund um das Anwesen erstreckt sich eine weite Wiese mit teuren Ziergärten, Teichanlagen mit Koi-Karpfen und unendlich vielen verschlungenen Pfaden dazwischen. Ein hoher schwarzer Zaun mit Stachelzaunkrone umgibt die Wiese. Dahinter wachsen große Bäume dicht nebeneinander zu einem Mischwäldchen bis zum Fuß des Berges hinab, den ebenfalls eine hohe Mauer umgibt. Überall auf dem Grundstück sind gefährliche Wachleute unterwegs, die meisten mit speziell gezüchtet und trainierten Hunden an ihren Seiten. Niemand hat je unbefugt den Berg betreten und ist bis zum eigentlichen Grundstück vorgedrungen.
 

Der Wagen hält. Turano steigt aus, nimmt Eren wieder in die Arme und erklimmt die Wendeltreppe ins Gebäude hinein. Sie kommen in einer Ecke eines kleinen Raumes heraus, der versteckt hinter einem großen Gemälde liegt. Der Raum, die Schienenbahn und das Ziel davon sind schließlich geheim. Abgesehen davon betritt dieses Anwesen eh nur jemand, der eingeweiht ist. Sollte dennoch jemals jemand Unbefugtes das Grundstück Turano betreten, verschwindet dieser endgültig vom Erdball ohne eine Spur zuhinterlassen.
 

Der Vierjährige schläft noch immer als er auf dem Sofa im großen Wohnzimmer abgelegt und mit einer Baumwolldecke zugedeckt wird. Der Vater setzt sich daneben, sieht mit zusammengezogenen Augenbrauen auf Eren herab. Das kindliche Gesicht wirkt angespannt, als hätte er einen Albtraum oder Schmerzen. Um diese Theorie zu überprüfen, legt der Mann seine Hand auf die Stirn des Jungen. Er fühlt sich tatsächlich warm an.
 

Benedikt zieht die Hand zurück und knetet unwohl seine Finger. Wenn dieses Kind wirklich sterben sollte, dann war alles umsonst. All die Mühen. All die Seren. All das Geld. Alles einfach weg. Schlimmer noch, dann hat er keine Chance Projekt Apex Life zu vollenden. Das will und kann Turano nicht akzeptieren. Unruhig geworden steht er auf und beginnt damit im Raum herumzutigern, die Arme hinter dem Rücken verschränkt. Dabei wirft er dem Kind immer wieder sorgenvolle Blicke zu. Der Mann wirkt überfordert. Er hat keine Ahnung, wie man sich bei einem kranken Kind verhält oder was man tun kann, um Fieber zu senken. Hoffentlich kommt Dr. Ryu bald.
 

Als der Junge dann auch noch beginnt keuchender zu atmen, ist er heillos überfordert. Ein mächtiger Mann, der Chef zweier weltweit aktiver Unternehmen, ist bei einem kranken Vierjährigen überfordert. Er muss sich irgendwie abreagieren, irgendwie ablenken. Kein anderes Experiment hat solche Symptome nach dem Erwachen gezeigt. Gut, vielleicht weiß er es auch nur nicht, weil ihm die anderen nicht halb so wichtig waren wie dieses hier. Immerhin hat der Vierjährige besondere Seren bekommen. Das DS0- und ES0-Serum. Die letzten Vorräte. Einen weiteren Versuch wird es nicht geben. Das ist die letzte Chance die HHM-Reihe zu erschaffen. Er muss einfach überleben. Er ist für seinen Plan unverzichtbar.
 

„Sie haben mich rufen lassen, Herr Turano?"
 

Durch die plötzliche Stimme schreckt der Firmenchef zusammen. Peinlich berührt räuspert er sich, strafft die Schultern, hebt das Kinn und geht der jungen Frau entgegen, die soeben aus dem Raum hinter dem Gemälde hervorgetreten ist. Sie hat rotes, schulterlanges Haar, eine Brille auf der Nase und Sommersprossen auf den Wangen. Über einem lila Pullover trägt sie einen weißen Laborkittel. Ihre schwarzen Stiefel verursachen bei jedem Schritt auf dem Laminat ein klackendes Geräusch, begleitet von dem gleichmäßigen Rollen des Koffers, den sie hinter sich herzieht. Es ist dieselbe Frau, die ihm einige Stunden zuvor in seinem Büro mitgeteilt hat, dass das Experiment ein Erfolg war.
 

„Dr. Ryu, schön Sie zu sehen." Mit einem weiteren verlegenen Räuspern bleibt er neben dem Sofa stehen und deutet auf Eren. „Ich möchte, dass Sie sich DEM noch einmal ansehen. Irgendetwas stimmt nicht mit ihm."
 

Verlegen schiebt sich die Frau die Brille zurecht nachdem sie einen kurzen Blick zu dem Patienten geworfen hat. Er ist ihr selbstverständlich nicht fremd. Immerhin ist sie diejenige, die jedes Experiment von der Auswahl der Rohstoffe bis hin zum Tod begleitet. „Verzeihen Sie die Frage, Sir, aber wieso haben sie ein Experiment hierher gebracht?"
 

Turano funkelt Dr. Ryu warnend an, doch dann entscheidet er sich doch für die Wahrheit. Sie ist schließlich seine Ärztin. Und ein so großes Geheimnis ist das auch nicht. Irgendwann wird es sowieso jeder erfahren. Obwohl ... Hat er nicht letztens erst einen Bericht seiner Forschungsabteilung über ein Amnesieserum gelesen? „Er ist ab heute mein Sohn. Also sorgen Sie dafür, dass er überlebt."
 

Einen Moment lang gestattet sich die Ärztin einen überraschten Blick. Es kommt ja nicht jeden Tag vor, dass sie in das private Anwesen ihres Chefs gerufen wird, um einen Experimentjungen zu behandeln, den er spontan als Sohn adoptiert hat. Eigentlich ist so etwas noch nie vorgekommen und sie hätte auch niemals gedacht, dass soetwas überhaupt jemals vorkommen wird.
 

„Natürlich, Sir", willigt die Frau schließlich ein.
 

Dr. Ryu kniet sich neben dem Jungen auf den Boden, befühlt zunächst seine Stirn und zieht dann ein Thermometer aus dem mitgebrachten Koffer, welches sie ihm in den Mund steckt. Während die Temperatur gemessen wird, leuchtet sie mit einer Lampe in die Augen, deren Lider sie mit je zwei Fingern öffnet.
 

„Hm", kommentiert sie, erklärt jedoch nicht was es bedeuten soll.
 

Nun nimmt sie das Stethoskop zur Hand, zieht die Decke zurück, das T-Shirt nach oben und horcht Bauch und Brust ab. Hier seufzt sie, gibt aber auch keine Erklärung ab. Durch einen nervigen Piepton gibt das Thermometer bekannt, dass es mit seiner Messung fertig ist. Ein kurzer Blick darauf und sie nagt stirnrunzelnd auf ihrer Unterlippe herum. Das alles macht Turano nur noch nervöser.
 

Dr. Ryu richtet sich auf und steckt die Utensilien zurück in den Koffer. An ihren Chef gewandt erklärt sie die nächsten Schritte: „Es ist vollkommen normal, dass er Nachwirkungen spürt. Die Seren werden sich noch nicht vollständig mit seinem Körper verbunden haben. Ich gebe ihm was zum Fiebersenken und eine Infusion mit einem leichten Schlaf- und Schmerzmittel, damit er gut durchschläft. Morgen sehe ich nochmal nach ihm. Mehr kann ich momentan nicht tun. Wenn es morgen nicht besser ist, dann müssen wir ihn in mein Labor bringen, um weitere Untersuchungen durchzuführen."
 

„Danke." Sichtlich erleichtert lässt sich Turano in den Sessel gegenüber der Couch sinken. Es fühlt sich an, als wäre ihm soeben ein Stein vom Herzen gefallen, von dem er nicht einmal wusste, dass er da ist. Was ist das nur für ein neues Gefühl? Er hat schon mehrere Experimente an irgendwelchen Nebenwirkungen leiden und sterben sehen ... aber warum geht ihm das bei diesem hier so nahe?
 

Sobald Dr. Ryu das Kind behandelt hat, verabschiedet sie sich und verlässt auf denselben Weg das Anwesen, auf den sie gekommen ist. Eren liegt nun friedlich in Decken und Kissen eingehüllt auf der Couch, sein Vater im Sessel daneben. Turano reibt sich grübelnd übers Kinn. Es gibt so viel zu planen. Bei der Ausbildung dieses Experiments ... Nein ... Bei der Erziehung seines Sohnes muss jeder Schritt genauestens durchdacht sein, damit am Ende eine loyale rechte Hand hervorgeht. Das setzt allerdings voraus, dass er die Nacht übersteht.
 

Später am Vormittag taucht Ajax im Anwesen Turano auf. Er ist einer der loyalsten und stärksten Experimente des Mannes. Er hat schon etliche Missionen erfolgreich abgeschlossen und genießt das vollständige Vertrauen von Turano. Ajax trägt die Nummer UEG-012, Kennung IRV, am Unterarm, an derselben Stelle wie Eren seine und ist gerade einmal 16 Jahre alt. Der Teenager ist muskulös, was kein Wunder ist wenn er täglich trainiert und etwa so groß wie der Mann. Seine blonden stacheligen Haare erinnern an einen Igel. Anders als die meisten Experimente im Bunker trägt er keine einfache Trainingskleidung. Er hat sich schon das Recht erworben, selbst über seinen Kleidungsstil entscheiden zu dürfen. Er hat eine weite Jeans mit etlichen Taschen an und ein ärmelloses schwarzes Oberteil, weswegen seine Narben an den Armen deutlich zu sehen sind. Ein buntes Stirnband hält ihm die längeren Haare des Ponys aus den braunen Augen.
 

„Sie wollten mich sprechen, Sir?" Ajax bleibt im Eingang zum Wohnzimmer stehen, die Hände ordentlich hinter dem Rücken.
 

„Ja, Ajax, komm rein." Turano winkt den Jungen zu sich und erhebt sich gleichzeitig aus dem Sessel.
 

Da das Sofa mit der Lehen zum Gemälde steht, kann Ajax das Kind darauf zunächst nicht sehen. Erst als er direkt davorsteht und sich setzen wollte, bemerkt er den schlafenden Jungen. Überrascht hält er mitten in der Bewegung inne, blinzelt ein paar Mal, um sicherzugehen, dass er nicht halluziniert und sieht dann verwirrt und fragend zu dem Mann.
 

„Das ist Eren", beantwortet Turano die unausgesprochene Frage. „Er ist unser neuester Erfolg. Der erste Überlebende der HHM-Reihe."
 

„Der HHM-Reihe?" Fassungslos beäugt Ajax den Vierjährigen. Der soll die Experimentreihe mit den meisten Todesopfern tatsächlich überstanden haben? Schwer zu glauben. Doch die eintätowierte Nummer ist der eindeutige Beweis.
 

Benedikt Turano nickt. „Ich habe eine große Bitte an dich."
 

Neugierig und irritiert zugleich sieht der 16-Jährige zu ihm.
 

Turano atmet tief durch, dann sieht er fest in die braunen Augen. „Ich möchte, dass du ihn trainierst, sein Mentor wirst."
 

„Mentor? Aber, Sir, ich habe schon eine Schülerin. Ich glaub nicht, dass ich Zeit für einen zweiten habe", wirft Ajax bedenklich ein.
 

„Dann bekommt sie einen anderen Mentor. Eren ist wichtiger. Und du bist nun mal der beste, den ich habe", beharrt Turano auf seiner Idee.
 

Der Ton des Mannes macht klar, dass kein Widerspruch geduldet wird. Also nickt Ajax einverstanden. „Ja, Herr Turano. Ich habe verstanden."
 

„Gut." Turano nickt zufrieden. „Und noch etwas."
 

„Ja?"
 

„Ab heute bist du sein großer Bruder und mein Sohn."
 

„Was?" Perplex und mit offenen Mund starrt Ajax den Mann an. Er muss sich doch verhört haben. Er soll ... „Ihr Sohn?!"
 

Doch es war kein Scherz. Turano meinte es ernst. Nachdem er Ajax alles noch einmal klar und deutlich erklärt hat, was er genau von jetzt an von ihm erwartet, haben sie bereits mit der Planung der ersten Schritte begonnen. Außerdem hat der Firmenchef kurzerhand seine Innenarchitekten des Vertrauens zu sich gerufen. Sie sollten zwei der sowieso überflüssigen Schlafzimmer in die Kinderzimmer seiner neuen Söhne umbauen. Bis zum Abend sind Trainingsstationen im großen Garten und im Anwesen, sowie zwei bewohnbare Schlafräume für die neuen Brüder entstanden, sodass sie einziehen konnten. Alles ist bereit für die Erziehung des HHM-Jungen. Vorausgesetzt der Kleine überlebt.
 

Bei Sonnenuntergang sitzt Turano auf seinem kleinen Privatbalkon, der zu seinem eigenen Schlafzimmer gehört, ein Glas seines Lieblingsweines in der Hand und hängt seinen Gedanken nach, lässt den Tag noch einmal Revue passieren. Heute ist so viel Unerwartetes geschehen, das meiste hat er nicht in seinen kühnstenTräumen kommen sehen. Von einem Tag auf den anderen hat er zwei Söhne bekommen. Er versteht selbst nicht, was er sich dabei gedacht hat oder was er sich davon erhofft. Sein Plan würde immerhin auch umsetzbar sein, wenn Eren wie alle andere Experimente im Bunker bleiben würde. Ajax könnte dennoch sein Mentor sein. Er wusste das natürlich schon vorher und trotzdem hat er sich so entschieden. Es war eine für ihn untypische Spontanidee, die ihn einfach überkommen hat, als er Eren verschreckt mit Schmerzen in der Zelle hocken sah.
 

Der Mann nippt an seinem Glas und beobachtet die Sonne, wie sie hinterm Horizont verschwindet. Wie auch immer, jetzt ist es zu spät, seine Entscheidung zu bereuen. Eren und Ajax sind nun seine Söhne, sie sind jetzt eine Familie. War es die richtige Entscheidung? Tja, das wird sich erst noch zeigen.

(K)Eine normale Kindheit

Schon vier Tage darauf, die der Vierjährige meist schlafend in seinem Zimmer verbracht hat, ging es Eren wieder gut, so als ob nichts gewesen wäre. Da er sich an nichts erinnern kann, haben ihm sein Vater und sein großer Bruder Ajax erst einmal einiges erklärt, über seinen Unfall, seinen Gedächtnisverlust und seine Zeit im Koma. Danach haben sie ihm sein Zuhause - das Anwesen mit dem riesigen Garten - gezeigt und immer wieder gefragt, ob er sich an etwas erinnern kann. Jedes mal lautete die Antwort: nein, was den Kleinen zunehmend frustrierter und verunsicherter machte.
 

Trotz oder Dank der übertriebenen Fürsorge der Beiden - Turano war fast einen Monat lang nicht mehr in der Firma oder im Bunker und Ajax hat auch keine seiner anderen Verpflichtungen mehr wahrgenommen - gewöhnte sich das Kind allmählich an sein jetziges Leben. Egal was vor seinem Unfall war.
 

Sechs Wochen nach Erens Erwachen hat Turano beschlossen, dass es an der Zeit wär mit dem Training zu beginnen. Deshalb hat Ajax seit dem jeden Tag mit Eren gearbeitet und dabei auch die Trainingseinheiten stetig verlängert und immer häufiger am Tag eingeführt. Bei jedem Wetter. Zu jeder Tageszeit.
 

Zunächst einfache Übungen zum Aufbau der Kraft und Ausdauer: Joggen, Schwimmen, Klettern und solche Dinge. Selbstverständlich alles auf dem Grundstück der Turanos. Natürlich hat sich das Kind dabei ständig beschwert und gemault und versucht sich davor zu drücken. Schließlich macht so ein strenges Training einem Vierjährigen nicht unbedingt Spaß. Noch dazu ist es anstrengend. Aber Ajax hat keine Ausreden geduldet und seinen kleinen Bruder durch die einzelnen Stationen gescheucht. Fast jedes Mal wurde am Schluss aus dem ernsthaften Training ein Fangenspiel zwischen den Brüdern. Wobei dabei nur der jüngere Spaß hatte. Im Laufe der Zeit hat Eren immer öfter gewonnen, weil er seine geringe Größe genutzt hat, um sich irgendwo zu verstecken, wo Ajax nicht hin kommt.
 

Nach wenigen Monaten Grundtraining, kamen die ersten Kampfeinheiten dazu. Sogar mit Gegnern, die um ein Vielfaches größer und stärker waren als er selbst. In Theoriestunden wurde dem Kind die Anatomie von Menschen beigebracht und einzelne Schritte von Kampfabfolgen einstudiert, die er in der Praxis umsetzen sollte. Dabei ist er nicht immer nur mit blauen Flecken davongekommen. Ajax behauptet zwar jedes Mal, er hätte sich eh zurückgehalten, aber trotzdem waren seine Schläge und Tritte mehr als nur schmerzhaft. Öfter als er zählen konnte hat er gebrochene Knochen davongetragen, hat Quetschungen, Prellungen, innere Verletzungen erlitten und ist am Ende fast jedes Mal ohnmächtig zusammengebrochen. Wofür er bestraft wurde.
 

Er selbst hat nie auch nur einen Treffer gelandet und jedes Mal, wenn er geheult oder gejammert hat, hat er einen weiteren Schlag abbekommen. Es gehört alles mit zu seiner Ausbildung. Er muss lernen Schmerzen auszuhalten. Doch erstaunlicherweise, egal wie schwer seine Verletzungen auch waren, alle heilten innerhalb eines Tages. Das war das erste Zeichen woran er erkannt hat, dass er kein gewöhnlicher Junge ist. Auch für Dr. Ryu, die ihn mindestens einmal in der Woche untersucht, war diese überragende Heilkraft erstaunlich.
 

Das zweite Zeichen war der Vorfall. Allerdings hat er keinerlei Erklärungen bekommen. Er hat keine Ahnung was dabei mit ihm passiert ist. In regelmäßigen Abständen, wenn sich das schwarze Mal weit genug ausbreitet, wiederholt es sich. Das erste Mal hat er einen großen Teil des Gartens vernichtet, die anderen Male wurden Vorkehrungen getroffen: ein sicherer Raum mit einem Stuhl, starken Fesseln und Narkosemitteln.
 

Mit fünf Jahren musste Eren weitere Abhärtungsmaßnahmen erdulden. Zum einen sollte er eine Immunisierung gegen allerlei Arten von Toxinen entwickeln. Von einfachem Bienengift, über lähmendes Schlangengift - wie das der Kreuzotter - bis hin zu den sofort tötenden Giften – wie Rizin. Deshalb wurde ihm immer wieder ein anderes Gift injiziert und dann abgewartet bis er es von selbst bekämpft hat. Keinerlei Hilfestellung von Gegengiften. Zunächst stark verdünnt und sobald er diese Form problemlos ohne sichtbare Wirkungen überstand, wurde die Dosis nach und nach stärker bis er von jedem die komplett unverdünnte Variante in viel zu hohen Dosen aushält.
 

Er musste nicht nur dem gewöhnlichen Gift standhalten, sondern auch den speziellen. Einige modifizierte, veränderte, verstärkte Toxine, die extra in den Laboren des Bunkers zusammengemischt wurden.
 

Oft ist er tagelang mit hohem Fieber, Halluzinationen und höllischen Schmerzen im Bett gelegen bis sein Körper dem Toxin etwas entgegensetzen konnte. Kaum war eines überwunden, kam schon die nächste Spritze mit dem nächst stärkeren Gift zum Einsatz. Eren hat ständig versucht sich dem zu widersetzen, sich zu verstecken, aber Ajax hat ihn jedes Mal gefunden. Wie auch immer er es angestellt hat.
 

Außerdem wurde der Gebrauch der unterschiedlichsten Waffen ab diesem Jahr in sein Trainingsprogramm mitaufgenommen. Von Gewehren über kleine Balisong bis hin zu Katanas und Nunchaku. Er soll eben ein Allroundtalent werden. Egal, ob er nun will oder nicht. Und er hat ganz bestimmt keine Lust auf all die Termine, zu denen seine Familie ihn zwingt. Er hat nur leider keine Wahl.
 

Manche dieser Termine waren Missionen, Aufträge, die irgendwelche Klienten an den Bunker gestellt haben. Eren erfuhr keine Einzelheiten über die Auftraggeber oder den Auftrag selbst, er sollte nur seinen Bruder bei dessen Missionen begleiten, um schon Mal Erfahrungen darin zu sammeln, damit er irgendwann allein diese Aufgaben übernehmen kann. Es waren ganz unterschiedliche Anträge, keiner wie der andere. Bei manchen ging es nur darum irgendetwas abzuholen, einen Ort zu erkunden oder Informationen zu sammeln. Dann gab es aber auch Klienten, die eine andere Art von Dienstleistung verlangten. Eine Art, die noch mehr in den illegalen Untergrund abdriftet. Als Eren seinen Bruder auch bei diesen begleiten durfte/musste, vergingen aber noch einige Monate.
 

Ab seinem sechsten Geburtstag wurde er noch dazu von Privatlehrern in gewöhnlichem Schulstoff unterrichtet. Zusätzlich zu seinem restlichen Training. Außerdem musste er ab dem Jahr zusammen mit Ajax in den Bunker, um sein Partnertraining weiter zu vertiefen, damit er auch gegen Andere gewinnen kann und so mehr Kampferfahrung sammelt. Die Gegner, andere Experimente, waren alle schon auf einem höheren Niveau als Eren. Sie alle haben keinerlei Rücksicht gezeigt, nur weil er jünger, kleiner und unerfahrener war als sie. Das hat Ajax ihnen auch verboten. Jedes Mal wenn das Kind verloren hat oder zu viel Mitleid oder Gnade zeigte oder erbettelte, wurde es von seinem Bruder zur Strafe erneut geschlagen und/oder musste eine extra Runde trainieren.
 

Diese harte Strenge hat sogar bald Früchte getragen. Einige Wochen nach Beginn des Partnertrainings hat Eren seinen ersten Kampf gewonnen. Es war ein waffenloser Kampf gegen einen Zehnjährigen, der einiges mehr auf den Rippen hatte. Dadurch war er einfach zu langsam, um den schnellen Reflexen des Sechsjährigen ausweichen zu können. Dank Ajax' Training. Mit schnellen, gut platzierten Schlägen in die empfindlichsten Körperstellen hat er diesen Kampf für sich entschieden. Wobei es gar nicht so einfach war durch den Schutz aus Fett zu schlagen. Nach einem letzten Handkantenschlag in den Nacken ist der Ältere umgekippt.
 

Nach diesem ersten Sieg stieg das Selbstvertrauen, der Wille zu Siegen und zu Kämpfen stark an. Von da an war das tägliche Training um ein vielfaches interessanter.
 

Zusätzlich sollte er nun Überlebenstraining absolvieren, das so aussah, dass er irgendwo im Nirgendwo ausgesetzt wurde und entweder einen Weg zum vereinbarten Treffpunkt finden oder einfach nur eine bestimmte Zeit überleben sollte. Dazu gehörte auch sich sein Essen selbst zu suchen oder zu erjagen und sich zuverteidigen.
 

Wobei, komplett allein stimmt nicht ganz. Ajax hat ihn zu jeder Zeit aus einem Versteck heraus im Auge behalten und hätte im Notfall eingegriffen. Schließlich ist der Junge zu wertvoll, um ihn zu früh während eines Trainings zu verlieren.
 

Ab Sieben wurde ihm offenbart, dass es mehrere Dimensionen gibt. Eine Welt, parallel zu der eigenen. Flaurana genannt. Zunächst hielt Eren das für einen Film oder einen Test, um zu sehen wie leichtgläubig er sei. Aber Ajax und Turano haben nie auch nur den Ansatz von Humor gezeigt. Hätte Eren nicht den Beweis für die Existenz dieser anderen Dimension gesehen, hätte er es niemals für die Wahrheit gehalten.
 

Im Zusammenhang mit der Welt voller Magie, wurde er in die ganze Kräftegeschichte eingeweiht und was die Zahlen und Buchstaben auf seinem Unterarm bedeuten. Nun ja, alles erklärt wurde ihm nicht. Nur in groben Zügen. Dass die Kennung und Nummerierung eben für unterschiedliche Kräfte und Fähigkeiten steht, dass jeder einzigartig ist.
 

Nachdem ihn das ganze erst einmal enorm verwirrt hat, hat es ein paar Tage gedauert ehe er so richtig verstand, was das nun für ihn bedeutet: noch mehr, noch härteres Training. Jetzt sollte er auch noch seine eigenen, persönlichen Fähigkeiten erlernen, die er erst einmal herausfinden musste. Niemand konnte ihm sagen, was genau er können sollte. Es herauszufinden war nur der erste Schritt, danach wollen diese neuentdeckten Kräfte schließlich auch trainiert und im Kampf erprobt werden.
 

Ab da fing er auch an zu verstehen, was diese farbigen Ringe an seinen Handgelenken zu bedeuten haben. So ungefähr zumindest. Durch das Kräftetraining stieg nicht nur die Anzahl seiner Siege in Übungskämpfen, es ließ auch die farbigen Ringe kleiner werden, was die Anzahl der Vorfälle senkt. Der Zusammenhang bleibt ihm unerklärt, weshalb er sich selbst irgendwas Halbes zusammenreimen musste.
 

Dann mit acht Jahren hatte Eren seine erste Solomission. Es gab keine Details, keine überflüssigen Infos, nur Zeitpunkt, Ort und ein Foto der Zielperson. Selbstverständlich wurde er von Ajax begleitet, der ihm viele Tipps und Anweisungen den gesamten Weg lang eingepredigt hat. Sein Bruder hat ihn zum richtigen Ort gefahren, sodass Eren nur noch auf die Zielperson warten musste.
 

Der Tatort war ein ruhiger Parkplatz hinter einem Bowling Center. Das Kind wollte unbedingt hinein, um zu sehen, wie es in so einem Gebäude aussieht und was Bowling überhaupt ist, doch sein Bruder hat darauf bestanden im Auto zu warten. So musste er sich damit zufrieden geben sich umzusehen. Er war schon froh darüber mal was anderes zu sehen als das Anwesen und die Sporthalle im Bunker. Ein paar Mal wäre der Junge eingeschlafen, jedes Mal wurde er grob von Ajax geweckt und an die Grundregeln erinnert, die er damals schon längst auswendig konnte.
 

Sie mussten die halbe Nacht warten bis die Zielperson endlich aus dem Gebäude getaumelt kam. Betrunken und zum Glück allein. Ajax musste Eren halb aus dem Auto schmeißen. Jetzt da es soweit war, bekam der Achtjährige kalte Füße. Es war schließlich alles andere als eine leichte Mission. Hier ging es nicht um so etwas einfaches wie eine Entführung oder Einschüchterung. Es ging um Mord.
 

Als Vorbereitung dafür war er natürlich schon auf manchen Missionen mit Ajax dabei, wo sein Bruder die Attentate übernahm und er zusehen musste, um sich an den Anblick und die Geräusche von toten und sterbenden Menschen zu gewöhnen. Unzählige Male musste er sich übergeben und hat stundenlang verzweifelt geweint, wofür er ebenfalls bestraft wurde. Er musste lernen damit umzugehen, seine Gefühle in solchen Momenten runterzudrehen, kein Mitleid zu empfinden und das Gewissen komplett abzuschalten. Diese Dinge stehen nur im Weg, wenn man gut im Familienbusiness Turano sein will. Gezwungenermaßen kam irgendwann der Tag, an dem es für den Achtjährigen normaler Alltag wurde Zeuge vom Tot eines Lebewesens zuwerden und auch noch dafür verantwortlich zu sein.
 

Doch wie sehr ihn die Vorstellung jemandem das Lebenzu nehmen auch missfällt, seinem älteren Bruder kann er sich nicht widersetzen. Es geht nicht. Niemals. Er ist sein großer Bruder, er muss ihm gehorchen. Deshalb hat er hinter dem Bowling Center schließlich klein beigegeben und sich in die Schatten verzogen, wie er es mit Ajax trainiert hat. Er schlich sich an den etwas dickeren Anzugträger heran und erledigte die Mission noch bevor der Mann wusste wie ihm geschah. Ohne zu zögern. Ohne zu kneifen. So wie es von ihm verlangt wurde. So wie es trainiert wurde.
 

Mit blutigen Händen und der Mordwaffe hat sich Eren, ohne noch einmal zu dem Toten zurückzusehen, zu Ajax ins Auto gesetzt. Das war das erste Mal, dass er von seinem großen Bruder ein Lob gehört hat. Er hat sich sehr über die Anerkennung gefreut. Das war der erste Mensch, den Eren jemals getötet hat. Und es blieb bei weitem nicht nur bei dem einen.
 

Im Alter von neun Jahren kamen dann noch mehr Abhärtungsmaßnahmen hinzu. Schließlich soll die zukünftige rechte Hand Benedikt Turanos der Stärkste von allen sein. Dazu gehört mehr als nur immun gegen verschiedene Toxine zu sein oder mit Glück oder durch Zufall einen Zehnjährigen besiegen zu können. Der nächste Schritt in Turanos Plan war die Abhärtung gegen Elektrizität. Eren wurde fast täglich immer stärkeren Stromstößen ausgesetzt bis es ihm möglich sein wird, sich trotz hoher Spannungen noch so bewegen zu können, als ob nichts wäre.
 

Doch die Elektrizitätsfolter reichte bei weitem nicht aus. Auch Kälteresistent muss er sein. Dafür kommt die Gefrierkammer des Anwesens zum Einsatz, in der er von Woche zu Woche länger drinstecken oder vom Gipfel eines schneebedeckten Berges allein zurück ins Tal finden musste. Ausgezogen bis zur Unterhose. Das gleiche gilt für Hitzebeständigkeit. Gut, dass das Anwesen auch eine Sauna und eine Feuerstelle im Garten hat. Statt eines Gletschers kam hier ein Vulkan als Trainingsplatz hinzu. Verbrennungen und Erfrierungen gehörten von da an genauso zum Tagesablauf, wie die Reaktionen auf Gifte, der Schulstoff, Kräftetraining und die Kampfstunden.
 

Mit zehn Jahren kommt er mit seinen bisher entdeckten Kräften ganz gut klar, auch wenn er noch nicht alle Geheimnisse enthüllt hat. Auch die Test sind immer intensiver, immer quälender geworden. Jede Zelle seines Körpers wird genauestens untersucht, seine Kräfte dokumentiert und versucht immer weiter zu steigern. Er wird häufiger auf Missionen geschickt, nicht immer als Auftragsmörder und auch nicht immer in seiner Welt. Allein allerdings darf er immer noch nirgends hin, überallhin begleitet ihn Ajax.
 

Nebenbei muss er auch noch den Vorzeigesohn spielen, wenn ihn sein Vater auf irgendwelche Highsociety-Veranstaltungen mitschleppt. Aber was soll er schon dagegen machen? Sich gegen seinen großen Bruder und gleichzeitig seinem Vater auflehnen? Dazu ist Eren nicht fähig. Nicht bei seiner Familie. Deshalb hat er sich damit abgefunden irgendwo in einer Ecke zu stehen, kein Wort zu sagen und artig darauf zu warten bis er wieder nach Hause darf. Zum Glück sind solche Veranstaltungen selten.
 

Als Eren elf Jahre alt war, hat er sich zu eines der besten Experimente entwickelt, das Turano beherbergt. Es gab bereits kaum mehr jemanden, den Eren nicht besiegen konnte. Fast jeden Kampf gewann er, nur gegen seinen Bruder hatte er noch immer keine Chance. Noch immer trainiert er rund um die Uhr seine Kampfkünste mit und ohne Kräfte, mit und ohne Waffen, steigert seine Immunität gegen Toxine, den Widerstand gegen Kälte, Hitze, Elektrizität und Schmerzen. Täglich Untersuchungen. Täglich Experimente. Täglich Training. Dazwischen verschiedene Missionen in unterschiedlichen Welten. So sieht das Leben des Kindes aus. Doch Eren hat sich längst daran gewöhnt.
 

Woran er sich jedoch niemals gewöhnen kann, sind die Stimmen, die er ab und zu in seinem Kopf hört und dem Traum mit den Spiegeln, den er seit seinem Erwachen immer wieder hat. Weder von den Stimmen noch den Träumen hat er seiner Familie etwas erzählt. Tief im Inneren hält ihn irgendetwas davon ab, als wäre es schlecht für ihn, wenn sie es wüssten.
 

Freizeit hat das Kind keine Sekunde lang. Außer wenn er ein paar Stunden die Erlaubnis bekommt zu schlafen. Eine normale Kindheit kennt er nicht. Er weiß weder was es heißt Spaß zu haben, noch was es bedeutet mit Gleichaltrigen etwas zu unternehmen oder gar Freunde zu haben. Nie darf er tun was er will, nie einfach nur Kind sein. Ajax hat ihn darin ausgebildet zu jeder Zeit Haltung zu bewahren und sich wie jemand von hohem Rang zu benehmen.
 

In seinem Leben bestimmen Ajax und Turano jede einzelne Minute streng nach dem Zeitplan des Vaters. Dabei gibt es keine Ausnahme, keine ungeplante Minute in der Eren tun kann wozu er Lust hat. Nicht an Sonntagen, nicht an Geburtstagen, nicht an Feiertagen. Nur Disziplin, Training und der Plan. Über allem steht der Plan.
 

So ist aus dem verängstigten, unwissenden, hilflosen Vierjährigen durch tausende Trainingseinheiten, Folterungen und Experimenten ein starker, skrupelloser, einsamer Zwölfjähriger geworden, der ohne Reue oder schlechtem Gewissen anderen Menschen das Leben nehmen kann.
 

In Wahrheit jedoch will Eren nicht so sein. Immer wieder ertappt er sich dabei, wie er an seinem Balkon steht, auf die Welt jenseits des Zauns und der Alarmanlagen hinausblickt und sich dabei vorstellt, wie es wohl wäre dort zu leben. Nicht jeden Tag trainieren, kämpfen und morden zu müssen. Keine Nerven aufreibenden Stimmen zu hören. Nicht ständig darauf achten zu müssen, die Kontrolle über Kräfte zu behalten, die man selbst nicht versteht. Freunde zu haben. Normal zusein.
 

Aber es bleibt ja doch nur Wunschdenken. Er ist eben ein Turano, der nur das Grundstück verlässt, um irgendeinen Auftrag für seinen Vater zu erledigen oder zu trainieren. Nicht mehr, nicht weniger.

Eine neue Mission

„Junger Herr Eren! Junger Herr, wo seid Ihr?", hallt der Ruf eines Mannes durch das gigantische Anwesen der Turanos.
 

Der Zwölfjährige hört die eiligen Schritte der beiden Männer auf dem Parkett im oberen Stockwerk, wie sie auf der Suche nach ihm Türen aufreißen und Zimmer durchsuchen. Der Junge denk nicht daran aus seinem Versteck zu kommen. Er hat keine Lust schon wieder zu einem Kliententreffen mitzukommen. Es reicht doch, wenn ihm sein Vater nachher alles über die neue Mission erzählt. Da er dieser Meinung ist, schiebt er sich noch ein Stückchen zurück, um nicht so leicht gesehen zu werden.
 

Das Kind hat sich in dem Labyrinth aus Lüftungsschächten verkrochen, die jeden Raum in dieser Villa miteinander verbinden. Da die Erwachsenen zu groß sind, um dort hineinzuklettern, ist es das absolut perfekte Versteck. Von hier aus kann er bequem am Bauch liegen und durch die Schutzgitter hinaus auf den oberen Korridor spähen, wo die beiden Butler, die ihm helfen sollten sich fertig zu machen, gehetzt nach ihm suchen.
 

Leider muss genau dann, wenn es am schönsten ist, der Spielverderber aufkreuzen. Direkt unter dem Lüftungsgitter, hinter dem sich Eren verbirgt, bleibt ein junger Mann stehen und sieht zu dem Gitter auf. „Eren. Hör auf mit dem Unsinn. Vater wartet schon."
 

Eren hat keine Ahnung wie Ajax das macht. Er findet ihn jedes Mal, egal wo er sich versteckt. Für ein paar Sekunden verharrt der Junge, hält sogar die Luft an, aber als seine Augen die von Ajax treffen, weiß er genau, es hat keinen Sinn mehr sich zu verstecken. Seufzend kriecht er vor, drückt die Gittertür auf und sieht wenig begeistert zu seinem Bruder hinab.
 

„Warum muss ich da mit? Du kannst mir doch danach die Infos geben. So wie früher. Ich steh doch eh nur rum und warte", beschwert sich das Kind.
 

„Du weißt, Vater will dich mit den Kunden vertraut machen." Ajax steckt schon in seinem feinen dunkelblauen Anzug mit der schwarzen Fliege und peinlich streng zurückgekämmten Haaren. Seine Lackschuhe glänzen im Licht der Kronleuchter, genauso wie das Gel in den blonden Haaren. Sein typisches kunterbuntes Bandana hat er in seinem Zimmer gelassen. „Komm runter. Ich bin mir sicher, ich habe dir nicht beigebracht, dich wie ein verängstigtes Kaninchen in Tunneln zu verstecken."
 

Der Junge rollt mit den Augen, zieht sich nach vorne, hält sich am Rahmen fest, schiebt sich komplett heraus und hängt nun mit den Armen am Schacht. Dann lässt er los, um sicher nach einer halben Drehung in der Hocke zu landen. Er richtet sich auf und klopft sich den Staub von der Kleidung. „Wozu muss ich mit den Kunden vertraut werden? Ich bin nicht derjenige, der die Missionen mit ihnen durchspricht und plant."
 

„Eren", sagt Ajax warnend. Die Augen leicht zusammengekniffen.
 

„Schon gut. War ja nur 'ne Frage." Beschwichtigend hebt der Junge sofort die Hände. Wenn sein Bruder diesen Blick bekommt, ist es besser gleich nachzugeben. Das musste er auf schmerzhafte Weise lernen.
 

Das Gesicht des Älteren nimmt wieder die ausdruckslose Mimik wie zuvor an. „Jetzt geh dich umziehen. In dreizehn Minuten fahren wir los."
 

„Ja, Ajax." Gehorsam geht das Kind an seinem Bruder vorbei. Auf dem Weg in sein Zimmer wird er von den beiden Butlern begleitet, die ebenfalls mitbekommen haben, dass Ajax ihn gefunden hat und in respektvollem Abstand gewartet haben, um ihre Aufgabe wieder aufzunehmen.
 

~~~
 

Genau dreizehn Minuten später, Punkt 14 Uhr, verlässt Eren das Anwesen durch den Vordereingang, steigt die Treppe hinab und geht auf die wartende schwarze Limousine zu. So wie sein Bruder trägt auch er Lackschuhe und einen Anzug, allerdings mit Krawatte. Er hasst dieses Ding. Er hat ständig das Gefühl, als würde es ihm die Luft abschnüren.
 

Ein Butler hält die hintere Tür auf bis der Junge eingestiegen ist. Dann klopft Benedikt Turano an die dunkle Glasscheibe, die Fahrerkabine mit dem hinteren Bereich trennt und schon heult der Motor auf und die Fahrt in die Stadt beginnt. Ihr Ziel ist ein nobles Restaurant in der Innenstadt von Haikla City. Das Besondere daran ist, dass es nicht wie typischerweise ein Großraum mit mehreren Tischgruppen ist, sonder ein Tisch pro Raum. Sehr exklusiv, sehr extravagant, sehr zum Kotzen. Eren kann dieses Schickimickiessen nicht ausstehen, außerdem muss er meistens im Eingangsbereich warten bis die Verhandlungen beendet sind. Noch ein Grund weshalb er nicht versteht, weshalb er überhaupt dabei sein muss.
 

Das Kind sitzt auf dem Rücksitz, hat den Ellbogen an der Tür abgestützt und sieht den vorbeiziehenden Bäumen des Familienwaldes zu, die vom Herbst in bunten Farben erstrahlen. Ein Schwarm kleiner Waldvögel flattert aus den Baumkronen am Straßenrand hinauf in das Blau des Himmels. Das riesige Tor am Fuß des Berges wird geöffnet als sich die Limousine nähert und sofort danach wieder verschlossen. Außerhalb sieht der Wald um einiges lichter und freundlicher aus als innerhalb der Mauern. Vermutlich alles nur Einbildung. Es ist im Grunde der selbe Wald. Nur das im Turanoteil kaum Wildtiere leben. Nur die paar, die sich irgendwie hineingeschlichen haben oder über die Mauer fliegen können.
 

Es dauert gar nicht lange bis die Skyline der Stadt auftaucht. Hohe Wolkenkratzer in der Stadtmitte ragen in das Blau hinauf. Je weiter man von der Stadtmitte entfernt ist, desto kleiner werden die Gebäude bis zu einem Ring aus einfachen Einfamilienhäusern.
 

In dieser Stadt hat er noch nie einen Auftrag erledigt, das heißt, niemand von Turanos Untergebenen wird dort eine Mission erfüllen. Das ist eine Abmachung, eine Sicherheitsvorkehrung, damit keine Verbindung mit den Turanos und den Morden, Diebstählen, Entführungen und so weiter weltweit entsteht. Dafür finden dort viele der persönlichen Treffen mit potentiellen Kunden statt.
 

„Eren, setz dich ordentlich hin", bemerkt Ajax, der neben dem Jungen sitzt.
 

Stumm seufzend wendet er den Blick vom Fenster ab, richtet sich gerade auf und legt die Hände in den Schoß.
 

„Zieh die Ärmel nach unten. Du weißt doch, du sollst aufpassen, dass deine Male nicht zu sehen sind", erinnert ihn sein großer Bruder.
 

„Ja, Ajax. Ich weiß." Obwohl seine farbigen Armreife eh unter den Hemdärmeln verborgen sind, zupft er diese weiter nach unten, damit sein Bruder zufrieden ist.
 

Dieser nickt auch und dreht den Kopf wieder zu ihrem Vater nach vorne, der den Beiden gegenüber sitzt. Er hat seine Haare wie immer zu einem Pferdeschwanz im Nacken zusammengebunden, einen teuren Anzug an, die Beine übereinandergeschlagen und die Hände ruhen auf seinem Oberschenkel. Mit einem zufriedenen Schmunzeln beobachtet er seine Söhne. Zu Beginn hätte er nie damit gerechnet, dass sich alles so problemlos entwickelt. Ajax und Eren. Er hat sich in den vergangenen acht Jahren so sehr an die Beiden gewöhnt, als wären sie tatsächlich seine Söhne. Einerseits freut es ihn, so ist sein Vorhaben einfacher umsetzbar, doch andererseits erschreckt es ihn und ist befremdlich. Er hat davor nie daran gedacht, jemals eine Familie zu wollen und jetzt hat er eine und kann sie sich nicht mehr wegdenken.
 

Die Limousine hält vor einem mehrstöckigen Gebäude an. Sofort eilt ein Mann in der Uniform des Restaurants Universe zum Wagen, um die hintere Tür zu öffnen. Eren mag dieses Getue nicht. Er ist sehr wohl in der Lage selbst eine Autotür zu öffnen. Dennoch reißt er sich zusammen und steigt nach seinem Vater und Bruder aus. Die Tür wird zugeschlagen und die Limo fährt um die Ecke ins restauranteigene Parkhaus.
 

„Na kommt, Jungs." Mit den Worten geht Turano die Treppe hoch und durch die Eingangstür, die ihnen ebenfalls aufgehalten wird. Seine Söhne folgen ihm artig auf den Fersen.
 

Der Eingangsbereich ist ein großer Raum, ausgelegt mit glänzenden kaffeebraunen Fliesen, die das Licht der kleinen Kronleuchter widerspiegeln. Ein großer rot-goldener Teppich führt vom Eingang bis hin zur Anmeldung gegenüber. Durch eine Treppe daneben gelangt man in die oberen Stockwerke, genauso wie mit dem Aufzug auf der anderen Seite der Rezeption. Hier im Erdgeschoss ist lediglich die Anmeldung und ein Warteraum zu finden. In den oberen Stockwerken befinden sich die einzelnen Räume für die Gäste. Das Restaurant ist im Groben wie ein Hotel aufgebaut, nur dass man hier eben mit mehr Privatsphäre als in gewöhnlichen Restaurants etwas essen kann. Das ist äußerst praktisch, wenn man potentielle Kunden mit möglichen neuen Aufträgen trifft.
 

„Hallo und herzlich willkommen im Restaurant Universe", grüßt die Dame am Empfang freundlich, gleichzeitig hat sie einen strengen Blick. „Wie kann ich helfen?"
 

Während Eren und Ajax auf halber Strecke stehenbleiben, tritt Benedikt an den Tresen heran. „Guten Tag. Ich hab eine Reservierung auf Turano."
 

Die Frau sieht auf ihren Bildschirm, tippt etwas auf der Tastatur herum und nimmt dann eine laminierte Karte mit der Raumnummer von der Pinnwand hinter sich. Diese reicht sie lächelnd an den Herrn. „Der Raum 202 wurde für Sie für vier Personen reserviert."
 

„Dankeschön." Mit der Karte in der Hand kehrt er zu seinen Söhnen zurück. „Ajax, du kommst mit mir. Eren, du ..."
 

„Ja, ich weiß. Ich gehe in den Warteraum, warte bis ihr fertig seid, tue nichts dummes, merkwürdiges oder sonderbares und tue überhaupt so als sei ich gar nicht da bis ihr mich abholt. Schon klar, Vater. Es ist ja nicht mein erstes Mal", rattert Eren die Regeln für solche Treffen ab, die er jedes mal zuhören bekommt und daher schon längst auswendig kann.
 

„Eren." Etwas entsetzt mit halb offenem Mund starrt Turano seinen jüngsten Sohn an. Ajax dagegen fixiert denJungen warnend mit seinen dunklen Augen.
 

„Entschuldigt. Das ist mir herausgerutscht." Beschämt senkt Eren den Kopf. Eine Hand auf der Schulter lässt ihn wieder aufsehen.
 

„Schon okay, mein Junge. Es sollte nur nicht noch einmal vorkommen", betont Turano streng, dabei verstärkt er den Griff.
 

„Selbstverständlich", willigt er sofort ein, auch wenn er wie so oft keine Ahnung hat, was er falsch gemacht hat.
 

Turano lächelt sanft. „Geh jetzt. Wir holen dich, sobald wir fertig sind."
 

„Ja, Vater."
 

„Komm, Ajax. Wir wollen unsere Kunden doch nicht warten lassen." Ein letzter Blick zu Eren, dann dreht sich der Mann um und geht zum Aufzug in der Ecke.
 

Ajax ist noch nicht ganz zufrieden. Er legt Eren beide Hände auf die Schultern und beugt sich etwas vor. Bedrohlich blickt er ihm direkt in die Augen, seine Stimme ist furchteinflößend sanft. „Das war dein letztes Vergehen heute. Noch so ein ... Ausrutscher und ich werde dich bestrafen müssen. Du weißt, wie ungern ich das tue."
 

Eren schluckt schwer, bemüht sich nicht den Blick zusenken während er langsam nickt, unfähig zu sprechen.
 

„Guter Junge." Ajax erhebt sich und geht zu seinem Vater, der bereits in der Kabine auf ihn wartet.
 

Sobald sich der Fahrstuhl in Bewegung setzt, sind nur noch Eren, die Frau an der Rezeption und ein Security-Mann in der Ecke, den er erst jetzt bemerkt, im Eingangsbereich. Eren marschiert direkt auf den Warteraum zu, um vor den bohrenden Blicken der Beiden zu fliehen.
 

Das Wartezimmer ist im Vergleich zum restlichen Gebäude eher spärlich eingerichtet. Es gibt keine Tische, nur einfache Holzstühle an den Wänden und ein paar Pflanzen in regelmäßigen Abständen dazwischen. Eine kleine Lampe in der Mitte der Decke sorgt für Licht und komplette Stromverschwendung. Die Fenster lassen mehr als genug Sonnenlicht herein.
 

„Endlich kann ich das Ding loswerden", murrt Eren als er den Knoten seiner Krawatte weitet und das Sakko auszieht, um es über eine der Stuhllehnen zu hängen. Er muss nur aufpassen beides wieder ordentlich anzuziehen bevor er abgeholt wird. Aber das kann noch eine Weile dauern. Bestimmt sind sie gerade erst bei der Begrüßung.
 

Er lässt sich seitlich auf einem Stuhl in Fensternähe nieder, legt den Arm auf die Lehne und beobachtet durch die Scheibe die vorbeifahrenden Autos, Busse und Taxen. Wie immer. Genervt seufzend lässt er den Kopf auf den Arm sinken. Das ist alles so langweilig. Viel lieber wäre er jetzt Zuhause, um das erste Mal tun zu können, wozu er Lust hat. Er würde sogar lieber trainieren oder einen dieser dämlichen Test machen. Alles ist besser als hier zusitzen und die Sekunden zu zählen. Leider bleibt ihm nichts anderes übrig. Er darf nicht allein bleiben. Hier in diesem Raum allein zuwarten ist schon eine große Überwindung für seine Familie. Sie sind so überfürsorglich und übervorsichtig, behandeln ihn wie einrohes Ei. Dabei kann er sich sehr gut selbst beschützen. Er hat es mit Entführern aufgenommen, mit Serienkillern, sogar mit Monstern in der anderen Welt und doch ist es ihm nicht gestattet ein paar Stunden allein Zuhause zu bleiben, wo eh eine Menge Sicherheitsmänner und Hightech-Alarmanlagen jeden Zentimeter des Anwesens genauestens bewachen.
 

Frustriert schnaubt Eren in seine Armbeuge. Ob sich sein Leben irgendwann ändern wird? Es fällt ihm schwer darauf zuhoffen. Er schafft es ja noch nicht einmal seinem Bruder zuwidersprechen, wie soll er da erreichen mehr Freizeit zu bekommen und weniger kontrolliert zu werden? Gedankenverloren starrt er hinaus, ohne etwas wahrzunehmen.
 

Erst nach mehreren Minuten realisiert er, was er da die ganze Zeit beobachtet. Auf der anderen Straßenseite befindetsich ein Park mit ordentlich gestutzten Laubbäumen, sauberen Gehwegen, Parkbänken und etlichen fröhlichen Besuchern. Manche joggen, manche gehen gemütlich die Wege entlang, schieben Kinderwägen, führen ihren Hund aus oder sitzen auf den Bänken und füttern die Parkvögel. Doch es gibt auch ein paar Menschen, die laut lachend über Kies laufen, Leitern erklimmen, sich Bälle hin und her schmeißen und durch Tunnel kriechen. Kinder auf einem Spielplatz.
 

Interessiert hebt er den Kopf, um besser sehen zu können. Eren war noch nie auf einem Spielplatz. Eine Rutsche kennt er nur aus der Ferne, eine Schaukel nur von Weitem und die Kletterwand ... Okay, die kennt er in wesentlich größeren Maßstäben und nicht so ungefährlich.
 

Je länger er den Kindern zusieht, wie sie Spaß haben, wie sie lachen, desto größer wird der Wunsch in ihm, dorthin zu gehen. Hm. Warum eigentlich nicht? Er hat jetzt bestimmt eine Stunde Zeit ehe er abgeholt wird. Wieso in der Zwischenzeit nicht etwas Neues ausprobieren? Etwas, was vielleicht ... lustig sein könnte? Er hat es sich doch verdient, oder nicht? Außerdem werden Ajax und sein Vater es nie erfahren.
 

Bevor er weiter darüber nachdenken kann und sich Gründe in sein Bewusstsein schleichen, weshalb das eine ganz, ganz blöde Idee ist, setzt er diese lieber in die Tat um.
 

Eren steigt auf den Stuhl, öffnet das Fenster und klettert hinaus. Durch die Tür wäre es zwar einfacher, aber eben auch auffälliger. Der Junge landet inmitten der Zierbuschreihe, die das Restaurant vom Gehweg trennt. Zunächst sieht er sich um, ob er von irgendwoher beobachtet wird, doch weder die vorbeifahrenden Fahrzeuge noch die Passanten schenken ihm irgendeine Art von Aufmerksamkeit. Sicherheitshalber zieht er noch einmal die Ärmel über die Handgelenke, dann wagt er sich hinaus, wartet bis er die Straße überqueren kann und betritt dann das erste Mal in seinem Leben einen Park, ohne dem Vorwand dort eine Mission erledigen zumüssen.
 

„Wow", haucht er voller Begeisterung.
 

Überwältigt von all den neuen Eindrücken wandert der Zwölfjährige wie in Trance umher. Noch bevor er begreift was er tut, haben ihn seine Beine bereits zur nächstgelegenen Bank in der Nähe des Kieses, der den Spielplatzbereich kennzeichnet, getragen. Von dort aus sieht er sich um, die blauen Augen soweit aufgerissenwie möglich, um jede noch so kleine Kleinigkeit in sich aufzusaugen. Alles ist so neu und spannend und frei, dass er gar nicht weiß, wo er zuerst hinsehen soll.
 

Die Sonnenstrahlen, die durch das lichte Blätterdach fallen, sprenkeln den Boden und den Teich, auf dem ein paar Enten und Schwäne gemütlich umher schwimmen und nach Futtergebern Ausschau halten. Der kühle Wind lässt eine raschelnde und knarzende Melodie in den Baumkronen erklingen, die Vögel sind die Sänger dieses Konzertes. Ab und zu unterbricht ein bellender Hund die friedliche Musik oder die Kinder, die lachend einem schwarz-weißen Ball auf einer Wiese hinterherjagen. Manche der Parkbesucher werfen Eren einen seltsamen, fragenden Seitenblick zu. Es ist schließlich nicht üblich in einem feinen Anzug in den Park zu gehen. Erst recht nicht für ein Kind. Doch Eren ist es völlig egal was andere von ihm halten. Er möchte ihnen ja schließlich nicht gefallen oder Freunde finden oder ähnliches.
 

Trotz der warmen, sehnsüchtigen Gefühle, die jede Sekunde in diesem Park stärker und stärker werden, nistet sich gleichzeitig ein kalter, unangenehmer Kloß voller Schuldgefühle in seinem Magen ein. Er fängt an zu glauben, dass es ein Fehler war sich davonzuschleichen. Was wenn er erwischt wird? Wenn Ajax das erfährt? Dann würde er mit großer Sicherheit bestraft und noch strenger bewacht werden. Ein eisiger Schauer kriecht langsam seine Wirbelsäule entlang, stellt die Haare auf und hinterlässt eine Gänsehaut.
 

Ein letzter neidvoller Blick, dann seufzt er schwer. Es wird wohl ein Traum bleiben. Dieser kurze Ausflug war vermutlich das einzige Mal, wo er eine einigermaßen normale Kindheit kosten durfte.
 

„Hey, bist du neu in der Gegend? Ich hab dich noch nie hier gesehen."
 

Eren steht auf. Eren will aufstehen. Er schafft es einfach nicht sich jetzt schon von all dem hier zu trennen. Doch er muss. Der Junge hat nicht auf die Zeit geachtet. Er weiß nicht wie lange er schon so in sich versunken auf der Bank hockt. Ob sie schon bemerkt haben, dass er fehlt?
 

„Hallo? Alles okay bei dir?"
 

Jetzt beim zweiten Versuch reagiert Eren auf die Worte in seiner Nähe. Er hebt den Kopf und erblickt einen Jungen, der zwei Schritte vor ihm steht und in seine Richtung sieht. Verwirrt dreht er den Kopf herum, auf der Suche nach der Person, mit der der Fremde spricht. Dass jemand tatsächlich ihn anspricht, diese Idee kommt ihm viel, viel zu unwahrscheinlich, gar unmöglich vor, um auch nur eine Sekunde zu glauben, es sei tatsächlich so. Aber es ist sonst niemand in seiner Nähe.
 

Noch irritierter als zuvor wendet sich derZwölfjährige dem anderen Jungen zu, der ihn immer noch freundlich, aber besorgt ansieht. „Ähm ... Redest du mit mir?"
 

Einen Moment zieht der Fremde die Stirn kraus. „Ja, klar", bestätigt er nicht ganz sicher, ob die Frage ernst gemeint war. „Du siehst irgendwie allein und verloren aus. Geht's dir gut?"
 

Er redet tatsächlich mit ihm. Also gut. Zeit die Lektionen von Ajax umzusetzen. Das Gesicht des Jungen verfinstert sich als er die offenherzigen grünen Augen fixiert.
 

„Wüsste nicht, was dich das angeht. Verzieh dich", schnauzt Eren verstimmt.
 

Er hat von seinem Bruder gelernt, dass er Fremden nichts über sich preisgeben soll. Gar nichts. Egal ob es sich um Kinder oder Erwachsene handelt. Schließlich können auch Kinder, mögen sie noch so unschuldig wirken, zu Schandtaten angestiftet werden. Er selbst ist das beste Beispiel. Tragischerweise. Unhöflich und abweisend zu sein ist eine sichere Methode, um schnüffelnde Leute loszuwerden. Sich bereits sicher, dass das Kind nach den Worten Leine ziehen wird, macht er Anstalt aufzustehen, um ins Restaurant zurückzukehren.
 

Allerdings denkt der Fremde nicht daran ihn in Frieden zu lassen. Anstatt wegzugehen, setzt er sich doch ernsthaft mit einem entschlossenem „Nö" neben ihm auf die Bank. Perplex und ungläubig blinzelt Eren ihn an, vergisst dabei für einen Moment seine Fassade aufrechtzuerhalten.
 

„Du siehst aus, als könntest du etwas Aufmunterung vertragen." Der Fremde, der ungefähr in Erens Alter zu sein scheint, schenkt ihm ein aufrichtiges Lächeln. „Also, was ist los? Bist du aus einer Kirche abgehauen, oder so?"
 

Irritiert hebt Eren eine Augenbraue. Die Worte fehlen ihm immer noch, auf Grund des merkwürdigen Verhaltens des Jungen.
 

„Na, weil du doch einen Anzug trägst. Und sag mir jetzt nicht, dass du immer im Smoking auf den Spielplatz gehst."Das Grinsen bekommt etwas Neckendes. Schon in der nächsten Sekunde allerdings verschwindet das fröhliche Gesicht und ein mitfühlender, besorgter Blick taucht auf. „Vermutlich hattest du gar nicht vor herzukommen. Dafür wirkst du zu deprimiert. Willst du mir sagen, was dich bedrückt? Ich kann dir vielleicht helfen."
 

„Äh ... Nein, danke. Ich muss jetzt eh los", lehnt Eren sofort ab.
 

Bevor der seltsame Fremde etwas erwidern kann, steht Eren auf und entfernt sich in zügigen Schritten von der Bank. Zurück bleibt ein mehr als nur verwirrter Junge, der Eren hinterhersieht, bis dieser den Park verlassen hat. Der Zwölfjährige überquert die Straße und bleibt erst unter dem noch immer offenstehenden Fenster im Gebüsch stehen. Überfordert von dem Geschehen kauert er sich erst einmal nieder und atmet ein paar Mal tief durch, um seine Gedanken zu ordnen. Erst dann wagt er einen vorsichtigen Blick hinüber in den Park.
 

Der andere Junge ist nicht mehr zu sehen. Gut. Erleichtert atmet er aus, sieht kurz nach links und rechts, um zu prüfen ob die Luft rein ist, und klettert dann geschickt durch das Fenster zurück in den Warteraum. Er scheint Glück zu haben. Niemand erwartet ihn mit strafendem Blick, verschränkten Armen und zornigtrommelnden Fingern.
 

„Das war ... seltsam", murmelt er vor sich hin.
 

Noch immer durcheinander schließt er das Fenster und lässt sich schwer auf einen der Stühle plumpsen. Wie von selbst wandert sein Blick zurück zum Park auf der Suche nach einem blonden Haarschopf, kann jedoch keinen entdecken. Eren kann es nicht genau erklären, aber irgendetwas an dem Jungen war merkwürdig, auf eine vertraute Weise. Er war viel zu freundlich und hilfsbereit. Kein Mensch ist so. Oder? Ach, Eren ist verwirrt und weiß nicht einmal wieso. Es war schließlich nur ein Kind, das dachte er bräuchte Hilfe und müsse aufgemuntert werden. Am besten ist, er denkt nicht weiter darüber nach und erwähnt seinen kleinen Ausflug auch nicht seiner Familie gegenüber. Er wird den anderen Jungen doch eh nie wiedersehen. Also, warum sich deswegen unnötig Sorgen machen? Das lenkt ihn nur ab und das ist unprofessionell. Ajax würde das sofort durchschauen und sein Geheimnis aus ihm herausquetschen. Und dann wird er bestraft. Das will Eren auf alle Fälle vermeiden. Zum Glück hat er Übung darin etwas vor seiner Familie zu verbergen. Von seinen Träumen oder Stimmen im Kopf haben sie auch keinen blassen Schimmer.
 

~~~
 

Noch fast eine dreiviertel Stunde muss Eren im Wartezimmer bleiben, ehe er Schritte vernimmt und die Tür geöffnet wird. Es ist Ajax, der den Kopf hereinstreckt.
 

„Komm, Vater will dich vorstellen", berichtet er in seiner typisch monotonen Stimme, dabei schweifen seine Augen einmal komplett über seinen kleinen Bruder. Die braunen Augen werden dunkel, ein missbilligender Schatten legt sich über sein Gesicht.
 

Bevor der junge Mann anfangen kann zu meckert, schlüpft Eren schnell ins Sakko, zieht die Krawatte enger, streift die Hose glatt, zieht die Ärmel über die Handgelenke und klopft den nicht vorhandenen Staub ab. Zum Abschluss legt er die kleineHaarsträhne hinters Ohr, die dem Haargel und -spray bereits entkommen ist. Zufrieden schließt Ajax seinen Mund und winkt Eren hinter sich her. Zusammen betreten die Brüder die Empfangshalle des Restaurants, wo sie schon von drei Personen erwartet werden.
 

Eine etwas fülligere Frau in einem engen rosa Kleid, das ihr bis zu den Knöcheln reicht, damit man ihre schwarzen Riemchensandalen bewundern kann, steht neben Benedikt Turano am Treppenabsatz. Ihr Gesicht hat sie halb hinter einem schwarz-weißen Fächer mit Glitzersteinchen verborgen, doch ihre extravagante Frisur kann er nicht verbergen. Auffällig mustert sie die beiden Brüder.
 

Neben ihr steht eine Frau, die wie ein typischer Bodyguard aussieht. Dunkler Anzug, streng zurückgebundene Haare, eine Sonnenbrille im Gebäude auf der Nase und eine Art Kommunikationsgerät im Ohr.
 

„Ah, da seid ihr ja." Mit diesen Worten empfängt Turano seine Söhne, einen Arm einladend nach ihnen ausgestreckt. In der anderen Hand hält er einen Aktenkoffer, den er beim Betreten des Restaurants sicher noch nicht hatte. Das heißt dann wohl, dass die Verhandlungen erfolgreich verlaufen sind.
 

„Das ist also Ihr jüngster Sohn, Herr Turano?" Es ist eher eine Feststellung als eine Frage als die Frau Eren mit einem merkwürdigen Ausdruck in den hinter Schminke verschwindenden Augen von Kopf bis Fuß gründlichst beäugt.
 

Unter ihrem Blick steigt das Unbehagen in Erens Bauch an, doch er zwingt sich das Verkrampfen seiner Finger zu unterdrücken und aufrecht stehen zu bleiben. Als er eine Hand am Rücken spürt sieht er kurz hoch zu seinem Vater.
 

„Genau. Frau Russo, das ist Eren. Eren, das ist Frau Russo", macht Turano die Beiden miteinander bekannt und fügt an Eren gewandt hinzu: „Sie ist eine unserer treuesten Stammkundinnen."
 

„Freut mich sehr Sie kennenzulernen, Frau Russo", heuchelt der Zwölfjährige höflich lächelnd. Stammkundin bedeutet in diesem Fall, dass sie eine der Klientinnen ist, die die meisten Anfragen an die geheime Tochterfirma von Turano Industries stellt. Sie ist vermutlich ein Mitglied irgendeiner Mafia oder ähnliches.
 

„Er ist niedlich", kommentiert sie. „Aber auch noch sehr jung." Frau Russo klappt geräuschvoll den Fächer zu und sieht mit forschendem Blick zu Benedikt. „Er wird doch nicht schon beim ... Familiengeschäft mithelfen. Oder?"
 

„Wir nehmen ihren Auftrag an, Frau Russo." Turano schiebt Eren sacht ein Stückchen zurück zu Ajax. „Das Wer und Wie ist unsere Sache, kümmern Sie sich nicht darum. Wir melden uns, wenn die Aufgabe erfüllt ist."
 

„Hm." Etwas Misstrauisches erscheint in ihren Augen als sie den Jungen fixiert. Das verschwindet jedoch vollständig als sie in der nächsten Sekunde ein breites Lächeln aufsetzt und den Vater unschuldig anblinzelt. „Ich will nur sicher gehen, dass meine Bitte auch zufriedenstellend erfüllt wird, Herr Turano."
 

„Machen Sie sich darum keine Sorgen, Frau Russo. Haben wir Sie je enttäuscht?", erinnert Turano die Kundin mit einem charmanten Lächeln.
 

„Hoffentlich bleibt das auch so." Die Frau klappt den Fächer mit einer flinken Bewegung auf und hält ihn sich vor die Nase. „Ich erwarte ihre Nachricht, Herr Turano."
 

Frau Russo verabschiedet sich von den Turanos, um anschließend zusammen mit der Leibwächterin das Restaurant zuverlassen. Eren sieht der davonstöckelnden Frau hinterher, bis diese durch die Tür verschwunden ist. Irgendetwas an der Frau bereitet dem Zwölfjährigen eine Gänsehaut. Sie ist gefährlich. Was sie wohl für eine Art Auftrag gestellt hat?
 

Lange grübelt der Junge nicht darüber nach, denn er wird es sowieso bald erfahren. Kurz darauf sitzen sie auch schon in der Limousine auf dem Weg nach Hause. Wie schon auf der Herfahrt sieht Eren aus dem Fenster, dabei gleitet sein Blick über den Spielplatz im Park. Automatisch denkt er wieder an den fremden Jungen. Allein und verloren, hat der Fremde gesagt. Ach, Quatsch. Eren fühlt sich weder allein noch verloren. Energisch verwirft er den Gedankengang schnell wieder.
 

„Eren." Mit diesem Wort zieht Benedikt Erens Aufmerksamkeit auf sich, der den Kopf herumdreht, um seinen Vater anzusehen. „Ajax sagte mir, dass du dich bei deinem letzten Auftrag sehr gut geschlagen hast."
 

Überrascht blinzelt der Junge kurz seinen Bruder an. Es kommt so gut wie nie vor, dass er gelobt wird. Ajax zeigt keinerlei Regung, als würde er gar nicht zuhören. Er starrt stur aus dem Fenster.
 

„Den Auftrag von Frau Russo wird Ajax übernehmen", fährt Benedikt fort.
 

Na bitte. Wie er vermutet hat. Früher oder später bekommt er immer die Informationen. „Was für eine Mission ist es?"
 

Der Mann schüttelt den Kopf. „Diese Mission wirst du aussetzen, Eren."
 

„Was?!" Entsetzt beugt sich der Junge vor. Er war bisher auf jeder einzelnen von Ajax' Missionen dabei. Noch nie musste er einen Auftrag aussetzen, egal wie gefährlich dieser war. Niemals! Was ist an diesem anders? „Wieso?"
 

Nun meldet sich doch Ajax zu Wort: „Eren! Was habe ich vorher über Ausrutscher gesagt?"
 

Der mahnende Ton und die Erinnerung an die Bestrafung lassen den Zwölfjährigen seine Beherrschung wiederfinden. Er setzt sich aufrecht hin, sieht seinen Vater an und wartet so auf eine Erklärung.
 

„Der Grund, weshalb du nicht mitgehst, ist, dass ich eine andere Aufgabe für dich habe", erklärt Turano.
 

„Ach ja?" Fragend blinzelt Eren ihn an. „Heißt das, ich darf allein auf eine Mission?" Vor Begeisterung bahnt sich ein breites Grinsen an. Das ist eine große Ehre für das Kind.
 

„Nein." Eine vernichtende Antwort. „Du wirst in einer Vierergruppe nach Flaurana aufbrechen und uns etwas Materialnachschub besorgen."
 

„Oh." Enttäuscht wandern seine Mundwinkel nach unten. „Was genau?"
 

„Neue Eierschalen des Dagono. Genauere Informationen erhältst du von deinem Teamleiter", antwortet der Mann, ohne den deutlichen Missfallen zu beachten.
 

„Dagono-Eierschalen, ja?" Diese Mission hatte er schon ein paar Mal. Das erste Mal hat er Ajax dabei im Alter von sieben Jahren begleitet. Es ist also eine Mission auf Anfängerniveau. Super. Da stellt sich automatisch die Frage, auf welche Mission Ajax geschickt wird. „Und wer ist der Teamleiter?"
 

„Igor wird die Leitung übernehmen. Er ist spezialisiert auf Materialbeschaffungen aus Flaurana." Turano beugt sich etwas vor, um mit Eren auf Augenhöhe zu sein. „Ich erwarte vorbildliches Verhalten von meinem Sohn. Hab ich mich klar ausgedrückt?"
 

„Ja, Vater", antwortet der Junge automatisch, ist in Gedanken allerdings schon längst woanders.
 

Also Igor, ja? Na super. Den Kerl kann Eren nicht ausstehen. Der ist viel zu faul, um eine Mission anzuführen. Wie kommt sein Vater nur auf die Idee, dass es eine gute Idee sei? Außerdem ... Wenn Igor der Teamleiter ist, dann heißt das, dass Viktor auch dabei sein wird. Und den kann Eren noch weniger leiden als Igor. Stumm seufzend stützt er den Ellbogen an der Tür ab und sieht wieder nach draußen. Das kann ja heiter werden.

Die zwei Spiegel

Den restlichen Tag muss Eren wieder mit seiner täglichen Routine verbringen. Training, Tests und Abhärtungsmaßnahmen.
 

Nachdem er seinen Smoking gegen einen Trainingsanzug getauscht hat, musste er zusammen mit seinem Vater ins Labor von Dr. Ryu gehen, für eine weitere Dosis Elektrizität. Er wurde an einen Stuhl gefesselt und an eine merkwürdige Maschine angeschlossen, die über Elektroden mit seinem Körper verbunden war. Mit zusammengebissenen Zähnen hat er die Stromstöße ertragen bis sich seine Haut an den Stellen, an denen die Elektroden kleben, schwarz gefärbt hat und es im Raum penetrant nach verbranntem Fleisch roch. Die Ergebnisse hat die Ärztin dem zufrieden nickenden Turano mitgeteilt und gleichzeitig detailgenau in ihr Tablet eingetragen.
 

Noch bevor die Wunden vollständig heilen konnten, wurde der nächste Test durchgeführt. In einem großen Glastank, der bis zum Rand mit Wasser gefüllt war, wurde Eren eingesperrt und die Zeit gemessen bis er ohnmächtig wurde, um herauszufinden, wie lange er die Luft anhalten kann, nachdem er starker Elektrizität ausgesetzt war. Auch dieses Ergebnis wurde ordentlich notiert.
 

Wozu das gut sein soll? Keine Ahnung. Turano hat die Test angeordnet, seine Beweggründe behält er dabei für sich. Dr.Ryu und Eren müssen nur gehorchen.
 

Anstatt darauf zu warten bis Eren wieder das Bewusstsein erlangt, hat man ihm eine Spritze verpasst, woraufhin er sofort die Augen aufschlug. Das ist zwar nicht die gesündeste Art, aber sein Terminkalender ist schließlich viel zu voll, um auch nur eine Minute Pause dazwischenzuschieben. Zumindest waren durch den Atem-anhalte-Test die Verbrennungen genesen, sodass er sofort weitermachen konnte. Dass seine Muskeln noch nicht ganz gehorchen wollten, das interessierte niemanden. Es gehört eben auch zum Training zu lernen mit einem geschwächten Körper kämpfen zukönnen.
 

Der nächste und glücklicherweise letzte Punkt auf der Liste, ist das Kampftraining mit Ajax, der ihn bereits auf dem Trainingsgelände hinter dem Anwesen erwartet.
 

Auf dem Weg von der Terrassentür des Wohnzimmers bis zum Trainingsgelände und Ajax, lässt Eren seine Arme und Schultern kreisen, um die verspannten Muskeln von den vorherigen Tests zu lockern, um zumindest eine etwas bessere Chance gegen seinen Bruderzu haben. Ajax erwartet den Jungen bereits mit ungeduldig trommelnden Fingern. Sein Gesicht ist so rätselhaft und undeutbar wie immer. Er hat seinen Anzug auch gegen bequemere Trainingskleidung getauscht, seine blonden Haare stehen wieder wie gewohnt in alle Richtungen ab und ein Stirnband hält die Strähnen von den Augen fern. In jeder Hand hält er einen Dolch bereit.
 

„Du kommst spät", grüßt ihn sein großer Bruder.
 

„Ja, sorry. Vater wollte heute etwas genauer forschen", verteidigt sich Eren.
 

Er kann schließlich nichts dafür, dass Turano die Stromtests heute etwas länger angesetzt hat als vorgesehen. Außerdem hat er sich noch fingerlose Handschuhe aus seinem Zimmer holen müssen, die fast bis zum Ellbogen reichen. Einerseits um seine Hände beim Training ein wenig zu schützen und andererseits um seine Male zuverstecken. Die schwarze Farbe lässt sich nämlich nicht mehr nur mit den Ärmeln verbergen. Mit denen seines T-Shirts schon gar nicht. Und er will nicht, dass Ajax weiß wie weit die Male schon sind, um noch strengeres Training zu vermeiden.
 

Ajax sagt nichts weiter zum Zuspätkommen, stattdessen hält er ihm den Griff des einen Dolches entgegen. „Da du auf deiner Mission morgen nur einen Dolch als Waffe dabeihaben wirst, möchte ich sehen wie gut du damit umgehen kannst."
 

„Also keine Kräfte?", fragt Eren nach und nimmt den einfachen Dolch entgegen. Er hat gehofft durch das Training die Farben noch etwas schrumpfen zu können. Aber wenn ohne Fähigkeiten gekämpft werden soll, kann er das vergessen.
 

„Nein", antwortet der junge Mann schlicht, entfernt sich ein paar Schritte von seinem Bruder und nimmt die Kampfposition ein. „Ich werde keinerlei Rücksicht nehmen."
 

*Als hättest du das je getan*, denkt Eren innerlich mit den Augen rollend und geht ebenfalls in Kampfstellung.
 

„Wir trainieren unter realen Bedingungen. Wenn einer nicht mehr weiterkämpfen kann, ist das Training beendet. Nicht vorher", verdeutlicht der Ältere betont.
 

„Also alles so wie immer", murmelt der Junge genervt und amüsiert zugleich.
 

Auch wenn Ajax die Worte nicht verstanden hat, so hat er dennoch gesehen, dass sich die Lippen seines kleinen Bruders bewegt haben. Streng kneift er die Augen zusammen. „Hast du was gesagt?"
 

„Nur, dass wir meinetwegen anfangen können", ruft Eren schelmisch grinsend zurück.
 

Es ist deutlich, dass Ajax ihm nicht glaubt, doch er belässt es dabei, richtet die Klinge auf ihn und geht noch etwas weiter in die Hocke. „Los!"
 

In rasantem Tempo sprintet der Mann auf das Kind zu, die Waffe in der rechten Hand, bereit zuzustechen. Eren lässt ihn keine Sekunde aus den Augen, verfolgt genau jede kleine Bewegung seiner Muskeln und wartet einfach ab. Als Ajax in Reichweite ist und bereits ausholt, mit den Rippen seines Gegners als Ziel, springt Eren in letzter Sekunde mit Leichtigkeit zur Seite und holt seinerseits mit dem Dolch aus. Blitzschnell wirbelt Ajax herum, fängt die Klinge mit der eigenen ab und verpasst dem Jüngeren einen harten Tritt gegen die ungeschützten Rippen.
 

Eren spürt deutlich den explodierenden Schmerz in der Seite, wird durch die Wucht von den Füßen gerissen und kommt einige Meter weiter, nach ein paar unfreiwilligen Purzelbäumen, zum Stehen. Wütend auf sich selbst, dass er diesen einfachen Schlag nicht hat kommen sehen, spannt er den Kiefer an. Dabei betastet er vorsichtig seine Rippen. Es wäre nicht das erste Mal, dass sie von Ajax zertrümmert wurden, doch er spürt zum Glück keinen Bruch.
 

Da er seinen Bruder nicht aus den Augen gelassen hat, kann er dem nächsten Fußtritt mit einem Sprung über Ajax' Kopf hinweg abwehren und selbst zustechen. Nur leider hat sein Bruder diesen Trick selbst erfunden. Sein Tritt war nur dazu gedacht ihn zu diesem Sprung zu verleiten, um ihn mit dem Dolch zu begrüßen. Eren sieht zwar die silberne Klinge auf sich zukommen, doch mitten in der Luft kann er die Richtung nicht ändern, weshalb ihm nichts anderes übrig bleibt als sich auf den Schmerz vorzubereiten. Er versucht zwar mit der eigenen Waffe zu blocken, doch verfehlt die Klinge.
 

Ihm bleibt gerade einmal Zeit „verdammt" zudenken, als der Dolch auch schon in seiner Magengrube versenkt wird. Schnell bringt er sich mit einem Rückwärtssprung wenige Meter in Sicherheit, sobald seine Zehen das Gras berühren und drückt die freie Hand auf den Bauch. Blut tropft aus seiner Wunde, welches zwischen seinen Fingern hindurchsickert und das grüne T-Shirt langsam umfärbt. Eren weiß, Ajax sagte ohne Kräfte, aber gegen die Heilfähigkeit kann er nichts tun. Er spürt bereits wie sich die Wunde zu schließen beginnt und nimmt die Hand runter.
 

Knurrend fixiert Eren seinen großen Bruder. Jetzt ist sein Kampfwille hellwach. Er unterdrückt die Schmerzen, umfasst den Dolchgriff fester und spannt die Beine an. Ab jetzt macht er es ihm nicht mehr so einfach. Eren braucht vielleicht immer ein bisschen bis er sich richtig in den Kampfrhythmus hineinfindet, aber dann gibt er sein Bestes und wird zu einem ernstzunehmenden Gegner. Ajax weiß das, weshalb er stets versucht in den ersten Minuten den Kampf für sich zu entscheiden.
 

Mit dem Dolch in der rechten Faust startet der Junge seinen Angriff. Ajax erwartet ihn bereits, pariert den ersten Schlag, ein Metall-auf-Metall-Echo hallt über die Wiese und umfasst die direkt nachfolgende Faust vor seinem Gesicht. Beides war nicht Erens eigentlicher Angriff, es diente nur dazu, Ajax' Hände zublockieren. Er stößt sich kräftig vom Boden ab, nutzt Ajax' Arme dazu, um die richtige Entfernung zu gewinnen und tritt mit beiden Füßen gleichzeitig so fest er kann gegen die Brust seines Gegners. Den Schwung nutzt er um mit einem Salto außer Reichweite zu gelangen und sofort wieder vorzustürmen, solange Ajax um Sauerstoff ringt. Dieses Mal prescht er unter den Schlag mit dem Dolch hindurch und verpasst seinem großen Bruder zwei fiese Schnitte in die Oberschenkel. Leider nicht annähernd so tief wie Eren es sich gewünscht hat. Bevor der Ältere zu einem Gegenschlag ausholen kann, ist Eren schon längst wieder außerhalb seiner Reichweite.
 

„Gar nicht so schlecht", gibt Ajax widerwillig von sich. Er würdigt dem Rinnsal aus Blut, dass seine Beine hinabrinnt, keines Blickes. Als würde er es gar nicht spüren. Oder als wäre es ihm egal. „Aber so wirst du mich nie besiegen, kleiner Bruder."
 

Ajax weiß genau was er sagen muss, um Eren sauer und leichtsinnig zu machen. Knurrend ballt der Zwölfjährige die Hand so sehr, dass sie zittert. Sein Herzschlag beschleunigt sich. Er weiß sehr wohl, dass er noch meilenweit von der Kampfkunst seines Bruders entfernt ist, aber das muss er ihm ja nicht ständig unter die Nase reiben. Immerhin gehört er dennoch zu den besten in Turanos Truppe. Außerdem, wenn sie mit ihren persönlichen Kräften kämpfen würden, dann würde Eren wahrscheinlich sogar gewinnen.
 

In einem wahnsinnigen Tempo, viel zu schnell für gewöhnliche, menschliche Augen, sprintet Eren nun auf Ajax zu. Anstatt ihn frontal zu attackieren, umkreist er ihn und wartet auf eine Gelegenheit, in der Ajax eine Lücke in seiner Verteidigung öffnet. Nur schwer können die braunen Augen dem Kind folgen, es scheint als wäre er überall zugleich. Doch da er schon unzählige Kämpfe ausgefochten hat, weiß er, dass er ruhig bleiben muss. Anstatt zu versuchen mit den Augen zu folgen, konzentriert er sich mehr auf sein Gehör.
 

Schon nach wenigen Runden wird Eren klar, dass sich Ajax keine Blöße geben wird, also muss er seine Taktik ändern. Ein leichtes finsteres Grinsen zuckt in seinen Mundwinkeln als ihm eine Idee kommt, die er sogleich umzusetzen beginnt.
 

„Sag mal, Ajax, was hast du eigentlich für eine Mission bekommen?", fragt er ohne seinen Lauf zu unterbrechen.
 

„Eine Geheime", antwortet Ajax knapp, dreht dabei den Kopf zu der Stimme herum.
 

„Und warum darf ich nicht mit?", hakt Eren weiter nach. Es interessiert ihn zwar wirklich, aber hauptsächlich macht er das, um Ajax' Gehörsinn genauso zu verwirren wie den Sehsinn.
 

„Es ist eine Ein-Mann-Mission."
 

„Aber wir haben bisher immer jeden Auftraggemeinsam erledigt. Was ist bei diesem anders?"
 

„Das ist geheim." Ajax ist immer noch so gefasst wie zu Beginn.
 

Also gut, dann muss er eben noch weiter nerven. „Und warum kann ich diese Eiermission nicht allein erledigen? Ich war schließlich schon mal dort."
 

„Es geht nicht."
 

„Warum?"
 

„Es geht einfach nicht!"
 

Da! Er hat es geschafft! Ajax hat sich von den Fragen so aus der Gehörkonzentration reißen lassen, dass er am Rücken praktisch komplett ungeschützt ist. Das ist Erens Chance! Doch das ist kein Grund unvorsichtig zu sein. Er weiß, dass man sich seiner Sache nie zu sicher sein soll und immer einen Schritt weiter denken muss. Besonders bei Ajax als Gegner. Aus diesem Grund wirft er den Dolch von Vorne direkt auf Ajax, um dessen Aufmerksamkeit auf die Waffe zu ziehen und selbst von der gegenüberliegenden Seite anzugreifen. Sobald er die Waffe geworfen hat, flitzt er einen Halbkreis, ändert plötzlich die Richtung und springt mit Ajax' Rücken als Ziel auf diesen zu. Es klappt! Ajax hat den Dolch erspäht und macht sich bereit diesem mit seinem eigenen umzulenken.
 

Eren kommt ihm gleichzeitig immer näher. Als seine Faust die gegnerische Wirbelsäule beinahe berührt und sich bereits ein siegessicheres Grinsen auf seinem Gesicht breit macht, duckt sich Ajax ohne Vorwarnung einfach weg. Hat er ihn doch gesehen? Nein, er hat noch nicht einmal den Kopf gedreht. Weicht er einfach nur so der Waffe aus? Nein, das ist nicht Ajax' Art. Der Junge ist viel zu perplex, um noch einen klaren Gedanken fassen, geschweige denn reagieren zu können. So wird er von seinem eigenen Dolch bis zum Heft in der Brust durchbohrt, gleichzeitig sticht der Ältere dessen Dolch in Erens Rücken, zieht ihn blitzschnell heraus und sticht erneut zu, dieses mal in die Seite, zwischen zwei Rippen hindurch.Dann zieht er sich zwei Sprünge zurück, die blutbeschmierte Waffe in der Hand und beobachtet das Ergebnis.
 

Der Junge schreit schmerzhaft auf und zieht dann scharf die Luft ein, dabei hat er Probleme den Sauerstoff in die Lungen zu bekommen. Ajax hat den linken Lungenflügel erwischt. Zwar hält er sich noch auf den Beinen, aber durch den Blutverlust kriecht ganz allmählich die Taubheit in seine Glieder. Er beugt sich vornüber, umfasst den Dolchgriff, der noch immer in seiner Brust steckt und beißt fest die Zähne zusammen. Solange die Klinge in ihm ist, kann die Wunde nicht heilen. Sie muss raus, auch wenn das ziemlich weh tun und ihn eine Menge Blut kosten wird. In einem Ruck zieht er die Waffe heraus, begleitet von einem Blutschwall und höllischen Schmerzen, sodass ihm auch noch schlecht wird.
 

Knapp eine Minute bekommt er überhaupt keine Luftmehr in seinen Körper bis die Heilkraft die Lungenfunktion einigermaßen wiederhergestellt hat und ein heiseres Keuchen möglich ist. Auch das taube Gefühl weicht ganz langsam, nur die Einstiche bluten nach wie vor. Doch noch ist er nicht geschlagen. Noch kann er weiterkämpfen. Und genau das wird er auch tun! Die Entschlossenheit zu siegen lässt ihn die Schmerzen in seinem Oberkörper vergessen und weckt die zu erschlaffen beginnenden Muskeln auf. Der Kampfeswille kehrt stärker zurück als zuvor, glänzt in den blauen Augen und pumpt Adrenalin durch den Körper. Nein, er gibt ganz sicher nicht auf!
 

Mit der blutigen Waffe in der Hand dreht er sich zu seinem Gegner um. Bereit weiterzumachen. Bereit alles zu geben. Sein Bruder erwartet ihn schon. Noch bevor sich Eren vollständig herumgedreht hat, spürt er bereits den Dolch im Magen. Schon wieder. Erschrocken schnappt Eren nach Luft. Doch das reicht Ajax noch lange nicht. Er packt die zittrige Hand seines kleinen Bruders und stößt auch dessen Waffe neben die seine. Mit der anderen Hand stützt er das Kind, das zusammenzubrechen droht.
 

„Ich hab gewonnen", verkündet Ajax gleichgültig mit einem enttäuschten Unterton.
 

Fassungslos hebt der Zwölfjährige den Kopf, um in die Augen seines Bruders sehen zu können. Er begreift noch nicht was gerade los ist. Sein Körper ist komplett taub, aus mehreren tiefen Wunden fließt mehr und mehr rotes Blut heraus, gleichzeitig kribbelt es in jeder Ader, als würden Millionen von Ameisen hindurchrasen. Als Ajax seine Hände zurückzieht, verliert Eren den letzten Halt, der ihn noch auf den Beinen hielt. Das Kind kippt um, starrt mit glasigen Augen zum mittlerweile sternenübersäten Himmel hinauf. Seine Klamotten und das Gras um ihm herum färben sich nach und nach tiefrot, der Geruch nach Blut wird immer stärker und stärker. Er atmet stoßweise durch den Mund ohne wirklich Sauerstoff in die durchbohrte Lunge zu bekommen. Eren spürt seinen Körper nicht mehr und seine Sehkraft verschwimmt, wodurch die Sterne zu tanzen beginnen und sich pochende Kopfschmerzen breitmachen.
 

Der junge Mann geht in die Hocke, zieht die Dolche heraus und mustert das Kind. „Das war ein ganz netter Versuch, aber du machst viel zu viele unnötige Bewegungen, erschöpfst dich dadurch selbst und machst dich langsamer und unvorsichtiger."
 

Erens Stimme versagt beim Versuch zu antworten, heraus kommt nur ein unverständlicher Laut.
 

„Jetzt muss ich dich leider bestrafen. Tut mir leid, kleiner Bruder." Es glitzert tatsächlich eine enttäuschte Träne in den Augenwinkeln des Älteren als dieser mit der Faust ausholt und sie dem Kind treffsicher im Solar Plexus versenkt.
 

Eine enorme Schmerzwelle rast durch den kindlichen Körper, seine Organe scheinen die Funktion einzustellen, sein Blickfeld wird schwarz und er hat das Gefühl zu ersticken. Wie ein Fisch an Land schnappt er panisch nach Luft, schafft jedoch keinen einzigen vernünftigen Atemzug. Er droht in Ohnmacht zu fallen, doch dagegen kann sich Eren gerade noch so wehren. Diese Schande will er nicht auch noch auf seinen Schultern haben. So hält er lieber die Qualen und durchbohrenden Blicke seines großen Bruders aus.
 

Während Eren mit seinem Bewusstsein kämpft, setzt Ajax die Standpauke fort: „Noch etwas, du lässt dich zu leicht ablenken und denkst zu viel nach. Du musst viel intuitiver kämpfen, verstehst du? Kämpfen ohne zu denken. Verlass dich mehr auf dein Bauchgefühl. Außerdem verlässt du dich viel zu sehr auf deine Heilkraft. Du setzt dich Gefahren aus und nimmst Verletzungen in Kauf, nur um einen kleinen Schnitt zuzufügen. Du hast keinerlei Gedanken an deine Verteidigung verschwendet. Du warst diesbezüglich schon mal besser. Ich hoffe es war heute nur ein schlechter Tag, sonst müssen wir mit dem Training noch einmal von ganz vorne beginnen."
 

Eren hört die Rede nur durch dichte Schichten Watte und Blutrauschen. Es fällt ihm schwer überhaupt ein Wort zuverstehen.
 

„Aber, ich muss zugeben, jeden anderen hättest du womöglich schon mit dem ersten Angriff besiegt. Also ist noch nicht alles verloren." Ajax säubert die zwei Dolche an Erens Hose und erhebt sich dann. „Komm rein, wenn du aufstehen kannst. Aber zieh dich vorher aus. Du weißt ja, Vater will kein Blut im Haus sehen."
 

Mit den Worten macht sich sein Bruder auf den Weg zum Anwesen, um sich für seine Mission vorzubereiten, die heute nochbeginnen soll. Frustriert, beschämt und wütend auf sich selbst bleibt Eren zurück. Er hasst es zu verlieren. Besonders wenn er so bescheuerte Anfängerfehler macht. So wird er nie gegen seinen großen Bruder gewinnen. Könnte er seine Stimme nutzen, würde er jetzt laut schreien, aber so bleibt ihm nur sauer die tanzenden Punkte am Himmel anzustarren und dabei über die Worte seines Bruders nachzudenken.
 

~~~
 

Lange dreißig Minuten später waren die Wunden soweit verheilt, dass Eren ebenfalls ins Haus gehen konnte, ohne eine Blutspur zu hinterlassen. Selbstverständlich musste er dafür seine blutgetränkte Kleidung ausziehen. Sein Vater würde ausflippen, wenn er auch nur den kleinsten Blutstropfen im Haus finden würde. Die Klamotten landen im Müll, er hat mehr als genug in seinem überdimensionalen Kleiderschrank, um den Aufwand betreiben zumüssen, das Blut aus den Sachen zu waschen. Oder waschen zu lassen. Schließlich nehmen die Angestellten des Anwesens jeden überflüssigen Handgriff ab. Egal ob Eren das nun will oder nicht.
 

Nachdem er in seinem persönlichen, an sein Zimmerangrenzendem Badezimmer in der Dusche war, Zähne geputzt und sich einen Pyjama angezogen hat, kann er endlich seine paar freien Stunden genießen. Die Dolchverletzungen sind mittlerweile vollständig verheilt, ohne auch nur eine Narbe zu hinterlassen. Seine Selbstheilungskräfte sind so übernatürlich stark, dass es schon angsteinflößend ist. Auch seine Geschwindigkeit und Kraft ist die eines normalen Menschen weit überlegen. Und dennoch hilft ihm das alles nichts gegen seinen Bruder. Erschöpft lässt er sich rücklings aufs Bett fallen, legt einen Arm über die Augen und genießt die Ruhe. Endlich hat er Freizeit, was allerdings bedeutet, er sollte schlafen, um für die morgige Mission ausgeruht zu sein.
 

Aber er kann jetzt nicht schlafen, dafür nagt die Niederlage noch zu deutlich an ihm. In einem Ruck richtet er sich auf und lässt seine blauen Augen durch das Zimmer schweifen. Einige Regale mit haufenweise Büchern reihen sich neben den unterschiedlichsten Waffen aus beiden Welten an der gegenüberliegenden Wand entlang. Ein begehbarer Kleiderschrank quillt nur so über vor Stoff und Leder, ebenfalls ordentlich nach den Welten sortiert, damit er für jeden erdenklichen Anlass die passende Kleidung parat hat. Spielzeug oder andere Gegenstände, die man erwartet in einem gewöhnlichen Kinderzimmer eines Zwölfjährigen zu finden, sucht man hier vergeblich. Die Bücher handeln auch hauptsächlich nur von Kämpfen, Waffen und der Anatomie menschlicher und tierischer Körper. Schulbücher, die er für den Privatunterricht braucht.
 

Da sein Zimmer im oberen Stockwerk liegt, besitzt er auch einen eigenen Balkon, den er über eine Glastür betreten kann. Dort steht er oft und sieht nachts einfach nur in den Himmel auf oder über den Zaun hinweg zur Stadt. Beinahe jedes mal erfasst ihn dabei eine Sehnsucht. Er will aus diesem goldenen, mit Stacheldraht umgebenen Käfig raus und wie ein gewöhnlicher Junge leben. Doch das wird nie geschehen. Eren ist kein gewöhnlicher Junge. Nichts in seinem Leben ist gewöhnlich. Weder seine Familie, noch die Art wie er aufgewachsen ist oder wie seine Familie Geld verdient. Von den Kräften und Reisen in die andere Welt ganz zu schweigen.
 

Das erinnert ihn an etwas. Eren senkt die Augen, dabei dreht er den Arm bis er die Tätowierung sieht. Sein Vater hat ihm erklärt, dass das eine Art Kennzeichnung für seine Fähigkeiten sei. Genaueres konnte er aus dem schweigsamen Mann nicht herausbekommen. Jedes Mal wenn der Junge auf dieses Thema hinlenkt, blockt Turano sofort ab. Allerdings ist ihm aufgefallen, dass jeden, mit dem er auf Missionen geht, so eine Nummerierung ziert. Doch auch sie verraten ihm nichts oder wissen von nichts. Alles irgendwie seltsam.
 

Genau wie die Armreife. Der Weiße am linken Handgelenk hat mittlerweile eine Breite von gut zwei Zentimetern, die Ränder weisen bereits leichte Wellen auf. Doch das ist alles noch unbedenklich. Beim rechten Handgelenk sieht es etwas anders aus. Hier hat sich das Schwarz schon etwa fünf Zentimeter den Unterarm hinaufgearbeitet und berührt auch das Sattelgelenk des Daumens. Anders als beim Weiß sind hier die Ränder ausgefranst, zackig, zerrissen. Er muss aufpassen, dass sich die Farben nicht zu weit ausbreiten, sonst passiert etwas schlimmes.
 

Ich weiß, dass dich meine Kraft reizt, Junge.
 

Schnell schüttelt Eren den Kopf, um die raue Stimme zu verscheuchen. So lange er denken kann, hört er in unregelmäßigen, unvorhersehbaren Abständen diese Stimmen, die ihm alles mögliche einreden wollen. Nicht immer ist es schlecht, teilweise sind es sogar ganz gute Ideen. Aber ... Wenn eine der Stimmen zu laut wird, die Farbe zu viel Platz einnimmt, dann kann es vorkommen, dass er –unfreiwillig – die Kontrolle über seine Kräfte verliert. Als es das erste Mal passiert ist, blieb von einem großen Teil des Anwesens und Gartens nur Asche und Trümmer übrig. Das möchte er nicht wiederholen.
 

Seufzend lässt er sich zurück auf die Matratze sinken, dreht sich auf die Seite und sieht durch das Glas hinaus. In der Ferne kann er die Lichter der Stadt über den Baumwipfeln erkennen, auch die wenigen Sterne am Himmel und einen kleinen Teil des Mondes. Im Garten huschen Schatten herum. Wachmänner, die dafür sorgen sollen, dass keine Unbefugten das Gelände betreten. Vorausgesetzt die Eindringlinge konnten den Wald durchqueren, die Sicherheitsvorkehrungen und die Alarmanlagen überlisten. Soweit Eren weiß, ist das noch nie vorgekommen. Das wissen auch die Wachen, weshalb sie eher gemütlich herumwandern.
 

Herumwandern. Das erinnert ihn jetzt unfreiwillig an die morgige Mission. Zusammen mit Igor und Viktor. Toll. Einfach nur toll.
 

Als ob das nicht schon schlimm genug wäre, muss er auch noch doofe Dagonoeier besorgen. Diese riesigen Vögel leben hoch oben in Gebirgen und verstecken ihre Nester in Felsspalten, die schwer zu erreichen und noch schwerer zu finden sind. Noch dazu werden die Eier aggressiv von ihren Müttern verteidigt, was die ganze Aktion noch schwieriger macht. Der Grund, weshalb Turano die Dagonoeier möchte, ist, dass deren Schale eines der härtesten Materialien ist, dass es gibt. Um einiges Härter als ein Diamant. Die Schalen werden in den Laboren weiterverarbeitet. Zu was, keine Ahnung. Das ist nicht mehr Erens Aufgabe. Er soll nur diese Eierschalen besorgen.
 

Naja, zumindest weiß er was ihn erwartet, da er schon mehrmals die Dagonoeier besorgen musste. Allerdings ist dies die erste Mission ohne Ajax. Etwas mulmig ist ihm deshalb schon zu Mute. Aber andererseits heißt das auch, dass er nicht sofort ein Messer im Bauch hat, wenn er einen kleinen Fehler macht oder sich etwas zu aufmüpfig verhält. Mit anderen Worten, er muss nicht ständig überlegen was er sagt, was er tut, wie er sich zu benehmen hat. Er kann etwas entspannter sein. Und eine Pause von all den Tests und Abhärtungen ist auch nicht verkehrt. Außerdem gefällt ihm Flaurana sehr. Es ist ein komplett anderes Land, zwar mit einigen Parallelen, aber auch mit vielen Unterschieden.
 

Vielleicht wird die Mission ja doch nicht nur ätzend. Ein leichtes, verstohlenes Lächeln schleicht sich auf seine Lippen als er die Decke zum Kinn hochzieht und die Augen schließt.
 

~~~
 

Eren.
 

Eren.
 

Vom Klang seines Namens geweckt, schlägt der Zwölfjährige die Augen auf. Er liegt auf der Seite, genauso wie er eingeschlafen ist. Nur liegt er nicht mehr in seinem Bett. Verwundert richtet er den Oberkörper auf und sieht sich um. Viel gibt es gerade nicht zu sehen. Alles um ihm herum ist ausnahmslos grau. Es gibt keine Wände, keine Türen, keine Decke. Gar nichts. Es ist nur grau. Sogar das einfache ärmellose Shirt und die Bermuda sind grau. Beides hat er nicht getragen, als er eingeschlafen ist. Er weiß noch nicht einmal ob er auf etwas sitzt oder irgendwo in der Luft schwebt.
 

„Oh nein. Nicht schon wieder", murmelt er alles andere als glücklich vor sich hin.
 

Er weiß genau was dieses einfarbige Grau zu bedeuten hat. Er war hier schon ein paar Mal. Deshalb steht er auf und sucht nach etwas Bestimmtem. Es dauert auch gar nicht lange bis er es findet, nur eine halbe Kopfdrehung. Wenn alles leer und einfarbig ist, springt einem jede noch so kleine Abweichung regelrecht ins Gesicht. Eren hebt das Kinn und marschiert direkt auf die zwei Standspiegel in einigen Metern Entfernung zu.
 

Die Spiegel stehen leicht schräg nebeneinander, sodass sich Eren in beiden gleichzeitig sehen kann als er davor stehenbleibt. Der Rahmen des linken Spiegels ist strahlend weiß mit goldenen, gewellten Verzierungen darin. Der obere Teil wurde in Form weicher, gefiederter Flügel geschnitzt, deren Federn silbrig und golden funkeln. Hinter dem Spiegelglas wabert weißer Rauch umher, wie bauschige Wolken am Himmel. Der rechte Rahmen dagegen ist tiefschwarz mit roten, zackigen Verzierungen und ausgefransten Fledermausflügeln, die rote Details aufweisen, als Zierde am oberen Rand. Genau wie im hellen Spiegel, wabert auch hier Rauch im Inneren. Allerdings ist dieser hier schwarz und ähnelt somit mehr gefährlichen Gewitterwolken.
 

Hallo, Eren.Lange nicht mehr gesehen.
 

„Nicht lange genug", gibt Eren grimmig zurück.
 

Sieh mal einer an. Wer lässt sich da denn mal wieder blicken?
 

„Ganz bestimmt nicht freiwillig." Der Junge verschränkt die Arme vor der Brust. Wenn er es kontrollieren könnte, wäre er ganz sicher nicht in diesem leeren Raum.
 

In den Spiegeln lichtet sich der Rauch etwas. Eine menschenähnliche Silhouette bildet sich aus ihnen heraus. Im Weißen bleibt diese jedoch weitestgehend verschwommen, nur goldene Augen starren ihn deutlich durch den Rauch an. Im schwarzen Standspiegel wird die Gestalt schärfer, jedoch immer noch nicht klar genug, um sie richtig sehen zu können. Man kann aber schon dunkle Haare erkennen, rote Augen leuchten dem Kind entgegen und Kleidung in derselben Farbe wie der Rauch hüllt die Figur ein.
 

Morgen ist wieder eine Mission, nicht? Die erste ohne Ajax.
 

Ja, dieser Mistkerl lässt uns einfach allein! Was hat der nur für ultrageheime Sachen vor, dass wir nicht mit dürfen?!
 

Aber das ist doch ein großer Vertrauensbeweis. Vater und Ajax glauben daran, dass wir ohne sie eine Mission abschließen können.
 

Natürlich können wir das. Das ist doch mehr als offensichtlich. Das ist kein Vertrauensbeweis, sie wollen uns einfach nur loswerden! Sie wollen nicht, dass wir erfahren, was sie geheimes vorhaben!
 

„Könnt ihr mal die Klappe halten? Ich versuche hier aufzuwachen", unterbricht Eren die Stimmen aus den Spiegeln scharf. Er hat die Augen zusammengekniffen, stellt sich sein Zimmer mit jeder Einzelheit vor, an die er sich gerade erinnert. Dabei zwickt er sich zusätzlich in die Oberarme. Das funktioniert zwar selten, aber er will alles versuchen, um so schnell wie möglich aus diesem Albtraum zu erwachen.
 

Das ist doch sinnlos. Du weißt, dass du zu schwach bist, um uns zu kontrollieren.
 

Jetzt hast du ihn gekränkt.
 

Pf. Wenn er sich so leicht unterbuttert lässt, hat er es nicht anders verdient.
 

Eren dreht den Spiegeln knurrend den Rücken zu, drückt die Hände auf die Ohren und versucht alles um sich herum auszublenden und sich nur auf das Bild seines Zimmers zukonzentrieren. Die Stimmen gehen ihm dabei dennoch auf die Nerven. Sie versuchen ständig ihm etwas einzureden, weshalb Eren immer bereit sein muss sie auszublenden. Egal, ob er nun träumt oder wach ist. Im wachen Zustand sind die Stimmen zwar nicht so laut, aber dennoch laut genug.
 

Wie kannst du nur so grausam sein?
 

Wie kannst du nur so langweilig sein?
 

Eigentlich hätte er schon lange Lust dazu die Spiegel einfach zu zerschlagen, er hat es sogar schon einige Male versucht, nur blöderweise sind sie unzerstörbar. Noch dazu werden die Gestalten darin stärker, wenn der Junge sie berührt.
 

Ich bin nicht langweilig. Ich bin mitfühlend und strategisch. Könntest du auch mal versuchen.
 

Nein, ganz bestimmt nicht. Dann wär ich ja ein mickriger Jammerlappen.
 

„Haltet die Klappe!", brüllt Eren zornig. Sein Geduldsfaden ist längst gerissen. In einer flinken Drehung wirbelter herum und funkelt die Spiegel an. Kommt er sich dabei irgendwie blöd vor? Ja, auf alle Fälle. Er redet hier immerhin mit Spiegeln! Aber es sieht ihn ja niemand und er kann die Stimmen einfach nicht mehr ausblenden. „Ich muss morgen ausgeruht sein. Doch das bin ich nicht, wenn ich nicht endlich NORMAL schlafen kann!"
 

Ach, wenn du meine Kraft benutzt, schaffst du es mit links.
 

Und mit meiner Kraft verheilen die Wunden schnell.
 

„Nein. Ich will eure Hilfe nicht", lehnt Eren sofort energisch ab.
 

Auch gut. Dann werde ich stärker und kann mich endlich mal wieder austoben.
 

Mit einem wütenden Schnauben presst er die Zähne zusammen. Er kann darauf leider nichts erwidern. Ein Blick auf seinen rechten Arm unterstreicht die Aussage der raueren, dunkleren Stimme. Das Schwarz hat sich noch ein Stückchen mehr ausgebreitet und hat jetzt schon den halben Unterarm eingenommen. Das ist noch ein gigantischer Grund, weshalb er diese Träume hasst. Sie lassen die Male wachsen. Je länger er sich hier aufhält, desto gefährlicher wird er in der realen Welt. Besonders, wenn er noch hier gefangen ist, während eine der Stimmen zu mächtig wird und die Kontrolle übernimmt.
 

Um die Male zurückzudrängen, muss er aber dummerweise genau die Kräfte einsetzen, die er unterdrücken möchte. Bei der weißen Kraft ist es einfacher und weitaus ungefährlicher. Da reicht es schon sich die Wunden heilen zu lassen. Aber die schwarze Kraft ... die ist zerstörerisch und unberechenbar.

Auf zur Eiersuche

Ein paar gefühlte Ewigkeiten und unendlich viele Diskussionen später hat es Eren endlich geschafft aus dem Traum zu entfliehen und in einen gewöhnlichen überzuwechseln. Nur leider konnte er nur noch wenige Stunden schlafen bis ihn auch schon ein nerviges, ätzendes Piepding - auch Wecker genannt - aus dem Schlaf riss.

 

Um acht Uhr morgens steht der Junge abreisebereit im Wohnzimmer. Gekleidet ist er in warmen Sachen: eine weite braune Hose, die in schwarzen Stiefeln mit Pelzrand steckt, und eine dicke graue Jacke aus mehreren groben Stoff- und Lederlagen, ebenfalls mit Pelzrand. Ihm ist jetzt schon viel zu heiß in all den Lagen, aber dort wo er hingeht liegt meterhoher Schnee, da wird er es gebrauchen können. Auch wenn er durch die Kälteimmunisierung ganz gut ohne diesen extra Schichten auskommen könnte. Auf dem Rücken hat er einen Beutel mit dem notwendigsten Reisegepäck: Proviant, Ausrüstung und eine dicke Decke. Außerdem hat er einen Gürtel über der Jacke, in dem ein Dolch mit gewellter Klinge in der Scheide steckt. Überflüssig mit Fähigkeiten wie die seinen, aber sein Vater besteht darauf.

 

Ajax ist noch gestern spät nachts aufgebrochen. Natürlich nicht ohne seinem kleinen Bruder noch einmal überdeutlich einzubläuen, dass er sich wie ein Turano zu benehmen hat und die Mission erfolgreich abschließen muss und was ihn erwartet wenn nicht. Er hat ihn deshalb extra geweckt. Das war noch vor dem Spiegeltraum. Der junge Mann kann es eben nicht lassen, Eren vorzuschreiben wie er zu sein hat. Vielleicht ist das auch einfach seine Aufgabe als großer Bruder. Immerhin ist es die erste Mission auf die die Beiden nicht gemeinsam gehen. Eren gibt es nur ungern zu, aber ein kleines Bisschen Nervosität macht sich doch in seinem Magen breit. Bisher konnte er sich immer darauf verlassen, dass Ajax ihn aus der Klemme holen würde, wenn es mal brenzlig wird. Klar, ist sich der Junge bewusst, dass er in einer Vierergruppe unterwegs ist, aber bei Ajax weiß er zumindest, wie stark die Unterstützung ist. Den Fähigkeiten von Igor und Viktor traut er kein Stück.

 

Noch dazu beunruhigt ihn wie weit sich die Male wegen des Traums ausgebreitet haben. Besonders die am rechten Arm. Besorgt mustert er die schwarzen Ränder. Sein halber Daumen ist schon schwarz. Wenn er nicht aufpasst, dann verliert er noch die Kontrolle. Naja, zumindest zerstört er dann nur die andere Welt. Dennoch würde Ajax ihn dafür bestrafen, denn er hätte die Kontrolle verloren und das geht ganz und gar nicht. Abgesehen davon gibt es in Flaurana bestimmt mehr als genug Gelegenheiten, um die Male wieder zu schrumpfen, bevor es richtig gefährlich wird. Zum Glück wimmelt es da von Monstern.

 

Vielleicht sogar ein paar würdige Gegner und nicht solche Schwächlinge, die schon nach einem Angriff tot sind.

 

Wir müssen sie doch nicht gleich töten. Würde einen Felsen zu zertrümmern nicht auch ausreichen?

 

„Guten Morgen, Eren. Bereit für die Mission?", erkundigt sich Benedikt Turano gleich als er das Wohnzimmer betritt und Eren somit von den Stimmen ablenkt.

 

Schnell zieht der Zwölfjährige die Handschuhe an, um die Ausbreitung der Male zu verbergen. „Guten Morgen, Vater. Ja, glaub schon."

 

Forschend fixiert der Mann die blauen Augen. „Glaubst du oder weißt du?"

 

„Ich weiß es", korrigiert Eren schnell. Sein Vater hasst Unsicherheit. Er würde ihn zwar nicht bestrafen, aber er würde es sich auf alle Fälle merken und an Ajax weitergeben, sobald dieser von seiner Mission zurück ist. Und der ist keinesfalls so vorsichtig und zimperlich, wie er beim Training gestern wieder einmal bewiesen hat.

 

„Sehr schön", meint Turano zufrieden, dabei bewegt er auffällig die Hände, um auf das Handy darin zu deuten. „Dr. Ryu hat mir mitgeteilt, dass die anderen schon im Missionsraum warten. Beeil dich. Du weißt ja, ein Turano ist immer pünktlich."

 

„Ja, Vater", antwortet Eren monoton. Er kann die Ratschläge schon in und auswendig, dennoch muss er sie immer wieder hören.

 

„Na komm, mein Junge", drängt der Mann, betätigt gleichzeitig einen versteckten Knopf im Rahmen des großen Gemäldes, woraufhin dieses in der Wand verschwindet und den Durchgang zum Raum dahinter freigibt. „Lassen wir sie nicht länger warten."

 

Turano geht voran durch den Bilderrahmen und die Wendeltreppe zum Tunnel hinab. Eren folgt seinem Vater mit einem stummen Seufzer. Er hat keine große Lust auf diese Anfängermission mit Igor und Viktor. So gar nicht. Aber was bleibt ihm anderes übrig? Er darf seinem Vater nicht widersprechen.

 

Die Fahrt mit dem Einschienenwagen nutzt Turano dafür, um seinem Sohn eine Menge hilfreicher, nutzloser Tipps zugeben. Eren lässt dies schweigsam über sich ergehen, geht in Gedanken dabei lieber noch einmal sein Gepäck durch. Leider muss er zugeben, dass er oft etwas vergesslich ist. Es wäre nicht das erste Mal, dass er das wichtigste Ding liegen lässt. Deshalb hat Ajax angefangen eine Liste zu schreiben und die Angestellten damit zu beauftragen sein Gepäck vorzubereiten. Und das nur, weil er einmal einen komplett leeren Rucksack mitgenommen und den Inhalt auf dem Bett liegengelassen hat. Einmal. Da war er gerade mal Sieben.

 

Im Bunker angekommen führt Turano Eren durch die wie ein Rad aufgebaute Ebene, wobei der runde Aufenthalts- und Speisesaal die Mitte und die einzelnen Gänge mit den Einzelzellen die Speichen bilden. Nicht zum ersten Mal fragt sich der Junge, weshalb hier so viele Menschen mit Tätowierungen am Arm in identischen, langweiligen Klamotten herumlaufen. Als er sie so durch die Glasscheiben des Speisesaals beobachtet, fällt ihm auf, dass sie alle irgendwie ... eingeschüchtert wirken. Nein. Weshalb sollten sie eingeschüchtert sein? Das bildet er sich sicherlich nur ein. Womöglich sind sie nur müde vom Training oder einer Mission. Er selbst fühlt sich danach auch immer als würde er neben sich stehen. Allerdings erscheint ihm die Anzahl an Wachen viel zu übertrieben.

 

Eren hat das Gefühl, dass ihm jede Menge verheimlicht wird. Immer wenn er versucht etwas herauszufinden, wechseln seine Gesprächspartner stets das Thema. Natürlich steigt seine Neugier dadurch nur noch mehr, aber das bringt ihm die Antworten auch nicht. Dennoch gibt er die Hoffnung nicht auf. Ajax weiß schließlich auch über alles Bescheid, dann kann es doch nur eine Frage der Zeit sein, bis auch er selbst eingeweiht wird. Zumindest will er das glauben.

 

Im Aufzug zur Etage -02 steckt Turano das Smartphone in die Anzugtasche und dreht sich zu dem Jungen um. Ein ernster Ausdruck liegt auf seinem Gesicht und dem frisch gestutzten Bart. Automatisch sieht Eren zu seinem Vater hoch, in Erwartung einer weiteren Benimmpredigt.

 

„Also Eren, denk immer an das was Ajax und ich dir beigebracht haben", betont sein Vater zum bestimmt millionsten Mal und legt dem Zwölfjährigen die Hände auf die Schultern.

 

„Ja, Vater." *So wie immer*, fügt er in Gedanken hinzu. Als hätte er seine Familie schon jemals enttäuscht. Bisher hat Eren nicht einmal versagt. Okay, vielleicht einmal. Oder zweimal. Aber das war damals nicht seine Schuld. Woher hätte er wissen sollen, dass ausgerechnet zu der Zeit seine Feuerkräfte erwachen und das ganze Gebäude niederbrennt, samt seinem Zielobjekt, das er eigentlich nur etwas einschüchtern sollte? Genau, nicht seine Schuld. Und die anderen Male ... Darüber will er nicht nachdenken.

 

Turano zieht die Hände zurück, legt sie hinter den Rücken und richtet sich gerade auf. „Ich erwarte deine Rückkehr. Natürlich nach erfolgreichem Auftrag."

 

Das drückende Gefühl in Erens Magengrube und das helle Pling bedeuten, dass der Fahrstuhl die Zieletage erreicht hat. Die Türen öffnen sich und der Junge verlässt die kleine Kabine, dreht sich jedoch noch einmal zu Turano um, der noch etwas hinzuzufügen hat. „Mach mich stolz, mein Sohn."

 

Mehr liebevolle Abschiedsworte kann Eren nicht erwarten. „Du kennst mich doch, Vater. Ich werde dich nicht enttäuschen."

 

„Das hoffe ich." Mit einem letzten warnenden Augen zusammenkneifen betätigt der Mann den Knopf für die oberste Etage.

 

Schon schließen sich die Türen und der Junge steht allein im Korridor, der genauso weiß ist wie alles im Bunker. Anders als im -03-Stockwerk sind hier die Gänge gerade und in ordentliche quadratische Räume aufgeteilt, wobei die große Sporthalle die halbe Etage einnimmt. Die Wände der Halle haben auch diese einseitig verspiegelten Scheiben wie der Speisesaal, durch die Eren auf dem Weg zum Treffpunkt ein paar Leute beim Training beobachten kann. Jeden von ihnen könnte er mit Leichtigkeit besiegen. Die stolpern mehr über ihre eigenen Füße. Ein überhebliches Schmunzeln schleicht sich auf sein Gesicht. Wie gern würde er jetzt da rein gehen und den Anfängern zeigen wie es richtig geht. Aber das würde seiner Familie nicht gefallen, also kann er es gleich wieder vergessen.

 

Ein Turano ist kein Angeber. Ein Turano gibt niemals seine Fähigkeiten preis. Die gegnerische Unwissenheit ist die beste Waffe.

Zufällig fällt sein Blick auf die große Uhr an der hinteren Wand. Er ist spät dran. Genervt seufzend lässt er die Schultern hängen. Das Kind hat nach wie vor keine Lust auf diese Mission. Na egal. Wenn er sich schon nicht davor drücken kann, dann kann er zumindest diese dämlichen Eierschalen so schnell wie möglich besorgen und es hinter sich bringen.

 

Vor der Tür mit der Aufschrift „Missionsraum 1" hält Eren an. Dahinter kann er bereits ein Stimmengewirr aus seinen zukünftigen Teammitgliedern hören. Viktors lautes Stimmorgan ist dabei mehr als deutlich herauszufiltern. Also gut. Auf in die Folterkammer.

 

Erens erster Gedanke als er den Raum betritt ist: Die Mission wird eine Katastrophe. Etwas perplex bleibt er bei der Tür stehen.

 

Gegenüber der Zimmertür befindet sich eine kompliziert aussehende Maschine, die beinahe die gesamte Wand beansprucht. Der Großteil der Apparatur bildet ein großer Ring mit metallenem Rahmen und etlichen Schläuchen, Kabeln und Blinklichtern. Große Glasbehälter mit grauen, blubbernden Substanzen versorgen die Maschine mit dem nötigen Treibstoff. Ein Schaltpult daneben ermöglicht die Kontrolle über die Maschine, dem Teleporter in die andere Welt. Ansonsten sind nur noch ein paar Stühle und ein Tisch in der Ecke zu finden.

 

Auf einem der Stühle sitzt der Teamleiter, Igor. Der Mitte fünfzigjährige, füllige Mann ist genau wie Eren in mehrere Lagen Winterkleidung gehüllt, wobei bei ihm ungefähr fünfmal soviel Stoff und Leder benötigt wurde. An einem Gurt, der sich über der breiten Brust kreuzt, sind kleine Spezialtaschen angenäht worden, in denen stecken kurze, aber spitze Pfeile. Neben dem Stuhl liegt ein prall gefüllter Rucksack bereit, ein Zelt und eine Armbrust sind außen daran befestigt und eine braune Wollmütze liegt darauf. Die dicke Mütze kann Igor gut gebrauchen, mit seinem kahlrasierten Schädel würde er sich leicht eine Gehirnhautentzündung holen. Die Haare, die auf seinem Kopf fehlen, gleicht er durch den dichten, dunkelgrauen Vollbart wieder aus, der auch im geflochtenen Zustand seinen speckigen Bauch berührt. Wie immer hält der faule, verfressene Mann eine XXL-Chipstüte in der Hand, deren Inhalt er sich genüsslich in den Mund stopft. Dass dabei die Hälfte in seinem Bart landet scheint ihn nicht die Bohne zu interessieren. Mit den dunkelbraunen Augen, die unter buschigen Augenbrauen halb verschwinden, beobachtet er einen jungen Mann und eine junge Frau, die in einen Streit über die Nützlichkeit von Wasserschläuchen in verschneiten Gebieten vertieft sind.

 

Der Mann ist ungefähr Mitte Zwanzig und sowohl groß als auch durchtrainiert. Anders als bei seinem Lehrmeister Igor ist an ihm kein Gramm Fett, allerdings ist von seinen Muskeln, die er sonst so stolz präsentiert, unter den dicken Klamotten nichts zu sehen. Er hat die Jacke noch offen, ein Schal hängt locker über seinen Schultern, Handschuhe und Mütze hat er bei seinem Rucksack am Tisch abgelegt. Viktors Frisur ist genauso schräg wie sein Charakter. Die kurzen Haare sind feuerrot gefärbt und mit Tonnen an Haarspray zu einem Kranz aus Stacheln frisiert, der ihn seiner Meinung nach gefährlich aussehen lässt, aber eigentlich nur lächerlich wirkt. Er ist aggressiv, voreilig, hat keinerlei Geduld und regelt im großen und ganzen alles lieber mit seinen giftigen Fäusten.

 

Carmen, das vierte Mitglied der Truppe, ist erst Neunzehn, dennoch weicht sie keinen Millimeter vor Viktor zurück, der so aussieht, als würde er gleich explodieren. Sie ist schlank, trägt ebenfalls die winterliche Missionskleidung und auch den selben Rucksack, den sie in der geballten Faust hält und dabei so wirkt, als würde sie ihn am liebsten dem Mann ihr gegenüber über den Schädel ziehen. Ein zwei Meter langer Holzstab ist an ihrem Rücken befestigt: ein Bo. Ihr gerade geschnittener Pony hängt beinahe in die blauen Augen, die blonden Haare hat sie zu einen Zopf geflochten, der ihr bis zur Hüfte reicht. Mit Carmen selbst hat Eren noch nie an einer Mission teilgenommen, er kennt sie nur von den Trainingskämpfen her, die aufgrund ihrer Fähigkeit meist in Flaurana stattgefunden haben. Nun ja, meistens wenn mit Kräften trainiert wird, wird dies in der anderen Welt abgehalten. Der Grund ist einfach: wenn dort etwas beim Training zerstört wird, rücken nicht gleich haufenweise Polizisten, Feuerwehrleute, Reporter und Co. an.

 

Die letzte Person in diesem Raum ist die Ärztin, Dr.Ryu, die neben der Maschine steht. Ihr Blick wechselt zwischen dem Schaltpult und dem Tablet in ihren Händen hin und her. Sie trifft wohl die letzten Vorkehrungen und stellt den Teleporter ein. Wie immer verbirgt ein knielanger Laborkittel ihre Kleidung darunter, ihre roten Haare, in denen seit ein paar Jahren schwarze Strähnchen stecken, sind streng zurückgebunden und ihre schwarze Brille will nicht so recht dort bleiben wo sie hingehört.

Als sie die Tür ins Schloss fallen hört, hebt sie den Kopf und sieht Eren an. Ein freundliches Lächeln erscheint auf ihrem Gesicht, während sie die Brille höher schiebt. „Hallo, Eren. Gut, dann sind wir ja vollzählig."

 

Die Frau klappt die Schutzhülle des Tablets zu und klatscht in die Hände, um die Aufmerksamkeit der Anderen zu gewinnen. Dies muss sie einige Male wiederholen bis Viktor und Carmen aufhören sich anzukeifen und sich nur noch mit blitzenden Augen und verschränkten Armen anfunkeln. Hoffentlich geht das nicht die gesamte Mission über so. Igor bewegt sich weder einen Millimeter von der Stelle, noch legt er seine Chips beiseite. Innerlich den Kopf schüttelnd lehnt sich Eren an die Wand, verschränkt die Arme und richtet die Augen auf die Frau.

 

„Noch einmal guten Morgen zusammen", beginnt Dr. Ryu als endlich Ruhe im Raum herrscht. „Vermutlich wisst ihr es schon, aber ich wiederhole es dennoch einmal. Eure Aufgabe ist es, Dagonoeierschalen zu besorgen. An sich ja keine schwere Aufgabe, dennoch bitte ich euch, vorsichtig zu sein. Zu dieser Jahreszeit haben die Dagono Junge und die Mütter verteidigen sie äußerst aggressiv."

 

„Kein Problem. Wenn mich eines dieser gefiederten Ochsenköpfe auch nur schief anglotzt, mach ich ihm ratzfatz den Gar aus!", prahlt Viktor mit geballten Händen.

 

„Die würden dich doch fressen bevor du überhaupt merkst, dass sie da sind", behauptet Eren mit ernstem Gesicht.

 

Prompt richten sich alle Augen auf den jüngsten Turano. Dr. Ryu sprachlos, Carmen amüsiert, Igor unterbricht eine Sekunde seine Mahlarbeiten und Viktor ... Viktors Gesicht nimmt eine ähnliche Farbe wie die seiner Haare an, eine Ader an der Stirn verdeutlicht seine explosive Stimmung.

 

„Ähm ... Ich glaube ich muss mich verhört haben." Mit einem trockenen Lachen dreht er sich zu Eren um. „Hat der Zuspätkommer irgendwas gesagt?"

 

„Oh, tut mir leid, war das zu kompliziert für dein kleines Bienenhirn?", gibt der Junge verschmitzt grinsend zurück. Ein Zeichen dafür, dass der Schatten in ihm stärker wird, ist die zunehmend kampflustige Art.

 

„Du ..." Knurrend presst Viktor die Zähne aufeinander und macht einen drohenden Schritt vor.

 

Eren bereitet sich innerlich schon mal vor einem Wutanfall auszuweichen. Klar ist es irgendwie gemein den Älteren zu ärgern, aber wenn schon mal weder Ajax noch sein Vater in der Nähe sind, um ihn zu Maßregeln, kann er genauso gut ein bisschen Spaß haben. Oder zumindest versuchen so etwas ähnliches wie Spaß zuhaben. Viktor lässt sich so schön provozieren.

 

„Viktor!", mahnt die Ärztin streng.

 

Aufbrausend wendet der Angesprochene seinen Kopf zur Frau um. „Wieso ich?! Der hat doch angefangen!"

 

„Viktor, vergiss nicht mit wem du sprichst", erinnert sie ihn mit einem warnenden Augen zusammenkneifen und kleinem Nicken Richtung Eren.

 

„Warum?! Nur weil er der Sohn von Herrn Turano ist?! Das gibt ihm noch immer nicht das Recht ...!" Viktor wird mit jedem Wort zorniger und röter im Gesicht. An seinen Fäusten sind bereits kleine Stacheln zu sehen. Er sieht so aus, als würde er sich jede Sekunde auf den Zwölfjährigen stürzen wollen.

 

Doch bevor es soweit kommt, mischt sich Igor ein. „Beruhige dich, Viktor. Oder willst du für die Mission über auf die Strafbank?"

 

„Aber ...", beginnt der Hitzkopf noch einmal, besinnt sich jedoch eines besseren und gibt sich damit zufrieden die Zähne aufeinander zu pressen und Eren vernichtende Blicke zuzuwerfen. Einige Sekunden später verschwinden auch die Stacheln wieder nachdem er dem Kind bockig den Rücken zugekehrt hat.

 

Enttäuscht entspannt auch Eren seine Muskeln. Irgendwie hat er sich auf die Prügelei gefreut. Nach der niederschmetternden Niederlage beim Training mit Ajax gestern Abend, wäre ihm die Möglichkeit etwas Dampf abzulassen sehr willkommen gewesen. Der Sieg wär natürlich inklusive. Gegen jemanden wie Viktor braucht er noch nicht einmal seine Kräfte, um zu gewinnen. Tja, dann muss er eben warten bis sie in Flaurana sind. Dort wird's bestimmt das ein oder andere Monster geben, dass er töten kann.

 

Jetzt merkt er selbst wie angriffslustig und aggressiv er ist. Wow, die dunkle Seite ist stärker als er dachte.

 

„Also", beginnt Dr. Ryu erneut. „Eure Mission, Dagonoeierschalen besorgen und zwar so viele wie ihr bis morgen Abend findet."

 

„Ich werde so viele Schalen sammeln, dass wir fünfJahre lang keine mehr suchen müssen!", behauptet Viktor sehr von seinen Fähigkeiten überzeugt. Etwas zu sehr von seinen Fähigkeiten überzeugt.

 

Eren setzt bereits zu einem Kommentar an, aber die Frau im Laborkittel, der das natürlich nicht entgangen ist und eine erneute Streiterei verhindern will, kommt ihm zuvor: „Tut mir nur einen Gefallen. Tötet so wenige Dagono wie möglich, sonst haben wir bald keine Vögel mehr, denen wir die Eier stehlen können."

 

„Und wenn sie mich angreifen?", hakt Viktor schmunzelnd nach.

 

Dann lass dich fressen.

 

*Klappe!*, bringt Eren die Stimme zum schweigen. Die raue, dunkle wird langsam ziemlich laut und hat viel zu viele Auswirkungen auf seinen Charakter. Es wird Zeit, dass der Junge seine Kräfte benutzt. Insgeheim jedoch stimmt er der satanischen Seite in sich zu. Dann hätte er nämlich Ruhe vor dem Typen, der ihm ständig auf den Geist geht.

 

„Bitte", wiederholt die Frau eindringlich ohne auf Viktors Frage einzugehen. „Gut. Dann haben wir alle Vorbereitungen getroffen. Hoffentlich habt ihr nichts vergessen."

 

Dr. Ryu wendet sich dem Schaltpult zu, überfliegt noch einmal die Eingaben und betätigt anschließend einen großen roten Knopf an der Seite. Sofort brummt, summt und klickt es in der großen Maschine. Luftblasen steigen in den Treibstoffbehälter auf und Lämpchen fangen an zu blinken. Dann ertönt ein Knall als der Teleporter Zeit und Raum durchtrennt. Gleichzeitig entsteht ein blau-grün-weißer Wirbel im Inneren des Ringes, der ununterbrochen die Farben in sich einsaugt.

 

„Igor, du zuerst", entscheidet die Ärztin.

 

Zunächst noch unschlüssig entschließt sich der Mann dann doch noch dazu aufzubrechen. Igor verschwindet für nicht einmal eine Sekunde, nur die Chipskrümel am Boden bleiben zurück, um vor dem Portal wieder aufzutauchen. Damit erschreckt er die Frau so, dass sie beinahe das Tablet fallen lässt. Prompt verpasst Dr. Ryu mit diesem dem untersetzten Mann einen Schlag gegen die Brust. „Igor! Wie oft hab ich dir schon gesagt, du sollst deine Kräfte nicht aus Faulheit einsetzen?!"

 

„Keine Ahnung. Ich hab nicht mitgezählt", meint er desinteressiert und stopft sich den nächsten Kartoffelchip in den Mund.

 

„Und die bleibt hier." In einer flinken Bewegung entreißt sie ihm die Chipstüte. Der Teamleiter öffnet schon den Mund, doch die Frau unterbricht ihn noch vor dem ersten Ton. Mit dem Finger zeigt sie auf das Portal. „Los jetzt."

 

„Ich wollte die Tüte eh hierlassen", behauptet der Mann, hebt demonstrativ sein Kinn und macht einen Schritt auf das Portal zu. „Wir sehen uns in der anderen Welt." Noch ein Schritt und der Teleporter saugt den Teamleiter ein.

 

Viktor schnappt sich seinen Rucksack und stellt sich als nächstes vor die Maschine. Auch bei ihm hat Dr. Ryu etwas auszusetzen. „Mach die Jacke zu, sonst wirst du noch krank."

 

Viktor schneidet eine überhebliche Grimasse und zieht eine Augenbraue gen Stirn. „Machst du dir etwa Sorgen um mich?"

 

„Nein", kommt die schnelle, entschiedene Antwort. „Ich hab nur keine Lust dich danach wieder gesund zu pflegen. Und vergiss nicht: nicht fliegen. Bienenflügel sind nicht für diese Temperaturen gemacht."

 

„Ja, ja", meint Viktor nur, zuckt lässig mit den Schultern und geht grinsend durch das Portal.

 

Sobald die rote Stachelfrisur verschwunden ist, stöhnt Dr. Ryu entnervt auf und atmet anschließend tief durch. „Die Beiden gehen mir so dermaßen auf die Nerven, sag ich euch." Ruhiger und mit einem Lächeln auf den Lippen fährt sie an das Mädchen gewandt fort: „So, Carmen, du bist dran. Lass dich von den Typen nicht zu sehr ärgern."

 

„Mach ich nicht, keine Sorge, Dr. Ryu. Wenn die mir blöd kommen, werde ich ihnen zeigen, was ein Mädchen drauf hat", versichert die 19-Jährige zwinkernd. Im nächsten Moment ist auch sie verschwunden.

 

Jetzt ist nur noch Eren im Zimmer. Der Junge zieht die Tragegurte des Rucksacks fester und tritt an die Maschine heran. „Dann werde ich auch mal verschwinden."

 

„Warte, Eren", hält die Frau ihn auf und hält ihn kurz an der Schulter fest. Ihr Gesicht wirkt irgendwie besorgt. „Wie sehen deine Male aus? Hörst du wieder die Stimmen?"

 

Eren hat befürchtet, dass diese Frage noch kommen wird. Sie erkundigt sich immer nach seiner Gesundheit und dem Armschmuck. Und dass er heute ein wenig aggressiver ist, ist ihr natürlich auch nicht entgangen. Sie ist auch die einzige, die von den Stimmen weiß. Eigentlich hatte er nie vor irgendjemandem davon zu erzählen, aber er war einmal zu unvorsichtig.

Es ist schon einige Jahre her, damals war Eren gerade einmal Fünf. Dr. Ryu hat eine ihrer Routineuntersuchungen an ihm durchgeführt. Als sie den Raum verließ, um das abgenommene Blut im benachbarten Labor zu untersuchen, haben sich seine inneren Stimmen zu Wort gemeldet. Zu der Zeit haben sich die Male zwar nicht so weit ausgebreitet wie heute, aber da er noch jünger war, konnte er sie noch nicht so gut unterdrücken. Irgendwann haben sie angefangen sich zu streiten, so laut, dass Eren seine eigenen Gedanken nicht mehr hören konnte. Gleichzeitig sind seine Kopfschmerzen stetig gewachsen bis sogar sein Sichtfeld zu verschwimmen begann. Schon seit mehreren Tagen hatte er immer wieder diese Schmerzschübe. Bisher konnte er sie gut verbergen, aber an diesem Tag war es schlimmer. Als der Fünfjährige es schließlich nicht mehr ertragen konnte, hat er geschrien, dadurch einige Zentrifugenröhrchen und Glaszylinder gesprengt und immer wieder „Haltet die Klappe!" geschrien. Erst als es in seinem Kopf ruhiger wurde, er die Augen wieder öffnete, bemerkte er das angestellte Chaos und Dr. Ryu, die mit offenem Mund und entgeistertem Ausdruck das Kind anstarrte. Gezwungenermaßen musste er ihr alles erzählen, von den Stimmen und auch von den Träumen. Sie hat ihm geschworen, es niemandem zu verraten. Besonders nicht seinem Vater, denn der würde nur neue Tests fordern und weitere Abhärtungsmaßnahmen einführen. Seit damals unterstützt die Frau den Jungen wo sie nur kann, versucht die Beschwerden irgendwie zu lindern und herauszufinden was es damit auf sich hat. Bis heute leider ohne Erfolg.

 

Zumindest hat Eren mittlerweile gelernt damit zu leben und die zwei anderen Seiten in sich zu kontrollieren. Meistens jedenfalls, solange die Male ihm die Kontrolle nicht entreißen.

 

„Ich hab alles im Griff", versichert Eren, ohne die eigentliche Frage zu beantworten. Dabei schiebt er unbewusst seine Hände in die Jackentaschen.

 

„Eren, du kannst mir nichts vormachen." Fast schon etwas enttäuscht hält sie ihm eine Hand hin. „Zeig sie mir."

 

„Mir geht's gut. Ehrlich", beharrt Eren. Wenn sie wüsste wie weit das Schwarz schon vorgedrungen ist, würde sie sich nur Sorgen machen und darauf bestehen, dass er hier bleibt, um in kontrollierter, bewachter Umgebung die dunklen Fähigkeiten zunutzen. Aber dann wäre er wieder eingesperrt und von seinem Vater pausenlos bewacht.

 

„Na, schön", gibt Dr. Ryu nach. Doch nur zum Schein. Völlig unerwartet wirft sie Eren ihr Tablet entgegen. „Fang!"

 

Aus Reflex zieht der Junge die Hände aus den Taschen und fängt es auf. Bevor er eine Chance hat zu reagieren, hat sich die Ärztin bereits seine rechte Hand geschnappt und den Handschuh ausgezogen. Mit gerunzelter Stirn mustert sie die schwarze Farbe.

 

„Wie weit geht es den Arm rauf?", verlangt sie bestimmt zu erfahren.

 

„Dr. Ryu, das ist ..."

 

„Wie weit?", wiederholt sie mit festem Blick, der keine Widerworte duldet.

 

Eren seufzt innerlich. Er weiß genau, dass es keinen Sinn hat zu diskutieren. „Fast bis zum Ellbogen."

 

„Du weißt, dass das schon sehr kritisch ist, oder? Ich muss dich wohl kaum daran erinnern, was passiert, wenn nichts unternommen wird", erinnert sie besorgt und streng zugleich.

 

„Ja, ja. Als könnte ich das vergessen." Eren gibt der Frau das Tablet zurück, zieht den Handschuh wieder an und setzt ein zuversichtliches Gesicht auf. „Ich werde mich darum kümmern, bevor es soweit kommt. Versprochen."

 

„Schieb es nicht so lange auf, ja? Riskier nicht die Kontrolle zu verlieren", betont die Frau nachdrücklich.

 

„Ja, klar", wiederholt der Junge leicht genervt. „Ich bin kein kleines Kind mehr."

 

Ein warmes Lächeln erscheint auf ihrem Gesicht, doch in den Augen glitzert etwas Trauriges. „Das weiß ich doch."

 

Eren entgeht der ehrlich besorgte Unterton natürlich nicht. Dr. Ryu ist die einzige, die ihn annähernd wie ein echtes Familienmitglied behandelt, auch wenn sie nicht blutsverwandt sind. Besonders seit der Beichte behandelt sie ihn viel familiärer als alle anderen. Doch nur in Abwesenheit aller anderen.

 

Um die unangenehme Situation zu überspielen, räuspert er sich kurz. „Ich sollte langsam los. Die Anderen fragen sich sicher schon, wo ich bleibe."

 

„Ja, stimmt." Dr. Ryu geht einen Schritt beiseite, um den Weg freizumachen. „Versuch bitte Igor und Viktor nicht umzubringen."

 

„Kann ich nicht versprechen", antwortet Eren ehrlich mit einem fiesen Lächeln auf den Lippen. Bevor die Ärztin irgendwas erwidern könnte, springt er einen Satz vor, mitten hinein in den leuchtenden Wirbel.

 

Die Mundwinkel der Frau fallen besorgt nach unten. Das Tablet drückt sie gegen ihre Brust. „Pass auf dich auf."

 

Eine Minute wartet sie noch bis sie die Teleportmaschine herunterfährt und sich auf die Suche nach jemandem begibt, der Igors Chipsunordnung beseitigt.

Holpriger Start

Während der Reise in die andere Welt lässt Eren die Augen geschlossen. Das erste Mal hat er den Fehler begangen sie offen zulassen. Prompt musste er nach der Ankunft dafür büßen und sein gesamtes Frühstück opfern. Diesen Fehler macht er nicht wieder. Erst als er festen Boden unter den Füßen spürt und Stimmen hört, schlägt er die Lider auf.

 

Der Junge befindet sich vor einer Maschine, die haargenau so aussieht wie die im Bunker. Wenig später schaltet sie sich ab. Sofort verschwindet der leuchtende Wirbel, die Lämpchen erlöschen und die Treibstofftanks hören auf zu blubbern. Der Raum selbst ist relativ schlicht eingerichtet. Hölzerner Boden, helle Wände, kleine Lampen an der Decke und ein paar Tische, die Hälfte davon vollgestellt mit wissenschaftlichen Geräten und Laptops. Dadurch dass es hier keine Fenster gibt, wirkt der Raum sehr erdrückend und viel zu eng für all die Leute, die hier an den verschiedensten Ecken hantieren. Die wenigsten schenken dem Neuankömmling ihre Aufmerksamkeit.

 

In der Nähe der einzigen Tür im Zimmer entdeckt das Kind den Rest seines Teams. Igor hat sich einen der Bürostühle herangerollt und stopft sich etwas aus einem Lederbeutel an seinem Gürtel in den Mund, das verdächtig nach Kartoffelchips aussieht. Viktor lehnt mit verschränkten Armen an der Wand und trommelt ungeduldig mit den Fingern auf seinen Oberarmen herum. Carmen steht daneben und studiert eine Karte. Sie ist wohl die einzige im Team, die die Mission ernst nimmt.

 

„Wo hast du denn so lange gesteckt? Musstest etwa noch aufs Töpfchen?", witzelt Viktor gehässig als Eren bei ihnen ankommt.

 

Verärgert funkelt er den Älteren an. Er muss sich echt zusammenreißen, um ihm keine zu scheuern. Viktor geht komischerweise nur ihm so auf den Keks. Zumindest wenn die beiden im gleichen Raum sind. Kann auch sein, dass die düstere Seite in ihm schuld ist, weshalb er so gereizt reagiert.

 

„Nein, ich hab noch Anti-Bienenspray besorgt", entgegnet das Kind giftig.

 

„Willst du dich schon wieder mit mir anlegen, Kleiner?!" Der Mann richtet sich zur vollen Größe auf und streckt die Brust heraus. „Pass lieber auf, dass du dir nicht in die Windeln machst."

 

Jetzt bekommt Erens Geduldsfaden einen Riss. Er lässt den Rucksack fallen wo er steht, wirft den linken Handschuh dazu und macht einen drohenden Schritt auf Viktor zu. Er hat gerade noch rechtzeitig daran gedacht nicht den rechten auszuziehen. Würden die Anderen sehen, wie weit die schwarze Farbe schon gekommen ist, dann ... Ja, was dann? Eigentlich kann es ihm ja vollkommen egal sein, was diese Dödel über ihn denken. In Erens Augen flackert etwas Unheilvolles auf, dass seinen blauen Augen einen leichten Lilaschimmer verleiht und die Mitarbeiter verängstigt zurückweichen lässt. Sie haben alle Gerüchte über seine Kräfte gehört, mal mehr und mal weniger wahr.

 

„Du solltest mich jetzt lieber nicht reizen, Insekt", knurrt der Zwölfjährige leise.

 

„Jungs, bitte, lasst den Kinderkram", mischt sich Carmen ein. Sie hat die Karte weggepackt und sich zwischen sie gestellt, die Arme beschwichtigend erhoben. „Wir haben eine Mission zu erfüllen."

 

„Ganz genau! Er ist ein Kind und hat meiner Meinung nach hier gar nichts verloren. Der steht mir doch eh nur im Weg rum", meint Viktor provozierend, obwohl er genau weiß, was Eren drauf hat. Schließlich ist dies nicht ihre erste gemeinsame Mission.

 

„Jetzt reicht's!"

 

In dem Moment, in dem Eren zum Sprung ansetzt, wird er vom Teamleiter hochgehoben, um im nächsten Herzschlag einfach zu verschwinden. Keine Sekunde später tauchen die beiden im Freien vor dem Gebäude aus dem Nichts auf. Einige Wachen in der Nähe schrecken zusammen, manche richten sogar abwehrend ihre Waffen auf sie bis sie merken wen sie da bedrohen und schnell die Gewehre senken.

 

„Igor! Lass mich sofort los!" Eren strampelt mit Armen und Beinen bis Igor ihn endlich absetzt. Wütend dreht er sich zu dem Älteren um, um ihm einen Schlag in den Bauch zu verpassen, nicht stark genug, um ihn zu verletzen. „Du sollst mich doch nicht ohne Vorwarnung teleportieren!"

 

„Ich bin hier der Teamleiter", betont Igor ernst. Er hat sogar seinen Chipsbeutel verstaut. „Und ich dulde keinen Streit innerhalb meines Teams. Ich mache auch bei dir keine Ausnahme, jüngster Herr Turano."

 

Eren beißt die Zähne zusammen und knurrt leise. Er kann es nicht ausstehen, wenn ihn jemand jüngster Herr Turano nennt. Dabei bekommt er ständig das Gefühl mit seinem ach so perfekten Bruder verglichen zu werden. „Sag das gefälligst diesem Bienenhirn! Der hat doch angefangen!"

 

„Um Viktor kümmert sich Carmen. Keine Sorge, seine Standpauke ist mit Sicherheit schlimmer als deine", versichert der Mann schmunzelnd.

 

„Argh!", faucht der Junge sauer und beginnt damit herumzutigern, um sich etwas abzureagieren. In seinem Inneren weiß er natürlich, dass er vollkommen überreagiert, aber er kann nichts dafür. Die dunkle Seite macht ihn gereizt und angriffslustig. Es wird wirklich höchste Zeit ein Monster zu finden bevor er Viktor tatsächlich noch den Kopf abreißt.

 

„Versuch dich wieder zu beruhigen, Eren. Geh nicht ständig auf Viktors Sticheleien ein. Wir wissen beide, dass er ein ziemlich eingebildeter Idiot sein kann, aber wir sind trotzdem alle im selben Team", betont der Missionsleiter deutlich. „Ihr müsst nicht die besten Freunde werden, aber ich kann doch wohl von euch verlangen, zusammenzuarbeiten. Oder?"

 

Eren bleibt mit dem Rücken zu Igor stehen und entfaltet seine Faust so, dass der Mann es nicht sieht. Blutige Halbmonde zieren seine Handfläche. Es ist nicht verwunderlich, wenn er seine Finger betrachtet. Die Nägel sind bestimmt doppelt so lang wie zuvor und spitz zulaufend. Er knurrt lautlos, verknotet die Arme, um seine Finger zu verstecken und atmet tief durch ehe er sich zu Igor umdreht, der ihn immer noch abwartend ansieht.

 

„Na gut. Meinetwegen", gibt Eren Augen rollend nach, um die Predigt zu beenden. „Aber wenn Viktor seine bescheuerten Kommentare nicht lässt, kann ich für nichts garantieren."

 

„Mach dir darüber keine Gedanken", meint Carmen zuversichtlich.

 

Sie kommt gerade aus dem Hauptgebäude heraus und hat den miesgelaunten Viktor im Schlepptau. Der junge Mann hält sich mit beleidigter Miene die rechte Wange, die ganz gerötet und geschwollen ist. Igor hatte offensichtlich Recht damit, dass seine Standpauke schlimmer sei. Der Anblick bringt den Zwölfjährigen zum grinsen, ohne dass er etwas dagegen tun kann. Wenn er denn gewollt hätte. Schade, dass er eingewilligt hat sich mit dem Dödel zu vertragen. Ihm würde gerade eine richtig schöne, bissige Bemerkung auf der Zunge liegen.

 

Schon allein das kleine Lächeln scheint Viktor zureizen. „Was glotzt du so besch...?!" Gerade noch rechtzeitig unterbricht er sich selbst als Carmen ihn bereits wütend anfunkelt und schnauzt stattdessen: „Schau gefälligst weg!"

 

Eren sagt nichts dazu, grinst nur schadenfroh vor sich hin.

 

„Hier." Carmen übergibt dem Kind seinen Rucksack und Handschuh.

 

Als er sich diesen wieder anzieht, haben seine Fingernägel die gewohnte, normale Form. Das sichere Zeichen dafür, dass er sich beruhigt hat.

 

„Dann würde ich sagen, gehen wir los", beschließt Igor.

 

Ohne auf Zustimmung zu warten, hebt er Eren, der ihm am nächsten steht, überraschend schnell hoch und teleportiert sich mit ihm davon. Den protestierenden Ruf erstickt er damit noch vor dem ersten Ton.

 

~~~

 

Während Carmen und Viktor auf Igors Rückkehr warten, da er immer nur eine weitere Person mit sich teleportieren kann, materialisieren sich die beiden Anderen einige hundert Kilometer weiter nördlich.

 

Prompt landet Eren der Länge nach im Schnee als der Mann ihn ohne Vorwarnung loslässt. Prustend stemmt er den Oberkörper hoch, spuckt Schnee aus und läuft rot an. Aufgebracht springt er auf die Beine, wirbelt zu Igor herum und startet seine Beschwerde. „Igor! Was sollte das?! Du sollst mich nicht ohne Vorwarnung teleportieren! Das hatten wir doch erst vor ein paar Minuten!"

 

„Ich hab doch gesagt: gehen wir los", verteidigt er sich Achsel zuckend. „Ich hol dann mal die anderen. Lauf nicht weg."

 

Schon ist er wieder verschwunden. Eren hatte gerade einmal Zeit „Igor" zu rufen. Nur die Fußspuren im Schnee zeigen wo der Mann gestanden hat. Schmollend zieht er die Mütze aus und wuschelt sich durch die Haare, um die Schneeklumpen herauszuschütteln. Auch seine Klamotten klopft er grob ab. Beleidigt zieht er die Wollmütze wieder an und stapft zum nächstbesten Baum, um diesem eine Tritt zu verpassen. Vielleicht etwas zu fest. Der Fuß bricht ein großes Stück des Stammes heraus und die gesamte Schneeladung der Äste regnet auf den überrumpelten Jungen herab, der sich kurz darauf inmitten eines Schneehaufens wiederfindet. Peinlich berührt kämpft er sich knurrend frei und entfernt sich einige Meter von der zu fallen drohenden Tanne. Gegen einen großen Felsen gelehnt sieht er sich die Umgebung an, die Hände eingeschnappt in den Taschen vergraben.

 

Der Zwölfjährige steht am Rand eines Plateaus, eine Klippe fällt beinahe senkrecht ein paar Meter vor ihm ins Tal hinab. Das Gebirge erstreckt sich um ihm herum bis zum Horizont. Eine raue, harte Landschaft mit hohen Bergen, steilen Felsklippen, eisigen Bächen, dunklen Nadelwäldern und Schnee und Eis. Überall nur Schnee und Eis. Der kalte Nordwind wiegt die Tannenspitzen hin und her, schaukelt dadurch die Schneeladung zu Boden und häuft diese zu Dünen zwischen den Stämmen auf. Auf dem Plateau, auf dem er steht, wachsen gerade einmal eine handvoll Tannen, eine davon hat er gerade unabsichtlich schwer verletzt. Womöglich stürzt sie bei der nächsten stärkeren Böe über die Kante in die Tiefe. Die drei anderen Seiten sind von steilen Wänden in die Höhe begrenzt. Der einzige Zugang bildet ein Tunnel durch den Berg.

 

Dann taucht Igor wie immer ohne Vorwarnung auf dem Plateau auf. Diesmal hat er Carmen dabei. Die Blondine sieht bleich aus und hält sich den Bauch als wäre ihr übel. Zunächst versucht sie zu gehen, doch schon nach wenigen wackeligen Schritten lehnt sie sich gegen die Felswand, legt den Kopf zurück und schließt die Augen. „Ich hasse dieses ganze hin und her teleportieren. Mein Magen kommt da nicht mit."

 

„Ruh dich kurz aus", rät Igor außer Atem. Kleine Schweißperlen glitzern auf seiner Stirn. „Bin gleich zurück."

 

Diesmal dauert es einige Sekunden bis er tatsächlich verschwunden ist. Tja, die Teleportation zehrt eben an seinen Kräften. Je größer die Distanz und je mehr Zusatzgewicht er bewegen muss, desto schneller ist er außer Puste. Eren ist davon überzeugt, dass er um einiges mehr schaffen könnte, wenn er nicht so viel Eigengewicht mit sich rumschleppen müsste. Dennoch ist es eine ganz nützliche Fähigkeit. Eren würde zwar nicht mit ihm tauschen wollen, aber als Transportmittel echt nützlich.

 

„Was ist denn mit dem Baum passiert?", erkundigt sich das Mädchen erstaunt wenige Minuten später.

 

„Keine Ahnung. Vielleicht ist ein Fels dagegengeschlagen?", flunkert der Junge schulterzuckend.

 

„Mhm", kommentiert die 19-Jährige nicht überzeugt. Kritisch mustert sie die Holzsplitter im Schnee und die Fußspuren davor. Schon schmunzelt sie wissend, sagt jedoch nichts.

 

Und dafür ist ihr Eren dankbar. Er hat gerade keine Lust dazu sich für so was zu rechtfertigen. Außerdem zuckt sein Knie schon wieder und die Finger trommeln ungeduldig auf seinen Oberarmen herum. Dieses rumstehen, warten und nichts tun ist das schlimmste in seiner momentanen Verfassung. Das lädt die Stimme direkt ein ihre überflüssige Meinung zu äußern.

 

Was ist denn los, Eren?Sehnst du dich nach meiner Kraft?

 

Der Zwölfjährige versucht die Stimme auszublenden, die durch seinen Kopf hallt.

 

Komm schon, Kleiner. Ignorier mich nicht. Wir sind doch im selben Team.

 

Eren reagiert nicht, beobachtet stattdessen einen fliegenden Schatten in der Ferne. Schwer zu sagen, aber es könnte sogar ein Dagono sein. Wenn er so schnell einen gefunden hat, wird die Mission bald vorbei sein.

 

Sollen wir ihn mit einem Feuerball angreifen? Vielleicht flieht er dann in sein Nest und zeigt uns den Weg. Dieser Idiot. Ein heiseres Lachen begleitet die letzten Worte.

 

*Vergiss es. Du hast doch Dr. Ryu gehört. Wir sollen keine Dagono töten.*

 

Dann eben nicht. Dann warte ich bis du mich nicht mehr unterdrücken kannst und tue es dann selbst. Lange dauert es ja nicht mehr.

 

Damit hat sie leider nicht ganz Unrecht. Er kann schon das Blut in seinen Adern prickeln fühlen. Außerdem ist die sanfte Stimme verstummt. Für gewöhnlich melden sich beide zu Wort, damit Eren nicht vergisst, dass sie noch da sind. Trotzdem, so leicht ist er nicht unterzukriegen. Dafür hat Ajax gesorgt.

 

*Vergiss es. Ich werde dir ganz sicher nicht die Kontrolle überlassen.* Fest entschlossen gräbt er seine Fingernägel in den Stoff der Handschuhe. „Ganz bestimmt nicht."

Ein Team voller Disharmonie

„Ganz bestimmt was nicht?", fragt Carmen, die bis eben den Wolken zugesehen hat.
 

„Was?" Irritiert blinzelt Eren sie an.
 

Er hat gar nicht mitbekommen, dass er das Letzte laut gesagt hat. Glücklicherweise bleibt ihm eine Antwort erspart. Igor ist zurück. Er wirkt müde und ausgelaugt. Kein Wunder, immerhin ist er gerade fünfmal etliche hundert Kilometer weit gesprungen. Für einen extrem faulen Kerl ist das schon sehr beeindruckend.
 

„Wow. Hier friert man sich ja alles ab", bemerkt Viktor fröstelnd. Er hat noch immer den Mantel offen, noch immer weder Mütze noch Handschuhe an.
 

Eren verdreht nur die Augen. So viel Blödheit kann man nicht verstehen. Wenn ihm seine dämlichen Igelstacheln wichtigersind als seine Ohren, dann ist das sein Problem. Eren wird auf alleFälle derjenige sein, der lacht, wenn sie ihm abfallen. Egal ob Stacheln oder Ohren.
 

Carmen versucht dennoch dem 27-Jährigen einen Rat zugeben. „Wie wär's, wenn du dich für das Wetter passend anziehen würdest?"
 

„Auf keinen Fall!", protestiert er energisch. „Ich ruiniere mir doch nicht die Frisur! Außerdem engt mich die Jacke an den Flügeln zu sehr ein."
 

„Ist das nicht genau der Grund, weshalb du sie anziehen solltest? Um deine Flügel vor der Kälte zu schützen?" Fragend legt die Blondine den Kopf schief.
 

„Meinen Flügeln geht's prima!", braust Viktor auf. „Kümmere dich um deine Angelegenheiten, Dreckschupserin!"
 

Das war der Startschuss für den nächsten Streit. Dafür hat Eren gar keine Zeit oder Geduld. Zumindest nicht, wenn er nicht selbst involviert ist. Genervt stößt er sich von der Wand ab, legt die Hände hinter den Kopf und marschiert auf den Tunnel zu.
 

„Ich geh mich mal umsehen. Bin bald zurück", ruft er noch über die Schulter zurück.
 

Der einzige, der mitbekommt, dass sich der Junge aus dem Staub macht, ist Igor. Doch der Teamleiter ist noch zu erschöpft, um ihm zu folgen. Außerdem muss er aufpassen, dass jeder in seinem Team mit einem Kopf auf den Schultern zurückkehrt. In dieser Hinsicht ist Viktor momentan weit mehr gefährdet als wenn Eren allein durch die Wälder streift.
 

Die ersten paar Meter ist der Boden noch von hereingewehtem Schnee bedeckt, dann löst nackter Stein diesen ab. Jeder seiner Schritte wird von den Wänden zurückgeworfen, so auch die zankenden Stimmen von Viktor und Carmen, auf die er kaum achtet. Ein leichter Windhauch verrät ihm, dass der Tunnel nicht allzu weit entfernt einen zweiten Ausgang besitzt. Genau der ist sein Ziel. Auch wenn das Tageslicht nicht ausreicht, um den gesamten Weg zubeleuchten, hat Eren keinerlei Probleme damit zu sehen. Dank der dunklen Kräfteseite. Seine blauen Augen haben einen Lilaton angenommen, sobald sich die Nachtsicht aktiviert hat, ohne dass er sich extra darauf konzentrieren müsste. Manchmal bemerkt er es gar nicht, wenn er seine Kräfte nutzt. Besonders bei solch unauffälligen nicht. Doch diese kleine, harmlose Fähigkeiten reicht bei weitem nicht aus, um das schwarze Mal schrumpfen zu lassen.
 

Nach circa fünfzig Metern vollführt der Tunnel eine ansteigende Rechtskurve und enthüllt nach etwa der gleichen Strecke einen schwach erkennbaren Halbkreis. Der Eingang ins Revier des Dagonoschwarms. Der Eingang ist von dichten Sträuchern und Felsen so verborgen, dass er kaum zu entdecken ist. Eine kleine Sicherheitsmaßnahme, um zu verhindern, dass sich weder im Tunnel noch auf dem Plateau irgendwelche größeren Tiere einnisten.
 

Eren bahnt sich einen Weg durch das Gestrüpp, muss dabei immer wieder anhalten, um sich von anhänglichen Zweigen und Dornen zu befreien. Schließlich steht er im Freien und sieht sich sogleich auf der Suche nach Spuren um.
 

Ein dunkler Nadelwald wächst um ihm herum in die Höhe und ein paar kleine Sträucher füllen die Lücken zwischen den Stämmen. Überall liegt Schnee, da sollte es doch nicht so schwer sein Monsterabdrücke zu finden. Sollte man meinen. Doch im Umkreis seines Blickfeldes wirkt das Weiß vollkommen unberührt. Gibt es hier etwa gar keine Tiere mehr? Nicht einmal kleine, gewöhnliche wie Hasen oder Eichhörnchen? Haben sich alle aus dem Staub gemacht, weil hier ein großes, böses Monster sein Unwesen treibt?
 

Dieser Gedanke lässt den Zwölfjährigen vorfreudig grinsen. Begeistern von der Idee malt er sich bereits einige Fantasiemonster aus, die zwischen den Baumstämmen auftauchen und ihn angreifen. Wie er sich auf deren Rücken schwingt, um ihnen den Kopf abzuschlagen oder vielleicht sogar das Herz herauszureißen. Trotz des freundlichen Kinderlächelns blitzt etwas böses, mörderisches in den blauen Augen auf. Etwas, das ihm seit er denken kann antrainiert wurde, immer bereit ist zu töten und einen Kampf auf Leben und Tod als spielerische Herausforderung sieht.
 

Los! Gehen wir auf Monsterjagd. Eierschalen sammeln sollten sogar die drei Hohlköpfe schaffen. Also, worauf warten wir? Die Monster töten sich schließlich nicht von selbst.
 

Mehr Überzeugungsarbeit muss die Stimme gar nicht leisten. Eren hatte eh vor das Team zu verlassen, um sie nicht in Gefahr zu bringen, falls er es tatsächlich nicht schaffen sollte das Schwarz zurückzudrängen. Er hofft natürlich darauf, dass es nicht soweit kommt, aber wenn keine würdigen Gegner hier sind, so wie es gerade aussieht, dann ist es besser keine Teamkameraden in der Nähezu wissen.
 

Schwächling.
 

*Ich zeig dir wie viel Schwächling in mir steckt. Wart's nur ab*, knurrt Eren stumm. Sein Bein beginnt wieder zu zittern.
 

Komm schon. Sieh es doch ein. Du bist schwach. Lange kannst du mich nicht mehr unterdrücken.
 

*Ich werde nicht aufgeben*, verkündet das Kind entschlossen. *Ich werde dich zum Schweigen bringen!*
 

Na dann viel Glück dabei. Ein gehässiges Lachen hallt in seinen Gedanken wieder.
 

Eren presst die Zähne aufeinander und geht los. Je eher er die satanische Stimme los wird, desto besser.
 

„Hey. Wo glaubst du, gehst du hin?", verlangt plötzlich jemand schroff hinter ihm zu erfahren.
 

Eine Hand wird ihm auf die Schulter gelegt. Aus Reflex schnappt sich Eren die Hand, zieht den dazugehörigen Menschen mit Schwung über den Kopf und knallt ihn mitten in den Schnee hinein. Ein perplex dreinblickender Viktor blinzelt ihn aus der Schneemulde heraus an, in die Eren ihn befördert hat. Die Mulde ist gut einen Meter tief und passt sich perfekt an Viktors Form an.
 

„Oh, Viktor", bemerkt Eren überrascht, beugt sich vor und fängt sogleich an unschuldig zu grinsen. „Bist du jetzt schon erschöpft? Wir sind doch noch gar nicht losgegangen."
 

Vor Scham und Wut nimmt das Gesicht des 27-Jährigen langsam wieder die Farbe seiner Haare an. Schnell krabbelt er aus der Mulde – ziemlich unelegant – und klopft sich den Schnee von der Kleidung, ehe er sich mit drohendem Zeigefinger vor dem immer noch grinsenden Kind aufbaut. „Zeig mir gefälligst mehr Respekt. Ich bin mehr als doppelt so alt wie du."
 

„Ist doch nicht meine Schuld, wenn du dich anschleichst, du Dödel", bemerkt Eren schulterzuckend. „Aber ich mach dir keinen Vorwurf. In deinem Alter ist das Gehirn eben nicht mehr so gut in Form."
 

Ohne große Mühe lenkt der Zwölfjährige den Faustschlag zur Seite und stellt dem vorbei stolpernden Mann ein Bein, wodurch dieser ein weiteres Mal den Schnee küsst und Eren leise kichert. Das bringt den Hitzkopf noch mehr zum rasen. Er springt auf die Füße, wirft die Handschuhe zu Boden und startet einen Faustschlag nach dem nächsten. Da Viktor nicht annähernd so schnell ist wie Ajax, ist es für den Jungen ein Kinderspiel den blinden, undurchdachten Angriffen mit einem minimalen Bewegungsaufwand auszuweichen.
 

Oh, wie sehr er es liebt diesen Trottel zu ärgern! Viktor regt sich immer so schön auf. In Anwesenheit seines Vaters oder Bruders würde so ein Benehmen nicht geduldet werden. Da hätte der Junge schon längst ein Messer im Bauch. Oder mehrere.
 

„Jungs! Hört sofort auf mit dem Kindergarten! Habt ihr schon wieder vergessen weshalb wir hier sind?", erinnert sie Carmen lautstark.
 

Der Zwölfjährige duckt sich gerade unter dem nächsten Schlag weg. „Ich kann nichts dafür. Ich versuche nur nicht getroffen zu werden."
 

„Warum wurde ich nur so einem ungleichen, unfähigen Team zugeteilt?", stöhnt Igor genervt. Seine Hand steckt wie meistens in einem Chipsbeutel, dessen Inhalt er sich frustriert in den Mund stopft. „Carmen, wärst du so freundlich?"
 

„Klar." Sie weiß sofort, was sie zu tun hat. Die 19-Jährige stellt sich etwas breitbeiniger auf, um einen besseren Stand zu haben und richtet die Handfläche auf den Boden. Jetzt muss sie nur auf eine gute Gelegenheit warten.
 

„Bleib gefälligst stehen, du Zwerg!", verlangt Viktor knurrend.
 

Mittlerweile sind seine gut zehn Zentimeter langen Stacheln zum Vorschein gekommen. Das ist jetzt kein Rivalenkampf mehr, sondern tödlicher ernst. Das Gift der Stacheln ist tödlich und da es ein genmanipuliertes ist, gibt es kein Heilmittel. Nun ja, für jeden tödlich, außer für Eren. Viktors Gift ist Teil der Giftimmunisierung seines Trainings und daher bewirkt es bei ihm gerade einmal vorübergehende Taubheit und Übelkeit.
 

Natürlich muss der Bienenmutant seinen Gegner zunächst treffen, damit das Toxin wirken kann. Immer noch die Hände in den Manteltaschen vergraben und einem frechen Grinsen auf den Lippen tänzelt der Jüngere um Viktor herum, bringt sich mit Saltos, Sprüngen und Drehungen immer wieder in Sicherheit, ohne dass Viktors Fäuste auch nur in seine Nähe kommen.
 

„Versuchst du eigentlich mich zu treffen?", fragt Eren lachend als er über Viktor hinweg springt und mit dem Rücken zu ihm hinter ihm landet. „Da musst du noch etwa hundert Prozent schneller werden."
 

Gerade als der Mann herumwirbelt und zum nächsten Schlag ausholt, reißt Carmen ihre Arme in die Höhe. Augenblicklich schießt eine Erdwand zwischen den zankenden Jungs empor. Während sich Eren keinen Schritt wegbewegt und die Wand mit einer Mischung aus schmollend und enttäuscht sein mustert, bemerkt sie Viktor viel zu spät. Ungebremst donnert seine Faust gegen die harte, gefrorene Erde. Dort hinterlässt er nicht nur eine Delle, sondern auch seinen Stachel, der nah an den Knöcheln abbricht als er die schmerzende Faust zurückzieht. Blut tropft auf den Boden, färbt den weißen Schnee dabei rot.
 

Knurrend wendet er sich an Carmen, die mit verschränkten Armen missbilligend zu ihnen blickt. „Mann, Carmen, was soll der Quatsch?!"
 

„Was der Quatsch soll?!" Fassungslos lacht sie kurz auf. „Wir haben eine wichtige Mission zu erledigen und ihr Kindsköpfe habt nicht besseres zu tun als euch zu vermöbeln?!"
 

„Naja, eigentlich hat Viktor ja die Luft verprügelt", bemerkt Eren mit hinter dem Kopf verschränkten Fingern.
 

„Du ..." Zähneknirschend versucht der Bienenmutant die Fassung zu behalten. Es fällt ihm sichtlich schwer.
 

„Viktor, du bist 27 Jahre alt. Es wird Zeit, dass du dich auch so benimmst", fordert Igor als Viktors Mentor streng.
 

Ein paar Sekunden ringt er mit sich selbst, dann gewinnt sein Temperament. Anklagend richtet er den Finger auf die Erdwand in ungefähr Erens Richtung. „Wenn diese billige Kopie eines Turano mich mit Respekt behandelt! Ich bin fünfzehn Jahre älter als er! Wieso konnte Ajax nicht mitkommen? Der ist zumindest zu was zu gebrauchen, anders wie dieser freche, inkompetente Knirps, der gerade erst aus den Windeln raus ist! Jetzt mal ehrlich, das seht ihr doch genauso. Eren ist ein Kind, das nur Probleme und Streitereien verursacht und auf eigene Faust ohne einen Plan einfach losmarschiert! Ajax hätte einen Plan. Mit ihm hätten wir bestimmt schon genug Schalen, um nach Hause zu gehen. Aber nein, wir haben nur die schwächliche Ausführung mitbekommen und sind jetzt dieje..."
 

„Viktor! Kein Wort mehr!", versucht der Älteste ihn noch zu warnen, aber zu spät.
 

Mit jedem Wort ist das Lächeln auf Erens Lippen kleiner und kleiner geworden, mit jeder Silbe verfinsterte sich sein Gesichtsausdruck mehr und mehr. Als Viktor dann auch noch anfing ihn mit seinem supertollen Bruder zu vergleichen, konnte er sich nicht mehr zurückhalten. Von einer Sekunde auf die andere glühten seine Augen in einem düsteren Lila auf. Mit einem einzigen Schlag gegen die Erdwand, zertrümmert er diese in jede Menge Einzelteile, die alle auf Viktor hinab regnen und ihn unter sich begraben.
 

Hustend befreit sich Viktor aus dem Erdhaufen, richtet den Oberkörper auf und spuckt Dreck und Schnee aus. Er ist über und über mit Schmutz bedeckt, was ihm alles andere als gefällt. Erst recht sauer wird er als er seine zerstörte Frisur befühlt. Die Adern an seinem Hals treten deutlich hervor. „Was fällt dir ein, du Scheißkerl?! Du fühlst dich wohl so unantastbar, nur weil du ein ..."
 

„Ja? Sprich weiter", fordert Eren ihn bedrohlich ruhig auf. Das Kind steht auf dem Rest der Erdwand, die Hände in den Taschen verborgen. Auch wenn er gerade einmal zwölf Jahre alt ist, wirkt er momentan extrem einschüchternd. Sogar Viktor verstummt bei dem mörderischen Ausdruck in den lila Augen, der ihn regelrecht zu durchbohren scheint und der unnatürlich warnenden Gelassenheit, die er ausstrahlt.
 

Los! Töte ihn! Sie vergleichen uns doch immer mit Ajax! Zeigen wir ihnen, dass wir auch allein um Welten stärker sind als sie!
 

Schockierenderweise ist Eren mit der Stimme einer Meinung. Viktor wird sich niemals ändern. Er wird ihn immer mit seinem beliebten Bruder vergleichen. Wenn er will, dass das endet, wäre ihn zu töten die einfachste und effektivste Methode. Es wäre auch nicht sein erster Mord. Wer zu schwach ist, wird eben getötet. So ist das Leben. Mit dieser Wahrheit ist er aufgewachsen. Seine Finger zucken bereits erwartungsvoll, die Nägel haben sich wieder in Krallen verwandelt. Auch ein paar der Haarsträhnen, die unter seiner Mütze zu sehen sind, verändern sich, werden allmählich schwarz, genau wie die Sklera seiner Augen und die Iris färbt sich nach und nach rot.
 

Oh, ja. Er hat gerade große Lust dazu dieses vorlaute Scheißbienending zu killen.
 

„Okay. Der nächste, der einen Ton von sich gibt oder eine falsche Bewegung macht, den schicke ich ohne weitere Diskussionen nach Hause, wo er Herrn Turano erklären kann, was passiert ist", warnt Igor, die buschigen Augenbrauen drohend zusammengezogen.
 

Der Mann weckt Erens Vernunft. Er blinzelt als würde er aus einem Tagtraum erwachen und sieht sich um. Langsam bekommen seine Augen ihre natürliche Farbe zurück, zeitgleich entspannen sich seine Muskeln und die Mordlust verschwindet. Eren entfernt sich ein paar Schritte von Viktor, damit dieser aufstehen kann und keiner seine Wut auf sich selbst mitbekommt. Jetzt hätte er tatsächlich beinahe die Kontrolle verloren. Dabei hat er sich doch geschworen, niemals mehr seiner dunklen Seite zu verfallen. Kann es sein, dass mit der Zeit nicht nur er selbst stärker geworden ist?
 

„So, können wir dann endlich diese Eier suchen?", möchte Carmen genervt wissen, dabei wedelt sie mit der zusammengefalteten Karte in der Luft herum.

Schneewanderung

Bis zum Mittag wandern die Vier durch die eisigen Wälder und erklimmen schneebedeckte Berge, ohne einem anderen Lebewesen zu begegnen. Sehr zu Erens Bedauern. Anstatt wie die anderen vor ihm sucht er nicht nur nach Hinweisen auf Dagono, er ist auf seiner eigenen Jagd nach allem was er bekämpfen kann. Nun ja, im Notfall kann er auch einfach den Wald abfackeln. Normalerweise sollte das auch ausreichen. Aber das würde er nur äußerst ungern tun. Und nicht nur, weil er die Strafe seines Bruders fürchtet, der ihn wegen seinem unkontrollierten Ausbruch ganz sicher in den Keller stecken würde.

 

Igor hat als Teamleiter die Führung übernommen. Allerdings ist der untersetzte Mann zu faul zum Gehen. Er teleportiert sich ein paar Meter, wartet dann auf den Rest der Gruppe und teleportiert dann wieder. Dabei leert er den Chipsbeutel aus. Ganz ehrlich, wie der es geschafft hat Teamleiter und Materialbeschaffungsexperte zu werden, ist Eren ein Rätsel. Das Mädchen vertraut Igors Orientierungssinn nicht, weshalb sie ausgerüstet mit Karte und Kompass ständig die Richtung prüft. Viktor hat die Diskussion mit Carmen schlussendlich verloren, was bedeutet er stapft jetzt missmutig mit Mütze, Handschuhen und zugezogenem Reißverschluss durch den kniehohen Schnee.

 

„Findet ihr nicht auch, dass es hier merkwürdig still ist?“, fragt Carmen als die Sonne ihren Zenit überschritten hat.

 

„Die Tiere und Monster verschwinden doch immer, wenn wir hier sind“, meint Igor gleichgültig von seinem Felsen herab, um den herum die anderen Drei klettern dürfen.

 

„Wollt ihr wissen, was ich glaube?“ Klar muss Viktor seinen Senf dazugeben. „Dass sie meine starke Präsenz spüren und sich wie Feiglinge verkriechen. Tja. Ich kann das gut verstehen. Ich bin eben furchteinflößend.“ Prahlend reckt er sein Kinn in die Höhe und schwellt die Brust.

 

Eren kann bei so viel Selbstverliebtheit nur die Augen rollen.

 

Ach, komm schon! Das einzige, was an dem Kerl furchteinflößend ist, ist sein Gestank.

 

Dieser Kommentar entlockt dem Jungen ein Schmunzeln.

 

Und vielleicht die Größe seinen Minihirns in Bienengröße.

 

Perfekterweise rutscht genau in dem Augenblick Viktor mit dem Fuß vom Felsen ab. Mit einem hohen Schrei schafft er es sich an den dürren Zweigen eines spärlichen Strauches festzuklammern, bevor er den Weg hinabrutscht, den er gerade erklommen hat.

 

Da haben wir den Beweis.

 

„Alles okay, Viktor?“, erkundigt sich Carmen, die sich ein Kichern nicht verkneifen kann.

 

„Zum Rutschen haben wir jetzt keine Zeit“, bemerkt Eren zu dem Älteren hoch grinsend.

 

Mit vor Peinlichkeit geröteten Wangen funkelt er Eren an. „Hier ist es sauglatt! Wart erstmal ab, wie du hier hoch kommen willst.“

 

„Ist doch einfach.“ Eren zuckt gelassen mit den Schultern. Darüber macht er sich keine großen Sorgen. Anders als Viktor kann der Jüngere anhand der Fußstapfen von Viktor und Carmen sehen, wo man ausrutscht und wo nicht.

 

„Los, gehen wir weiter“, unterbricht Igor das anfängliche Diskutieren, teleportiert sich zwanzig Meter und winkt sein Team heran.

 

Immer noch schmunzelnd setzt Eren die Klettertour fort.

 

~~~

 

Ein paar Stunden später balanciert die Gruppe einen schmalen Grat entlang, gerade breit genug für einen Fuß. Rechts davon erhebt sich eine beinahe senkrechte Felswand in die Höhe, links fällt eine fast genauso senkrechte Klippe in die Tiefe. Der Wald weit, weit unten ist nur als weiße und grüne Fläche zu erkennen. Carmen hat darauf bestanden sich mit einem Seil aneinander zu binden, um nicht sofort in den Tod zu stürzen, sollte einer ausrutschen. Nur Igor wartet bereits auf der anderen Seite. Selbstverständlich wieder mit dem Chipsbeutel in der Hand.

 

„Das wäre so viel einfacher, wenn ich fliegen dürfte“, grummelt Viktor noch immer eingeschnappt, weil ihm hier so viel untersagt wird. Was seinen imaginären Stolz verletzt.

 

„Dann würden deine Flügel brechen“, erinnert ihn das Mädchen bestimmt schon zum hundertsten Mal.

 

„Ja, ja“, brummt der Bienenmutant. Auch bestimmt zum hundertsten Mal. „Igor könnte uns auch einfach rüber teleportieren. Wenn er nicht so egoistisch wäre!“

 

Da Viktor nicht für seine Zimmerlautstärke bekannt ist, hat sein Mentor das natürlich laut und deutlich verstanden. „Du weißt doch, dass ich nicht so oft hin und her springen kann. Willst du, dass ich völlig außer Puste bin, wenn doch einmal ein Monster auftaucht?“

 

Hahaha! Der ist doch schon am Ende, wenn er vom Stuhl aufsteht!

 

Stumm gibt Eren der Stimme Recht. Da sich im selben Moment ein Stein unter Viktors Fuß löst und versucht mit den Armen rudernd das Gleichgewicht zu behalten bis Eren ihn mit einem kurzen Ruck am Seil gegen die Felswand klatscht, denkt dieser das Grinsen gelte ihm. Mit gerötetem Kopf und blutender Nase schnellt sein Blick zu Eren herum.

 

„Du solltest besser aufpassen wo du hintrittst“, rät der Junge teils ernst gemeint, teils neckend. „Sonst rutscht du noch ab.“

 

„Pass du lieber auf, dass meine Faust nicht ausrutscht!“, droht der Bienenmutant laut, um seine Scham zu überspielen.

 

Das Mädchen verpasst ihm einen Schlag gegen den Oberarm. „Halt die Klappe, Viktor. Sonst löst du noch eine Lawine aus.“ Vielsagend deutet sie mit einem Nicken nach oben. Schnee rieselt bereits herab. „Dann stürzen wir alle ab.“

 

„Weißt du auch warum?“, möchte Viktor freundlich lächelnd wissen. Dann schreit er: „Weil du uns zusammengebunden hast!“

 

„Leute, die Lawine“, erinnert sie Igor an die Gefahr. Wird jedoch komplett überhört.

 

„Heul nicht so rum und geh weiter“, drängt Eren. So allmählich wird ihm mulmig zumute, wenn er nach oben sieht und immer mehr Schneeflocken herunter segeln. Er selbst könnte sich leicht retten. Aber mit Carmen und Viktor zusammengebunden … Er weiß nicht ob er das schaffen würde.

 

Der gerötete Kopf schnell zurück zum Kind. „Von dir lasse ich mir gar nichts befehlen! Egal, ob dein Vater der Chef ist oder der Hausmeister.“

 

Wie kann er es wagen?! Töten wir ihn!

 

Mit leicht lila gefärbter Iris funkelt er den Älteren mahnend an. „Mein Vater hat mit dem hier gar nichts zu tun. Sei nicht so ein Weichei. Im Notfall kannst du ja deine Flügel benutzen. Oder dich von mir retten lassen.“

 

„Du hörst wohl gar nicht zu, was?“, bemerkt der 27-Jährige mit genervtem Gesichtsausdruck, kurz bevor er wieder explodiert. „Die würden reißen! Lieber stürz ich in den Tod, als mich von dir retten zu lassen!“

 

„Jungs! Pscht!“, zischt Carmen durch zusammengebissene Zähne.

 

Wenn Viktor schreit, bekommt er oft eine sehr feuchte Aussprache und da das Seil nicht sonderlich lang ist, stehen sie praktisch direkt nebeneinander, sodass Eren die volle Ladung abbekommt.

 

Er hat uns angespuckt! Lass mich frei! Den stoß ich die Klippe runter!

 

*Das mach ich lieber selbst.* In seinen Adern pulsiert es und noch ein paar der Haarsträhnen, die unter der Mütze hervorstehen, färben sich schwarz. Auch wenn er diesen Idioten jetzt liebend gern fallen sehen würde, reißt er sich zusammen. „Wenn du lieber sterben willst als nicht mehr fliegen zu können oder von mir gerettet zu werden … dein Problem. Mich juckt´s nicht. Und jetzt geh endlich weiter, sonst schubs ich dich runter!“

 

„Das würdest du nicht wagen“, knurrt Viktor mit der Nasenspitze dicht vor Erens Gesicht.

 

„Wollen wir wetten?“ Eren sieht dem um fast zwei Köpfe größeren Mann direkt in die Augen – so gut es eben geht – ohne auch nur eine Sekunde daran zu denken nachzugeben.

 

Los! Schubs ihn runter! Er hat´s verdient!

 

Doch er tut es nicht, fixiert nur weiterhin die grünen Augen und blendet Carmen und Igor aus, die im Hintergrund versuchen sie zum Weitergehen zu bewegen. Wieder erweist sich das bedrohliche Lila seiner Iris als äußerst wirksam.

 

Viktor dreht schnaubend den Kopf nach vorne. „Für solchen Babykram bin ich eindeutig zu erwachsen.“

 

*Dabei hast du doch angefangen.*

 

Feigling. Komm, jetzt! Er ist abgelenkt! Stoßen wir ihn runter!

 

*Ich werde keinen wehrlosen Mann die Klippe runter schubsen. Nicht einmal so einen Dödel wie Viktor. Nicht ohne ausdrücklichem Befehl.*

 

Langweiler.

 

Als sie endlich heil auf der anderen Seite ankommen, befreit sich Eren sofort von den anderen, um Abstand zwischen sich und Viktor zu bekommen. Der Typ stärkt mit jedem Atemzug die schwarze Seite in ihm. So langsam fängt der Junge an zu glauben, dass sein Vater genau aus diesem Grund das Team so zusammengestellt hat. Um ihn, Eren, auf eine harte Probe zu stellen und zu testen, wie gut er die Kräfte kontrollieren kann. Würde sein Vater das tatsächlich tun? Ohne nachzudenken kann er sofort mit einem sicheren Ja antworten.

 

„Endlich ist das Seil ab“, verkündet Viktor erleichtert, während er sich streckt. „Das engt meine Muskeln zu sehr ein. Hoffentlich war das die einzige Schlucht.“ Fragend sieht er zu Carmen, die bereits den weiteren Weg auf der Karte studiert.

 

„Hm?“ Blinzelnd blickt sie auf. Sie hat nicht zugehört, weshalb Viktor seine Frage wiederholen muss. Carmen zerstört seine Hoffnung mit einem Kopfschütteln. „Nein. Die Dagono leben eben in zerklüfteten Gebirgsgegenden. Es werden noch viele Schluchten kommen.“

 

Allein die Vorstellung, noch mehrmals mit einem Strick an Viktor gebunden zu sein, bewirkt, dass dem Kind schlecht wird. Er legt die Hände hinter den Kopf und sieht zu dem Mädchen, das versucht Viktor zu erklären, wo sie auf der Karte gerade sind. „Carmen, könntest du nächstes Mal nicht einfach eine Brücke bauen?“

 

„Und wo soll ich eine Brücke herbekommen? Falls du´s nicht bemerkt hast, der Baumarkt hat gerade geschlossen“, meint Carmen sarkastisch. Sie ist wohl genervt von Viktor. Na so ein Wunder.

 

„Bist du nicht eine Erdzauberin, oder so?“, hilft ihr Eren auf die Idee auf die er hinaus will.

 

Das Mädchen hebt irritiert die Augenbrauen. „Ja? Und was hat das damit zu … Ohhh … Verstehe.“

 

Eren kann beinahe die Glühbirne über ihrem Kopf sehen, wie sie mit einem Pling anfängt zu leuchten. Die 19-Jährige kichert verlegen. „Ja, das wäre auch eine Möglichkeit.“

 

„Um was geht’s hier? Was wäre auch eine Möglichkeit?“ Viktor kapiert nicht wovon die beiden sprechen. Verwirrt sieht er von einem zum anderen und verlangt stumm nach einer Antwort.

 

Der ratlose Gesichtsausdruck bringt Eren und Carmen zum lachen, weswegen Viktor noch irritierter dreinblickt. Und auch ein bisschen sauer. Er mag es nicht außen vor gelassen zu werden.

 

~~~

 

So wie sie es ausgemacht haben, erschafft Carmen bei jeder weiteren Schlucht eine Brücke über die die Gruppe bequem gehen kann, ohne zu viel Nähe zu anderen Kameraden zu riskieren. Je höher sie das Gebirge erklimmen, desto tiefer wird der Schnee und die Nadelbäume lichter und lichter. Mit jedem Schritt wird es kälter, der Atem bildet Wölkchen vor ihren Gesichtern.

 

Igors Hand zittert auf dem Weg vom Chipsbeutel zum Mund und zurück. Wie viel hat der nur dabei? So groß ist der Beutel doch gar nicht. Dennoch scheint er nie leer zu werden.

 

Die 19-Jährige klappert mit den Zähnen, hat die Arme fest um den Oberkörper geschlungen und die Schultern hochgezogen. Sie hat zwar die Karte noch in der Hand, aber ihre Finger sind zu steif, um sie zu lesen. Deshalb bleibt ihnen nichts anderes übrig als dem Teamleiter zu folgen, der sie nicht nur einmal im Kreis führt.

 

Sogar Viktor ist verstummt vor Kälte. Er hat sich so dick eingepackt, wie es ihm möglich ist. Nicht nur die Wollmütze zerdrückt ihm jetzt die Stachelfrisur, auch die Kapuze des Mantels und der Schal, den er sich ein paar Mal um den Kopf gewickelt hat. Nur noch seine Augen sind zu sehen.

 

Der einzige, der mit dem Minusgraden klar kommt, ist Eren. Durch die Überlebenstrainings in verschneiten Gebieten stört ihn die Kälte wenig und über die Ruhe ist er ganz froh. Das Kind geht als letztes, folgt den Fußspuren der anderen und sieht sich gleichzeitig noch immer nach einem Monster um. So langsam ist er sich nicht mehr so sicher, ob er die dunkle Seite zurückhalten kann. Er hat sogar angefangen nach den Auren von Lebewesen zu suchen.

 

Das ist eine Fähigkeit der hellen Seite. Bedauerlicherweise. Dabei wechselt seine Augenfarbe zu einem warmen Grünton und sein Sichtfeld verändert sich. Er sieht jetzt jeden Felsen, jeden Baum und jedes Lebewesen, egal ob menschlich oder nicht, nur noch als schwarzweiße Silhouette, als wäre er in einem alten Film gefangen. Im Inneren der Silhouetten leuchtet ein farbiger Ball, wenn es sich um etwas Lebendiges handelt. Je nachdem welche Lebensform es ist, unterscheiden sie sich in Größe, Farbe und Umriss der Aurakugel. So kann Eren schon aus weiten Entfernungen feststellen welche Lebewesen sich in seiner Umgebung aufhalten.

 

Doch die drei Teammitglieder sind die einzigen Lebensformen, die er finden kann.

 

Gib´s auf, Kleiner. Schon bald bist du zu schwach, um mich zurückzuhalten.

Der Grobämi

„Hey, L-l-leute. Wenn ich p-pin-pinkeln muss, wie schnell frie-iert das dann ein?“, fragt Viktor mit den Zähnen klappernd am Abend.

 

Die Sonne ist bereits untergegangen, die letzten schwachen Strahlen lassen den glitzernden Schnee rot glühen und malen lange Schatten. Noch immer hatte die Gruppe kein Glück mit der Suche nach einem Nest voll Eierschalen. Auch wenn sie schon einen Dagono in der Ferne erspäht hatten. Es wird auch immer sonderbarer, dass sie überhaupt keinen anderen Tieren über den Weg laufen. Es ist zwar schon ein paar Monate her, seit Eren das letzte Mal in diesem Gebirge unterwegs war, aber damals gab es hier einiges an Wild und kleinen Monstern. Die Dagonoschwärme werden wohl kaum alle in dieser kurzen Zeit gefressen haben. Oder?

 

„Solange so-solltest du normal ni-nicht brauchen“, beruhigt ihn Carmen.

 

Ihre Lippen sind bereits blau angelaufen und sie zittert am ganzen Körper. Es wird langsam Zeit für heute Schluss zu machen. Nachts sind sowieso keine Dagono unterwegs und eine Pause würde allen ganz gut tun.

Sogar Eren fängt an zu frieren. In der letzten Stunde hat er die dicke Kapuze über seine Mütze gezogen und die Hände tief in den Taschen vergraben.

 

„Gut, dass das geklärt ist“, kommentiert der Zwölfjährige. „Und jetzt beeil dich. Ich hab keine Lust hier festzufrieren.“

 

„I-ich auch n-nicht! Deshalb frag ich ja!“, knurrt Viktor gereizt, dreht sich um und stiefelt durch den Schnee zurück zur Felswand, die sie vor wenigen Minuten umrundet haben.

 

„Geh nicht zu weit weg. Da vorne war es ziemlich eisig“, rät Eren und fügt mit einem verschlagenen Lächeln hinzu: „Nicht, dass du noch die Klippe runter fällst und ich dich retten muss.“

 

„Glaubst du etwa, ich will, dass ihr mir dabei zuseht?!“, brüllt der Bienenmutant zurück, ohne weiter auf die Stichelei einzugehen. Untypisch. Er muss anscheinend ziemlich dringend, ansonsten hätte er sicherlich noch mehr zu sagen. Schon vor den Felsen reißt er sich die Handschuhe runter, schmeißt sie achtlos in den Schnee und fummelt an seiner Hose herum. Dann ist er außer Sicht der Gruppe.

 

„Hmpf. Als ob das irgendjemand sehen will.“ Schon allein der Gedanke lässt das Kind angeekelt schaudern. Um schnell die Bilder aus dem Kopf zu bekommen, sieht er in die entgegengesetzte Richtung.

 

Das Aurasehen hat er auch wieder aufgegeben. In seinem Kopf hallt ein teuflisches Lachen wieder, das immer lauter zu werden scheint. Er fängt an wirklich in Erwägung zu ziehen, den Wald einfach abzufackeln. Dumm nur, dass hier oben kaum mehr Pflanzen wachsen. Egal, dann schleicht er sich nachts, wenn alle schlafen, eben kurz davon, brennt den Nadelwald im Tal nieder und ist zurück bevor die Sonne aufgeht.

 

Vergiss es, Kleiner. Das funktioniert nie im Leben. Find dich endlich damit ab, dass ich bald deinen Körper übernehme. Sag schon Mal Adieu zu deinen Freunden.

 

*Ich werde nicht aufgeben! Ich werde dich nicht gewinnen lassen.* Abgesehen davon sind diese Dödel gar nicht seine Freunde.

 

Das hast du nur leider nicht in der Hand.

 

Eren presst die Kiefer aufeinander. Was soll er nur tun? So langsam gehen ihm die Optionen aus.

 

„Was haltet ihr denn davon – Hatschi! - wenn wir ein Lager – Hatschi! - für die Nacht suchen gehen?“, schlägt das Mädchen niesend vor. „Wenn ich nicht bald am Feuer sitze, sterben mir noch die Zehen ab.“

 

Wir könnten ihr den Wunsch ganz leicht erfüllen. Komm schon, Eren, du wolltest doch etwas verbrennen.

 

*Aber doch nicht sie.*

 

Jetzt tu nicht so als hättest du einen Beschützerkomplex.

 

„Was ist mit dir, Eren? Du hast doch sicher auch Hunger, oder?“, erkundigt sich Carmen im Versuch Small Talk zu betreiben bis Viktor zurückkehrt.

 

Mit der Frage rettet sie den Jungen vor der Stimme. „Ja, klar“ , stimmt er zu, auch wenn es nicht wirklich wahr ist. „Die Dagono werden sich heute eh nicht mehr blicken lassen.“

 

Carmen öffnet den Mund, doch es ist nicht ihre Stimme, die als lautes, kehliges Brüllen über den Bergpass hallt. Die 19-Jährige drückt sich die Hände auf die Ohren und Igor legt reflexartig eine Hand schützend auf den Chipsbeutel. Eren dagegen zuckt lediglich kurz zusammen und sieht sich dann nach der Quelle um. Endlich! Endlich ein Gegner, um seine dunkle Seite zu schwächen. Kampfbereit ballt er die Fäuste. Er freut sich direkt auf den bevorstehenden Kampf. Endlich etwas Action! Dieses ganze Rumlaufen und Gesuche ödet ihn an.

 

„Was war das?“, möchte Carmen wissen. Sie sieht sich ebenfalls nach der Kreatur um, jedoch nicht vor Kampffreude, sondern um dieser aus dem Weg zu gehen.

 

„Keine Ahnung, auf jeden Fall kein Dagono“, antwortet Eren, in Gedanken bereits mit möglichen Monsterkämpfen beschäftigt. „Aber ich werd´s herausfinden.“

 

Zielsicher und ohne auf Anweisungen des Teamleiters zu warten, läuft Eren davon, direkt auf das Gebrüll zu, das aus der Richtung kommt, in die Viktor verschwunden ist. Das kann unmöglich ein Zufall sein.

 

Was hat der Trottel jetzt wieder angestellt?

 

„Eren! Komm sofort zurück! Wir wissen nicht was da vorne ist“, versucht Igor das Kind zurückzuholen, doch das hört gar nicht hin. Es ist schon zu weit vorgelaufen. Igor wechselt einen Blick mit Carmen, dann folgen sie gezwungenermaßen dem Kind.

 

Als der Zwölfjährige um die Ecke biegt, entdeckt er gleich eine Spur im Schnee, die vom Weg abweicht. Sie führt ein Stück weiter in eine Nische im Fels, wo ein kreisrundes Loch in die Tiefe führt. Scheint so, als hätte der Bienenmutant eine unterirdische Höhle entdeckt. Eine bewohnte Höhle. Und der Bewohner ist nicht erfreut über den unangekündigten Besuch. Ein tiefes, zorniges Brüllen bestätigt diese Vermutung. Fantastisch! Wütende Monster sind Erens Lieblingsmonster. Genau wie bei Menschen werden dadurch ihre Angriffe wesentlich unkoordinierter und plumper. Da muss er sich später wohl bei Viktor bedanken.

 

Hmpf. Ja, klar. Guter Witz, Eren.

 

Der Junge geht an das Loch heran und springt ohne nachzudenken hinab. Sicher landet er in der Hocke, wo er auch erst einmal bleibt, denn der Anblick, der sich ihm bietet, ist viel zu ulkig, um ihn auf Anhieb zu verstehen.

 

Die Höhle ist ein großer Hohlraum, komplett aus Stein mit Kratzspuren überall. Das Monster muss sie selbst heraus gegraben haben. Es gibt lediglich zwei Ausgänge. Einmal das Loch in der Decke, für das Viktor verantwortlich ist und dem richtigen Eingang an der Außenseite einer Klippe.

 

Bei dem Monster handelt es sich um einen Grobämi, ein bärenähnliches Wesen in der doppelten Größe eines Grizzlys. Sein dichtes Fell ist weißgrau gefärbt und seine langen Fänge glänzen voller Geifer, der ihm überall aus dem Maul tropft. Lange frostig glitzernde Eiszapfen stehen im Nacken der Bestie und deren Wirbelsäule aus dem Pelz heraus. Riesige Pranken, mit genauso riesigen Krallen, ziehen tiefe Furchen überall wo sie landen. Der lange Schweif mit der Keule am Ende – wie bei einem Ankylosaurus – donnert gegen die Wände, schlägt große Stücke heraus und lässt die Höhle erbeben. Die Vorderbeine haben sich zu Flügel weiterentwickelt, deren Ränder mit scharfen Eissplittern besetzt sind. Der Grobämi kann zwar fliegen, aber nicht sonderlich gut. Er ist zu massig dafür. Bei einem Kampf im Freien könnte ihm Eren zeigen, wie man Flügel richtig benutzt, aber hier in der engen Höhle wären sie eher hinderlich. Gut, es geht auch ohne.

 

Direkt hinter dem Kopf der Bestie entdeckt Eren den Bienenmutanten. Er klammert sich mit einem wahnsinnigen, panischen Gesichtsausdruck an den Ohren fest. Das macht den Grobämi rasend, es schlägt wild um sich und versucht mit allen möglichen Tricks den lästigen Ohrenkneifer von seinem Rücken zu schütteln.

 

„Sag mal, Viktor, was treibst du denn da?“, möchte Eren amüsiert wissen. Es sieht gerade sehr nach einem Rodeo aus.

 

„Steh nicht so blöd rum und hilf mir!“, verlangt der Ältere, während er nicht nur auf die Bewegungen des Grobämi achten muss, sondern auch auf die unebene Decke, um sich nicht den Kopf zu stoßen.

 

„Hab ich grade richtig gehört? DU bittest MICH um Hilfe?“, fragt Eren ungläubig nach. Dann muss er schon sehr verzweifelt sein.

 

Viktor spannt seine geröteten Gesichtsmuskeln an. „Los! Mach schon!“

 

Keine Beleidigung? Keine bissige Bemerkung deswegen? Wow. Dass Eren das einmal erleben darf.

 

Na los! Zeigen wir´s ihm! Oder genießen wir die Show und warten bis er gefressen wird?

 

Hm. Eren überlegt tatsächlich einen Moment, doch dann muss er an seine Familie denken. Sie werden bestimmt nicht einverstanden sein, wenn er einem Teamkameraden nicht hilft. Er kann sogar schon Ajax´ Stimme hören. Also gut, dann rettet er den Bienendödel eben. Der Junge hatte ohnehin vor gegen den Grobämi zu kämpfen. Dass er Viktor danach damit aufziehen kann, ihn gerettet zu haben, klingt sogar noch besser als ihn fressen zu lassen.

 

„Ist ja gut. Ich helfe dir. Hör auf zu jammern.“ Eren lässt den Rucksack fallen, streift die Kapuze zurück, zieht Mütze und Handschuhe aus und fängt an die Arme zu dehnen. Jetzt kann er es nicht mehr verstecken, dass seine rechte Hand und auch der Großteil seiner Haare pechschwarz gefärbt ist.

 

„Hör auf mit dem Quatsch!“, fordert Viktor, dem langsam die Kraft ausgeht.

 

„Aber wenn ich mich nicht dehne, bekomme ich Zerrungen“, verteidigt sich Eren und grinst in sich hinein.

 

Dein letztes Stündlein hat geschlagen, Grobämi!

 

Die Stimme wird ungeduldig. Der Junge kann sie gut verstehen. Ihm geht’s genauso.

 

Erens Iris wechselt in ein leuchtendes Lila. Er nimmt den Dolch aus der Scheide und richtet diesen auf das Monster. Um die Angriffskraft zu erhöhen, schickt er die dunkle Aura in die Waffe, deren Klinge daraufhin von bedrohlichem schwarz-lila Feuer umhüllt wird.

 

Da der Grobämi den Zwölfjährigen noch nicht entdeckt hat, bietet er die perfekte Angriffsfläche für einen Überraschungsangriff. Eren packt den Dolch fester, die Flammen tanzen schneller über den Stahl – als könnten sie es kaum erwarten zum Einsatz zu kommen – und läuft im toten Winkel der Bestie an sie heran. In der engen Höhle ist es schwer von keinem Körperteil des Monsters zerquetscht zu werden, daher ist es nur logisch das Monster etwas zu verkleinern.

 

Er duckt sich unter der Keule hinweg, reißt gleichzeitig seinen Arm nach oben und trennt ohne spürbaren Widerstand den Schweif des Monsters etwa in der Mitte ab. Noch bevor der Grobämi realisiert was geschehen ist, landet das Schwanzende ein Stück entfernt, zuckt noch ein paar Sekunden und bleibt dann liegen. Blut sickert aus beiden Enden heraus und bildet klebrige Pfützen am Höhlenboden.

 

Der Grobämi hat aufgehört zu toben. Wie erstarrt steht er da, sieht abwechselnd von Eren zu seinem Schwanzende und zurück. Perplex. Entsetzt. Ungläubig. Das Monster versteht nicht ganz was geschehen ist. Eren wartet neben der Schwanzkeule auf den nächsten Angriff des Bären. Die Flammen seiner Waffe verleihen ihm ein furchteinflößendes Schattenspiel auf dem Gesicht. Seine Mundwinkel haben sich triumphal gekräuselt. Klar könnte der Junge den Grobämi innerhalb weniger Sekunden töten, aber dann wäre der Spaß schnell vorbei und das will er nicht. Er möchte das Ende soweit wie möglich hinauszögern, um mehr dunkle Fähigkeiten an dem Bären auszulassen.

 

Viktor nutzt den kurzen, ruhigen Augenblick, um sich zusammenzureißen. Er lässt das rechte Ohr los, holt mit der Faust aus und fährt seinen nachgewachsenen Giftstachel aus. Diesen versenkt er bis zu den Knöcheln im Hals des Monsters.

 

Es lässt ein kehliges Gebrüll ertönen, das die Wände zum Vibrieren bringt und Schnee durchs Loch in der Decke rieseln lässt. Anstatt wie zuvor blind zu rasen, nutzt es diesmal den Kopf. Buchstäblich. Der Monsterbär richtet sich auf die stämmigen Hinterbeine auf und drückt seinen Kopf und Nacken gegen die Höhlendecke, um Viktor zu zerquetschen.

 

Doch der Bienenmutant ist gar nicht mehr dort.Eren hat ihn im Bruchteil einer Sekunde vom Rücken des Grobämi geholt und auf den Boden gesetzt. Jetzt hockt er mit vor Angst verzerrtem Gesicht, schreiend und die Hände schützend über dem Kopf erhoben im Höhleneingang. Diesen Anblick genießt der Zwölfjährige in vollen Zügen. Damit kann er ihn noch ewig aufziehen. Das wird er auch tun. Aber später. Jetzt gibt es wichtigeres.

 

„Hör auf zu schreien. Damit machst du es nur noch wütender“, fordert Eren.

 

Abrupt verstummt der Ältere, öffnet vorsichtig die Augen und senkt langsam die Arme. Innerhalb eines Herzschlages wechselt seine Mimik von Verwirrtheit über Erleichterung, von Entsetzen zu Ärger und Scham. Zuletzt läuft er rot an und rappelt sich auf.

 

„Du hättest dich nicht einmischen müssen. Ich hatte alles im Griff“, behauptet der Hitzkopf ohne das Kind anzusehen.

 

Eren lacht amüsiert auf während er eine kirschgroße, düstere Rauchkugel in der linken Hand formt und diese mit einer einfachen Fingerbewegung dem Bären gegen die Stirn schleudert, als der mit aufgerissenem Maul auf die beiden zuspringt. „Du warst doch derjenige, der mich um Hilfe gebeten hat.“

 

Darauf weiß Viktor keine Antwort. Er schnaubt sauer und stapft an Eren vorbei, den er keines Blickes würdigt, jedoch grob mit der Schulter anrempelt. „Mach Platz. Das ist kein Gegner für ein Kind.“

 

„Ich wiederhole: DU hast MICH um Hilfe gebeten“, betont der Zwölfjährige grinsend, lässt dabei den Grobämi, der sich mit der Pranke über die blutende Stelle an der Stirn streicht, nicht aus den Augen. Das Monster blinzelt auffällig häufig, schüttelt den Kopf und seine Muskeln zittern. Das Gift des Bienenmutanten scheint langsam zu wirken.

 

„Hey, Jungs! Könnt ihr nicht wann anders streiten?“, fordert Carmen verärgert. Das Mädchen kauert oben bei der Lochkante und späht zu ihnen hinunter.

 

„Komm doch runter und kämpf mit, anstatt von da oben neunmalkluge Anweisungen zu geben!“, knurrt Viktor der Blondine entgegen.

 

Carmen verzieht wütend das Gesicht. „Oh, glaub mir, du willst nicht, dass ich da unten bin. Der Grobämi wäre nicht mein Gegner.“

 

Das Bärenmonster hat die Stimme hinter sich auch gehört und knurrt jetzt in beide Richtungen, unsicher wo es angreifen soll oder von wo aus es angegriffen wird. Schließlich entscheidet es sich für die Menschen in seiner Höhle. Es vollführt einen kleinen Sprung und landet donnernd mit allen vier Pfoten so, dass es den Jungs drohend ins Gesicht brüllen kann. Der faulige Atem schlägt den beiden direkt in die Nase. Viktor muss würgen, beugt sich vor und drückt sich eine Hand auf den Mund. Eren verzieht angeekelt das Gesicht und hält sich die Nase zu. Tränen steigen ihm in die Augen. Auch das Fächern mit dem Dolch vertreibt den Geruch nicht.

 

„So etwas wie Mundhygiene kennt das Ding wohl nicht“, bringt der Bienenmutant hervor, ehe er erneut von einem Würgereflex übermannt wird.

 

Als ob du dich mit Hygiene auskennst.

 

Immer noch die Nase zuhaltend sprintet der junge Turano so schnell auf das Monster zu, dass es scheint, als würde er sich teleportieren. Er bleibt direkt unter dem Kopf des Grobämi stehen, holt mit der linken Faust aus, die von rauchähnlichem Schleier umhüllt wird und verpasst dem Bären einen Kinnhaken, der den großen Kopf bis zur Decke schleudert. Der Schädel hinterlässt eine deutliche Mulde im Stein und schlägt danach krachend am Boden auf. Genau dort, wo keine Sekunde zuvor Eren noch gewesen ist, der sich lediglich einen Schritt wegbewegt hat und jetzt vor der Schnauze steht.

 

„Jemandem seinen Maulgestank ins Gesicht zu blasen ist mehr als unhöflich“, kommentiert Eren finster. Mit Genugtuung stellt er fest, dass der Unterkiefer unnatürlich schief unter der Schnauze liegt.

 

Der Grobämi hat die Augen schmerzvoll zusammengekniffen. Blut sickert zwischen den Lefzen über das helle Fell des gebrochenen Kiefers. Als es die dunklen Augen öffnet, schimmert tiefer Hass darin, der sich vollkommen auf den Jungen richtet. Zähnefletschend rappelt es sich schwerfällig zur vollen Größe auf. Von oben starrt es knurrend auf Eren herab. Langsam öffnet es das Maul und zuckt prompt vor Schmerz zusammen.

 

Da der Grobämi sein Maul nicht mehr nutzen kann, greift er eben mit den Krallen an. Er hebt die rechte Flugpranke und lässt sie auf den kleinen Menschen niedersausen. Ein Treffer der kraftvollen Tatze und jeder Knochen im menschlichen Körper wäre zertrümmert und der Rest zermatscht. Selbst für Eren wäre es schwer den Schlag wegzustecken. Und dennoch bewegt er sich nicht als die Fleisch zerschlitzenden Krallen seinem Kopf immer näher kommen.

 

„Eren! Worauf wartest du?! Verschwinde!“, brüllt Carmen panisch.

 

„Wieso denn? Der kann doch nicht einmal mehr sein Maul richtig öffnen“, bemerkt Eren und springt einen Satz zur Seite, um den scharfen Klauen im letzten Moment zu entgehen. Die Pranke schlägt ein Loch in den Boden, kleine Trümmer springen durch die Gegend, eingehüllt von einer Staubwolke. „Und den langsamen Pranken kann man leicht ausweichen. Nicht wahr, Viktor?“

 

Der Bienenmutant versucht der zweiten Tatze auszuweichen, die nur auf den Spitzen der Krallen in einen Bogen über den Boden fegt. Zwar ist Eren das eigentliche Ziel des Angriffs, aber Viktor steht dazwischen. Während der Jüngere hochspringt, sich für einen Augenblick an der Wand festhält, um sich dann abzustoßen und sich im Nacken des Bären wiederzufinden, hechtet der Ältere hektisch zur Seite. Dabei übersieht er dummerweise die Höhlenwand, an der er sich die Schulter stößt, was ihn lauthals fluchen lässt.

 

Jetzt töte ihn endlich. Oder soll ich das übernehmen?

 

*Klappe zu.*

 

Eren lässt die Flammen an seinem Dolch stärker lodern. So allmählich ödet ihn dieser Kampf an. Ein Grobämi ist eben keine Herausforderung. Ohne der kleinsten Spur von schlechtem Gewissen, versenkt das Kind die Waffe bis zum Heft im Schädel des Grobämi, der schrill kreischt, knurrt und wimmert. Doch damit ist der Junge noch nicht zufrieden.

 

Wie sagt Ajax immer: Wenn man jemanden tötet, dann so, dass dieser mit absoluter Sicherheit nicht wieder aufsteht. Erst dann hat man seinen Job gut gemacht.

 

Die Klinge im Monster wird heißer und heißer, brennt sich durch Pelz, Knochen, Fleisch und Hirn bis auf der anderen Seite die Flammen herausschießen. Bluten tut es kaum, die Adern wurden alle von der Hitze versenkt. Die Augen hat der Bär so verdreht, dass nur das Weiße zu sehen ist. In der Sekunde, in der sich die Flammen durch den Schädel gefressen haben, ist das Monster verstummt. Einen Herzschlag lang stand es noch zitternd auf den Beinen, doch jetzt verlässt ihn das Leben vollständig. Wie ein toter Baum bricht der Grobämi in sich zusammen.

Pläne schmieden

Genau so wird das gemacht, Eren! So tötet man ein Monster! Ohne Gnade, ohne Mitleid! Meine Kraft ist doch fantastisch, nicht wahr?

 

Das ist so grausam. Der Grobämi hat doch nur sein Zuhause vor Eindringlingen beschützt. Er musste nicht sterben.

 

Eren atmet ein letztes Mal tief durch, dann zieht er den Dolch heraus und springt neben dem Schädel auf den Boden. Seine Haare sind nun braun und die Augen nehmen ihre gewöhnliche blaue Farbe wieder an. Jetzt da der Kampf vorbei ist, ist das schwarze Mal bis zum Daumen zurückgegangen und der Junge fühlt sich nicht mehr so gereizt und kurz vorm explodieren. Doch das beste ist, die Stimme ist leiser geworden. Endlich. Auch wenn das bedeutet, dass jetzt wieder zwei überflüssige Stimmen nerven. Zumindest hat er jetzt seinen Körper wieder vollständig allein unter Kontrolle. Erleichtert seufzt er und sieht dann zu den anderen Teamkameraden, die merkwürdig still sind.

 

Igor und Carmen hocken nach wie vor oben beim Loch und sehen irgendwie verstört zu ihm herab. Viktor steht gegen die Höhlenwand gelehnt da, eine Mischung aus Unglauben und Entsetzen im Gesicht.

 

„Ist was? Ihr seht mich an, als wäre mir ein drittes Auge gewachsen oder so“, stellt Eren witzelnd fest.

 

Carmen lässt sich in die Höhle gleiten, landet sicher am Boden und klopft sich den Staub von den Händen, ehe sie den Mund öffnet. „Nein, alles in Ordnung. Ähm … gut gemacht.“

 

Dass das nicht so gemeint ist, ist mehr als offensichtlich, deshalb legt der Junge skeptisch den Kopf schief und verschränkt die Arme. „Mhm.“

 

„Gut, dann sag ich es eben, wenn ihr euch nicht traut“, mischt sich der Bienenmutant ein. Er stößt sich von der Wand ab und umrundet den Grobämi. Auf der anderen Seite des Kopfes geht er in die Hocke und holt dabei ein Messer hervor, mit dem er einen der Reißzähne aus dem Kiefer des Bären schneidet. „Du bist ein kaltblütiger Psychokiller.“

 

„Jap“, meint Eren nur schulterzuckend. Was soll er auch mehr dazu sagen? So ist er eben aufgewachsen. Ajax wäre vermutlich stolz auf ihn, aber Eren … Ihm wäre es lieber, wenn er nicht so oft ein kaltblütiger Psychokiller sein müsste. „Ich geh mal meinen Dolch sauber machen.“

 

Mit diesen Worten geht der Junge an seinen Teamkameraden vorbei, klettert auf den Stein und springt hinaus. Er entfernt sich ein paar Schritte von der Höhle und macht sich daran mit dem Schnee das Blut vom Dolch zu wischen. Gemischte Gefühle lassen seinen Bauch verkrampfen und ihn grüblerisch werden.

 

Sei nicht so traurig, Eren. Irgendwann wirst du bestimmt nicht mehr töten müssen. Ajax und Vater können uns nicht für immer vorschreiben, was wir tun sollen.

 

Du bist so ein Weichei. Was sollen wir denn sonst machen? In irgendeinem Büro hocken und versauern? Pha!

 

Was auch immer Eren will. Wir müssen nicht für immer Auftragsmörder bleiben.

 

Es ist doch klasse, so wie es jetzt ist. Stark zu sein ist das beste was es gibt! Es gibt kaum jemanden, der uns besiegen kann! Als Bonus dürfen wir sogar um beide Welten reisen und immer wieder morden, ohne bestraft zu werden. Besser geht’s doch nicht!

 

Wie kann man nur so kaltblütig sein? Niemand hat es verdient zu sterben.

 

So kann auch nur ein Waschlappen reden. Sieh dir Eren an. Er ist meiner Meinung. Töten oder getötet werden, das ist nun mal die Regel des Spiels, das sich Leben nennt.

 

*Seid still.*

 

Töten oder getötet werden. Das hat er auch von seinem Bruder schon öfter gehört. Es ist sein Trainingsmotto. Eren seufzt erneut und verdrängt die Gedanken. Es hat keinen Sinn immer wieder aufs Neue über das gleiche Thema nachzudenken. Er muss sich nur damit abfinden, dass er nun mal in diese Familie, dieses Familienunternehmen hineingeboren wurde. Und er muss zugeben, auch wenn es ihm nicht sonderlich gefällt, er ist gut darin. Sehr gut sogar. Und das mit gerade einmal zwölf Jahren. Wer weiß, vielleicht ist er irgendwann stärker als Ajax?

 

~~~

 

Da es schon spät geworden ist, hat Igor entschieden die Höhle als Nachtlager zu nutzen. Viktor hat natürlich sofort damit geprahlt, dass es nur ihm zu verdanken sei, weil er mit Absicht ins Loch gefallen wär. Der Sieg über den Grobämi sei auch sein Verdienst, nicht Erens. Immerhin hat er das Monster vergiftet, nur deshalb konnte der Junge den Todesstoß so problemlos ausführen. Aus diesem Grund hat er den Zahn an seiner Trophäenkette, bestehend aus anderen Monsterzähnen, befestigt und präsentiert diese nun stolz. Jeder im Team wusste natürlich, dass das nur Viktors Fantasie ist, aber niemand hat laut widersprochen.

 

Den Grobämi haben sie über die Klippe geschoben, um mehr Platz für das Lagerfeuer zu haben. Das Team hat sich darum versammelt, gegessen und anschließend schlafen gelegt. Wobei Viktor lauthals geflucht hat, warum er nun die erste Nachtwache übernehmen solle. Am Ende hat Carmen die Diskussion gewonnen und der Bienenmutant hat sich schmollend zum Höhleneingang verkrümelt.

 

~~~

 

Als Eren am nächsten Morgen die Augen aufschlägt, begrüßt ihn die noch schwache Sonne mit ihren Strahlen direkt im Gesicht. Er schließt die Lider wieder, dreht sich auf den Rücken und gähnt erst einmal. Dann setzt er sich auf, streckt die Hände zur Höhlendecke und sieht sich um.

 

Er ist anscheinend der erste, der wach ist. Das Feuer ist erloschen, nur Aschereste sind zurückgeblieben. Carmen liegt auf der Seite in ihrem Schlafsack, umklammert ihr Kissen dabei wie ein Plüschtier. Neben ihr hat sich Viktor breit gemacht. Er hat sich im Laufe der letzten Stunden irgendwie aus seinem Schlafsack geschält, der jetzt nur noch halb über seinen Beinen liegt. Er hat Arme und Beine von sich gestreckt, sodass er wie ein seltsamer Seestern aussieht. Noch dazu ist seine Frisur plattgelegen und er murmelt irgendetwas Unverständliches vor sich hin, unterbrochen von seinen Schnarchlauten.

 

Eren befreit sich aus seinem Schlafsack, vollführt ein paar Dehnübungen, um richtig wach zu werden und sieht sich anschließend erneut um. Bisher konnte er Igor noch nirgends entdecken. Dabei sollte der doch Wache halten. Wo steckt der Teamführer schon wieder? Eren tippt darauf, dass er sich irgendwo verkrochen hat, um heimlich seine geschmuggelten Chips zu verdrücken. Dafür haben sie keine Zeit. Die Sonne ist schon aufgegangen. Sie sollten längst unterwegs sein. Bis heute Abend müssen sie die Aufgabe erfüllt haben und bisher haben sie noch kein einziges Ei gefunden. Ajax und Turano werden sicher nicht erfreut sein, wenn sie mit leeren Händen zurückkehren. Dann werden sie Eren sicher nie wieder ohne Ajax auf eine Mission gehen lassen.

 

Dieser Gedanke erschreckt den Zwölfjährigen so, dass er von einer Sekunde auf die andere hellwach ist. Er darf auf seinem ersten Auftrag ohne Babysitter Ajax nicht versagen!

 

Behutsam stupst er Carmen mit der Fußspitze an bis sie aufwacht. Das Mädchen dreht sich murrend auf den Rücken, reibt sich müde die Augen und blinzelt dann zu Eren hoch. „Guten Morgen.“

 

„Morgen. Weißt du wo Igor ist?“, platzt er gleich mit der Frage raus.

 

„Igor?“ Mühsam rappelt sie sich auf die Ellbogen auf und sieht sich um. „Hm. Hätte der nicht Wachdienst?“

 

„Eigentlich schon. Ich geh ihn suchen. Könntest du unser Dornröschen wecken?“

 

Als hätte Viktor bemerkt, dass über ihn gesprochen wird, meldet er sich mit einem Schnarcher zu Wort, schmatzt und sabbert dann weiter auf seinen Arm.

 

„Mach ich doch gern“, stimmt sie zu, öffnet dabei mit einem hinterlistigen Schatten über dem Gesicht den Reißverschluss ihres Schlafsackes.

 

Eren wendet sich von den beiden ab und nutzt die Aurasicht, um sich die Suche einfacher zu machen. Da er dennoch nicht durch Wände sehen kann, muss er die Höhle verlassen. Doch schon beim ersten Schritt zum Loch in der Decke hält er inne, dreht den Kopf und lauscht. Ein bekanntes Knuspergeräusch kommt vom Haupteingang.

 

Das Grün seiner Iris wechselt zurück zu Blau auf seinem Weg zur Klippe. Dabei kommt er am Nachtlager vorbei. Obwohl er gerade erst aufgewacht ist, brüllt Viktor lautstark herum. Carmen hat ihn natürlich nicht wie im Dornröschenmärchen geweckt. Sie hat einfach den Boden unter ihm so schnell angehoben, dass der Mann in die Luft geflogen und unsanft am Hintern gelandet ist. Der Mutant hat´s aber auch nicht leicht. Von allen Seiten wird er geärgert, stänkert selbst aber auch nach allen Seiten.

 

Am Rand der senkrechten Felswand bleibt Eren stehen. Der Anblick, der sich ihm bietet, ist schon ziemlich seltsam, weshalb er grinsend die Hände in den Taschen vergräbt, in die Hocke geht und mit einem fröhlichen „Guten Morgen“ die Aufmerksamkeit des rundlichen Mannes auf sich zieht. Der Teamleiter hockt ein paar Meter unter ihm auf einem schmalen Felsvorsprung, gerade breit genug für seine vier Buchstaben. Seinem Gesichtsausdruck nach wirkt er ertappt und als wäre es ihm peinlich entdeckt worden zu sein. In seinem Bart glitzern Eiskristalle und die Lippen sind blau angelaufen. Der Teamleiter muss schon lange dort hocken. Warum? Keine Ahnung.

 

„Das ist ja ein interessanter Wachposten“, bemerkt der Junge sarkastisch.

 

Igor vermeidet es, den Jüngeren direkt anzusehen. „Hier hat man alles prima im Blick.“

 

„Von hier aber auch“, entgegnet Eren. Dabei sieht er in die Ferne, genießt die Aussicht am frühen Morgen, wenn die Sonne den Schnee zum glühen bringt.

 

„Sag mal, Igor, was treibst du da unten?“, mischt sich Viktor ein, der neben Eren aufgetaucht ist. Er trägt sogar schon Mütze und Schal. Da hat wohl jemand keine Lust auf eine weitere Diskussion mit Carmen.

 

„Wenn du dich so vor der heutigen Wanderung drücken willst, kannst du´s gleich vergessen“, stellt die Blondine klar, während sie sich die Haare zu einem neuen Zopf zusammenbindet.

 

„Ich hoffe nicht wieder so weit. Ich hab schon Muskelkater von gestern“, jammert Viktor.

 

Er wird ignoriert als Carmen fortfährt: „Komm rauf. Für so etwas haben wir keine Zeit. Warum hast du uns eigentlich nicht geweckt? Wir hatten ausgemacht, bei Sonnenaufgang gehen wir weiter. Und jetzt ist schon fast Vormittag.“

 

Der Teamleiter wird unter der Predigt ganz klein, sieht stur geradeaus und schiebt sich tröstend seine Kartoffelchips in den Mund. „Wir haben noch genug Zeit.“

 

„Aber wir haben noch keine einzige Eierschale“, erinnert sie die Gruppe unzufrieden. „Wir haben noch nicht mal ein Nest entdeckt. Und jetzt auf. Wir müssen weiter.“

 

Mal wieder fragt sich Eren, wer hier der Teamleiter ist, als er etwas entdeckt und deshalb anmerkt: „Oder wir bleiben hier.“

 

Carmen entknotet die Arme und wirft dem Kind einen seltsamen Blick zu. „Fängst du jetzt auch an, trödeln zu wollen?“

 

„Was? Nein.“ Er steht auf und streckt geheimnisvoll den Arm aus. „Wir haben den Schwarm gefunden.“

 

Die anderen folgen seinem Finger über die Schlucht hinweg zu einem großen Felsplateau, das sich zwischen zwei Gipfeln erhebt. Senkrechte Klippen umgeben das Plateau, sodass nur fliegende Geschöpfe dort hingelangen können. Solche wie die Dagono. Manche der großen Vögel, die wie eine Mischung aus Adler und Stier aussehen, patrouillieren von der Luft aus, andere kauern in Mulden und wieder andere betreten oder verlassen ein Loch im Boden. Dort haben sie also ihre diesjährige Bruthöhle eingerichtet.

 

„Endlich!“ Viktor schlägt mit der rechten Faust in seine linke Handfläche ein. „Schnappen wir uns die Schalen. Bis zum Mittagessen will ich Zuhause sein.“

 

„Nicht so voreilig, Viktor“, bremst Carmen den Hitzkopf aus. „Wir haben immer noch einen weiten Weg bis wir dort ankommen. Dann müssen wir ...“

 

„Ja, ja. Quatsch nicht so viel. Lasst uns losgehen!“, unterbricht der Mutant ungeduldig.

 

Die Wangen des Mädchens färben sich leicht Rot. Nicht vor Kälte. „Blind drauf loszumarschieren wird uns überhaupt nichts bringen! Wir brauchen einen Plan, um unbemerkt in ihr Nest zu gelangen.“

 

Eren braucht gar nicht lange zu überlegen. Er hat schon einen Plan: die gleiche Strategie wie letztes Mal. Warum die anderen deshalb zu diskutieren anfangen, versteht er nicht.

 

*Diese Dödel*, kommentiert er gedanklich, laut wirft er ein: „Wär´s nicht am einfachsten, wenn Viktor und ich die Dagono ablenken, während Igor und Carmen die Eierschalen zum Lager transportieren?“

 

„Wer hat dich zum Entscheidungsmacher ernannt?!“, begehrt Viktor auf, tippt dabei bei jedem Wort gegen Erens Brust. „Du willst mich im Kampf nur wieder bloßstellen!“

 

Eren ergreift blitzschnell den nervenden Finger, biegt ihn etwas zu weit in Richtung seines Besitzers und sieht diesem unschuldig in die Augen. „Keine Sorge. Ich werde dir im Kampf sicher nicht helfen.“

 

Dann lässt er den Finger los. Viktor geht einen Schritt zurück und reibt sich die schmerzenden Sehnen während er sich eine Erwiderung überlegt.

 

Igor ist schneller. „Könntet ihr mir vielleicht endlich mal rauf helfen, bevor ihr über meinen Kopf hinweg Pläne schmiedet?! Nicht vergessen, ich bin der Teamleiter!“

 

„Steckst du tatsächlich fest?“, lacht Viktor seinen Mentor aus. „Wie bist du überhaupt dahin gekommen?“

 

Auch Eren kann sich einen sarkastischen Kommentar nicht verkneifen. „Hast du schon genug von der schönen Aussicht?“

 

Igor funkelt sauer zu ihnen hinauf. „Hört auf euch lustig zu machen und helft mir!“

 

*Meint er das ernst? Hat der Dödel vergessen was seine Kräfte sind?*

 

„Sei nicht so dumm, Teamleiter.“ So wie Carmen das Wort Teamleiter betont, klingt es mehr wie eine Beleidigung. „Nutz deine Fähigkeiten. Teleportier dich rauf und hör auf zu jammern. Wir müssen los.“

 

Sie wirkt ziemlich genervt und gereizt. Deshalb beschließt Eren lieber nicht zu erwähnen, dass sie gestern auch ihre eigenen Kräfte vergessen hat und sie deshalb über einen schmalen Pfad aneinandergebunden eine Klippe überqueren mussten.

 

Mit hochrotem Kopf taucht Igor hinten den Dreien auf, die Hände im Chipsbeutel und die Augen geschlossen, um niemanden ansehen zu müssen. „Ich bin doch mit Absicht dort gesessen. So konnten wir die Dagono finden. Hätte ich euch gesagt wo sie sind, hättet ihr mir ja nicht geglaubt.“

 

Carmens Mundwinkel kräuseln sich langsam. „Sicher doch“, schmunzelt sie wissend.

 

Irgendwie hat er auch recht, wenn man an seinen gestrigen Orientierungssinn zurückdenkt.

 

„Als ob!“ Viktor hat nicht vor den Mann so einfach davonkommen zu lassen. „Du bist vermutlich einem Chip hinterher gesprungen, der über die Kante gefallen ist. Gib´s zu!“

 

Igor wirft seinem Schüler einen finsteren, beleidigten Blick zu, ehe er das Thema zu wechseln versucht: „Also, wie kommen wir zu den Eierschalen?“

 

Carmen ist immer noch amüsiert, lässt sich aber auf den Themenwechsel ein. „Erens Idee ist am besten, finde ich. Igor, glaubst du, du kannst uns alle rüber teleportieren?“

 

Zweifelnd zieht der Mann die dicken Augenbrauen zusammen. „Könnte ich, ja. Aber ob ich dann noch genug Kraft hab, um die Schalen wegzuschaffen, weiß ich nicht.“

 

„Hm.“ Überlegend fasst sich die Blondine ans Kinn.

 

„Und wenn ich uns rüber fliege?“, wirft Viktor ein. „Ich hab echt keine Lust den ganzen Weg zu laufen.“

 

Eren verdreht nur stumm die Augen, verschränkt die Finger hinter seinem Kopf und lehnt sich an die Höhlenwand. So einem dummen Bienenhirn das gleiche immer und immer wieder zu sagen ist vollkommen sinnlos.

 

„Du willst unbedingt deine Flügel kaputt machen, oder?“, unterstellt ihm Carmen, muss jedoch widerwillig zugeben: „Aber die Idee selbst ist nicht schlecht.“

 

Viktor schwellt bereits stolz die Brust, doch als sich Carmen an Eren wendet, sinkt er in sich zusammen.

 

„Eren, kannst du uns rüberfliegen? Schaffst du das?“, möchte sie wissen.

 

Der Junge zuckt mit den Schultern. „Klar. Aber jeden von euch? Die Dagono werden mich sicher nicht friedlich hin und her fliegen lassen.“

 

„Und wenn du nur Viktor mitnimmst? Igor und ich schleichen uns dann per Teleport hinterher“, überlegt Carmen weiter.

 

Weder Viktor noch Eren sind wirklich glücklich mit der Entscheidung. Während sich der Jüngere damit abfindet, schließlich hat er vorher selbst vorgeschlagen, mit Viktor zusammen die Dagono zu beschäftigen, will der Ältere das nicht.

 

„Vergesst es! Ich werd sicher nicht mit dem Kind über eine Schlucht fliegen! Der lässt mich sicher auf halber Strecke fallen!“, behauptet der Bienenmutant überzeugt.

 

„Tja, das Risiko wirst du eingehen müssen“, entgegnet Eren schelmisch grinsend.

 

Bevor der Rotschopf etwas erwidern kann, grätscht Carmen dazwischen. „Sieh´s doch mal so. Je eher wir die Eierschalen haben, desto früher könnt ihr euch aus dem Weg gehen. Lange halten meine Nerven das nicht mehr aus. Außerdem, wenn er dich wirklich fallen lässt, kannst du ja immer noch deine Flügel nutzen.“

 

„Ich dachte die gehen dann kaputt?! Dann sterb ich ja trotzdem!“ Viktor wird schon wieder laut. „Außerdem hatte ich noch gar kein Frühstück. Können wir danach weiterdiskutieren?“

 

Fassungslos starren Carmen und Eren den Bienenmutanten an.

 

„Hier.“ Igor hält seinem Schüler hilfsbereit seinen Chipsbeutel entgegen.

 

Ungläubig sieht Viktor zwischen dem Beutel und seinem Mentor hin und her. „Wirklich? Du teilst deine Chips? Das ist noch nie vorgekommen.“ Begeistert streckt er seine Hand in den Beutel. „Hey! Da sind ja nur ein paar Krümel drin!“

 

„Die kann man auch essen, oder?“, meint Igor nur dazu.

 

Eren hat genug von dem sinnlosen diskutieren. Sie vergeuden nur wertvolle Zeit. „Ich geh schon mal vor. Kommt nach, wenn ihr wisst wie.“

Der Schwarm

Eren zieht die Jacke aus und konzentriert sich auf seine Kräfte. Das Blau seiner Augen und das Rot der Dämonenseite vermischen sich zu einem dunklen Lila. Gleichzeitig bilden sich auf seinem Rücken große, düster aussehende Rauchwolken, aus denen sich nach und nach lederne Flügel schälen. Das Erscheinen der schwarzen Fledermausflügel dauert keine Sekunde. Die Schwingen scheinen irgendwie mit dem Jungen verbunden zu sein, ohne in die Klamotten dazwischen ein Loch zu reißen. Eren hat noch nie verstanden, wie das funktioniert. Der Ansatz ist transparent und optisch nicht vorhanden, dennoch spürt Eren die kräftigen Schwingen auf seinem Rücken.

 

„Irgendwie kann ich mich nicht daran gewöhnen, dass du ständig dein Aussehen änderst“, bemerkt Carmen halb genervt, halb fasziniert.

 

Eren macht schulterzuckend einen Schritt auf die Kante zu. „Ich lenk schon mal die Vögel ab.“

 

„Vergiss es! Du willst doch nur allein den Ruhm ernten!“, behauptet Viktor. Der junge Mann hat Erens Flügel gepackt und bohrt jetzt seine Fingernägel in die empfindliche Haut.

 

Der Blick des Zwölfjährigen verfinstert sich. „Lass los. Du hast doch klar gesagt, dass du nicht mitkommen willst. Also, was ist dein Problem?“

 

„Jungs, bitte“, stöhnt Carmen genervt. „Igor, sag doch auch mal was.“

 

Der Teamführer räuspert sich. „Wir machen es so, wie Carmen gesagt hat. Viktor, Eren, ihr beide fliegt zusammen zum Plateau und lenkt die Dagono ab. Währenddessen schleichen Carmen und ich uns in ihr Nest und bringen so viele Schalen wie möglich erst einmal hierher. Bereit? Dann ab mit euch!“

 

Viktor knirscht sauer mit den Zähnen. „Das ist doch bescheuert.“

 

„Dann bleib hier. Ablenken kann ich auch allein“, meint Eren am Ende seines Geduldsfadens angelangt. Diesmal ist noch nicht einmal die Dämonenseite schuld.

 

Kurzerhand springt Eren einen Satz zurück, raus aus der Höhle und breitet seine Schwingen aus. Er dreht sich um, weg von der Höhle und schlägt die Richtung zu den Dagono ein. Noch keine drei Meter weit ist er gekommen als etwas Schweres an seinen Beinen zieht, ihn aus dem Gleichgewicht und ins Rudern bringt. Hektisch schlägt er mit den Flügeln, um nicht wegen diesem Trottel in den Abgrund zu stürzen. Viktor ist ihm tatsächlich hinterher gesprungen und hat sich einfach an seine Beine gehängt!

 

„Sag mal, spinnst du jetzt völlig, du Dödel?! Lass sofort meine Beine los!“, verlangt Eren fassungslos. Er weiß, dass Viktor nicht loslassen wird. Schließlich fliegen sie hier gut hundert Meter über dem Boden.

 

„Sicher nicht! Ich überlass dir doch nicht den ganzen Spaß!“, entgegnet Viktor gegen den Wind anschreiend.

 

Komisch. Wenn Eren so in sein Gesicht sieht, könnte man meinen, dass der Macho-Bienenmutant Höhenangst hat. Länger kann er sich nicht mit Viktor rumplagen, er muss sich auf´s Fliegen konzentrieren. Das ist in dieser Höhe, bei den Temperaturen und dem Wind UND dem zappelnden Zusatzgewicht gar nicht so einfach. Er ist ja schon froh, dass Viktor die Klappe hält.

 

Eren steigt höher bis er über dem Dagono-Schwarm schwebt und lässt sich dann vom Wind langsam tiefer tragen. Ihre gebogenen Hörner sehen sogar von hier gefährlich aus. Doch das jagt Eren keine Angst ein, eher Vorfreude auf ein Kämpfchen. Und da er sie ja nicht töten darf, kann er mit ihnen spielen. Das heißt, sobald er seine Last losgeworden ist. Wobei sich das Problem wohl gerade von selbst erledigt.

 

„Sieh zu und lerne“, prahlt Viktor selbstgefällig.

 

„Was hast du vor?“ Eren hat kein gutes Gefühl bei dem Gesichtsausdruck, den er nur als Antwort bekommt.

 

Anstatt zu antworten, lässt der Ältere einfach los. Etwa fünfzig Meter über dem nächsten Dagono. Hatte er nicht gerade noch Angst zu fallen? Und jetzt lässt er einfach von selbst los?! Dieser Mutant ist so ein Riesendödel, dass Eren gar nicht versucht seine Gedankengänge zu verstehen. Auf die Idee ihn aufzuhalten kommt er auch nicht. Wenn er fallen will, bitte. Nicht Erens Problem. Dennoch legt er die Flügel an und stürzt kopfüber hinterher. Sein Bruder wäre sicher nicht zufrieden mit der Ausrede: sein Teamkamerad habe sich von selbst in den Tod gestürzt.

 

Kopfschüttelnd sieht er dabei zu, wie Viktor mit vorgestreckten Armen und einem leicht wahnsinnigen Kampfschrei auf den Dagono zusteuert, der ahnungslos im Schnee liegt und sich sein Gefieder putzt. Die Bestie hat gerade einmal Zeit den Kopf zu heben ehe Viktor einschlägt. Beide Giftstacheln bohren sich knöcheltief in den Schädel, der durch die Wucht des Aufschlages tief in den Schnee gedrückt wird. Der Dagono ist sofort tot.

 

Eren formt eine Schattenkugel in der rechten Hand. Diese feuert er auf den Dagono, der den Tod seines Kumpels rächen will. Auch dieser fällt zu Boden, überschlägt sich, wirbelt eine Menge Schnee auf und bleibt knapp vor Viktor liegen, der noch immer in der Hocke auf dem Dagono steht und seinen Blick nicht von den Fäusten wenden kann.

 

Der Zwölfjährige entfaltet die Schwingen, stoppt so den freien Fall und landet punktgenau auf der Hornspitze vor Viktor. „Du weißt, dass du bekloppt bist, oder? Du sollst sie doch nicht töten.“

 

„Vielleicht war es doch keine so gute Idee“, murmelt er, die Worte des Jüngeren komplett überhörend. Ein Zittern geht durch Viktors Körper, der seine Muskeln weich werden lässt, sodass er umkippt, von dem Vogel rutscht und im Schnee landet. „Du hast auch einen getötet.“

 

„Der ist nur bewusstlos. Der wird höchstens Kopfschmerzen haben, wenn er aufwacht“, erklärt Eren mit einem Seitenblick zurück.

 

„Wehe, du sagst das Carmen! Die wird mich umbringen“, bittet Viktor fast flehend.

 

„Nicht wenn die dich vorher erwischen.“ Eren deutet über ihre Köpfe.

 

Der gesamte Schwarm ist auf die beiden Aufmerksam geworden. Viele klettern aus dem Loch im Boden, erheben sich in die Luft und fangen an die Eindringlinge zu umkreisen, ein Chor aus Gebrüll und Gekreische hallt in den Ohren der Experimente wieder.

 

„Na, fertig?“, möchte Eren kampfbereit wissen, ohne wirklich eine Antwort zu erwarten.

 

„Und wie soll ich die jetzt ablenken, wenn ich nicht fliegen darf?!“, fragt Viktor. Der nörgelnde Unterton ist deutlich herauszuhören.

 

„Lass dir was einfallen.“ Mit diesen Worten lässt Eren den aufgebrachten Viktor zurück und fliegt den Dagono entgegen.

 

Die mischen wir jetzt ordentlich auf!

 

Nur ablenken. Denk daran, wir sollen sie nicht töten.

 

*Seid ruhig! Ich muss mich konzentrieren.*

 

Der Junge lässt mehrere kleine Schattenkugeln um sich entstehen. Jede hat die Größe eines Apfels. Diese hier sind nicht so komprimiert, wie die beim Grobämi gestern, dadurch ist der verursachende Schaden geringer. Er will sie ja nur betäuben. Klar, könnte er das auch mit einem Kinnhaken erreichen, aber das bei jedem einzelnen würde zu lange dauern. Außerdem würden ihm die Knöchel irgendwann weh tun.

 

Eren schnippt mit dem Finger in Richtung des ersten Dagono. Eine Schattenkugel löst sich aus dem Schwarm, kracht dem Monstervogel gegen die Stirn und verpufft dann. Der Getroffene kräht auf, verdreht die Augen und stürzt bewusstlos auf das Plateau. Der Junge weicht den Zähnen des nächsten aus, schleudert ihm dabei eine Kugel an den Kopf und ist schon beim vierten angelangt.

 

Ja! Los, weiter! Wer ist der Nächste?!

 

Könnte man sie nicht anders ablenken? Das ist unnötig grausam.

 

„Pass gefälligst auf!“, schreit plötzlich eine Stimme außerhalb von Erens Kopf als er den mittlerweile siebten Dagono ins Traumland schickt.

 

Der Junge taucht unter dem gefiederten Bauch durch, weicht mit einem Looping dem Schnabel eines anderen aus und sieht dann kurz nach unten. Der Bienentyp wird von zwei Dagono verfolgt, die immer wieder nach ihm schnappen oder mit den Hörnern aufzuspießen versuchen. Um ihm herum liegen die von Eren ausgeschalteten Vögel. Er hat zwar schon darauf geachtet, dass die Dagono alle auf deren Plateau landen, damit sie nicht beim Aufprall sterben, aber nicht darauf, wo Viktor ist. Den Fußspuren nach hätte er ihn ein-, zweimal fast zerquetscht.

 

„Sorry!“, schreit Eren zurück. Beide wissen, dass das nicht ernst gemeint ist.

Dafür erweckt etwas Großes, das gerade aus der Bruthöhle klettert, seine Aufmerksamkeit.

 

Aus dem Nest in der Mitte klettert ein Vogelmonster heraus. Im Grunde sieht es aus wie ein Dagono, nur größer. Spitze Zähne ragen aus dem gebogenen Schnabel hervor. Anstatt der beiden Stierhörner hat dieser kleinere, dünnere, doch dafür vier Stück, die leicht gedreht nach vorne ragen. Scharfe Krallen wachsen an den Zehen, die nur dafür geschaffen sind, um Beute festzuhalten. Dagono haben normalerweise nur einen dünnen Schweif mit Federn am Ende, dieser hat drei, die wütend durch die Luft peitschen. Das hellbraune Gefieder ist am Kopf dunkler, wodurch die schwarzen Augen noch bedrohlicher wirken.

 

„Ein Bagono?“, identifiziert Eren überrascht.

 

Diese mutierte Dagonoart ist sehr selten. Sie übernehmen einen Schwarm und lassen sich von diesem rund um die Uhr bedienen. Meistens heißt das, alles Fressbare im Umkreis zu sich bringen zu lassen. Deshalb gibt es hier auch keine anderen Lebewesen mehr. Sie wurden entweder gefressen oder sind geflohen. Nur der Grobämi nicht. Der steht nicht auf deren Speiseplan.

 

Der Bagono hat mittlerweile Viktor erspäht, der zwischen den Hörnern eines Dagono sitzt und diesen gegen andere Vogelmonster lenkt. Dabei lacht er wie ein wahnsinniges Kind. Der Große schnaubt wütend, schüttelt den mächtigen Schädel und stürmt auf Viktor zu, dabei wirbelt er jede Menge Schnee auf. Eren erkennt, dass der Bienenmutant den Bagono noch nicht gesehen hat, und auch, dass er sicher aufgespießt wird, wenn ihn keiner warnt.

Bagono

„Tja. Ich schätze, ich muss ihn schon wieder retten“, seufzt Eren ergeben.

 

Begleitet von seinen Schattenkugeln bahnt er sich widerwillig einen Weg zum Plateau, weicht Schnäbeln und Klauen aus und schlägt den ein oder anderen Dagono noch bewusstlos. Viktor hat mittlerweile seinem Reittier ebenfalls die Lichter ausgeknipst und den Schwarmanführer entdeckt. Mutig wie er ist … rennt er schreiend weg. Dabei flucht er lauthals, was das für ein Ding sei.

 

Der Zwölfjährige legt die Schwingen an, um schneller zu werden. Der kalte Wind pfeift in seinen Ohren, zerrt an seiner Kleidung und treibt ihm Tränen in die Augen. Trotz verschwommener Sicht streckt er den Arm vor und schickt alle Schatten auf einmal los. Ein Kugelhagel schlägt in den Schnee knapp vor dem Bagono ein, der erschrocken aufschreit und taumelnd zurückweicht.

 

„Ich dachte, du mischt dich nicht ein?!“, beschwert sich Viktor wie auf Kommando. Er ist durch den Angriff in den Schnee gefallen und rappelt sich gerade schmollend wieder auf.

 

„Den Bagono kannst du nicht besiegen, du Bienenhirn! Seine Haut ist zu dick für deine lächerlichen Angriffe“, belehrt ihn Eren, ohne das große Vogelbiest aus den Augen zu lassen. „Überlass den Bagono mir. Du übernimmst die Kleinen!“

 

Wie ein trotziges Kind stapft Viktor mit dem Fuß auf und zieht eine Schnute. „Wie soll ich das machen, ohne Flügel, du Mini-Möchtegernheld?“

 

Anstatt auf den stichelnden Unterton einzugehen, wirft Eren ihm seinen Dolch vor die Füße. „Sei einfach nervig. Das kannst du am besten.“

 

Nach dem Kommentar lässt er Viktor erneut allein. Der Bagono gibt ein markerschütterndes Krächzen von sich, das Erens Ohren klingeln lässt, sodass er die Hände auf diese pressen muss. Mit einem Auge beobachtet er den Bagono, der schweren Schrittes auf ihn zu getrampelt kommt. Dabei bildet sein Rückgrat eine gerade Linie, wie ein Rammbock mit Hörnern. Dumm nur für das Monster, dass Eren fliegen kann. So steigt er einfach höher auf, um dem Angriff zu entkommen. Schlitternd bremst der Vogel ab, hebt den Kopf und starrt finster zu dem Kind auf.

 

Hahaha! Bagono sind so dämlich!

 

Wir sollten ihn lieber nicht zu sehr reizen. Wer sich mit dem Bagono anlegt, bekommt seine Hörner zu spüren.

 

Was klischeehafteres ist dir nicht eingefallen, oder?

 

*Habt ihr eigentlich einen Stummschalter?*

 

Nein, tut mir leid.

 

Pech gehabt!

 

Eren stöhnt genervt, hat aber keine Zeit sich länger mit den Stimmen zu befassen. Der Bagono hat auch Flügel und die nutzt er jetzt, um Eren zu folgen. Der Junge steigt senkrecht zum Himmel auf. Immer höher, immer weiter von den Dagono weg. Ein paar versuchen zwar ihrem Anführer zu folgen, aber der Instinkt das Nest vor Viktor zu schützen ist stärker. Nur der Anführer bleibt hartnäckig. Der hat sich voll und ganz auf Eren fixiert.

 

Genau nach Erens Plan. „Sehr gut. Folge mir du überdimensioniertes Hühnchen.“

 

Schon bald haben sie die Höhe der wenigen Wolken erreicht, die träge am blauen Himmel dahinziehen. Mit jedem Meter werden die Bewegungen des Bagono langsamer. Eren glaubt, bereits die ersten Eiskristalle im Gefieder zu erkennen. Lange wird er nicht mehr durchhalten und umkehren. Das darf nicht passieren, sonst stürzt er sich wieder auf Viktor, der keine Chance hat. Außerdem macht die Kälte nicht nur dem Bagono zu schaffen, auch Erens Schwingen überzieht eine dünne Eisschicht, die es ihm immer schwerer macht die Muskeln zu bewegen.

 

Deshalb klappt er ohne Vorwarnung die Schwingen ein. Sofort greift die Schwerkraft nach ihm. Für den Bagono kommt das so überraschend, dass er nicht mal nach dem Jungen schnappt, der knapp an seinem Schnabel vorbeifällt. Das Monster schlägt unryhtmisch mit den Flügeln und taumelt unkoordiniert durch die Luft bis es sich wieder fängt und wütend dem Kind hinterherstürzt.

 

Eren bleibt die Ruhe selbst während er dem Gebirge und der Bagono ihm immer näher kommt. Der spitze Schnabel öffnet sich langsam, die Zähne blitzen im morgendlichen Sonnenlicht. Der Vogel kneift bereits siegessicher die Augen zusammen, doch im letzten Moment dreht Eren nach rechts weg.

Der Monstervogel krächzt frustriert als sein Schnabel im Leeren zusammenschlägt. Aber so schnell gibt er nicht auf.

 

Geschickt biegt Eren bei der nächsten Felssäule ab, umkreist diese abwärts bis knapp über den Boden und bleibt auf dieser Höhe. Bei jedem Flügelschlag berühren seine Flügelspitzen die unberührte Schneedecke auf seinem Weg im Slalom durch die Felsformationen hindurch. Wind und Wetter haben die schroffen Felswände geformt und ein natürliches Labyrinth aus Tunneln, Bögen und Klippen geschaffen. So elegant wie sich der Junge durch all diese Hindernisse schlängelt, mindestens genauso unelegant sieht es bei dem Vogel aus. Der Bagono ist zu groß für die meisten Löcher und Spalten, weshalb er einfach seinen mächtigen Schädel gegen alles rammt, was ihm im Weg steht und so zu kleinen Steinbrocken verarbeitet.

 

„Uh.“ Eren verzieht schmerzverzerrt das Gesicht als er den Bagono dabei beobachtet. „Der wird morgen schlimme Kopfschmerzen haben.“

 

Er sieht wieder nach vorne. Gerade rechtzeitig, um den Kopf einzuziehen, die Schwingen anzulegen und knapp unter dem Steinbogen durchzutauchen.

 

Sei vorsichtig.

 

Pass gefälligst auf wo du hinfliegst!

 

*Ja, ja.*

 

Eren verdreht genervt die Augen, dann wirft er wieder einen Blick zurück. Hinter ihm klingt es so als würde … nun ja … als würde ein Bagono die Landschaft umgestalten. Der Monstervogel kracht von einer Felssäule in die nächste, lässt dabei nur einen Geröllhaufen und aufgewirbelten Schnee hinter sich zurück.

 

„Oh“, seufzt der Junge gespielt traurig. „Das war so ein schöner Hinderniskurs für´s Flugtraining.“

 

Eine Weile ärgert er den Bagono, lässt ihn aufholen, nur um dann wieder einen Haken zu schlagen und ihm so immer knapp zu entkommen. Eren hat Spaß dabei, der Bagono eher weniger. Mit jedem vergeblichen Angriff wird er noch zorniger, noch rasender. Schon längst hat sein Kopf aufgehört seine Angriffsversuche zu lenken. Ob das viele gegen Steine rammen oder die Raserei schuld sind, kann man nicht sagen. Vermutlich beides zugleich. Schließlich fängt dieses Fangenspiel an das Kind zu langweilen, weshalb er beschließt, mal nach Viktor zu schauen.

 

Nur wenige Dagono kreisen noch in der Luft, die meisten sind Opfer des 27-Jährigen geworden. Auf dem Plateau wimmelt es nur so von ohnmächtigen Dagono, manche bluten auch oder liegen verdreht übereinander. Offensichtlich hat sich Viktor nicht ganz an die Vorschrift gehalten, keinen Vogel zu töten. Wirklich überrascht ist Eren aber nicht, er hat eigentlich genau das erwartet. Nur von dem Bienenmutanten fehlt jede Spur.

 

"Hat sich der Dödel fressen lassen?"

 

Verwundert dreht er eine Runde auf der Suche nach seinem Teamkollegen. Dass der Bagono von dem Anblick seines Schwarms schockiert ist, gequält aufheult und dann noch entschlossener hinter Eren herjagt, gefolgt von den letzten Dagono, bekommt er gar nicht richtig mit.

 

Bald entdeckt er doch einen Menschen. Nicht Viktor, sondern Carmen. Irritiert legt Eren den Kopf schief, bleibt aber auf Abstand, um sein ungebetenes Gefolge nicht auf das Mädchen aufmerksam zu machen. Was macht die denn hier oben? Die unausgesprochene Frage beantwortet sie bereits als sie bemerkt, dass Eren sie bemerkt hat. Die Blondine streckt beide Arme vor, zeigt auf den Boden, hebt dann die Daumen hoch, deutet anschließend auf Eren und danach in die Richtung, in der die Höhle des Grobämi liegt. Nachdem Eren verstehend genickt hat, verschwindet Carmen wieder im Nest der Dagono.

 

Endlich können wir hier weg.

 

Ja. Dann können sich die armen Dagono von unserem Besuch erholen.

 

Bis wir sie das nächste Mal aufmischen!

 

Eren steigt schnell höher, vollführt einen großen Looping und taucht mitten hinein in die Schlucht neben dem Dagono-Plateau. Während er den darin hervorragenden Felsbrocken ausweicht, kontrolliert er immer wieder, ob auch alle flugfähigen Vögel hinter ihm her sind. Sobald auch der letzte in der Schlucht ist, hält er abrupt an und wirbelt zu den Monstern herum. Der Bagono ist ein weiteres Mal zu überrascht, um die Situation richtig zu verstehen. Die Dagono sind sowieso zu dumm. Eren streckt den Vögeln beide Handflächen entgegen.

 

„Bye-bye, ihr Hühnchen. Bis zum nächsten Mal“, verabschiedet er sich höflich.

 

Natürlich verstehen ihn die Monster nicht, aber das kümmert ihn nicht als er schnell die Arme zu beiden Seiten zurückzieht. In derselben Sekunde taucht wie aus dem Nichts eine riesige Rauchwolke auf, die die gesamte Schlucht ausfüllt. Überall kreischen die Monster auf, verlieren die Orientierung, prallen gegeneinander, fliegen gegen Felswände und Boden und greifen in ihrer Panik andere Dagono an. Der schwarze Rauch ist so dicht, dass man nicht sieht, was sich direkt vor den eigenen Augen befindet, außerdem betäubt er die Sinne, sodass es unmöglich ist zu sagen, wo oben und wo unten ist. Außer für Eren natürlich.

 

Der Junge ist in zwei Flügelschlägen aus der Schlucht heraußen. Mit verschränkten Armen begutachtet er sein Werk. Noch schöner als einen Kampf zu gewinnen, ist mitanzusehen wie sich die Gegner alle gegenseitig angreifen.

 

Nicht schlecht. Ich bin beeindruckt. Ein bisschen zumindest.

 

Ein ganz, ganz kleines schlechtes Gewissen meldet sich doch in seinem Kopf zu Wort. Die Stimme der hellen Seite, die sich vorwurfsvoll in seinen Gedanken räuspert.

 

Also wirklich. War das nötig? Du hättest sie auch anders abhängen können. Sie haben immerhin nur ihr Zuhause verteidigt.

 

„Ich hab jetzt echt keine Lust zu diskutieren.“ Glücklicherweise ist die helle Seite nicht so aufdringlich wie die andere. Sie schweigt (meistens), wenn man es ihr sagt.

 

Eren sieht sich noch ein paar Sekunden lang sein angerichteten Chaos an und macht sich dann zufrieden auf den Weg zurück zur Höhle. Gerade als er im Eingang landet, erscheint Igor aus dem Nichts am anderen Ende. Er sieht fertig aus, verschwitzt, außer Atem und rot im Gesicht. Carmen reicht ihm gerade eine Flasche Wasser, die der Teamführer mit einem dankbaren Nicken annimmt und gierig davon trinkt. Viktor ist auch hier nicht zu sehen.

 

„Hey“, macht Eren auf sich aufmerksam. Er lässt die Flügel verschwinden und geht auf die zwei zu. „Habt ihr genug Schalen bekommen?“

 

So wie es aussieht haben die beiden reiche Beute gemacht. Ein paar der grauen Säcke liegen kreuz und quer am Schlafplatz verteilt, andere sind ordentlich zusammengebunden, mit einem Etikett versehen und an der Wand aufgeschichtet.

 

„Mehr als genug“, antwortet Carmen erschöpft, aber zufrieden. „Die werden eine Weile reichen.“

 

Igor nickt ihm lediglich grüßend zu, zu beschäftigt ist er damit die Flasche zu leeren und Sauerstoff in seinen Körper zu inhalieren.

 

„Klasse. Dann können wir ja nach Hause.“ Eren schnappt sich einen der Säcke, knoten diesen fest zusammen und macht sich daran dem Mädchen beim Verpacken und Beschriften zu helfen. „Übrigens, wo ist Viktor? Habt ihr ihn am Plateau vergessen?“

 

Die Blondine schüttelt den Kopf, zieht noch einmal am Seil und trägt den nächsten Sacke an die Wand. „Nein. Der wartet bereits am Stützpunkt, um dort die Säcke für den Teleport vorzubereiten.“ Sie kehrt zurück und zieht den nächsten Sack zu sich heran. „Du solltest nett zu ihm sein. Er ist jetzt schon ziemlich stinkig, weil du ihn mit dem gesamten Schwarm allein gelassen hast.“

 

Gespielt empört zieht der Junge eine Grimasse. „Ich hab nur versucht ihn vor dem Bagono zu retten.“

 

„Ja, aber du kennst doch Viktor. Der kann sich über alles aufregen“, lacht Carmen kurz auf, rollt dabei mit den Augen. „Ich will nur einmal ohne weitere Zwischenfälle Zuhause ankommen. Bitte.“

Missionsende und -start

Carmens Wunsch konnte nicht ganz erfüllt werden.

 

Während Eren und Carmen zusammen die Säcke mit den Eierschalen für den Transport vorbereitet haben, hat Igor diese Stückchenweise zur Basis gebracht. Es hat den ganzen Tag gedauert, weil der Mann nach jedem Teleport länger brauchte, um sich zu erholen.

 

Wie das Mädchen Eren vorgewarnt hat, war der Bienenmutant ziemlich angefressen als sie am Stützpunkt ankamen. Zuerst hat er geschmollt und Eren ignoriert. Als er gemerkt hat, dass es diesem egal ist ignoriert zu werden, hat es ihn aufgeregt, dass es dem Jungen egal war. Also hat er damit angefangen sich über alles zu beschweren und nur noch Quatsch zu reden. Nicht nur Igor, Carmen und Eren waren davon genervt, auch die anderen Menschen im Raum mit der Maschine. Die waren sichtlich erleichtert als die Gruppe endlich durch das Portal Flaurana verlassen haben.

 

Zurück in ihrer eigenen Welt wird die Gruppe bereits erwartet. Der „Missionsraum 1“ sieht genauso aus, wie sie ihn verlassen haben. Naja, abgesehen von den fehlenden Chipskrümeln. Jeder von ihnen trägt mindestens zwei der verpackten Eierschalensäcke zusammen mit dem übrigen Gebäck. Sobald Carmen, die als letztes durch das Portal gegangen ist, diese Welt betritt, schaltet die Ärztin die Maschine ab. Dr. Ryu steht wie bei ihrer Abreise beim Bedienpult der Teleportmaschine und lächelt die Vier grüßend an.

 

„Willkommen zurück. Wie ich sehe, war eure Mission erfolgreich“, bemerkt sie, klappt ihr Tablet auf und zählt die Säcke durch. Das Ergebnis notiert sie. „Irgendwelche besonderen Vorkommnisse?“

 

„Nein! Alles lief spiegelglatt!“, mault Viktor grummelig. Um seine miese Laune zu unterstreichen lässt er all seine Ladung einfach da fallen, wo er gerade steht. Teilweise auf die Füße seiner Teamkameraden.

 

„Hey! Pass doch auf“, beschwert sich Carmen sofort.

 

Igor schüttelt nur den Kopf. Er kennt seinen Schüler und weiß, dass es egal ist, was er jetzt sagen oder tun würde. Viktor hat sich in seiner miesen Laune festgefahren und die wird nicht so schnell verschwinden. Dafür ist er zu hitzköpfig.

 

Eren dreht sich zu Viktor herum, ein schelmisches Grinsen aufgesetzt. Auch ohne Dämoneneinfluss kann er sich nicht jeden Kommentar verkneifen. „Ja. Alles spiegelglatt. Besonders die Klettertour, nicht wahr, Viktor?“

 

Der junge Mann, der schon wieder im Partnerlook zu seinen Haaren unterwegs ist, öffnet den Mund, aber es ist nicht seine Stimme, die zu hören ist.

 

„Hallo, Eren.“

 

Nur diese zwei Worte reichen aus, um das Lächeln aus Erens Gesicht zu fegen. Sein ganzer Körper versteift und er richtet sich kerzengerade auf. Der Junge nimmt den Sack von der Schulter und wendet sich zur Tür um, durch die sein großer Bruder mit seinem typischen ausdruckslosen Gesicht getreten kommt. Diesmal trägt er lediglich eine einfache Jeans, ein T-Shirt und eine zur Hose passende Sportjacke. Und natürlich sein buntes Bandana, dass er sich um die Stirn gebunden hat. So wie er aussieht, kommt er direkt vom Training. Was seltsam ist. Eren hat Ajax noch nie ohne ihn trainieren sehen. Bisher waren sie aber auch noch nie getrennt auf Missionen unterwegs.

 

„Hallo, Ajax“, grüßt Eren zurück. „Ist deine Mission auch schon erledigt?“

 

Der ältere Turano kneift für einen kurzen Moment warnend die Augen zusammen. Eren senkt den Blick. Offensichtlich hätte er die Mission nicht erwähnen dürfen. Aber das hat ihm keiner gesagt, dass die so extrem geheim ist. Ajax lässt seine Augen über die restlichen Menschen im Raum schweifen, die verstummt sind und ernste Gesichter aufgesetzt haben. Sogar Viktor weiß, dass man in der Gegenwart von Ajax vorsichtig sein muss. Immerhin ist er der Stellvertreter der ganzen Organisation und noch dazu der stärkste Kämpfer von allen.

 

„Wie ich sehe, war die Mission erfolgreich.“ Der junge Mann kommt näher, bleibt einen Schritt vor Eren stehen und sieht diesen streng an. „Aber ihr habt zu lange gebraucht. Wieso?“

 

Eren wirft einen Blick auf die Uhr. „Zu lang? Wir hatten bis heute Abend Zeit und hier sind wird.“

 

„Es ist kurz vor Mitternacht. Für mich ist das nicht mehr Abend, Eren“, belehrt ihn Ajax ernst.

 

„Ja, Ajax. Tut mir leid.“ Beschämt senkt der Junge den Kopf. Seiner Meinung nach, sind sie zwar immer noch im Zeitrahmen, aber es ist auch nichts neues, dass Ajax die Dinge enger sieht.

 

„Hm.“ Forschend mustert Ajax seinen jüngeren Bruder. Nach ein paar Herzschlägen seufzt er stumm und entspannt sein Gesicht ein klein wenig als er fortfährt: „Über deine Bestrafung reden wir später. Vater will dich sehen.“

 

Eren hebt erstaunt den Kopf. „Jetzt sofort? Aber ich bin grade erst angekommen. Kann ich noch schnell duschen und mich umzie...“

 

Eine nicht gerade sanfte Ohrfeige lässt den Jungen verstummen. Sein Kopf wird zur Seite geschleudert und als er wieder zu seinem Bruder sieht, ziert ein roter Handabdruck seine rechte Wange. Nicht sonderlich überrascht, aber dennoch perplex, blinzelt der Zwölfjährige seinen Bruder an. Auch die anderen Menschen wirken erschrocken, halten aber lieber den Mund. Das ist Familiensache. Nur Dr. Ryu dreht den Kopf weg.

 

„Wenn Vater dich sehen will, dann heißt das sofort. Das weißt du, Eren. Vater wartet nicht gerne. Ihr seid eh schon zu spät“, erläutert Ajax ruhig.

 

Eren senkt den Kopf, damit sein Bruder nicht sieht wie sich sein Kiefer anspannt. Trotzdem schafft er es seine Stimme ruhig klingen zu lassen. „Ja, natürlich, Ajax. Tut mir leid.“

 

„Das besprechen wir auch später. Und jetzt komm.“ Ohne ein weiteres Wort dreht sich Ajax um und verlässt den Missionsraum.

 

Eren übergibt seine Eierschalen wortlos an Carmen, die sie annimmt und ihn mit einem mitleidigen Blick bedenkt, und beeilt sich dann seinem Bruder zu folgen, um ihn nicht noch mehr zu erzürnen.

 

~~~

 

Den ganzen Weg über bis zur schweren Tür zum Büro von Benedikt Turano im Anwesen schweigen die Brüder. Eren ist das nur recht. So hat er Zeit darüber zu grübeln, weshalb ihn sein Vater so spät noch sprechen möchte. Er wird sehr selten in das Privatbüro gerufen. Was könnte so dringend sein, dass es nicht bis morgen warten kann? Bekommt er jetzt Ärger, weil er etwas zu spät dran war? Aber das ist nicht seine Schuld! Igor hat ewig gebraucht mit seinen Teleportationen, da kann er doch nichts dafür!

 

Ein unwohles Gefühl macht sich in seiner Magengrube breit, doch von außen lässt er sich nichts anmerken als Ajax an der Tür klopft und diese nach einem „Herein“ öffnet. Wie alles in diesem Anwesen wirkt das Büro pompös und teuer. Das Zimmer liegt in Dunkelheit gehüllt, lediglich eine kleine Tischlampe spendet etwas Licht und malt unheimliche Schatten auf die Bücherregale an den Wänden. Turano selbst sitzt am Schreibtisch. Er sieht auf als die beiden eintreten, lächelt, erhebt sich und geht um den Schreibtisch herum.

 

„Da seid ihr ja endlich. Wie lief die Mission, Eren? Ich nehme an, sie war erfolgreich?“ Die Fragen klingen zwar freundlich, aber Eren kennt den versteckten Unterton dahinter.

 

„Hallo, Vater." Der Junge bleibt in der Mitte des Raumes stehen. "Ja, wir haben gut zehn volle Säcke mitgebracht.“

 

„Hm. Nicht ganz so viele wie ich dachte“, gesteht Turano, trotzdem heben sich seine Mundwinkel zufrieden. „Vielleicht darfst du bald wieder ohne Ajax auf eine Mission.“

 

„Danke, Vater.“ Das höfliche Geplänkel kann unmöglich der Grund sein, weshalb er so spät noch herbestellt wurde. Es muss einen anderen Grund geben. Da es ihm mit der dicken Winterjacke zu warm wird, zieht er diese aus, um besser denken zu können. Dann stellt er doch die Frage laut, um das Gespräch ein wenig zu beschleunigen. Er will ins Bett. „Ähm, Vater? Warum bin ich hier?“

 

Eren spürt deutlich den missbilligenden Seitenblick seines Bruder, behält die Aufmerksamkeit jedoch auf seinen Vater gerichtet, der sich gegen den Schreibtisch lehnt und die Arme vor der Brust verschränkt. In seinem Gesicht kann der Junge keine Hinweise finden. Er sieht so verschlossen aus wie immer.

 

„Nun, ich hab eine neue Aufgabe für dich“, klärt ihn Turano ohne weitere Umschweife auf.

 

Der Zwölfjährige versucht sein Gesicht nicht genervt zu verziehen. Eine neue Mission? Nicht jetzt schon. Er durfte sich noch nicht einmal umziehen! „Was für eine Aufgabe?“

 

„Du wolltest doch wissen, was meine Mission war“, beginnt Ajax zu erklären. Er sieht nicht so aus, als wäre diese zu seiner Zufriedenheit verlaufen. „Ich sollte jemanden aus dem Weg räumen. Wen ist nicht wichtig, wichtig ist nur, dass mir die Polizei in die Quere gekommen ist.“

 

Ajax wirkt ziemlich zerknirscht. Eren ist deswegen umso überraschter. Er hat noch nie miterlebt, dass sein großer Bruder bei einer Mission scheitert. Mit erstauntem Gesicht sieht er den jungen Mann an, der die Fäuste ballt und dabei aus dem Fenster sieht.

 

„Die Zielperson wurde ins Krankenhaus von Haikla City gebracht und wird jetzt dort polizeilich überwacht“, fährt Turano fort, trommelt dabei mit dem Zeigefinger auf seinem Oberarm herum. Er ist genauso frustriert über das Scheitern seines älteren Sohnes. „Da wir unsere Kundin nicht enttäuschen wollen, werdet ihr die Mission dort zusammen beenden.“

 

„Moment“, unterbricht Eren seinen Vater, weshalb er mal wieder böse angefunkelt wird. Er ignoriert es. „Haikla City? Ich dachte, wir erledigen keine Missionen in der Stadt?“

 

„Das stimmt schon, aber Frau Russo ist eine langjährige Stammkundin. Deshalb machen wir eine Ausnahme. Und deshalb ist es noch wichtiger nicht aufzufallen oder irgendwelche Hinweise auf uns zu lenken. Verstanden?“, erklärt Benedikt eindringlich.

 

Eren nickt. „Verstanden.“ *Als würde ich den Bullen mit Absicht sagen, was wir alles schon verbrochen haben.*

 

Ajax hat sich mittlerweile wieder gefangen. „Ich hab schon einen Plan ausgearbeitet, wie wir die Sache durchziehen werden. Die Details erkläre ich dir morgen.“

 

Morgen. Der Junge unterdrückt ein erleichtertes Seufzen. Also hat er doch noch ein paar Stunden, um zu duschen, sich umzuziehen und vielleicht etwas zu schlafen. Außer natürlich Ajax hat die Zeit bis dahin auch verplant. Ganz ausgeschlossen ist das nicht.

 

Aber Turano zeigt etwas Verständnis. Sein Vater schickt ihn kurz darauf in sein Zimmer, um zu duschen, die Missionssachen an die Angestellten weiterzugeben und sich für den bevorstehenden Attentat im Krankenhaus ihrer Heimatstadt vorzubereiten.

Tarnen und Täuschen

Bis die Brüder zu ihrer Mission aufbrechen, steht für Eren sein gewöhnliches Trainingsprogramm auf dem Plan. Allerdings mit kleinen spontanen Änderungen. Anstatt an seiner Ausdauer zu arbeiten, solle er seine Fähigkeiten nutzen, damit beide Male bis Missionsbeginn so weit geschrumpft sind, sodass sie unter Alltagsklamotten nicht mehr auffallen.

 

Pünktlich um neun Uhr sitzen Eren und Ajax im grauen Ford Mustang auf dem Weg ins Krankenhaus von Haikla City. Anders als bei den bisherigen Aufträgen ist Eren ausnahmsweise wie ein gewöhnlicher Junge angezogen, ohne besondere Missionskleidung oder Waffen oder Ausrüstung oder sonst was. Nur einen dünnen dunkelblauen Pullover, ein schwarzes T-Shirt darüber, eine blaue Jeans und Turnschuhe. Der Zwölfjährige kann sich nicht erinnern jemals so normal ausgesehen zu haben. Es ist ungewohnt, aber auf eine gute Weise.

 

Ajax hat ihm bereits von seinem Plan erzählt. Er ist zwar gut und durchdacht, aber auch riskant. Besonders tagsüber, unter so vielen Leuten und in der Nähe der Polizei. Wenn etwas schief geht oder sie mit dem bevorstehenden Mord irgendwie in Verbindung gebracht werden können, dann wäre die Geheimorganisation nicht länger geheim und sie landen alle im Knast. Aber darüber macht sich Eren keine Sorgen. Sie haben schon so viele Aufträge übernommen und nie ist etwas schief gegangen. Ajax sorgt dafür. Er ist ja nicht ohne Grund der Beste. Allerdings ist dies die erste Mission, die in ihrer Heimatstadt zu erledigen ist. Besonders Ajax´ Gesicht ist hier nicht unbekannt. Hoffentlich geht alles gut.

 

Das Krankenhaus liegt ein Stückchen außerhalb der Stadt, umringt von Feldern und einem Wald. Ein friedliches Plätzchen für die Patienten, um sich in Ruhe zu erholen, ohne ständig den Verkehrslärm im Ohr zu haben. Ajax parkt den Wagen im Parkhaus auf der untersten Etage, direkt gegenüber der Ausgangsschranke, um nachher schneller vom Ort des Geschehens wegzukommen.

 

Sobald der Motor aus ist, löst Eren den Sicherheitsgurt und will aussteigen, wird jedoch von Ajax zurückgehalten. „Du weißt was zu tun ist, ja?“

 

„Ja, keine Sorge. Ich schaffe das“, versichert Eren zuversichtlich. „Bis nachher.“

 

Bevor sein Bruder noch mehr sagen kann, springt der Junge aus dem Auto und schließt die Tür. Mit den Händen in den Hosentaschen marschiert er los zum Treppenhaus, das ins Innere des Krankenhauses führt. Es sind nur eine Handvoll anderer Autos auf dieser Etage, dennoch ist der Abgasgestank enorm. Eren rümpft angeekelt die Nase, die er sich am liebsten zuhalten würde, aber das würde nur unnötig Aufmerksamkeit auf ihn ziehen. Nicht jeder nimmt Gerüche so intensiv wahr wie er.

 

Im Treppenhaus riecht es sogar noch ekelhafter. Hier vermischt sich der Abgasgestank mit dem typischen sterilen Krankenhausduft. Dieser Mischmasch treibt Eren Tränen in die Augen, die er durch häufiges Blinzeln zurückdrängt. Schnell sprintet er immer drei Stufen auf einmal nehmend die Treppe hinauf und flüchtet durch die Metalltür mit der Aufschrift „Etage 03“. Hinter der Tür bleibt er kurz stehen, um sich zu orientieren. Obwohl er schon sein ganzes Leben in Haikla City lebt, war er noch nie im Krankenhaus. Das war bisher auch nicht nötig. Immerhin haben die Turanos ihre privaten Ärzte, ein eigenes Labor und Patientenzimmer. Und seine Heilkräfte sind zu gut, um überhaupt die Hilfe von Ärzten in Anspruch nehmen zu müssen.

 

Das Stockwerk ist in hellen Farbtönen gehalten, damit es freundlicher wirkt. Die Wände sind halb hellgrün und halb hellblau gestrichen, dazu mit bunten Blümchen bemalt, sodass es einer Blumenwiese im Sommer ähnelt. Selbstgemalte Bilder oder Naturfotos hängen abwechselnd links und rechts an den Wänden. Irgendwie kitschig, aber es erfüllt seinen Zweck die Illusion einer freundlichen, sicheren Umgebung zu schaffen. Krankenpfleger, Ärzte, Besucher und Patienten sind auf dem Gang unterwegs. Ein paar von ihnen lächeln Eren sogar an, als sie an ihm vorbeigehen. Eren erwidert die höfliche Begrüßung mit einem Kopfnicken und leichtem Lächeln.

 

Gegenüber dem Treppenhaus ist ein Plan der Etage zu finden, der zeigt welche Zimmer in welcher Richtung liegen. Schnell hat Eren die Nummer 308 gefunden, biegt nach rechts ab und folgt den weiteren Beschriftungen. Unterwegs sieht er sich alles an was er so findet. Immerhin ist er das erste Mal in einem Krankenhaus und findet interessant wie sich normale Menschen behandeln lassen.

 

Niemand schenkt dem Kind wirklich große Aufmerksamkeit. Erst als er den kurzen Gang erreicht, in dem die Zimmern 308 und 309 liegen, wird er angesprochen. Am Ende des Ganges sitzt ein Polizist in Berufsbekleidung. Als Eren um die Ecke biegt erhebt sich der Mann und baut sich vor der Tür auf, behält jedoch ein freundliches Gesicht. Schließlich ist Eren nur ein Kind in seinen Augen.

 

„Hallo. Hast du dich verlaufen? Hier ist Zutritt verboten, Junge“, erklärt der Mann leicht lispelnd. Er hat einen buschigen Schnurrbart und nur noch wenige schwarze Haare am Kopf. Sein Hemd spannt sich über den leichten Bierbauch.

 

Eren nimmt die Hände aus den Hosentaschen und setzt sein bestes Unschuldsgesicht auf als er in der Mitte des Ganges stehen bleibt. „Hallo. Tut mir leid Sie zu stören, Herr Polizist, ich wollte Sie nur etwas fragen.“

 

Überrascht hebt der Polizist eine Augenbraue. „Ich hab leider keine Zeit für Fragen, Kleiner. Ich muss arbeiten.“

 

Kleiner! Wie er es hasst so genannt zu werden! Trotzdem behält er sein Lächeln auf und ärgert sich nur innerlich. „Bitte. Es dauert auch nicht lange und danach lasse ich Sie in Ruhe. Versprochen.“

 

Ergeben seufzt der Mann und nickt. „Also gut. Was willst du denn wissen?“

 

„Eigentlich ist es eher eine Bitte“, gesteht Eren und spielt nervös mit seinen Fingern. „Meine kleine Schwester liegt hier ganz in der Nähe und sie liebt Polizisten. Sie will selbst eine Polizistin werden, wenn sie groß ist.“ Jetzt noch ein bisschen auf die Tränendrüse drücken und der Mann ist Wachs in Erens Händen. „Wissen Sie, sie hat sich bei einem Autounfall die Wirbelsäule verletzt und sitzt jetzt im Rollstuhl.“ Tränen sammeln sich in den blauen Augen, die den Mann mitleidig das Gesicht verziehen lassen. „Ich würde sie gerne aufmuntern. Würden Sie kurz zu ihr gehen? Bitte? Lilly würde es so viel bedeutet einen echten Polizisten zu treffen. Besonders jetzt, wo sie wahrscheinlich selbst keine mehr werden kann.“ Eren schnieft und wischt sich eine Träne von der Wange. „Bitte?“

 

Der Mann öffnet den Mund, schließt ihn wieder, zieht grüblerisch die Stirn in Falten und hat selbst nasse Augen. Eren grinst triumphierend in sich hinein. Das war ja einfach.

 

So ein dämlicher Polizist.

 

Ein Mann, der Mitleid hat und einem kranken Kind eine Freude machen will, ist nicht dämlich.

 

„Bitte nicht weinen, Kleiner.“ Etwas überfordert hebt er die Arme und sieht unschlüssig von Eren zur Tür und zurück.

 

„Bitte“, wiederholt Eren und wischt sich mit dem Ärmel die nächste Träne weg. *Jetzt hab ich dich.*

 

Der Polizist schließt die Augen und atmet langsam aus. „Also schön. Aber hör bitte auf zu weinen, ja?“

 

Der Mann zieht eine Packung Taschentücher aus seiner Tasche, die er Eren reicht. Dieser nimmt sie mit einem „Danke“ an und schnäuzt sich die Nase. „Vielen, vielen Dank, Herr Polizist. Das wird Lilly so freuen!“

 

„Schon gut. Aber nur fünf Minuten, ja? Ich muss arbeiten, das ist wichtig“, betont der Polizist eindringlich.

 

Eren nickt heftig. „Natürlich!“

 

„Gut. Dann zeig mir, wo deine Schwester ist.“ Mit einer Kopfbewegung deutet er zu der Gabelung hinter Eren.

 

„Hier lang.“ Der Zwölfjährige dreht sich um und führt den Polizisten zielsicher den Weg zurück, den er gekommen ist. „Ich bin schon gespannt auf Lillys Gesicht“, spinnt er derweilen die Geschichte weiter.

 

„Wie geht’s ihr denn nach dem Unfall? Abgesehen davon, dass sie jetzt im Rollstuhl sitzen muss?“, erkundigt sich der Mann, um vorbereitet zu sein.

 

„Eigentlich gut soweit. Sie ist nur sehr niedergeschlagen, weil sie eben keine Polizistin mehr sein kann“, lügt Eren. Dabei ist er froh, dass er vorangeht. So kann er mit den Augen rollen, ohne dass der Mann es sieht.

 

Die Menschen um sie herum sehen den Polizisten und das Kind mit unterschiedlichen Gesichtern an. Manche neugierig, manche fragend, manche gleichgültig, aber niemand stellt sich ihnen in den Weg oder fragt nach wohin sie denn gehen.

 

Hoffentlich funktioniert Ajax´ Plan. Wenn nicht, gibt es einen Polizisten, der sein Gesicht kennt. Obwohl … Ajax würde ihn vermutlich eher umbringen, wenn Plan A nicht klappt. Das stört Eren an seinem Bruder. Er kann nicht jeden kaltblütig töten. Ja, er tut es, aber nur sehr ungern. Besonders wenn es nur Zivilisten sind, die mit dem Auftrag nichts zu tun haben und nur zur falschen Zeit am falschen Ort waren. Eren drängt die Gedanken beiseite. Er darf sich jetzt nicht ablenken lassen. Wenn alles glatt geht, sind sie hier bald fertig und können wieder nach Hause, ohne Zivilisten verletzen zu müssen.

 

„Wir sind da“, verkündet Eren vor der Zimmertür 314. Leise klopft er an bevor er die Türklinke drückt und eintritt. Er sieht über die Schulter zurück zu dem Polizisten, lächelt und legt einen Zeigefinger an die Lippen, um ihm zu zeigen, dass er leise sein soll.

 

Der Mann erwidert das Lächeln und nickt verstehend. Er wirft einen kurzen Blick auf das Patientenschild neben der Tür, Lilliane Hoffarm, ehe er dem Kind ins Innere folgt und die Tür leise hinter sich schließt.

 

„Hallo, Lilly. Ich hab dir jemanden mitgebracht.“ Eren geht weiter in den Raum hinein, der bis auf zwei Betten und einer weiteren Tür, die ins kleine Badezimmer führt, komplett leer ist. Der Junge setzt sich auf das hintere Bett, stützt sich mit den Händen ab und pendelt mit den Beinen.

 

Der Polizist bleibt zwischen den Betten stehen, sieht sich irritiert und wachsam um. „Aber hier ist doch niemand.“

 

Die Vorhänge sind zugezogen, sodass es ziemlich düster ist. Für Eren kein Problem. Er kann sehen wie sich aus den Schatten im Badezimmer eine Gestalt herausschält und sich lautlos dem Polizisten von hinten nähert.

 

Emotionslos sieht er den Mann an. „Doch, es ist jemand hier.“

 

Schneller als der Mann reagieren kann hat Ajax ihn mit einem gezielten Schlag ins Traumreich geschickt. Der ältere Turano fängt den Polizisten auf, ehe er geräuschvoll auf den Boden aufschlagen kann, hebt ihn mit Leichtigkeit hoch und wirft ihn sich über die Schulter.

 

„Hat jemand was bemerkt?“, möchte Ajax wissen.

 

„Nein. Niemand hat wirklich auf uns geachtet.“ Ein bisschen stolz ist Eren schon auf seine Leistung so überzeugend einen erwachsenen Polizisten anlügen zu können. Naja, es war ja nicht alles gelogen. Es gibt diese Lilly wirklich, aber das ist auch schon alles was an Erens Geschichte wahr ist. Ajax hat sich ganz einfach in die Computer des Krankenhauses gehackt und nach einem Zimmer gesucht, dass in der Nähe der 308 liegt, besetzt, aber zur Zeit ihres Handelns leer ist.

 

*Danke, Lilliane Hoffarm, wer auch immer du bist.*

 

„Und erkannt hat dich auch niemand?“

 

„Nein.“ Woher auch? Das ist nunmal so, wenn er in der Öffentlichkeit nicht gezeigt wird. Anders als sein Bruder, der auch bei Presseterminen und anderen öffentlichen Auftritten an der Seite ihres Vaters steht, bleibt Eren im Hintergrund. Niemand weiß, wie der jüngere Sohn aussieht.

 

„Gut. Dann weiter mit Schritt Zwei.“ Ajax verschwindet mit dem Bewusstlosen im Badezimmer. Kurz darauf kommt der Polizist wieder heraus und schließt die Badtür.

 

Wie jedesmal findet Eren es extrem faszinierend wie sein Bruder es schafft, wie jemand komplett anderes auszusehen. Er hat ihm einmal erklärt, wie das funktioniert. Ajax verwandelt sich nicht wirklich in die andere Person, er legt lediglich eine Illusion über sich selbst, sodass andere in ihm die gewünschte Person sehen. So ganz versteht es Eren noch immer nicht, aber seine eigenen Kräfte versteht er ja auch nicht so ganz. Also belässt er es einfach dabei, bevor er von der Grübelei noch Kopfschmerzen bekommt und konzentriert sich weiter auf seine Aufgabe.

 

„Und das Mittel von Dr. Ryu wirkt?“, fragt Eren besorgt nach. Er will schließlich nicht, dass sich der Polizist nach dem Aufwachen noch an ihn erinnert.

 

Polizisten-Ajax zupft an den Ärmeln der Uniform herum. „Bei den Testpersonen hat´s funktioniert. Falls nicht, können wir ihn nachher immer noch töten. Lass uns weitermachen.“

 

„Alles klar“, willigt der Zwölfjährige nicht ganz einverstanden ein, behält seine Zweifel jedoch für sich.

 

Eren hüpft vom Bett und geht auf die Zimmertür zu. Draußen schlägt er zunächst wieder den Weg zurück zum Raum 308 ein, aber anstatt in den Gang abzubiegen, setzt er sich auf einen der Stühle, die immer wieder zwischen den Zimmertüren bereitstehen. Der Junge lehnt sich zurück, vergräbt die Hände in den Hosentaschen und tut so, als würde er auf jemanden warten. Als wenig später Polizisten-Ajax an ihm vorbei geht, schenkt er ihm lediglich einen flüchtigen Blick.

 

Erens Hauptaufgabe bei dieser Mission war es den Polizisten wegzulocken. Als Kind ist das einfacher als wenn ein Erwachsener die gleiche Story erzählt hätte. Kindern glaubt man solche Sachen eben eher.

 

Während sich Ajax als Polizist ins Zimmer 308 begibt, um Wen-auch-immer zu töten, beobachtet Eren heimlich die anderen Menschen. Mehr hat er nicht zu tun. Nur hier sitzen und warten bis Ajax fertig ist. Gelangweilt lehnt er den Kopf gegen die Wand und starrt die Decke an.

 

Wie lange braucht der denn noch, um einen verletzten Menschen zu killenl?!

 

Es ist falsch zu morden. Das wisst ihr. Jedes Leben, egal wie groß oder klein, ist kostbar und sollte nicht leichtfertig ausgelöscht werden. Ich verstehe nicht, warum wir das machen.

 

Na, weil wir gut darin sind?

 

Das ist die hirnloseste Erklärung aller Zeiten.

 

Eren versucht die Diskussion der Stimmen auszublenden, indem er konzentriert die Punkte an der Decke zählt. Wenn hier im Krankenhaus jemand merkt, dass er Stimmen hört, wollen sie ihn mit Sicherheit in eine Klapsmühle stecken. Warum muss er eigentlich hier warten? Herumsitzen und Löcher in die Luft starren, das kann er auch im Auto. Nur leider kann er im Auto die Umgebung nicht beobachtet. Wenn ein Arzt ins Zimmer 308 geht und Ajax erwischt, dann wäre dieser der nächste, der heute sein Leben verliert.

Wiedersehen im Krankenhaus

Besonders aufmerksam ist Eren bei seiner Aufgabe allerdings nicht, sonst hätte er den Jungen schon viel früher bemerkt, der jetzt neben ihm steht und ihn grundlos anspricht: „Hey, ich kenne dich doch! Du bist der vom Spielplatz, der mit dem Anzug. Hab ich recht?“

 

Eren zuckt erschrocken zusammen, wobei er fast vom Stuhl gefallen wäre. Anklagend funkelt er den Blondschopf an, der mit gekräuselten Lippen vor ihm steht. „Hat dir niemand beigebracht, dass man sich nicht an Fremde anschleicht?“

 

„Tut mir leid, ich wollte dich nicht erschrecken.“ Das amüsierte Gesicht lässt darauf schließen, dass er es nicht ganz ernst meint.

 

„Mhm.“ Für Eren ist das Gespräch hiermit beendet. Er dreht sich halb weg und sieht in die entgegengesetzte Richtung, die Arme verschränkt vor der Brust. Eren weiß wer der Junge ist. Natürlich erkennt er ihn. Sich Gesichter einzuprägen gehört schließlich zu seinem Job. Dass der Fremde ihn allerdings wiedererkennt … das könnte böse enden, wenn Ajax das mitbekommt. Dann findet er zwangsweise auch heraus, dass er sich aus dem Restaurant geschlichen hat. Einen direkten Befehl missachtet hat. Eren schaudert allein bei dem Gedanken an die zu erwartende Strafe.

 

„Also“, beginnt der Fremde gedehnt während er sich auf den Stuhl neben Eren fallen lässt. „Du bist der vom Spielplatz, stimmt´s?“

 

„Wenn ich Ja sage, verschwindest du dann?“, möchte der Zwölfjährige pampig wissen, ohne den Blick von dem seltsamen Regenbogenbild an der gegenüberliegenden Wand zu lösen.

 

„Ich wusste es!“, freut sich der Blonde, klatscht dabei triumphierend in die Hände. „Ohne deinen Anzug hätte ich dich beinahe nicht erkannt. Weißt du, eigentlich bin ich eine Niete in Gesichter merken. Ich brauch da immer ein bisschen länger. Aber dein Gesicht sieht noch immer so traurig aus wie damals. Deshalb war ich mir sicher, dass du es bist.“

 

„Aha“, kommentiert Eren nur. Die Erklärung ist doch total bescheuert. Er ist wohl nur ein aufdringlicher Trottel.

 

Genervt steht er auf, entfernt sich ein paar Schritte und lässt sich auf die nächste Stuhlreihe fallen. Keine fünf Sekunden später hat er wieder einen Blondschopf neben sich sitzen. Eren stöhnt entnervt, zieht die Ärmel seines Shirts über die Handgelenke, stützt sein Kinn auf die Handfläche und versucht angestrengt den Fremden zu ignorieren. Der ist ja noch hartnäckiger und nervtötender als die Stimmen innerhalb seines Kopfes.

 

„Und was machst du hier?“, fragt der Junge einfach weiter. Er hat die Sitzfläche mit den Händen umfasst und lässt die Beine baumeln. Die Augen hat er neugierig auf Eren gerichtet. „Bist du auch wegen dem Schulausflug hier? Gehst du etwa auf dieselbe Schule wie ich? Das wär ja cool!“

 

„Glaub ich kaum. Ich werd Zuhause unterrichtet.“ *Mist!* Schnell beißt sich Eren auf die Zunge bevor er noch mehr ausplaudern kann. Wieso redet er eigentlich mit ihm?! Er hat jetzt schon viel zu viel gesagt! Laut Ajax müsste er ihn töten. Oder zumindest das Gedächtnis löschen. Aber er hat leider nichts von Dr. Ryus Zaubermittelchen bei sich.

 

„Echt? Total cool!“ Vor Begeisterung fangen die grünen Augen des Fremden an zu leuchten. „Ich hab mich immer gefragt, wie das wohl ist, wenn man von Privatlehrern unterrichtet wird. Dann musst du doch ziemlich reich sein, oder?“

 

„Nein. Meine Familie es.“ Und schon wieder verrät er etwas! Es ist, als hätte er sein ganzes Training vergessen.

 

„Hä? Kriegst du kein Taschengeld oder so, damit du dir was kaufen kannst? Wie Süßigkeiten, Bücher oder irgendwelche Spielsachen?“ Der Blonde hat die Augenbrauen zusammengezogen und einen verwirrten, mitfühlenden Blick aufgesetzt.

 

Jetzt dreht sich Eren doch zu dem anderen herum, da er einsieht, dass dieser viel zu stur ist, um zu verschwinden. Und weil er Angst hat, was er noch alles verraten könnte, wie ein blutiger Anfänger. „Sag mal, stellst du Fremden immer so viele Fragen?“

 

„Eigentlich nicht. Aber du hast irgendwas an dir, das … keine Ahnung. Du bist einfach irgendwie anders“, grinst der Blonde verlegen und dämlich zugleich. Dabei fasst er sich an den Hinterkopf.

 

„Aha.“ Mit jedem Wort kommt Eren der Junge seltsamer und seltsamer vor. Aber mehr Sorgen macht er sich allmählich darum, dass Ajax jede Sekunde zurückkommen kann. Wenn er ihn mit dem Jungen sieht, dann … Eren will sich das nicht vorstellen. Deshalb unterbricht er den Fremden einfach bei seinem Bericht über den bisherigen Schulausflug. „Hör mal, das ist ja alles wahnsinnig interessant, aber ich kenne dich nicht. Und du mich auch nicht. Also, kannst du mich in Ruhe lassen? Geh zurück zu deinen Schulfreunden oder so.“

 

Kurz sieht der Blonde verwirrt und etwas verletzt aus, nur für eine Sekunde, dann hat er sich wieder gefangen und sein Lächeln zurück. Ohne Vorwarnung streckt er Eren seine Hand entgegen, der deswegen instinktiv zurückzuckt. „Hallo, ich heiße Max, bin zwölf Jahre alt und wohne hier in Haikla City. Ich mag Fahrrad fahren, Schokokuchen und mit meinen Geschwistern und Freunden Zeit verbringen. Im Krankenhaus bin ich wegen dem Schulvortrag, musste aber mal aufs Klo und dabei hab ich dich gefunden.“

 

Überrumpelt starrt Eren den Jungen an als wäre ihm ein zweiter Kopf gewachsen.

 

„Das ist die Stelle an der du meine Hand nimmst und mir deinen Namen verrätst“, hilft Max ihm neckend auf die Sprünge.

 

Eren schüttelt seine Irritation ab, schlägt die angebotene Hand beiseite und senkt etwas die Stimme. „Bist du so blöd oder willst du nicht verstehen, dass du verschwinden sollst?! Ich krieg echt Ärger, wenn ich gesehen werde, wie ich mit dir rede. Und du auch.“

 

Max legt den Kopf leicht schräg, hebt eine Augenbraue und sieht nicht so aus, als würde er das verstehen. „Warum sollten wir Ärger kriegen, nur weil wir reden? Von wem denn?“

 

„Na, von meinem Bru...“ Weiter kommt Eren nicht. Noch bevor er ihn sieht, fühlt er die Präsenz seines Bruders. Der Zwölfjährige verstummt, springt auf die Beine und sieht Ajax entgegen.

 

Keine Ahnung wie er es geschafft hat aus dem Zimmer von Lilliane Hoffarm zu kommen, ohne vorher an ihm vorbeizugehen. Ajax sieht wieder so aus wie immer, mitsamt den kalten braunen Augen, die sich noch weiter verengen als er Max neben Eren entdeckt. Vor den beiden Jungs, Max ist ebenfalls aufgestanden, bleibt der Mann stehen, legt die Hände hinter den Rücken und sieht streng zu seinem kleinen Bruder, der ziemlich bleich um die Nase ist. „Ich hab alles erledigt. Wir können gehen.“

 

Eren nickt lediglich, der Kloß in seinem Hals lässt ihn an seiner Stimme zweifeln. Außerdem hat er Angst, was Ajax alles mitbekommen haben könnte. Sein Gesichtsausdruck lässt wie immer keine Emotionen oder Gedanken erraten. Der ältere Turano wirft Max noch einen kalten, durchbohrenden Blick zu ehe er sich abwendet. Eren möchte ihm folgen, wird jedoch am Ellbogen festgehalten. Der Blondschopf steht viel zu nah an Eren dran, dem das mehr als unangenehm ist.

 

„Ist er derjenige, wegen dem wir Ärger bekommen könnten?“, flüstert der Junge ihm zu. „Der wirkt gar nicht so unheimlich, wie ich dachte.“

 

Nicht so unheimlich? Okay. Jetzt ist sich Eren sicher, dass der Typ einen Dachschaden hat. Einen gewaltigen sogar. Jede Faser von Ajax strahlt doch eine unheimliche, finstere Autorität aus.

 

„Eren, kennst du den Jungen etwa?“ Jedes Wort trieft nur so vor dunkler Warnung. Hört nur Eren diesen Unterton heraus?

 

Schnell befreit der Junge seinen Arm und bringt mehr Abstand zwischen sich und Max. Er schüttelt energisch den Kopf und will protestieren, doch Max` Zunge ist schneller.

 

„Du heißt also Eren? Schön dich kennenzulernen“, grinst der Blonde und streckt ihm die Hand ein zweites Mal entgegen.

 

Eren funkelt ihn strafend an, was den Gegenüber kein bisschen zu beeindrucken scheint. Im Gegenteil, seine Mundwinkel heben sich noch etwas mehr. Bevor einer der Brüder reagieren kann, zieht ein plötzliches Stimmengewirr am anderen Ende des Ganges ihre Aufmerksamkeit auf sich. Eine ganze Gruppe von Kindern marschiert dort vorbei. Eine gestresst aussehende Frau versucht die Klasse irgendwie zu managen.

 

„Ah, das ist meine Klasse! Ich muss gehen, sonst lassen sie mich hier. Glaubt mir, das ist kein Spaß. Nachts ist es hier echt unheimlich.“ Max schaudert, hat seine gute Laune jedoch gleich wieder. „Vielleicht sehen wir uns ja wieder, Eren? Also, auf Wiedersehen!“

 

*Hoffentlich nicht.*

 

Der Blonde rennt zurück zu seinen Klassenkameraden. Unterwegs wird er von mehreren Ärzten, Krankenpflegern, Patienten und Besuchern zurechtgewiesen, dass man in einem Krankenhaus nicht durch die Gänge rennt. Max entschuldigt sich zwar jedes Mal, behält sein Tempo aber bei. Eren kann nur innerlich mit dem Kopf schütteln über den seltsamen Jungen. An der Kreuzung angelangt, dreht sich Max noch einmal um, um ihnen übertrieben zuzuwinken. Während Ajax die Augen noch weiter zusammenkneift und versucht die Situation in allen möglichen Facetten einzuordnen, wendet Eren sofort den Blick ab und betrachtet wieder das Regenbogenbild. Die Hände in den Hosentaschen vergraben und hoffend, dass Ajax den leichten Rotschimmer auf seinen Wangen nicht wahrnimmt. Er ärgert sich über den nicht mehr ganz so Fremden, der ihm gleichzeitig so peinlich ist, dass er sich fremdschämt. Und das obwohl er Max erst seit wenige Minuten kennt. Wieso musste er ausgerechnet ihm hier über den Weg laufen?! Hoffentlich hat das keine Konsequenzen. Ach, wieso sich Hoffnungen machen? Eren ist sich sicher, dass er von seinem Bruder später noch ausgefragt und gemaßregelt wird.

 

Also ich finde das ziemlich amüsant.

 

Max scheint doch nett zu sein. Wer weiß, vielleicht wird er ja unser erster echter Freund?

 

Niemals!

 

*Niemals!*, protestieren Eren und die Dämonenseite sofort.

 

„Komm, Eren. Wir sind hier fertig.“

 

~~~

 

Mit jedem Schritt näher zum Auto wächst Erens Nervosität. Sein Magen verkrampft zunehmend und seine Finger kann er nicht mehr beruhigen, die vor Anspannung unaufhörlich den Saum seines T-Shirts kneten. Es hört nicht einmal auf, als er seine Hände in die Hosentaschen schiebt. Dass Ajax den ganzen Weg durch die Gänge, die Treppen hinunter und an den parkenden Autos vorbei schweigend vor ihm hergeht, hilft ihm nicht gerade dabei sich zu beruhigen. Die seltsame Aura, die der Ältere ausstrahlt, macht es nur schlimmer, sodass Eren es nicht wagt auch nur einen Laut von sich zu geben. Nicht auf dem Weg zum Wagen, nicht als plötzlich per Lautsprecher dringend nach einer Ärztin Sullivan im Zimmer 308 verlangt wird und auch nicht als sie ausparken und Richtung Turano-Anwesen fahren.

 

Die beiden Wachen, neben dem großen Eingangstor zum Grundstück der Turanos, öffnen dieses sofort, sobald sie Ajax hinter dem Steuer identifiziert haben. Als das Tor hinter ihnen geschlossen wird bricht sein Bruder das Schweigen.

 

„Wer war dieser Junge?“, beginnt der junge Mann ohne den Blick von der Straße zu wenden.

 

Eren zuckt bei der plötzlichen Stimme zusammen, versteift sich und versucht seine Stimme normal klingen zu lassen. „Niemand.“

 

„Niemand? Er scheint dich aber zu kennen. Immerhin kannte er deinen Namen, oder nicht?“, erinnert ihn Ajax.

 

„Ja, weil er ihn von dir gehört hat. Ich hab ihn nicht erwähnt“, entgegnet Eren und kann dabei den leicht vorwurfsvollen Unterton nicht gänzlich verbergen. Nicht vor Ajax. Eren räuspert sich kurz, um den falschen Tonfall zu überspielen. „Er war wirklich niemand. Er ist einfach zu mir hergegangen und hat nicht aufgehört mich zu nerven. Ich hab versucht ihn loszuwerden, aber ...“

 

„Aber?“, hakt Ajax unzufrieden nach.

 

„Aber er wollte einfach nicht verschwinden. Egal was ich gemacht hab“, verteidigt sich Eren. Er tippt mit den Fingern auf seinen Oberschenkeln herum, um sie beschäftigt zu halten, damit sie sich nicht zu hilflosen Fäusten ballen. „Was hätte ich denn tun sollen? Ihn verprügeln? Töten? Mitten im Krankenhaus mit haufenweise Zeugen?“

 

Eren sieht jetzt doch vorsichtig zu seinem Bruder auf, um eine Spur Verständnis in seinem Gesicht zu suchen. Doch seine Mimik ist so ausdruckslos wie immer. Perfekt für einen Attentäter, weniger perfekt, um herauszufinden, was in seinem Kopf vor sich geht.

 

„So, so“, kommentiert Ajax nach ein paar schweigsamen Sekunden. „Du weißt, dass du keine Freunde brauchst. Nicht wahr?“

 

„Ja, Ajax, ich weiß“, bestätigt der Junge und lässt den Kopf hängen.

 

Ajax führt seinen Vortrag dennoch weiter fort: „Freunde sind eine Ablenkung und eine Schwäche. Beides brauchen wir nicht in unserer Branche. Alles was du jemals brauchen wirst, bekommst du von uns und sind wir. Nicht irgendwelche … Freunde, die dich nur hintergehen und ausnutzen, weil du ein Turano bist. Freundschaft ist nur eine Illusion, um andere zu schwächen. Irgendwann wird dir jeder außerhalb unserer Familie ein Messer in den Rücken rammen. Da ist kein Platz für irgendwelche belanglosen Emotionen. Das verstehst du doch, oder?“

 

„Ja, Ajax“, stimmt Eren monoton zu. Wirklich verstanden hat er diese Keine-Freunde-Regel noch nie, aber da er sowieso keine hat, kümmert es ihn auch nicht. „Er ist wirklich nur ein Fremder gewesen, den ich im Krankenhaus zum ersten Mal getroffen habe.“

 

„Es war also ein völlig Fremder, der nur durch ein paar zufällig gewählte Sätze Informationen aus dir herausbringen konnte?“ Ohje, das klingt nach Ajax´ „gleich wirst du bestraft werden müssen“-Stimme.

 

Mit einem Hauch von Panik in den blauen Augen starrt er seinen Bruder an. „Ich hab nichts verraten. Gar nichts.“

 

„Aber du hast mit ihm gesprochen, nicht?“, errät Ajax. Die Augen noch immer nach vorne gerichtet.

 

Eren zögert. Er spannt den Kiefer an und grübelt darüber nach, ob die klitzekleine Informationen über seinen Privatunterricht erwähnenswert ist.

 

„Also ja.“ Das kurze Schweigen genügt schon, um Ajax in seinem Verdacht zu bestätigen. Er seufzt schwer. Seine Stimme klingt leicht belegt als er fortfährt: „Hab ich so bei deinem Training versagt? Schade. Wirklich schade. Sieht so aus, als müssten wir das Verhörtraining noch einmal von vorne beginnen. Dabei warst du so vielversprechend.“

 

„Was?! Nein, das stimmt nicht!“, protestiert der Zwölfjährige sofort aufgebracht. Er will nicht wieder bei Null beginnen. „Ich hab Max wirklich nichts erzählt! Ich schwöre es, Ajax.“

 

„Hör auf es zu leugnen, Eren“, mahnt der Ältere. Ein Schatten legt sich über seine Augen. „Du kennst ja sogar seinen Namen. Wenn du schon nicht lügen kannst, dann schweig. Ist das nicht die erste Lektion des Verhörtrainings, die ich dich gelehrt habe?“

 

„Ja. Tut mir leid, Ajax“, gibt Eren kleinlaut zu. Wenn Ajax diesen Ausdruck bekommt, ist es besser gleich nachzugeben. Eren weiß, dass er einen Fehler gemacht hat, wenn auch nur einen in Ajax´ Augen. Dennoch lässt er sich in seinem Sitz zurückfallen und den Kopf schuldbewusst hängen. „Wie lautet meine Strafe?“

 

„Zusätzlich zu deinen täglichen Trainingspunkten wirst du heute Nacht Gewichte mit beiden Formen herumfliegen. Solange, bis die Sonne aufgeht. Und wehe ich erwische dich bei einer Pause“, entscheidet Ajax ohne auch nur eine Sekunde darüber nachzudenken. „Wie ich hörte, hattest du auf deiner Materialmission Schwierigkeiten damit einen Teamkollegen im Flug zu tragen. Daran müssen wir arbeiten.“

 

*Das war wohl eigentlich die Strafe von gestern für die minimale Verspätung*, denkt sich Eren und nickt akzeptierend. „Ist gut, Ajax.“

Alltag bei Familie Turano

Ajax bleibt vor dem Haupteingang des Anwesens stehen, wo ihnen sofort ein Angestellter entgegeneilt, der die Autoschlüssel übernimmt, um den Mustang in die Garage zu fahren. Eren, der noch immer deprimiert ist, folgt seinem Bruder ins Innere. In der Eingangshalle biegt Ajax Richtung Wohnzimmer ab, wo sich der Zugang zum geheimen Tunnel ins Labor befindet.

 

„Eren“, hält er den Jungen auf, der bereits die ersten Stufen hinaufgestiegen ist. „Lass keine einzige Übung aus, ja? Egal, ob wir heute schon auf einer Mission waren, dein Stundenplan bleibt der gleiche. Vielleicht finde ich Zeit später dazuzustoßen. Ich muss jetzt erst einmal Vater Bericht erstatten.“

 

„Ja, Ajax.“ Eren versucht sich die Erleichterung nicht anmerken zu lassen. Ohne Ajax wird das heute Training gleich viel entspannter werden. Immer noch anstrengend und schmerzhaft, aber nicht mehr foltermäßig schmerzhaft.

 

Unterwegs kommt er an ein paar Angestellten vorbei, die Wäsche hin und her tragen, putzen, patrouillieren und was sonst noch zu ihren Aufgaben gehört. Jeder einzelne von ihnen hält in dem was er/sie gerade tut inne, verbeugt sich leicht vor ihm und grüßt ihn mit „junger Herr Turno“. Auf halber Strecke zu seinem Zimmer kann er das Getue nicht mehr hören. Eren bleibt abrupt stehen und dreht sich um. „Hört bitte mit dem junger Herr auf. Ich hab euch schon oft gesagt, ihr könnt mich einfach Eren nennen und euch normal benehmen, nicht so künstlich unterwürfig. Das nervt.“

 

Ein paar wirken verunsichert, tauschen unschlüssige Blicke und wirken nervös. Ein älterer Herr im Anzug tritt einen Schritt vor, legt eine Hand aufs Herz und verbeugt sich leicht. „Tut uns leid, junger Herr Turano, aber das überschreitet unsere Position. Wir sind nicht befugt Sie bei Ihrem Vornamen zu nennen. Sie sind immerhin ein Mitglied der Turanofamilie und wir nur einfache Angestellte. Wir würden es niemals wagen, Ihnen respektlos gegenüber zu treten, indem wir Sie beim Vornahmen nennen, junger Herr.“

 

„Hmpf. Wie ihr meint“, grummelt Eren erschöpft von der sich immer wiederholenden Diskussion.

 

Ohne weitere Worte geht er in sein Zimmer und schließt die Tür hinter sich. Auch das wollte ihm eine Frau abnehmen, was er gerade noch so verhindern konnte. Die benehmen sich ja alle als wäre er ein hilfloses Baby, das nicht einmal eine Tür alleine öffnen kann. Oder sich sein eigenes Outfit zusammenstellen, fügt er gedanklich nach einem Blick auf die Kleiderstange neben dem Badezimmer hinzu, wo ein sauberer, gebügelter Trainingsanzug bereit liegt.

 

Wie können die es wagen?! Wie können die es wagen uns wie Babys zu behandeln?! Wir könnten jeden von ihnen mit einem Fingerschnippen töten! Warum sollten wir da keine Türen alleine öffnen können?!

 

Sie folgen nur ihren Befehlen. Sie können nichts dafür, dass unser Vater möchte, dass sie sich uns gegenüber so benehmen. Es ist eben unserem Status entsprechend. Auch wenn es sehr unangenehm ist von allen so verhätschelt zu werden.

 

„Ich hab schon zu hoffen gewagt, dass ihr verschwunden seid, weil sich niemand bei Ajax´ Vortrag zu Wort gemeldet hat“, gesteht Eren, während er dabei ist T-Shirt und Pulli auszuziehen.

 

Du wirst uns niemals los!

 

„Das befürchte ich auch“, stöhnt der Zwölfjährige. „Der Tag wird immer besser und besser.“

 

Und er ist noch nicht vorbei!

 

Nachdem er sich für das Training umgezogen und sich noch schnell einen Apfel aus der Küche gestohlen hat, er musste sogar das Frühstück heute ausfallen lassen, begibt er sich in den Speisesaal, wo bereits sein Privatlehrer auf ihn wartet. Auf dem Tisch stapeln sich Bücher über Bücher und ein Tablet. Der Professor, ein dünner, unsicher wirkender Mann, steht neben der langen Tafel. Zusammen mit der karierten Strickweste und der Brille wirkt er wie ein typischer, schlauer Nerd. Professor Blink ist wirklich überhaupt nicht selbstbewusst, aber einer der schlausten Köpfe von Haikla City, weswegen er für die weitere schulische Ausbildung ausgewählt wurde. Eren ist froh, dass er nicht mehr von der Frau unterrichtet wird, die ihm das Grundschulzeug beigebracht hat. Die hat ihn beim Sprechen immer angespuckt und Mundgeruch hatte sie auch. Fast so schlimm wie der Grobämi.

 

~~~

 

Um drei Uhr ist der Schulunterricht abgeschlossen und Eren raucht der Kopf von Integralen, chemischen Gleichungen und trockener Geschichte. Deshalb ist er ganz froh darüber, dass als nächstes ein kleiner Kampf auf dem Programm steht. Mit einem weiteren Apfel - der einzige momentan erlaubte Snack laut seinem Ernährungsplan - macht er sich auf den Weg in den Bunker.

 

Sein Halt ist das Schwimmbad, gleich neben der Sporthalle. Wie immer beobachtet er neugierig die anderen Menschen hier bei ihrem Training. Alle tragen dieselbe Trainingsuniform wie Eren. Der einzige Unterschied sind die Nummerierungen am Rücken und an der Brust, die identisch mit den Tattoos am Unterarm sind. Die Uniform besteht aus einer dunkelgrauen langen Hose mit orangefarbenen Akzenten und Nähten und einem gleichfarbigen T-Shirt. Dazu orange Handschuhe mit Klettverschluss am Handgelenk und schwarze Turnschuhe mit weißer Sohle, um ja keine Abdrücke auf dem hellen Boden zu hinterlassen. Turano hasst Dreck und Unordnung nicht nur Zuhause, sondern auch hier. Besonders hier, wo alles so penibel weiß ist.

 

Das gute am Bunker ist, dass hier niemand so übertrieben unterwürfig zu ihm ist. Niemand verbeugt sich, niemand nennt ihn junger Herr, niemand steht neben den Türen bereit, um sie ihm zu öffnen. Trotzdem merkt man deutlich, dass er eine höhere Position in der Hierarchie einnimmt. Die anderen gehen ihm aus dem Weg, lassen ihm den Vortritt und senken die Augen, wenn er sich ihnen nähert. Nur wenige sehen ihn direkt an oder wages es sein „Hallo“ zu erwidern.

 

Die Schwimmhalle ist ein großer Raum mit zwei Pools darin und je einer Sitzbank an der Wand. Ein Becken ist mit blauen Fliesen ausgekleidet, das andere mit grünen. Das grüne Becken ist noch dazu mit einem kleineren durch einen schmalen Durchgang verbunden, den ein Metallgitter versperrt. Zwei weitere Türen führen zu Umkleidekabinen und Duschen. Es riecht nach Meer und auch ein bisschen nach Fisch, vermischt mit dem typischen chlorhaltigen Hallenbadgeruch.

 

Außer einem Mädchen, das auf der Bank sitzt und Eren fast übersehen hätte, sind keine anderen Menschen hier. Das Mädchen ist ein bisschen jünger als Eren, vielleicht zehn oder elf Jahre. Sie ist dünn, hat ihre braunen Haare zu einem Dutt hochgebunden und trägt einen pinken Bikini mit einem Rock. Ein flauschiges Handtuch hängt um ihre Schultern. An ihrem Unterarm kann Eren FKM-021 und ein S darunter erkennen.

 

Irgendwie wirkt sie nicht sehr glücklich, so gedankenverloren wie sie zum hinteren Teil der Schwimmhalle sieht, dort wo das kleinere grüne Becken liegt.

 

Das ist das erstemal, dass Eren sie sieht. Ob sie neu ist? Natürlich kann sie auch schon ewig hier sein und Eren ist ihr einfach noch nicht über den Weg gelaufen. Immerhin der Bunker riesig und es leben hier sehr viele Menschen mit besonderen Fähigkeiten in Sicherheit vor der Außenwelt und deren Bewohnern, die solche wie sie nur rücksichtslos ausnutzen und benutzen wollen.

 

Als die Tür hinter Eren ins Schloss fällt und der Schlag als Echo im Raum widerhallt, schreckt die Brünette hoch. Sie springt schnell auf die Füße, taumelt kurz und wird vor Verlegenheit ganz rot im Gesicht. Mit den Fingern knetet sie die Ecke ihres Handtuchs und starrt schüchtern ihre Zehen an, die in Badeflipflops stecken. Ihr „Hallo“ ist so leise, dass Eren es ohne sein gutes Gehör vermutlich gar nicht gehört hätte.

 

„Hi“, grüßt Eren freundlich zurück. „Ich bin Eren. Bist du meine Trainingspartnerin?“

 

Das Mädchen nickt.

 

Als sie nach ein paar Sekunden immer noch kein Wort sagt, fragt der Junge weiter: „Also, wie heißt du?“

 

„Wilma“, nuschelt sie in ihren nicht vorhandenen Bart.

 

Sehr gesprächig ist die ja nicht.

 

Lass sie. Sie ist eben schüchtern.

 

Dem Jungen ist es ganz recht, dass seine Trainingspartnerin keine Quasselstrippe ist. So hat er diesen Punkt schneller abgehakt ohne Ablenkungen, die das Training in die Länge ziehen. Eren geht an Wilma vorbei in die Umkleide, um sich umzuziehen und die Reste des Apfels zu entsorgen. Wenige Minuten später sitzt er in Badeshorts am grünen Beckenrand. Das Wasser ist kalt, weshalb sein Oberkörper von einer leichten Gänsehaut überzogen ist.

 

„Fangen wir an?“, fragt Eren das Mädchen.

 

Wilma nickt zaghaft, legt das ordentlich zusammengefaltete Handtuch auf die Bank und tritt ans Becken heran. Anstatt sich wie Eren zunächst hinzusetzen, springt sie einfach kopfüber ins Wasser. Kurz darauf taucht sie wieder auf, die Wangen leicht rosig und die Augen auf die Wasseroberfläche gerichtet.

 

„Weißt du, wie lange das hier dauern soll?“ Darüber stand nämlich nichts in Erens Stundenplan. Der Zwölfjährige lässt sich komplett in den Pool sinken und schwimmt ein paar Züge in die Mitte.

 

„Herr Ajax sagte, solange Ihr die Luft anhalten könnt. Es sollen aber mindestens 30 Minuten sein, sonst bekommen Sie eine Strafe“, murmelt Wilma ans Wasser gerichtet.

 

Eren rollt leicht mit den Augen. War klar, dass Ajax dafür gesorgt hat, dass es Strafen gibt, auch wenn er selbst nicht anwesend ist. „Okay. Wegen mir kann´s losgehen.“

 

Wilma nickt, dann taucht sie auch schon ohne Luft zu holen unter. Eren dagegen atmet zuvor den Kohlendioxid aus, um anschließend tief Luft zu holen und taucht dann erst unter. Unterwasser erwartet ihn erst einmal eine ungewöhnliche Show. Wilma krümmt sich vor Schmerz, hat die Augen geschlossen und den Mund zu einem stummen Schrei geöffnet. Ihre Zähne sind spitz, wie die eines Haifischs, die Nägel sind zu Krallen geworden und ihr Körper ist komplett von kleinen rot-lilafarbenen Schuppen bedeckt. Die Beine sind verschwunden, stattdessen schlägt ein Fischschwanz durchs Wasser. Entlang ihrer kompletten Wirbelsäule bis hin zur Schwanzflosse zieht sich eine niedrige, durchsichtige Flosse.

 

*Eine Meerjungfrau?*, staunt Eren, dem im letzten Moment noch eingefallen ist, dass er den Mund besser geschlossen hält.

 

Sie ist niedlich.

 

Niedlich? Ich finde sie sieht aus wie ein zu groß geratener Fisch.

 

Wilma öffnet ihre Augen, die komplett gelb geworden sind, ohne erkennbare Sklera, mit einer schlitzförmigen Pupille. Trotzdem schimmert ihr unsicheres Wesen hindurch. Besonders als sie verlegen den Kopf wegdreht und mit zwei Schwanzschlägen zum Gittertor schwimmt, um dieses zu öffnen.

 

Eren hat schon in Büchern über übernatürliche Wesen aus Flaurana von Sirenen gelesen, aber noch nie eine live gesehen. Geschweige denn gegen eine gekämpft. In den Büchern stand nichts darüber, wie man Kräfte, wie die seinen, gegen Meerjungfrauen einsetzt.

 

Wilma schwimmt zurück in die Mitte des gut fünf Meter tiefen Beckens. Und sie ist nicht mehr allein. Ein ganzer Schwarm von Nadelfischen huscht um sie herum. Die kleinen glatten Körper schimmern silbern im Licht der Neonröhren. Ihre spitzen Schnäbel sehen schmerzhaft aus. Nach ein paar Sekunden haben sich die Nadelfische etwas beruhigt und sind bereit für den Kampf. Alle Schnäbel auf Eren gerichtet warten sie auf Befehle von Wilma.

 

„Bereit?“, möchte die Sirene wissen.

 

Eren hebt den Finger als Zeichen, sie solle noch eine Sekunde warten. Der Junge schwimmt an die Oberfläche zurück, holt noch einmal tief Luft und taucht dann wieder auf die Höhe von Wilma. Mit einem Nicken gibt er ihr das Startzeichen und macht sich bereit. Schon beginnt das Training. Nur eine kleine Handbewegung genügt und die Fische gehorchen sofort dem stummen Befehl des Mädchens. Der Schwarm rast auf Eren zu, bereit ihn mit ihren gefährlichen Schnäbeln zu durchbohren.

 

Während Wilma selbst nur im Hintergrund ihre fischige Armee lenkt, hat Eren alle Hände voll zu tun, um nicht von den Fischen getroffen zu werden. Es ist ein Ausweich- und Ausdauertraining für Unterwasserkämpfe, weshalb es Eren untersagt ist selbst anzugreifen oder seine Kräfte zur Verteidigung zu nutzen. Nur ausweichen, mehr ist verboten und wird bestraft.

 

Die nächsten 33 Minuten weicht der Junge den Fischen aus, die ihn ohne Pause von allen Seiten attackieren. Durch ihre hohe Zahl treffen ihn die Angriffe immer häufiger, je mehr Zeit vergeht. Überall an seinem Körper hat er kleine Einstiche, die zwar relativ schnell verheilen, aber dennoch schmerzhaft sind und zu ungesundem Blutverlust führen. Das Wasser hat schon bald eine leicht rote Farbe angenommen. Hinzu kommt noch der Sauerstoffmangel, der ihm immer schlimmere Kopfschmerzen bereitet bis er merkt, dass er kurz vor einer Ohnmacht steht. Da hat er das Training beendet, ist aufgetaucht und hat gierig Sauerstoff inhaliert.

 

Der nächste Punkt seines Stundenplans ist eine Reihe von gewöhnlichen Muskelübungen mit allerlei Geräten, die man auch in Fitnessstudios findet. Eren hat schon längst bemerkt, dass all seine Trainingspunkte heute so gewählt wurden, dass kein Ajax danebenstehen muss, um ihn kritisieren zu können. Am liebsten hätte er dann einfach geschwänzt, nur leider hat er entweder einen Trainingspartner oder andere heimliche Aufpasser in der Sporthalle, die sicher Ajax petzen würden, wenn er sich vor den Übungen drückt. Außerdem gibt es überall versteckte Kameras. So bleibt ihm nichts anderes übrig als mitzumachen.

Eine schwierige Frage

Nach den Fitnessübungen blieb nur noch ein Punkt übrig: Tests und Untersuchungen bei Dr. Ryu. Eigentlich hätte er nach den Blutuntersuchungen, Elektro- und Giftimunisierungsdosen und der täglichen Allgemeinuntersuchung Feierabend gehabt, aber nein, Ajax musste ihm ja unbedingt eine Strafe aufladen, die die ganze Nacht dauern soll. Und das nur, weil er … keine Ahnung weshalb!

Aber sich darüber aufzuregen bringt nichts. Es würde die Sache nur schlimmer machen.

 

„So. Dann sind wir fertig für heute“, verkündet die Ärztin, nachdem sie Erens Herz und Lunge abgehorcht hat, um sicherzugehen, dass nach der Toxinladung keine negativen Effekte zurückgeblieben sind.

 

Eren zieht sich das T-Shirt über den Kopf und gleitet vom Untersuchungstisch. „Schön wär´s. Ajax hat mir noch eine Strafe aufgebrummt.“

 

„So? Was hast du denn angestellt?“, schmunzelt sie, ohne ihre Aufräumarbeiten zu unterbrechen.

 

„Gar nichts! Ajax quält mich einfach nur gern“, behauptet Eren eingeschnappt. Bei Dr. Ryu hat er keine Angst zu sagen, was er wirklich denkt. Er vertraut ihr. Sie würde nie seiner Familie verraten, was er ihr anvertraut. Umgekehrt ist es genauso, weshalb sie sich bei ihm auch traut sich über seine Familie zu beschweren.

 

„Ja, Ajax hat eine starrsinnige Art, wenn es um deine Ausbildung geht. Da lässt er sich von niemanden reinreden. Nur leider ist er deswegen auch oft sehr streng. Zu streng, meiner Meinung nach“, gesteht Dr. Ryu mit einem merkwürdigen Unterton in der Stimme. Bevor sich Eren darüber wundern kann, räuspert sie sich, schließt die Schranktür und lehnt sich mit dem Tablet in der Hand ans Waschbecken, um ihre Ergebnisse in Erens Akte einzutragen. „Also, was ist nun deine Strafe?“

 

„Ich soll die ganze Nacht Gewichte durch die Gegend fliegen“, stöhnt der Junge jetzt schon genervt davon.

 

Mit geweckter Neugier sieht die Frau den Zwölfjährigen an. „In welcher Form?“

 

„In beiden.“ Eren leert das Glas Wasser, das ihm Dr. Ryu freundlicherweise gegeben hat, und stellt es danach auf der Ablage neben dem Waschbecken ab. „Morgen werde ich sicher meine Arme nicht mehr spüren.“

 

„Perfekt“, freut sich die Ärztin.

 

Perplex blinzelt der Junge sie an. „Perfekt? Was ist perfekt daran, dass ich meine Arme nicht mehr bewegen kann?“

 

„Was?“ Verwirrt sieht die Frau zu dem Kind, das jetzt genauso verwirrt zurück sieht. Dann scheinen die Worte erst zum Gehirn der Ärztin vorzudringen. Ein amüsiertes Lächeln erscheint auf ihren Lippen. „Nein, so war das nicht gemeint. Ich meinte: perfekt, dass du in beiden Formen trainieren musst“, erklärt sie, schnappt sich ein Maßband, das sie in die Tasche ihres Laborkittels steckt, und geht einen Schritt auf Eren zu. „Du warst mein letzter Termin für heute, das heißt, ich komme mit. Es ist schon eine Weile her, seit wir zuletzt deine Flügelspannweite gemessen haben, nicht?“

 

„Ja, kann sein.“

 

Er merkt sich solche Dinge nicht, ist aber froh über Gesellschaft. Besonders da es schon spät ist und alle anderen Menschen im Bunker in ihren Schlafräumen sind. Deshalb ist es auch gespenstisch ruhig auf dem Weg zur Trainingshalle. Nur ab und zu treffen die beiden eine patrouillierende Wache. Jeder Schritt verursacht ein hallendes Echo im Korridor, das von den Wänden zurückgeworfen wird.

 

„Na?“, durchbricht die Ärztin bald die Stille. „Willst du mir jetzt sagen, was Ajax nicht gefallen hat?“

 

„Ach, keine Ahnung. Vielleicht hat er nur schlecht geschlafen, oder so“, meint Eren, legt dabei die Hände an den Hinterkopf. Er weiß, dass er der Ärztin keine Details über Missionen erzählen darf, bei denen sie selbst nicht involviert ist. Auch wenn er selbst eh nichts über die Person im Krankenhaus weiß. „Wir waren heute auf einer Mission ...“

 

„Heute?“, unterbricht Dr. Ryu ihn überrascht. „Und das obwohl ihr vor nicht einmal 24 Stunden erst von der Eiersuche zurückkamt?“

 

„Ja. Ich bin ja schon froh, dass ich duschen durfte und ein paar Stunden schlafen“, gesteht der Junge.

 

Inzwischen haben sie ihr Ziel erreicht. Die Sporthalle ist ein großer Saal mit einer Decke, die so hoch ist, dass man problemlos umherfliegen kann. Es hängen dafür sogar Trainingsgeräte an der Decke. Neben der Eingangstür sind mehrere Regale aufgereiht mit Utensilien und Hilfsmitteln für alle möglichen Trainingsarten.

 

Eren bleibt vor ein paar Gewichten stehen, die er die nächsten Stunden herumtragen soll. Ajax hat nicht gesagt, wie schwer die Gewichte sein sollen, grinst er in sich hinein und schnappt sich zwei der leichtesten Hanteln. Wenn er so darüber nachdenkt, hat sein Bruder nicht nur über die Gewichte nichts gesagt, auch die Höhe, die Flugmanöver oder den Windtunnel hat er nicht erwähnt. Irgendwie seltsam, dass der sonst so gewissenhafte Ajax nichts davon erwähnt hat. Aber für Eren ist das gut, also beschwert er sich nicht. Als er sich mit den Zehn-Kilo-Hanteln zu der Frau umdreht, schmunzelt diese ihn wissend an.

 

„Ajax war wohl nicht sehr präzise in der Beschreibung, was?“, errät sie.

 

Zur Antwort wird Erens Grinsen noch breiter. „Ich tue genau das, was Ajax gesagt hat. Ist nicht meine Schuld, wenn er so ungenau war.“

 

„Hoffentlich findet er das nicht heraus“, sagt die Frau besorgt.

 

„Also ich werd´s ihm nicht verraten. Und du sicher auch nicht. Er wird’s nicht herausfinden“ , meint Eren überzeugt. Doch sein Lächeln weicht nach einer Sekunde einem grüblerischen Ausdruck. „Außer er sieht sich die Überwachungsbänder an.“

 

„Tja, dann lass uns hoffen, dass er nicht auf die Idee kommt“, zwinkert Dr. Ryu. Sie legt ihr Tablet ab und zieht das Maßband aus dem Kittel. „Ich bin soweit.“

 

„Welche Form zuerst?“, möchte der Junge wissen.

 

Na welche wohl? Die bessere natürlich!

 

Stimmt. Die dämonische zuerst. Jeder weiß, das beste kommt zum Schluss.

 

„Ist mir eigentlich egal. Mit welcher du anfangen willst“, entscheidet die Ärztin schulterzuckend.

 

Unabhängig von den überflüssigen Meinungen entscheidet sich Eren für die Dämonenflügel. Aus dem einfachen Grund, dass er sich dann keine Beschwerden anhören muss. Nur einen Herzschlag später bilden sich die dunklen Fledermausschwingen und seine blaue Iris färbt sich lilafarben. Die Teilverwandlungen hat er mittlerweile ganz gut drauf, im Gegensatz zu seinen anfänglichen Schwierigkeiten, die sehr … interessant aussahen.

 

Ha! Ich wusste, dass dir meine Kraft lieber ist, Kleiner!

 

Staunend verfolgt die Frau die Verwandlung. „Ich bin immer wieder fasziniert, wie vielfältig du dein Aussehen ändern kannst. Du bist wirklich etwas besonderes, Eren.“

 

„Ach, Quatsch“, winkt Eren ab und dreht den Kopf weg, um die Röte seiner Wangen zu verbergen. „Es gibt hier viele, die sich verwandeln können. Zum Beispiel Wilma.“

 

„Das mag sein, aber du bist der einzige, der zwei komplette und viele Zwischenformen hat. Du bist einzigartig“, wiederholt Dr. Ryu noch immer im Staunenmodus.

 

Verlegen kratzt sich der Junge am Hinterkopf, unsicher wie er mit der Situation umgehen soll. Er bekommt kaum Komplimente oder Lob zu hören. Eine der wenigen Dinge, die ihm Ajax nicht gelehrt hat.

 

Schleimerin.

 

Tut doch gut auch mal was Nettes zu hören.

 

Die Frau strafft die Schultern und konzentriert sich wieder auf ihr eigentliches Vorhaben. „Leg dich auf den Boden und breite die Flügel aus.“

 

Der Junge tut wie ihm geheißen. Da seine Flügelspannweite zu groß ist, um sie allein messen zu können und Erens Arme zu kurz sind, ist dies die einzige Methode, um seine Spannweite zu ermitteln. Die Frau fixiert das eine Ende des Maßbandes unter ihrem Tablet und geht dann ans andere Ende der Schwingen.

 

„Also? Was war auf der Mission“, nimmt sie das ursprüngliche Thema wieder auf.

 

Eren hat die Hände auf den Bauch gelegt und wartet. „Naja, eigentlich sollte ich aufpassen, dass niemand ins Zimmer geht und Ajax stört, aber dabei wurde ich gestört. Ein echt nervtötender Junge hat mich ohne Punkt und Komma vollgequatscht und wollte einfach nicht verschwinden.“

 

Dr. Ryu kommentiert das mit einem belustigten Kichern während sie das Ergebnis eintippt. Inzwischen setzt sich Eren auf, um die Flügel auszutauschen. Die Dämonenschwingen verschwinden, seine Augen werden für einen kurzen Moment blau bevor er die zweite Form aktiviert. Diesmal ist es weißer Rauch aus dem sich weiche, weiß gefiederte Flügel formen, die genauso wie die anderen unsichtbar mit seinem Körper verbunden sind. Seine Augen haben nun eine grüne Farbe als er sich zurücklehnt und die Flügel ausbreitet.

 

Wieder ist Dr. Ryu begeistert. „Ich mag die Form lieber. Damit siehst du freundlicher aus, nicht so bedrohlich.“

 

Danke, Dr. Ryu.

 

Hmpf.

 

„Und weiter? Du warst bei dem nervigen Jungen.“ Sie lässt einfach nicht locker.

 

„Egal was ich versucht hab, der Junge hat mich nicht in Ruhe gelassen.“ Eren schnaubt leise. „Dann ist Ajax gekommen und hat gesehen, wie ich mit dem anderen gesprochen hab, obwohl ich nur sagte, dass er verschwinden soll. Ajax dachte, ich hätte ihm irgendwelche Geheimnisse verraten – Was ich natürlich nicht getan hab! Er hat mir einen „Du brauchst keine Freunde“-Vortrag gehalten und mich zu einer Flugnacht verdonnert. Siehst du? Ich hab nichts falsch gemacht.“

 

Jetzt ist die Ärztin diejenige, die abfällig schnaubt. „Dieser Ajax! Er war schon immer so emotionslos und viel zu sehr auf Regeln fokussiert, die total sinnlos sind.“

 

„Tja, so ist mein Bruder eben“, seufzt Eren. Er kann ja doch nichts daran ändern. Außerdem hat er jetzt genug davon über Ajax zu sprechen. Er steht auf, schnappt sich die Gewichte, die er vorhin abgelegt hat und beschließt jetzt in dieser Form zu bleiben, auch wenn sich die raue Stimme sofort beschwert, was Eren mit eigenen Worten zu übertönen versucht. „Willst du nicht nach Hause gehen? Du hättest ja jetzt eigentlich frei.“

 

„Ich bleib noch ein bisschen und leiste dir Gesellschaft“, entscheidet Dr. Ryu lächelnd. Sie setzt sich auf die Bank, schlägt die Beine übereinander und rückt ihre Brille zurecht. „Außer du willst lieber allein sein.“

 

Eren zuckt mit den Schultern. „Wie du willst.“

 

Im Inneren ist er froh darüber, dass sie noch bleibt, aber das kann er nicht sagen. Es würde ihm zwar nichts ausmachen allein zu sein, aber einen netten Gesprächspartner zu haben ist selten hier im Bunker und auf dem Anwesen und auch im Familienunternehmen allgemein.

 

Um nicht noch länger zu trödeln, beginnt er mit den Schwingen zu schlagen und vom Boden abzuheben. Ganze dreißig Zentimeter! Auf dieser Höhe bleibt er.

 

„Sag mal, Dr. Ryu, wo wohnst du eigentlich?“ Eren ist gerade aufgefallen, dass er nie gesehen hat, dass sie den Bunker je verlassen hätte.

 

Überrascht von der Frage blinzelt die Frau ein paar Mal ehe sie antwortet. „Wie kommst du denn jetzt darauf?“

 

Erneut zuckt Eren mit den Schultern. „Keine Ahnung. Gefühlt wohnst du hier.“

 

Die Ärztin lächelt milde. „Ich arbeite eben sehr gern hier. Aber ich hab natürlich auch ein Privatleben. Wenn auch nur ein paar Stunden in der Woche. Ich hab eine kleine Wohnung im Zentrum von Haikla City. Willst du mich etwa mal besuchen kommen?“

 

Der Junge schüttelt den Kopf. „Ich glaub kaum, dass ich das dürfte. Ajax und Vater lassen mich doch keinen Schritt ohne ihr Wissen tun.“

 

„Das muss schwer für dich sein. So überwacht zu werden, meine ich.“ Mitfühlend sieht sie ihn an.

 

Eren überlegt einen Moment und schüttelt dann den Kopf. „Nicht wirklich. Ich kenne es nur so.“

 

Der mitfühlende Ausdruck in den braunen Augen hinter den Brillengläsern wird noch trauriger als sich Dr. Ryu etwas vorbeugt. „Sag mal, Eren, bist du eigentlich glücklich?“

 

~~~

 

Sobald am nächsten Morgen die ersten Menschen zum trainieren in die Sporthalle kommen, beendet Eren seine Strafe. Er räumt die Hanteln auf, lässt die Flügel verschwinden und schlürft durch die Gänge auf den geheimen Tunnel zu. Unterwegs rennt er mehrmals in Wachen oder andere Kräftemenschen hinein. Er hat Mühe die Augen offenzuhalten und jede Bewegung brennt in seinen Muskeln. Sogar die Flügelmuskulatur, obwohl sie gar nicht mehr da sind. Beinahe jede Minute muss er die Hand heben, um sein Gähnen zu verbergen. Von den anderen Menschen wird er seltsam gemustert, was ihn überhaupt nicht kümmert. Er will nur eins: in sein Bett.

 

Eigentlich kommt er locker ein paar Tage ohne Schlaf aus, aber die letzten vier Tage hat er kaum geschlafen, kaum eine Sekunde Freizeit gehabt, immer nur Mission oder Training. Das schlaucht mit der Zeit doch ganz schön. Noch dazu hat ihm Dr. Ryu, bevor sie dann gegen 0:30 Uhr doch nach Hause gegangen ist, eine Frage gestellt, an die er ständig denken muss.

 

Sag mal, Eren, bist du eigentlich glücklich?

 

Glücklich. Tja, wenn er das nur wüsste. Wie fühlt sich Glücklichsein an? Er kennt nur das Leben eines Erforschers, eines Diebes, eines Assassinen. Er hat ihr zwar mit einem sicheren Ja geantwortet, aber ob das stimmt, weiß er nicht.

 

Im Wagen der Einschienenbahn muss sich der Zwölfjährige tierisch anstrengen, um nicht einzuschlafen. Er nutzt die Zeit, um etwas wacher zu werden. Zumindest ein bisschen bevor er auf seine Familie trifft. Mit etwas Glück ist es noch zu früh, um jemanden zu treffen. Ein letztes Mal klopft er sich auf die Wangen, dann betritt er das Wohnzimmer. Prompt findet er sich Nase an Nase mit Ajax wieder. Natürlich. Der ältere Turano sitzt auf der Lehne der Couch und sieht seinen Bruder mit seiner typischen nichtssagenden Mimik an. Schläft er überhaupt irgendwann?

 

Eren, der sofort hellwach … nun ja, etwas wacher … ist, stellt sich kerzengerade hin. Innerlich verabschiedet er sich schon mal von seinem Bett und der Hoffnung auf ein wenig Ruhe. „Guten Morgen, Ajax.“

 

„Guten Morgen, Eren. Ich nehme an, du hast die ganze Nacht trainiert?“, erkundigt er sich ohne Umschweife.

 

Der Junge nickt. „Klar. So wie du gesagt hast.“

 

„Hast du deine Lektion gelernt?“, hakt Ajax nach.

 

„Ja, Ajax. Ich werde nie mehr mit Fremden reden, sondern sie ignorieren, um nichts ausversehen zu verraten“, rattert Eren runter. *Bitte, lass mich in mein Zimmer gehen.*

 

„Gut.“ Ajax Gesicht wirkt zufrieden. Irgendwie. So genau kann man es bei seiner Emotionslosigkeit nicht sagen. „Aber das wirst du müssen.“

 

„Hä?“ Eren steht ein großes Fragezeichen ins Gesicht geschrieben. Jetzt versteht er gar nichts mehr. Er wurde bestraft, weil er mit einem fremden Jungen geredet hat und jetzt sagt Ajax, er soll aber mit Fremden sprechen? Hat er sich verhört? Das muss es sein. Er ist so müde, dass er schon Dinge hört.

 

Ajax rutscht von der Lehne und winkt Eren hinter sich her. „Komm. Vater will dich sehen.“

 

*Oh, nein.* Das letzte Mal, als er bei Vater war, hat er eine neue Mission bekommen. Eren seufzt schwer, lässt die Schultern hängen und trottet Ajax hinterher. Bevor dieser seine Niedergeschlagenheit sehen kann, reißt sich der Junge zusammen. Auch wenn´s ihm schwer fällt.

Überraschender Verdacht

Im Büro von Benedikt Turano ist Eren froh, dass er sich auf die Armlehne des Sessels in der Ecke setzen kann, da sein Vater auf dem kleinen Sofa daneben auf sie gewartet hat. Auf dem niedrigen Tisch zwischen Sofa und den beiden Sesseln stapeln sich zwei Ordner und jede Menge Papiere. Der Mann nimmt seine Lesebrille ab, legt sie auf den Tisch und sieht freundlich lächelnd zu seinen zwei Söhnen.

 

„Guten Morgen, ihr Zwei“, begrüßt sie der Mann.

 

„Morgen, Vater“, grüßt Eren zurück als er sich auf die Sessellehne fallen lässt. Leider mit etwas zu viel Schwung, sodass er auf die Sitzfläche rutscht, woraufhin er ermahnend von Ajax von der Seite angefunkelt wird. Sofort setzt er sich ordentlich hin, um nicht schon wieder bestraft zu werden.

 

„Eren, ist alles in Ordnung? Du siehst erschöpft aus. Du bist doch nicht krank, oder?“, erkundigt sich Turano ehrlich besorgt, steht auf und befühlt die Stirn des Jungen.

 

Dieser weicht der Hand aus. „Mir geht’s gut, Vater. Ich bin nur müde. Ich hatte die ganze Nacht lang Training.“

 

„So?“ Turano kehrt an seinen Platz vor den Papieren zurück. „Dann ruh dich heute aus, ja? Wir wollen ja nicht, dass du vor Erschöpfung noch krank wirst.“

 

„Ja. Danke, Vater.“ *Endlich ein freier Tag!*, freut sich Eren. Es ist schwer nach außen hin ruhig zu bleiben, wenn er innerlich vor Freude herumhüpft.

 

Vater kann manchmal so nett und verständnisvoll sein.

 

Da stimmt was nicht. Der hat irgendwas vor. Wir bekommen nicht einfach so einen freien Tag. Sogar Ajax sagt nichts dagegen.

 

Das stimmt. Eren findet es auch merkwürdig, dass er dem zustimmt. Verstohlen wirft der Junge einen Seitenblick zu seinem Bruder, der im anderen Sessel sitzt und die Aufmerksamkeit auf Turano gerichtet hat. Er lässt sich nichts anmerken. Dennoch ist die Freude über den freien Tag zu groß, um sie von den Bedenken der Dämonenstimme trüben zu lassen.

 

„Eren“, zieht Benedikt die Aufmerksamkeit seines jüngeren Sohnes auf sich. „Ajax hat mir berichtet, dass du dich gestern im Krankenhaus mit einem Jungen unterhalten hast.“

 

Oh je. Wird er jetzt nochmal bestraft? Nervös beginnt sein Fuß zu zucken, was die beiden Dank des Tisches nicht sehen. „Ja. Und es tut mir leid!“, versichert er schnell. „Es kommt nicht wieder vor.“

 

„Es tut dir leid?“ Turano wirkt überrascht. „Nein, mein Junge, das war gut so.“

 

„Ach ja?“ Okay, jetzt ist Eren noch verwirrter. Wenn es gut war, wieso wurde er dann bestraft?

 

„Der Junge“, fährt der Firmenchef fort, beugt sich dabei etwas nach vorne, „wir glauben er könnte auch einer mit besonderen Fähigkeiten sein.“

 

Erens Gesichtszüge entgleisen. Sein müdes Gehirn braucht ein Weilchen, um die Information zu verarbeiten. Dieser Fremde, Max, soll einer von ihnen sein? Er hat mit ihm gesprochen und nichts dergleichen bemerkt. Hat er nur nicht richtig hingesehen, weil er keinen Ärger mit Ajax wollte – was nebenbei bemerkt prima geklappt hat (Sarkasmus Ende) – oder hat Max seine Fähigkeiten einfach gut verborgen?

 

„Max soll Kräfte besitzen?“, fragt der Zwölfjährige ungläubig nach. „Ich hab nichts bemerkt. Wie kommt ihr drauf?“

 

„Es ist nur so ein Gefühl“, antwortet Ajax vage.

 

Eine bessere Antwort kann Eren wohl nicht erwarten. „Und was jetzt? Wenn er einer von uns ist, müssen wir ihn hierher in Sicherheit bringen.“

 

„Genau deswegen bist du hier, Eren“, enthüllt Turano endlich, weshalb der Junge Schlafmangel leiden muss. „Wir sind uns noch nicht zu hundert Prozent sicher, ob er tatsächlich Kräfte besitzt. Das müssen wir erst herausfinden, bevor wir ihn in unser Versteck einladen.“

 

Eren nickt verstehend, während er versucht ein Gähnen zu verbergen.

 

Turano nimmt eine der Akten aus dem oberen Ordner, öffnet sie und blättert die Papiere darin durch. „Deshalb wird dein nächster Auftrag sein, genau das herauszufinden.“

 

„Immerhin hast du schon Kontakt zu dem Jungen aufgenommen. Wenn auch unabsichtlich.“ Den letzten Satz betont sein Bruder wie eine Warnung, die nur Eren bemerkt. Der Vater lässt sich zumindest nichts anmerken.

 

Der Junge runzelt die Stirn. „Und wie soll ich das anstellen? Ihn einfach fragen kommt ja nicht in Frage.“

 

„Nein. Du musst subtil vorgehen. Er soll ja nichts bemerken, wenn er doch nur ein gewöhnlicher Mensch ist.“ Ajax hat echt ein Talent dafür zu antworten, ohne zu antworten.

 

„Und was dann? Soll ich ihn ausspionieren?“ Eren hat gerade keine Geduld für lange Fragespielchen. Spionagemissionen hat er schon ein etliche Male erledigt, nicht oft, aber oft genug, um sicher zu sein, dass er ein Kind ausspionieren kann, ohne aufzufliegen. Das kann ja nicht schwerer sein als einem korrupten Polizisten zu folgen.

 

„Ganz genau“, bestätigt Ajax.

 

„Doch damit du nicht so leicht auffällst, wirst du dich in sein Leben einschleichen. Immerhin sind wir in Haikla City, da müssen wir anders an die Sache rangehen“, erläutert Turano genauer und reicht ein paar Fotos an den Jungen weiter.

 

Neugierig nimmt Eren die Bilder an sich. Auf dem ersten ist ein Schulgebäude abgebildet: die Haikla City Middle School. Eren ist schon öfter an ihr vorbeigefahren. Jedes Mal hat er sich gefragt, wie es wohl ist in eine Schule zu gehen und mit Gleichaltrigen Dinge zu lernen und Zeit zu verbringen. Auf dem nächsten Foto ist eine Gruppe Schüler vor der Schule zu sehen. Eren entdeckt den Blondschopf von Max zwischen ihnen. Auch auf dem dritten und vierten Bild ist Max abgebildet. Einmal wie er mit drei anderen Jungs und Mädchen vor einer Bäckerei steht und das andere Mal sieht man ihn in einem gelben Schulbus sitzen.

 

„Ihr habt ihn schon beobachtet“, schlussfolgert Eren.

 

*Deshalb hatte Ajax gestern keine Zeit für´s Training*, mutmaßt er weiter als er die Fotos seinem Vater zurückgibt. Er versteht nur immer noch nicht, was er jetzt bei diesem Auftrag tun soll. Wenn es um Beschatten allein gehen würde, wäre Ajax um Welten besser geeignet. Mit seiner Fähigkeit sein Aussehen zu ändern, könnte er Max spielend leicht ausspionieren.

 

„Ja, nur leider bisher ohne überzeugenden Beweis. Deshalb wird es jetzt zu deiner Aufgabe.“ Turano verstaut die Fotos ordentlich in der Akte bevor er seinen Sohn eindringlich ansieht und fortfährt: „Du wirst die Schule von Max besuchen. Ich hab meine Kontakte spielen lassen, sodass du sofort am Montag anfangen kannst. Du kommst auch in seine Klasse, glücklicherweise ist er genauso alt wie du, noch ein Grund, weshalb du die perfekte Wahl für diese Aufgabe bist. Versuch dich mit ihm anzufreunden und herauszufinden ob und welche Fähigkeiten er besitzt. Wenn er tatsächlich einer von uns ist, müssen wir ihn in den Bunker bringen.“

 

Erens Verstand ist an einem Wort hängen geblieben: Schule. Ab Montag ist er ein Schüler einer echten, normalen Schule. Er kommt in eine Klasse mit lauter Gleichaltrigen. Und das beste, er soll sich sogar mit jemanden anfreunden! Auch wenn es nur dieser nervige Junge ist und auch nur zum Schein. Aber egal, ab Montag geht er in eine Schule! Er kann sich ein fassungsloses Grinsen, das ziemlich verrutscht wirkt, nur schwer verkneifen. Vergessen ist die Müdigkeit und der Muskelkater.

 

~~~

 

Wie versprochen durfte sich Eren den restlichen Tag ausruhen, wobei er die meiste Zeit Schlaf nachgeholt hat. Dazwischen hat er sich das Gehirn zerbrochen. Seine hibbelige Vorfreude auf Montag ist groß und so ist er die meiste wache Zeit von einer Ecke seines Zimmers zur nächsten gewandert, hat über beide Ohren gegrinst und sich ausgemalt wie das alles wohl werden wird. Zwischendurch hat sich auch Sorge in seine Gedanken geschlichen. Wenn er nicht rechtzeitig herausfindet, ob Max tatsächlich wie er ist, könnte ihm etwas schlimmes passieren. Die Welt ist nicht sicher für besondere Menschen mit Fähigkeiten. Es gibt genügend Kriminelle, die solche Menschen ausnutzen und benutzen würden. Sollte Max so wie er sein, muss er ihn vor diesen Leuten retten. Im Bunker wäre er sicher, unter Gleichgesinnten.

 

Das restliche Wochenende verläuft wieder wie gewohnt: Training, Privatunterricht, Untersuchungen und Test. Hinzugekommen sind Lektionen und mehr oder weniger hilfreiche Tipps von Ajax, um den Auftrag erfolgreich abschließen zu können.

 

Den Sonntag haben Eren und Ajax größtenteils damit verbracht, so viel von Erens Kräften wie möglich einzusetzen, um die farbigen Armreife zu schmälern. Hauptsächlich bestanden die Übungen darin, dass der Junge kleine Schattenkugeln auf Felsbrocken in Flaurana schleudern musste. Sie mussten viele Felsbrocken finden. Die andere Seite in ihm wurde durch Nutzen der Heilkräfte verkleinert. Wie jedes Mal. Ajax hat seinem Bruder immer wieder Wunden mit einem Dolch zugefügt bis der weiße Reif nur noch eine dünne Linie war und Eren blutüberströmt. Nicht zum ersten Mal hat Eren das Gefühl, dass es Ajax Spaß macht ihm Wunden zuzufügen.

 

Ach, Quatsch. Ajax ist sein großer Bruder und will nur das Beste für ihn. Er würde ihm nie grundlos schaden wollen. Auf diese Art schrumpft die Engelseite eben am schnellsten. Das ist alles.

 

Inzwischen wurde von den Angestellten des Anwesens alles besorgt, was er in der Schule brauchen wird, vom Rucksack über die Schulbücher bis hin zum Stundenplan, den ihm die Schule noch am selben Tag sofort zugeschickt hat.

 

Eren ist bereit für Montag. So bereit, dass er Sonntag nicht einschlafen kann und gerade am eindösen war, als auch schon sein Wecker lauthals klingelt.

 

~~~

 

Schlaftrunken schaltet Eren den Wecker aus, rollt sich auf die Seite und schließt die Augen. Er ist viel zu müde, um jetzt schon ans Aufstehen zu denken. Dann lässt er eben mal wieder das Frühstück vor dem Training aus. Wäre nicht das erste mal. Duschen kann er auch später, er schwitzt ja doch nur wieder. Aber war heute nicht irgendetwas anderes? Ach, womöglich nur ein neuer Trainingsplan oder so. Brummend zieht er sich die Decke über den Kopf. Dennoch lässt ihn das Gefühl nicht los, etwas Wichtiges vergessen zu haben.

 

Steh auf, du Faulpelz!

 

Du kommst noch zu spät zur Schule.

 

Schule? Der Privatlehrer wartet eh auf ihn. Der wird schließlich bezahlt, egal ob Eren anwesend ist oder nicht.

 

Willst du gleich an deinem ersten Tag zu spät kommen?

 

Ajax hat sich sicher schon eine Strafe dafür ausgedacht. Ein fieses Lachen folgt.

 

Was haben die Stimmen nur heute mit der Schule? … Schule .... Ach ja! Schule!

 

Sofort hellwach strampelt der Zwölfjährige die Decke von sich und springt aus dem Bett. Seine Füße verheddern sich dabei in der Bettdecke, weshalb er unelegant auf den Boden klatscht und Blut im Mund schmeckt. Er hat sich auf die Zunge gebissen. Ganz toller Start. Fluchend befreit er seine Beine und flitzt ins Badezimmer. In neuem Rekordtempo hüpft er in die Dusche, putzt die Zähne, zieht sich an und kämmt die Haare.

 

Als er zehn Minuten später sein Zimmer verlässt, ist die Zunge wieder verheilt, sodass er schmerzfrei frühstücken kann. Doch als er die Treppe hinunter hüpft und den Speisesaal betritt, wartet schon Ajax mit einer Planänderung auf ihn. Schnell reißt er sich zusammen und stellt sich aufrecht hin.

 

„Guten Morgen, Ajax“, wünscht er seinem Bruder, hat die Augen jedoch auf den ernüchternd leeren Tisch hinter ihm gerichtet. Enttäuscht sinken seine Mundwinkel etwas nach unten. Es gibt also kein Frühstück an Schultagen?

 

„Guten Morgen, Eren.“ Ajax geht auf den Jungen zu, die Hände hinter den Rücken gelegt. „Zeig mir deine Male.“

 

Eren zieht die Ärmel zurück und streckt ihm die Arme entgegen. Beide Male sind etwa zwei, drei Millimeter breit und weisen weder die Wellen- noch die ausgefransten Ränder auf. So klein sind die Armreife selten.

 

Ajax sind sie offenbar nicht klein genug. „Vor dem Frühstück werden wir nochmal trainieren. Wir wollen ja nicht, dass jemand sie gleich an deinem ersten Tag sieht. Komm mit.“

 

Mit einem stummen Seufzer trottet Eren seinem großen Bruder hinterher in den Garten. Zumindest bedeutet das, dass er doch frühstücken darf. Ohne Jacke ist es so früh ziemlich kalt, es ist schließlich Ende Oktober. Da der Himmel von einer grauen Wolkendecke bedeckt ist, fühlt es sich noch kälter an. Wie gut, dass Eren kalte Temperaturen locker wegstecken kann.

 

Ajax führt ihn ein Stückchen von der großen Terrasse weg zu einer Reihe von Zielscheiben in unterschiedlichen Ausführungen und Formen, von der typischen runden bis hin zu Menschenattrappen und beweglichen ist alles dabei. Also soll er nur ein paar Pfeile abschießen? Das sollte nicht lange dauern.

 

Bei einem Mann in Uniform, der bei der Standlinie wartet und zittert, bleiben die Brüder stehen. Ajax nimmt wortlos den Bogen von der Wache an und reicht ihn an Eren weiter, dann schickt er den Wachmann weg, der sich sogleich froh darüber zurück ins Haus gehen zu dürfen, davonmacht.

 

„Schieß solange bis das Mal nicht breiter als ein Millimeter ist“, weist Ajax den Jüngeren an und fügt hinzu: „Nur mit den schwarzen Pfeilen.“

 

„Okay.“ Eren hebt den Bogen an und legt gleich einen Pfeil an die Sehne. So langsam befürchtet er tatsächlich zu spät zu kommen. Er bräuchte die extra Schmälerung nicht. Die Ärmel der schwarzen Sweatshirtjacke würden sie auch dann noch komplett verbergen, wenn sie etwas größer wären. Und falls nicht, könnte er einfach die Ärmel bis zum Daumenloch vorziehen und fertig. Manchmal ist Ajax zu … perfektionistisch vorsichtig und besorgt?

 

Der Junge stellt sich im Abstand von gut hundert Metern zu den Zielen auf und hebt den Bogen an. Er sucht und findet die dämonische Kraft in sich, die er weiter in den Pfeil leitet. Als Folge wird das Blau seiner Augen zu einem dunklen Lila und der gewöhnliche Holzpfeil hüllt sich in dunklen Rauch. Als sich dieser lichtet hat sich der Pfeil verändert: komplett schwarz mit einer vierteiligen, mit Widerhaken verzierten Spitze in Rot und einer Feder, die wie lebendes Feuer wirkt. Es ist anstrengend Waffen umzuwandeln damit sie schneller, stärker und zielsicherer werden, aber das ist genau das Ziel dieser Übung.

 

Eren hebt den linken Arm und spannt die Sehne bis zur Wange. Von dem Moment an, in dem Eren die Sehne loslässt bis der Pfeil in der Mitte der ersten Zielscheibe einschlägt, vergeht nicht mal ein Herzschlag. Die Spitze bohrt sich genau zentrisch ins Ziel tief ein. Nach zehn Pfeilen kontrolliert Ajax erneut die schwarze Färbung, die jetzt nur noch ein dünner Strich ist. Auch die Stimme ist nun vollständig verstummt. Leider bleibt das nicht so. Sobald die Dämonenseite wieder an Kraft gewinnt, kehrt auch die aufdringliche Stimme zurück.

 

Ajax ist zufrieden.

 

Jetzt fehlt noch die helle Seite. Normaldenkende Menschen würden jetzt vermutlich einfach die gleiche Übung mit der Engelvariante durchführen. Nicht Ajax. Er findet es wirkungsvoller seinem kleinen Bruder in den Oberkörper zu stechen und die Wunden heilen zu lassen bis auch die zweite Stimme verschwindet. Bei jedem Stich krümmt sich Eren leicht zusammen vor Schmerz, den er weitestgehend unterdrücken muss oder er bekommt noch einen Dolchstoß verpasst. Kurz darauf ist seine Kleidung durchtränkt von Blut.

 

*Da hat sich das Duschen heute Morgen ja richtig gelohnt*, denkt er sarkastisch während er versucht die Schmerzen in seinem Bauch auszublenden. Vielleicht stimmt seine Vermutung ja doch: Ajax hat Spaß daran ihn zu erstechen.

 

Gerade als Ajax den Dolch ein weiteres Mal zwischen die Rippen des Kindes jagt, nachdem er beschlossen hat, dass die Färbung seiner Meinung nach noch zu groß ist, taucht Benedikt Turano an der Brüstung auf, die die Terrasse umgibt. Der Mann lehnt sich mit einer Tasse in der Hand dagegen und verzieht das Gesicht als sein jüngerer Sohn Blut spuckt.

 

„Guten Morgen, ihr Zwei. Beginnt heute für Eren nicht die Schule?“, erkundigt sich Turano, der den Anblick von Blut kaum erträgt, deshalb den Kopf abwendet und stattdessen den Wind in den vom Herbst bunt gefärbten Bäumen beobachtet.

 

Eren nutzt die Ablenkung um all das Blut in seinen Lungen auszuhusten. Auch wenn seine Verletzungen extrem schnell heilen, schmerzen sie dennoch so wie bei normalen Menschen. Natürlich kann er das locker wegstecken! Reden ihm Ajax und sein Vater zumindest ein.

 

„Guten Morgen, Vater. Ja, hat er, aber wir versuchen noch seine Male zu verkleinern, damit sie niemand sieht“, erklärt der ältere Sohn so, als wäre es völlig normal deswegen seinen kleinen Bruder zu erstechen.

 

„Ich denke, das reicht jetzt, Ajax“, entscheidet der Vater und nippt an seinem Kaffee. „Eren soll doch an seinem ersten Tag nicht zu spät kommen. Geh dich umziehen, Eren, und komm dann gleich zum Auto. Es ist schon kurz vor halb Acht.“

 

„Ja, Vater.“ Die Stimme des Jungen klingt rau. Er hustet noch einmal und macht sich dann auf den Weg ins Haus, um sich zum zweiten Mal für die Schule fertigzumachen.

Schule, neu und seltsam

Als Eren eine knappe halbe Stunde später im Auto sitzt, das in den Parkplatz vor der Schule einbiegt, sind die Wunden soweit verheilt, dass sie nicht mehr zu sehen sind. Netterweise hat ihm sein Vater ein kleines Sandwich mit auf den Weg gegeben, sodass er doch nicht ohne Frühstück in den Unterricht muss. Das wäre echt peinlich gewesen, wenn er an seinem ersten Tag durch lautes Magenknurren aufgefallen wäre.

 

Aufmerksam beobachtet er das Treiben vor der Schule. Autos parken ein und aus, Schulbusse fahren vor, Schüler steigen aus, tummeln sich auf dem Hof vor dem Gebäude, bilden Grüppchen oder bahnen sich einfach nur einen Weg in die Schule hinein. Alles ist so durcheinander, so interessant, so neu. Eren weiß gar nicht wo er zuerst hinsehen soll.

 

Beim Anblick der ganzen neuen Situation mildert sich seine Vorfreude etwas, dafür steigen Zweifel in ihm auf, ob das wirklich so eine gute Idee ist. Er hat keine Ahnung wie er sich in einer Schule benehmen soll. Gibt es da auch so viele Regeln wie bei ihm Zuhause? Was ist, wenn er etwas Peinliches anstellt und dann den Namen Turano blamiert? Oder wenn er seine Mission vergeigt? Er hat noch immer keinen blassen Schimmer wie er Max dazu bringen soll ihm zu verraten, dass er Kräfte hat. Wenn er denn Kräfte hat. Er darf auf keinen Fall versagen oder den Ruf seiner Familie schaden! Sein Hals ist plötzlich ganz trocken und seine Finger klammern sich um die Tragegurte seines Rucksacks. Hoffentlich geht alles gut.

 

Eren schüttelt einmal den Kopf, um die negativen Gedanken zu vertreiben. Er darf jetzt nicht zweifeln, er muss konzentriert bleiben. Das wird schon werden. Er hat schon wesentlich schlimmere Situationen gemeistert und Kreaturen getötet, von denen niemand hier überhaupt weiß, dass sie existieren! Da wird er doch mit einem gewöhnlichen Schultag fertig. Wäre doch gelacht!

 

Ajax parkt den Wagen, stellt den Motor ab und dreht sich zu Eren um. Natürlich kommt jetzt noch Ajax´ berühmter letzter Vortrag bevor der Junge aussteigen darf. „Bereit, Eren?“

 

„Klar“, versichert der Zwölfjährige möglichst überzeugend. Eine Hand bereits am Türgriff. Eine Predigt erträgt er jetzt nicht. Er ist so schon nervös genug, auch ohne dass Ajax ihn noch zusätzlich unter Druck setzt.

 

Ajax mustert ihn forschend. „Versuch nicht zu sehr aufzufallen. Halt dich erst mal zurück, bis du dich eingewöhnt hast. Ich hol dich später wieder hier ab.“

 

„Danke, Ajax. Bis dann“, verabschiedet sich Eren, irritiert von der eigentlich netten Fürsorge seines Bruders. Für Ajax` Verhältnisse zumindest.

 

„Eren“, hält der Ältere ihn doch noch auf. In ernster Tonlage erinnert er ihn: „Denk daran: es ist nur ein Auftrag, keine echte Freundschaft. Freunde sind nichts weiter als ...“

 

„... als Schwäche und Ablenkung“, vollendet Eren automatisch den Satz. „Ja, ich weiß. Ich werd´s nicht vergessen. Hab ich je versagt?“

 

Bevor sein großer Bruder noch etwas sagen kann, steigt Eren aus und schlägt die Autotür hinter sich zu. Mit der Schultasche am Rücken bahnt er sich einen Weg über den Parkplatz. Da es nur noch wenige Minuten bis zum Schulbeginn sind, sind die meisten Schüler im Inneren verschwunden. Lediglich ein paar Nachzügler lungern noch vor der Schule herum. Eren schenkt ihnen keinerlei Beachtung als er die Stufen zum Haupteingang erklimmt, über dem in riesigen Buchstaben „Haikla City Middle School“ geschrieben steht, und durch die Doppeltür tritt.

 

Die Gänge vor ihm sind fast genauso leer, dafür ist der Geräuschpegel höher. Der Boden ist mit weißen, gelben und grünen Fliesen und verlorenem oder weggeworfenem Papier und Verpackungsmüll gesprenkelt. Obwohl Mülleimer rumstehen. Eren rümpft darüber nur die Nase. Entlang der grün gestrichenen Wände reihen sich Spintschränke an Vitrinen mit Fotos und Auszeichnungen in den unterschiedlichsten Bereichen.

 

Was Eren aber eigentlich sucht, findet er nicht: einen Plan oder irgendwelche Schilder, die ihm sagen, wo das Sekretariat zu finden ist. Steht vielleicht etwas auf dem Zettel, den ihm sein Vater noch in die Hand gedrückt hat? Besagtes Stück Papier kramt er aus der Jackentasche hervor, entfaltet es und überfliegt die wenigen Zeilen. Leider Fehlanzeige, der Zettel sagt ihm nur, dass er sich vor Schulbeginn im Sekretariat bei Direktor Kruz melden soll.

 

Wie auf Stichwort hallt der schrille Ton der Schulglocke durch die Gänge, lässt den Jungen zusammenzucken und ein hektisches Gewusel der verbliebenen Schüler entstehen. Die Klingel verkündet nicht nur den Beginn des Unterrichts, sondern auch das Zuspätkommen von Eren. Das war´s dann wohl mit dem guten ersten Eindruck. Aber es ist nicht seine Schuld. Hätte Ajax auf das überflüssige Training verzichtet und wäre das Sekretariat ausgeschildert, wäre er pünktlich gewesen und könnte schon im richtigen Klassenzimmer hocken.

 

Seufzend steckt er den Zettel zurück in die Tasche und marschiert einfach los. Irgendwie wird er es schon finden oder zumindest jemandem über den Weg laufen, der ihm helfen kann. Auf letzteres muss er gar nicht lange warten. Eine Lehrerin, vielleicht Ende Dreißig, biegt gerade um die Ecke. In einer Hand hält sie eine große Tasche, in der anderen zwei Ordner. Die Brünette stöckelt auf ihn zu und lächelt ihn freundlich an. „Guten Morgen.“

 

„Guten Morgen“, erwidert der Zwölfjährige und fügt schnell hinzu, bevor sie an ihm vorbei ist: „Könnten Sie mir bitte sagen, wo ich das Sekretariat finde?“

 

„Natürlich.“ Die Frau verlagert die Ordner in den anderen Arm, um eine Hand freizuhaben. Mit der deutet sie zurück zum Haupteingang. „Geh dort vorne nach links und dann immer geradeaus bis zur Treppe. Das Sekretariat liegt genau daneben.“

 

*Dann hätte ich mich praktisch erst mal richtig verlaufen.* Er hat sich noch nie verlaufen. Okay, dass er auch noch nie allein an einem fremden Ort war, hat sicher auch was damit zu tun.

 

„Vielen Dank“, bedankt er sich und wendet sich erneut dem Eingang zu.

 

Diesmal ist er es, der von der Lehrerin aufgehalten wird. „Du bist neu hier, oder?“

 

„Ja. Heute ist mein erster Tag“, antwortet Eren.

 

„Ah, dann musst du mein neuer Schüler sein, von dem mir Direktor Kruz heute Morgen erzählt hat. Ich heiße Frau Parker und werde deine Klassenleiterin sein“, stellt sie sich vor. „Wir werden uns also bald wieder sehen.“ Mit diesen Worten geht sie an ihm vorbei, um mit einem „guten Morgen, Klasse“ das Zimmer zu betreten.

 

Dank der Beschreibung findet Eren das Sekretariat ohne weitere Probleme. Da die Tür offen steht, geht er einfach hinein.

 

„Guten Morgen“, grüßt Eren den Mann hinter dem Schreibtisch. „Ich soll mich bei Herrn Kruz melden.“

 

„Was hast du schon so früh am Morgen verbrochen?“

 

Unsicher ob er sich verhört hat, bleibt der Junge stehen und blinzelt. „Äh?“

 

„Jetzt mach den Mund auf und hör auf zu stottern“, meckert der Sekretär, schiebt die Brille höher und mustern ihn abschätzend. „Jeder, der zum Direktor geschickt wird, hat etwas angestellt. Geschummelt, geprügelt, Schuleigentum zerstört … Also, was hast du verbrochen? Ich frag nicht noch einmal.“

 

Perplex starrt Eren ihn einfach nur an. Mit so einer Begrüßung hat er ganz und gar nicht gerechnet. Verbrochen hat er noch gar nichts. Außer vielleicht, dass er etwas zu spät ist.

 

„Phil, sei nett zu unserem neuen Schüler“, mischt sich eine raue Stimme ein.

 

Im Türrahmen zum Nebenraum mit der Aufschrift „Direktorat“ ist ein älterer Herr mit weißhaariger Halbglatze, einem faltigen Gesicht und einem altmodischen Anzug aufgetaucht. Seine Augen verschwinden fast unter buschigen Augenbrauen. Dennoch hat er eine wesentlich freundlichere Aura als Phil.

 

„Du bist bestimmt Eren Turano, oder?“

 

„Ja, Sir.“

 

„Freut mich. Ich bin Direktor Kruz. Bitte, komm rein“, lädt Kruz den Jungen in sein Büro ein.

 

Sobald die Tür hinter den beiden ins Schloss fällt, geht der Direkt zu seinem Schreibtisch, während Eren im Raum stehen bleibt und sich umsieht. Es ist ein typisches Büro: Schreibtisch, Computer, Akten, Ordner, Papiere. Es sind jedoch ein paar persönliche Dinge zu finden, wie Familienfotos, Pflanzen oder kleine Figuren von Meeresbewohnern, die dem Raum einen persönlichen Touch geben.

 

„Zunächst einmal möchte ich mich noch einmal für die großzügige Spende deines Vaters bedanken. Ich versichere dir, wir werden das Geld gut investieren. Richte ihm das bitte aus, ja?“, beginnt der Mann ohne das Papierkramen zu unterbrechen.

 

„Okay, mach ich.“ Somit ist das Rätsel auch gelöst, weshalb er so schnell in die Wunschklasse eingeschrieben werden konnte. Bestechung. Pure Bestechung. Typisch sein Vater. Er regelt alles mit seinem Geld oder lässt es von seinen Angestellten erledigen.

 

„Danke. Den Papierkram hab ich schon mit deinem Vater erledigt. Dann sind wir eigentlich auch schon fertig. Stundenplan, Sportuniform und die Schulbücher hast du schon, soweit ich weiß?“ Fragend sieht Kruz zu Eren. Dieser nickt bejahend. „Gut, gut. Dann bekommst du von mir noch deinen Schülerausweis, mit dem kannst du dir gratis Mittagessen in der Schulcafeteria holen und Bücher aus der Bücherei ausleihen. Außerdem hab ich hier noch den Code für dein Schließfach und einen Raumplan der Schule.“

 

Alle drei Zettel nimmt Eren vom Direktor an. „Klasse. Ich hab mich vorhin schon verlaufen.“

 

„Ja, ich weiß“, muss der Mann verlegen zugeben. „Wir hatten mal Schilder und Wegweiser, aber die sind entweder so alt, dass man sie nicht mehr lesen kann oder nicht mehr stimmen. Oder sie wurden mit Plakaten überklebt.“

 

Die Schule scheint ziemlich runtergekommen zu sein. Es muss seinem Vater und Ajax viel Überwindung gekostet haben, ihn hierher zu schicken. Schließlich könnte schon allein die Wahl der Schule dem Ruf der Turanos schaden. Diese Mission muss echt wichtig sein. Und wenn sich schließlich herausstellt, dass Max ein gewöhnlicher Mensch ist, war alles umsonst.

 

Herr Kruz räuspert sich kurz. „Wie dem auch sei, deine Klassenleitung wird Frau Parker sein. Wenn du noch irgendwelche Fragen hast oder sonst irgendetwas ist, kannst du dich jederzeit bei mir oder auch bei Frau Parker melden.“

 

„Danke, Herr Kruz.“ Wieso nur hat er das Gefühl, als würde sich der Direktor bei ihm einschleimen wollen? Will er noch mehr Spendengeld? Das kann er vergessen. So großzügig ist sein Vater nicht.

 

„Nichts zu danken“, winkt der Mann ab. „So, dann bringen wir dich gleich ins Klassenzimmer, damit du nicht noch mehr Unterricht verpasst.“

 

Zurück im Sekretariat wird Eren noch immer finster von Phil angefunkelt. *Was ist dem sein Problem? Der ist ja noch mieser drauf als Viktor.*

 

Direktor Kruz scheint Erens Gedanken zu erraten. „Bitte entschuldige Phils Verhalten. Er ist immer zu jedem so.“

 

Mittlerweile ist es gespenstisch still und verlassen in den Gängen, lediglich gedämpftes Gemurmel dringt aus den Klassenzimmern. Auf dem Weg fängt Kruz an irgendwelche Dinge über die Schule zu erzählen: Sportveranstaltungen, Wahlfächer, Schulausflüge … Eren hört nur mit einem Ohr zu, obwohl es ihn interessiert. Er bezweifelt ganz einfach, dass ihn sein Vater bei außerschulischen Aktivitäten mitmachen lässt. Außer es dient der Mission.

 

Je näher sie dem Klassenzimmer kommen, umso nervöser wird der Zwölfjährige. Das verwirrt ihn. Wieso ist er so nervös? Es gibt keinen Grund nervös zu sein. Er ist nur das erste Mal in einer Schule, lernt gleich einen ganzen Raum voller Gleichaltriger kennen und soll sich mit einem Jungen anfreunden. Keine große Sache. Und dennoch hat er einen Krampf im Magen und eine trockene Kehle. Von außen lässt er sich natürlich nichts anmerken.

 

„So, da wären wir. Das ist dein Klassenzimmer.“ Direktor Kruz klopft an die Tür und öffnet diese nach einem „Herein“. Noch einmal tief durchatmen, dann folgt Eren ihm.

Der Neue

Das Klassenzimmer ist anders wie Eren es sich vorgestellt hat. Hier sieht es nicht annähernd so ordentlich und geordnet aus, wie beim Unterricht Zuhause. Die Tische sind in vier Reihen mit je vier Tischen und einem Gang in der Mitte aufgestellt. Überall liegen Papierschnipsel, Stifte, Scheren und Klebestifte herum. Nur die wenigsten Schüler sitzen auf ihren Plätzen oder überhaupt auf einem Stuhl. Viele stehen in Grüppchen zusammen, haben es sich auf den Tischen gemütlich gemacht oder sogar auf dem Boden! Doch dafür reden sie erstaunlicherweise in Zimmerlautstärke miteinander.

 

Überrumpelt von so viel Chaos bleibt Eren im Türrahmen stehen. Ist das wirklich eine Schulklasse? Er kommt sich vor, als wäre er in einer Bastelwerkstatt gelandet. Einer Bastelwerkstatt für Kleinkinder. Doch das ist nicht das einzige, was ihn beunruhigt. Er entdeckt zwar unter all den Kindern, die ihn neugierig und interessiert mustern, den ein oder anderen Blondschopf, aber nicht den Blondschopf, nach dem er sucht. Hat sich sein Vater geirrt? Ist das die falsche Klasse?

 

„Hallo, Frau Parker“, grüßt der Direktor, gekonnt das Chaos ignorierend. „Ich hab Ihnen den neuen Schüler mitgebracht. Sein Name ist Eren Turano.“

 

Zumindest die Frau, die auf sie zukommt, scheint die richtige zu sein. Wie bereits im Flur lächelt sie Eren strahlend an. „Hallo, nochmal.“

 

„Ah, ich kennt euch bereits?“, möchte der Direktor verwundert wissen und sieht von Eren zu Frau Parker.

 

„Ja. Wir haben uns vorhin im Gang getroffen, als er das Sekretariat gesucht hat“, erklärt die Lehrerin.

 

„Gut, gut. Dann muss ich ja gar nicht mehr viel dazu sagen.“ Der Mann, der nicht das kleinste bisschen überrascht über den unkonventionellen Unterricht zu sein scheint, wendet sich nun an Eren. „Nochmal herzlich Willkommen an unserer Schule.“

 

Bevor Eren einen Ton herausbringt, wenn er denn gekonnt hätte, drückt sich Kruz an ihm vorbei und lässt den überforderten Jungen stehen. Und was jetzt? Zuhause hat ihn niemand auf so etwas vorbereitet. Auf Unterricht, ja, aber nicht auf Bastelstunden.

 

„Du brauchst keine Angst zu haben, Eren. Du wirst dich sicher schnell eingewöhnen“, versichert die Lehrerin überzeugt.

 

*Ich hab keine Angst. Ich bin nur überrascht*, verteidigt sich Eren stumm.

 

„Kannst du mit einer Schere umgehen?“

 

„Äh … ja?“ *Hält sie mich für blöd?* Von Sekunde zu Sekunde findet er die Schule skurriler.

 

„Super. Dann schnapp dir doch Schere, Stift und Papier und lass deiner Kreativität freien Lauf. Wir basteln gerade Halloween-Dekoration für die Halloween-Pause am Freitag“, erklärt die Frau fröhlich ohne zu erklären, was überhaupt eine Halloween-Pause sein soll. „Der Stuhl hinten rechts am Fenster ist noch frei. Das wird dein Platz. Die Bastelmaterialien liegen bei mir am Pult. Nimm dir einfach was du brauchst und erschaffe gruhuuuselige Deko.“

 

„Äh … okay?“ Eren ist von der Euphorie regelrecht überrollt worden, sodass sein Verstand noch nicht alles verarbeiten konnte. Viel zu viele neue, kuriose Eindrücke.

 

„Klasse, hört mal kurz her“, bittet die Frau und klatscht dabei in die Hände. Da sowieso alle schon neugierig Erens Ankunft verfolgt haben, dauert es keine zwei Sekunden bis das Gemurmel verstummt und alle Augen auf dem Jungen ruhen, der versucht sich sein Unbehagen nicht anmerken zu lassen. „Das ist euer neuer Mitschüler, Eren Turano. Seid nett zu ihm.“

 

Bei der Erwähnung seines Nachnamens tauschen einige überraschte, ungläubige Blicke. Klar kennt jeder die reichste Familie der Stadt. Der Name prangt schließlich an mehreren Stellen. Das macht es nicht gerade einfacher unauffällig zu sein. Warum konnte er keinen Decknamen bekommen? Er war eh noch nie in der Öffentlichkeit. Niemand hätte ihn erkannt.

 

„Okay. Geht wieder an die Arbeit.“ Frau Parker entlässt Eren aus dem peinlichen Rampenlicht und setzt sich zurück an ihren Pult. „Geister und Kürbisse basteln sich nicht von allein.“

 

*Na dann, auf in den Unterricht.*

 

Unter neugierigen Blicken nimmt sich Eren wahllos ein paar Bastelutensilien und bahnt sich einen Weg zum hinteren Teil des Klassenzimmers. Der ihm zugewiesene Platz ist schon überfüllt mir Papierschnipseln und halbfertigen Dekogeistern. Auf dem Nachbarstuhl sitzt ein braunhaariges Mädchen mit Sommersprossen, das schüchtern vermeidet Eren anzusehen. Hektisch sammelt sie ihre Bastelsachen ein und murmelt: „Entschuldigung“.

 

„Kein Ding.“ Eren lässt sich auf den Stuhl fallen, legt Bastelpapier und Co. auf die Tischplatte und stellt den Rucksack neben seine Füße. Nachdem er die Zettel vom Direktor in seiner Tasche verstaut hat, mustert er die bunten Papiere, die Schere und den Klebestift. Er soll jetzt tatsächlich basteln? Er kann sich nicht erinnern, jemals gebastelt zu haben. Oder andere künstlerische Aktivitäten. Ajax meinte, dass sei sinnlose Zeitverschwendung. Schließlich lernt man dabei nicht, jemanden zu töten.

 

*Komm schon, Eren. Du hast letzte Woche einen Grobämi getötet, da schaffst du es doch auch ein paar Papiergeister zu basteln.* Wenn schon die Stimmen verstummt sind, muss er sich eben selbst anspornen.

 

Ratlos nimmt er den Bleistift zur Hand und zieht ein weißes Blatt aus dem Stapel. Er setzt den Stift an und stockt. Was hat er eigentlich vor? Etwas Gruseliges für Halloween soll es werden? Da hat er doch keine Ahnung. Alles was Eren bisher über Halloween weiß ist: es gibt diesen Tag. Das war auch schon alles. Die Turanos feiern kein Halloween. Auch keinen anderen Feiertag. Das wäre nur Zeitverschwendung und sinnlose Ablenkung.

 

„Hey, bist du wirklich ein Turano-Turano? Oder hast du nur zufällig denselben Nachnamen?“, spricht ihn unerwartet der Junge an, der schräg vor ihm sitzt.

 

Eren hebt den Kopf und zwingt sich nicht ganz so überfordert auszusehen. „Turano-Turano? Wenn du damit die meinst, denen das Gebäude mit dem riesigen TI gehört, dann ja.“

 

„Wow. Echt cool. Du musst doch steinreich sein, oder?“ Der Junge dreht den Stuhl etwas, setzt sich falsch herum darauf und legt die gekreuzten Arme auf die Lehne. „Müsstest du dann nicht auf einer Eliteschule sein, oder so?“

 

Eren zuckt mit den Schultern. „Mein Vater dachte, ich passe hier besser rein.“

 

Ein seltsames möchtegern wissendes Grinsen hebt die Mundwinkel des Unbekannten an. „Verstehe.“

 

„Ach ja?“, fragt Eren zweifelnd nach und hebt eine Augenbraue.

 

„Klar, ist doch offensichtlich“, fährt der Fremde fort. „Du bist viel zu verwöhnt und arrogant geworden und sollst jetzt sehen, wie durchschnittliche Menschen leben, um nicht zu verzogen zu werden. Ist doch offensichtlich.“

 

Die Antwort ist so dämlich, so weit weg von der Realität, dass Eren nicht weiß, was er darauf antworten soll.

 

„Und in welcher Schule warst du dann bisher?“, klinkt sich eine Brünette neben dem Jungen in das Gespräch ein. Sie sitzt auf der Tischplatte, hat die Füße auf den Stuhl gestellt und lässt sich nicht davon ablenken ihren Totenkopf auszuschneiden.

 

„Auf keiner. Ich wurde Zuhause unterrichtet.“ Warum löchern sie ihn so mit Fragen? Weil er neu ist? Weil er ein Turano ist? Beides? Eren ist nur froh, dass Ajax nicht hier ist, um ihn mit warnenden Blicken zu durchbohren oder zu bestrafen, für jedes möglicherweise falsche Wort, das aus ihm herausrutschen könnte. Dennoch hätte er sich an seinem ersten Tag etwas mehr Ruhe gewünscht, um sich erst einmal anzusehen, wie es in einer Schule so läuft und sich einen Überblick zu verschaffen.

 

„Ha! Ich wusste es. Es ist eine Art Strafe für dich“, freut sich der arrogante Typ und fixiert Erens Augen. „Bild dir bloß nicht ein, dass du besser bist als wir, nur weil du reich bist. Klar?“

 

Soll das eine Drohung sein? Eren kann den Kerl nicht ernst nehmen. Der erinnert ihn viel zu sehr an Viktor. Genau wie der Bienenmutant ist er nichts weiter als ein angeberischer Trottel. „Keine Sorge, hab ich nicht vor.“

 

„Gut. Ich sehe wir verstehen uns.“ Schon wieder grinst der Fremde so seltsam.

 

„Timo, hör auf immer anderen zu drohen“, rügt ihn die Brünette. „Nimm ihn nicht ernst. Er ist eben der selbsternannte Klassenmacho.“

 

„Hey! Das ist doch überhaupt nicht wahr!“, regt sich Timo auf und funkelt das Mädchen mit geröteten Wangen an. „Immerhin bin ich der Klassensprecher und das stärkste Mitglied des Kampf-Clubs!“

 

Das Mädchen kichert nur amüsiert. Eren sieht stirnrunzelnd zwischen den beiden hin und her. Nicht nur die Schule scheint seltsam zu sein, auch die Schüler haben einen Knall. Oh je. In was hat ihn Ajax da nur hineingeritten? Und wo steckt jetzt eigentlich dieser Max?

 

Wie auf´s Stichwort öffnet sich die Klassentür und ein bekannter Blondschopf stolpert herein. Max sieht aus, als wäre er gerade erst aus dem Bett gefallen und hätte sich danach blind angezogen. Seine Haare stehen in alle Richtungen ab, sein rotes Hemd ist schief zusammengeknöpft und er trägt unterschiedliche Socken, die man dank seiner Hochwasserhose sehen kann.

 

„Ah, guten Morgen, Max. Wiedermal zu spät? Welche Ausrede hast du heute für mich?“, seufzt Frau Parker nicht im geringsten verärgert.

 

„Morgen.“ Verlegen grinsend fasst sich Max an den Hinterkopf. „Ich hab vergessen den Wecker zu stellen. Tut mir leid, kommt nicht wieder vor. Versprochen.“

 

Die Lehrerin lächelt milde. „Das hab ich doch schon mal gehört.“

 

„Ich weiß, aber diesmal mein ich es ernst!“, versichert Max mit ernster Miene.

 

„Schon gut.“ Somit ist das Thema für die Frau erledigt. „Setzt dich auf deinen Platz und fang an ein paar Geister zu basteln.“

 

Der blonde Junge nimmt alles an Papier und Dekozeug mit, das noch am Pult gelegen hat, zu seinem Sitzplatz. Zufälligerweise, mehr oder weniger, ist der Platz direkt vor Eren. Haben selbst bei der Sitzwahl sein Vater und Ajax ihre Finger im Spiel? Etwas übertrieben, oder nicht?

 

„Morgen, Max“, grüßt Timo den Blonden amüsiert. „Wie kann man nur fast jeden Tag zu spät kommen? Ein Wunder, dass du noch keinen Verweis bekommen hast.“

 

„Hi, Leute. Ganz einfach, wenn man …“ Max bricht mitten im Satz ab und bleibt vor seinem Stuhl stehen als er den Neuling entdeckt. Seine Augen werden vor Überraschung ganz groß und er blinzelt zweimal ehe er seine Stimme wieder findet: „Eren?!“

 

„Guten Morgen, Max.“ Die Mission beginnt.

Bastelstunde

Timo und die Brünette wechseln erstaunte Blicke. Das Mädchen legt ihren Totenkopf – der nebenbei bemerkt nicht sehr realistisch schattiert ist – beiseite und richtet ihre gesamte Aufmerksamkeit auf die beiden Jungs. „Wie? Ihr kennt euch?“

 

„Nein“, antwortet Eren schnell.

 

„Ja“, antwortet Max gleichzeitig.

 

Verwirrt zieht das Mädchen die Stirn kraus während sich der Klassensprecher mit verschränkten Armen an den Tisch lehnt. „Was jetzt? Ja oder nein?“

 

„Nun ja, wir haben uns zweimal kurz getroffen“, klärt Max auf, drückt sich an Timo vorbei zu seinem Platz und legt erst mal die Bastelsachen ab. „Wieso hast du denn nicht gesagt, dass du auf meine Schule wechselst?“

 

„Woher hätte ich denn wissen sollen, dass es deine Schulen ist?“, gibt Eren zurück. „Außerdem weiß ich es selbst erst seit Freitag.“

 

„Er wurde von seinem Vater zur Strafe hierher geschickt“, meint Timo an Max gerichtet, schielt jedoch provozierend zu Eren. „Damit der kleine Turano nicht so abgehoben und eingebildet wird.“

 

Jap. Timo kann Viktor echt Konkurrenz machen. Beide wollen das „Alphatier“ sein, sie sind´s zwar nicht, aber sie bilden sich ein es zu sein. Das Gute ist, Eren weiß, wie er mit solchen Charakteren umgehen muss. Das Schlechte, wie lange wird es wohl dauern, bis ihm die provokativen Kommentare so sehr an der Geduld nagen, bis sie reißt?

 

Überrascht wandern Max´ Augenbrauen Richtung Haaransatz. „Echt jetzt? Du gehörst zu den Turanos?“

 

„Wie? Du wusstest nicht, dass dein Kumpel ein Turano ist?“, fragt Timo übertrieben schockiert nach.

 

„Max, Timo, Paula, Eren, ich weiß, dass es interessant ist einen neuen Mitschüler zu haben, aber wir haben immer noch Unterricht“, erinnert Frau Parker, die neben der Tischreihe der Vier aufgetaucht ist. „Ihr könnt gerne weiterreden, aber vergesst die Deko nicht. Immerhin wird das Teil eurer Note.“

 

„Entschuldigung, Frau Parker.“

 

Nach einem letzten Blick in die Runde kehrt sie in den vorderen Teil des Klassenzimmers zurück.

 

Noten in Basteln? Eren rollt innerlich mit den Augen. In Kunst wird er vermutlich nicht sonderlich gut abschneiden. Er kann schon Ajax´ Vortrag hören, wenn er davon erfährt. Leise seufzend nimmt der junge Turano den Bleistift wieder in die Hand. Doch mehr als damit ratlos auf dem Papier zu klopfen kriegt er nicht hin.

 

„Dann bist du wirklich ein Turano? Jetzt versteh ich auch das mit dem Anzug und dem Privatunterricht“, sagt Max, der inzwischen seine Jacke über die Stuhllehne gehängt hat und ein orangefarbenes Papier in der Mitte faltet. „Also, stimmt es, dass du bestraft wirst? Etwa von dem aus dem Krankenhaus? Der mit Drohungen und finsteren Blicken um sich schmeißt?“

 

„Das ist mein Bruder. Aber nein, es ist keine Strafe“, stellt Eren klar. „Mein Vater und Ajax dachten nur, dass es gut für mich wäre, mal auf eine normale Schule zu gehen.“

 

„Ich glaub, du willst nur nicht zugeben, dass du zu einem verwöhnten … Aua!“, beginnt Timo besserwisserisch, doch ein Schlag gegen seine Schulter lässt ihn verstummen und eingeschnappt Paula anfunkeln.

 

Die Brünette lässt sich von den finsteren Blicken des Klassensprechers nicht im geringsten einschüchtern. „Halt die Klappe, Timo. Sei nicht immer so gemein.“

 

„Wie kannst du es wagen, so mit mir zu sprechen? Ich bin der Klassensprecher!“, regt sich der Junge auf.

 

„Genau deshalb solltest du netter sein“, entgegnet Paula schnippisch.

 

„Ignorier die beiden. Zanken ist ihre Lieblingsbeschäftigung“, meint der Blonde ohne von der Schere aufzusehen, mit der er hochkonzentriert etwas aus dem Papier ausschneidet. „Jedenfalls, willkommen an der Haikla City Junior High. Ich hab doch gesagt, wir sehen uns wieder.“

 

„Stimmt. Kannst du hellsehen, oder so?“ Ein leichtes Schmunzeln kann sich Eren nicht verkneifen, doch dann muss er an etwas anderes denken und das Lächeln verschwindet. Was ist, wenn Hellsehen tatsächlich die Fähigkeit von Max ist?

 

„Ich wusste, dass du Humor hast“, stellt Max triumphierend kichernd fest. „Obwohl du bisher ziemlich abweisend warst. Kann ich aber verstehen. Der Typ im Krankenhaus ist wohl echt streng und einschüchternd. Besonders, wenn er ständig mit Bestrafungen droht.“

 

„Ja, das ist er“, bestätigt Eren ohne nachzudenken. Max hat die Hellseherei weder bestätigt noch abgestritten. Ist das verdächtig? Grüblerisch mustert er den Jungen, der seinem Kürbis mit schwarzen Linien ein Gesicht verpasst.

 

„Kannst du dich nicht entscheiden?“

 

„Hm?“ Aus der Grübelei gerissen blinzelt Eren seinen Gegenüber fragend an.

 

„Na, welches Monster du bastelst“, hilft Max ihm amüsiert auf die Sprünge.

 

Timo ergänzt schnippisch als er den noch immer irritierten Blick bemerkt: „Denk einfach an die typischen Halloween-Monster. Ist doch nicht so schwer. Oder willst du an deinem ersten Tag als Normalo eine schlechte Note?“

 

„Äh .. nein.“ Schon wieder hat er einen finster dreinblickenden Ajax vor Augen. Und trotzdem starrt er ratlos auf das Papier.

 

„Eigentlich ist es egal was du machst. Solange es so aussieht wie ein Halloween-Monster vergibt Frau Parker eine Eins“, meint Max und hält seinen Kürbis so, dass Eren das schräge Kritzelgesicht mit herausgestreckter Zunge sehen kann, das so aussieht als hätte es ein Kind gemalt.

 

Schmunzelnd mustert Eren die Deko. „Sieht irgendwie … interessant aus.“

 

„Ich weiß! Ich bin kein großer Künstler“, gesteht Max dennoch stolz grinsend und ergänzt sein Kunstwerk mit einem schiefen paar grüner Augenbrauen. „Wenn selbst ich es schaffe mit meinem Kürbis eine Eins zu bekommen, dann du auch“, prophezeit Max überzeugt.

 

„Hm.“ Egal ob es einfach ist eine gute Note zu bekommen, es ändert nichts daran, dass er zum ersten Mal etwas mit Halloween zu tun hat. Auf der Suche nach Inspiration lässt Eren seine Augen durch den Raum schweifen. Jeder hat schon mindestens eine fertige Gruselpapierfigur neben sich liegen. „Halloween-Deko besteht also hauptsächlich aus Kürbissen, Geistern und Spinnen?“

 

Erstaunt hebt Max die Augenbrauen und hält in seinen Detailarbeiten inne. „Heißt das, du weißt nicht wie man Halloween feiert?“

 

Eren setzt gerade an den Kopf zu schütteln, als Timo sich lauthals einmischt.

 

Der Klassensprecher prustet prompt los und muss sich den Bauch halten. Dabei zerknittert seine Note, doch das scheint ihn nicht zu kümmern. „Wie kann man noch nie Halloween gefeiert haben? Hahaha! Das ist der beste Feiertag im Jahr! Wurdest du etwa von Daddys großen Halloweenfeten ausgeschlossen?“

 

„Timo!“, rügt Paula ihren Klassenkameraden und verpasst ihm einen weiteren Schlag gegen den Oberarm.

 

„Nein“, beginnt Eren, der sich gerade nicht sonderlich wohl in seiner Haut fühlt. „Es gibt keine Halloweenfeten. Mein Vater findet, dass alles Zeitverschwendung ist, was nichts mit seiner Arbeit zu tun hat. Dazu gehören auch irgendwelche Feiern. Solange es keine Firmenfeiern sind. Und bei denen geht’s nicht um Kürbisse, Geister und Spinnen.“

 

Entsetzt starren ihn zwei Augenpaare an, das dritte ist noch immer mit Lachen beschäftigt.

 

„Heißt das, du hast auch noch nie Ostern, Weihnachten oder Silvester gefeiert?“, fragt Max ungläubig nach.

 

Eren schüttelt den Kopf. „Nein, nein und nein.“

 

„Aber zumindest Geburtstage, oder? Ihr werdet doch wenigstens Geburtstage feiern, oder?“ Max bekommt irgendwie einen verzweifelten Unterton. Dabei ist es doch Eren, der das alles noch nie zelebriert hat. „Oder wenigstens Geburtstagsgeschenke? Irgendwas?“

 

Wieder setzt Eren an den Kopf zu schütteln, doch dann fällt ihm was ein. „Naja, Geschenke gibt’s schon. Allerdings keine materiellen.“

 

„Du meinst, Gutscheine, Ausflüge und Urlaub oder so?“, hakt Max noch immer entrüstet nach. Ob er das Thema je gut sein lässt?

 

Eren muss verneinen. „Ich hab dann nicht so viele Aufgaben auf der To-Do-Liste.“

 

„Was denn für Aufgaben?“ Der Blonde hat den Kopf schief gelegt und die Stirn gerunzelt. „Musst du schon in der Firma arbeiten?“

 

So langsam fühlt sich Eren wie in einem richtigen Verhör. Und das, obwohl er doch Dinge über Max herausfinden soll. Nicht andersherum. „Genau. Ich erledige halt irgendwelche Botengänge, bediene den Kopierer oder begleite die Gäste ins Besprechungszimmer.“

 

Dass das eine pure Lüge ist, müssen sie ja nicht wissen. Er hat noch nie eine dieser Aufgaben erledigt. Zum Glück war er schon in der Firma über dem Bunker unterwegs. Er hat zwar keine Ahnung, was genau dort oben fabriziert wird, aber es muss sicher was kopiert werden.

 

„Das ist ja richtige Kinderarbeit“, kommentiert Paula schockiert. „Und plötzlich bin ich froh, nicht zu den Reichen zu gehören. Ich dachte immer, die werden von vorne bis hinten bedient und müssen nichts selbst tun.“

 

„Vielleicht bei anderen?“, überlegt Eren laut und fragt sich, ob es okay ist, dass er verrät wie er bisher gelebt hat. So ungefähr. Bekommt der Turanoname einen Knick, wenn Zwölfjährige wissen, dass sein Vater ihn arbeiten lässt? Tja, jetzt ist es eh zu spät, um das zurückzunehmen.

 

„Oh, nein, du Armer. Es muss schwer sein in einem riesigen Privatanwesen mit eigenem Wald und haufenweise Bediensteten zu leben, ab und zu ein paar Dokumente zu kopieren oder Fremde in ein Zimmer zu führen“, spottet Timo mit aufgesetztem Mitleidsblick, den ihm keiner abkauft. „Wie gut, dass dich all das Geld dabei tröstet.“

 

„Timo!“ Paula schlägt erneut den Klassensprecher.

 

„Au! Für ein Mädchen schlägst du ganz schön oft zu“, beschwert er sich die Schulter reibend. „Ach, kommt schon, Leute! Ihr glaubt ihm die Geschichte doch nicht, oder? Welcher superreiche Firmenchef würde seinem Sohn auch nur den kleinsten Wunsch abschlagen und ihn zwingen bei sich zu arbeiten? Das ist doch total unglaubwürdig.“

 

„Hältst du mich etwa für einen Lügner?“, möchte Eren mit erhobener Augenbraue wissen. Gut, dass die dunkle Stimme stumm ist, sonst würde er jetzt wieder Morddrohungen im Kopf hören, die ihn beeinflussen wollen. So findet er es eher amüsant, dass sich Timo so aufregt, obwohl nichts ist. Wenn er wüsste, wie es bei ihm wirklich Zuhause aussieht, würde er nicht so eifersüchtig reagieren.

 

Bevor Timo antworten kann, lehnt sich Max vor, um seinem Sitznachbarn ins Gesicht sehen zu können. „Sag mal, Timo, kann es sein, dass du eifersüchtig bist?“

 

Seit dieser Frage ist Eren erst einmal vergessen. Timo und Max haben eine seltsame, sinnlose Diskussion begonnen, wurden von Paula kommentiert und von Frau Parker ermahnt an ihren Projekten weiterzuarbeiten. Bis zum Ende der Doppelstunde Kunst hat Eren es doch noch geschafft ein – mehr oder weniger – schönes Skelett zu basteln. Mit dem menschlichen Knochenbau kennt er sich zumindest aus. Wenigstens hatte Max Recht mit seiner Aussage, dass es von der Lehrerin eine Eins gibt, wenn es nur so ähnlich wie beabsichtigt aussieht.

 

So schlecht sich Eren auch in Kunst angestellt hat, in der nächsten Stunde macht er das locker wieder wett. Erdkunde stand am Stundenplan. Es ging um Vulkane. Alles was der Lehrer, ein Mann mit kurzen rotblonden Haaren und einer Brille, versucht hat der Klasse beizubringen, wusste Eren schon. Er hätte sogar aus erster Hand beschreiben können, wie heiß die Lava ist, wenn man als Extremflugtraining über einen ausbrechenden Vulkan fliegen muss. Natürlich hat er den Mund gehalten. Stattdessen hat er nur mit halbem Ohr zugehört, ab und zu den Hefteintrag abgeschrieben und nebenbei Max beobachtet. Bisher zeigt der Blonde kein noch so mikroskopisch kleines Anzeichen auf außergewöhnliche Fähigkeiten. Die Idee mit dem Hellsehen hat er längst wieder verworfen.

Die erste Einladung

Dann klingelt es zur Pause. Eren zuckt noch immer zusammen bei dem plötzlichen, unerwarteten schrillen Ton. Wie die anderen Schüler auch verlässt er das Klassenzimmer, nimmt jedoch als einziger seinen Rucksack mit. Er hat vor sein Schließfach zu finden, um die schweren, unnötigen Schulbücher zu verstauen. Allerdings stellt sich heraus, dass der Schulplan auch nicht mehr der aktuellste ist. Auf dem sind die Hälfte der Beschriftungen falsch, weshalb sich Eren bald schon nicht mehr auskennt. Was ist das nur für eine unorganisierte Schule?! Frustriert knüllt er den nutzlosen Plan zusammen und stopft ihn in die Hosentasche. Vielleicht hat er ja Glück und findet den Spint 207 durch Zufall? Oder – was wahrscheinlicher ist – verläuft sich bei dem Versuch und kommt zu spät zur nächsten Stunde.

 

Von allen Seiten wird der Zwölfjährige von älteren und jüngeren Schülern angerempelt. Niemand hält es für nötig dem jungen Turano Platz zu machen. Das ist für diesen so ungewohnt, dass er bei fast jedem Schritt in jemanden hineinläuft. Ab und zu kann er es nicht vermeiden und bekommt dann entweder ein flüchtiges „Entschuldigung“ zu hören oder wird angemotzt, er hätte keine Augen im Schädel. Eines ist schnell klar: Schule hat er sich ganz anders vorgestellt. Das hier überfordert ihn. Gestern noch musste er nur einen Schritt in irgendeine Richtung machen und es wurde sofort eine Gasse gebildet. Und heute? Heute ist er froh über seine Heilkräfte, ohne die er sicher am ganzen Körper blaue Flecken haben würde.

 

Wie schon vermutet kann er nicht einmal anhand der Schließfachnummerierungen erahnen, wo sich seiner versteckt. Die Zehnerreihen sind auch durcheinander, so als ob neue Spinte immer dorthin platziert wurden, wo gerade Platz war. Ohne System. Ohne Plan. Ohne hilfreiche Ordnung.

 

„Na, super. Danke, Ajax“, grummelt er vor sich hin, während er die Nummern mustert in der Hoffnung, doch die 207 zu entdecken. Dabei hat er die Hände in die Jackentaschen vergraben, um seinen Ärger zu verstecken. „Wie soll man hier nur was finden?“

 

Zu allem Überfluss merkt er auch noch zu spät wie jemand aus den Toiletten tritt und läuft prompt in den Jemand hinein, sodass beide kurz ins Straucheln geraten.

 

„Tut mir leid“, entschuldigt sich Eren schnell bevor wieder ein bissiger Kommentar kommt.

 

„Schon okay, nichts passiert“, versichert der andere, dreht sich um und fängt an zu grinsen. „Oh, hi, Eren. Was machst du so?“

 

„Hi, Max.“ Natürlich musste es Max sein. Warum auch nicht? Der Tag ist ja nicht schon genug von merkwürdigen Zufällen durchzogen. „Ich such mein Schließfach, aber dieser Plan, den ich vom Direktor bekommen hab, ist ziemlich nutzlos. Da steht die Hälfte nicht drauf und das was drauf steht, stimmt zu 90% nicht.“

 

„Ich weiß, unsere Schule ist wie ein Irrgarten.“ Aus seinem Mund klingt es irgendwie so, als ob ihm das gefallen würde. „Ich helf dir. Welche Nummer hast du denn?“

 

„207 und danke.“ Das meint Eren sogar ehrlich. Sonst wäre er wohl noch ewig herumgeirrt und hätte dann nicht mal mehr zurück zum Klassenzimmer gefunden, wäre zu spät zum Unterricht gekommen und folglich würde ein Vortrag von Ajax folgen.

 

„207“, wiederholt Max und fasst sich dabei grübelnd ans Kinn. „Ich denke, ich weiß wo der sein könnte. Komm mit.“

 

Ohne auf eine Antwort zu warten, marschiert der Blonde einfach los. Sogar ohne bei jedem Schritt Beinahezusammenstöße zu verursachen. Eren beeilt sich zu ihm aufzuschließen, um ihn in dem Tumult nicht zu verlieren. Dabei mustert er noch einmal heimlich den Jungen. Von Außen hat er schon mal keinerlei Merkmale auf Fähigkeiten. Zumindest sieht man keine Hörner, Flügel oder Ähnliches. Auch die Aura ist Erens Meinung nach völlig normal. Er hat es heimlich mit der Fähigkeit geprüft. Aber wenn Ajax sagt, dass etwas an ihm auffällig ist, dann glaubt er ihm. Man muss ja nicht immer auf den ersten Blick sehen, dass jemand besonders ist, so wie bei Viktor mit seinen Flügeln oder er selbst mit den Armreifen. Es gibt viele, die normal wirken bis sie ihre Fähigkeiten nutzen oder sich verwan...

 

„Hörst du mir zu?“

 

„Hä?“ Eren blinzelt ein paar Mal irritiert bis seine Gedanken in der Realität angekommen sind. „Äh, nein, sorry. Was hast du gesagt?“

 

Max hat sich zurückfallen lassen, sodass sie jetzt nebeneinander gehen. „Ich hab nur gefragt, wie dein erster Tag bisher war? Bestimmt ziemlich anders als der Privatunterricht, oder?“

 

„Ja. Eigentlich ist alles anders wie Zuhause“, antwortet Eren vage.

 

„Wie ist es denn so Privatunterricht zu haben? Ich stell mir das irgendwie cool vor. Du kannst Zuhause bleiben, bist schneller mit dem Schulstoff durch und hast mehr Freizeit. Außerdem muss man sich nicht ewig in der Cafeteria anstellen für unidentifizierbaren Pansch.“ Max verzieht bei der Erwähnung des Schulessens das Gesicht und Eren macht geistig eine Notiz von Zuhause etwas mitzunehmen. Was eh der Plan gewesen wäre. Eren hat auch bei der Ernährung keine Entscheidungsfreiheit. „Aber dann ist es doch sicher auch einsam, oder?“

 

„Ja. Ich war bisher immer Einzelschüler“, bestätigt der junge Turano, weicht dabei einer Tomatenscheibe am Boden aus. „Die Lehrer sind zu uns nach Hause gekommen, sind die paar Stunden dageblieben und dann wieder abgehauen. Schriftliche Prüfungen hatte ich auch nicht. Ich musste einfach das wissen, was ich bisher gelernt habe und habe bestanden. Allerdings hatte ich keine Fächer wie Kunst oder Musik.“ Vor der Musikstunde graust ihn auch schon. Musik ist wie Kunst, man kann damit niemanden töten, also ist es Zeitverschwendung.

 

„Klingt einsam.“

 

Eren zuckt nur mit den Schultern. „Ist nicht so schlimm, wie es sich anhört. Man gewöhnt sich dran.“

 

„Ach, Quatsch. Mit Freunden zu lernen ist doch lustiger“, beharrt Max grinsend. „Gut, dass du auf die Schule wechseln durftest.“

 

„Ja“, sagt Eren gedehnt. „Das wird sich noch herausstellen. Mein Vater und Ajax ändern schnell ihre Meinung.“ Ist die Mission vorbei, kehrt der gewohnte Alltag mit den Privatlehrern und minutengenau geplanten Training zurück.

 

„Klingt so, als würden die beiden keinen Spaß verstehen“, bemerkt der Blonde und verzieht dabei leidend das Gesicht. Schon in der nächsten Sekunde heben sich seine Mundwinkel wieder an. Ohne Vorwarnung umklammert er den Unterarm von Eren, der angestrengt den Verteidigungsinstinkt unterdrückt. „Hey! Ich hab ´ne Idee!“

 

„Toll, aber kannst du mich loslassen? Bitte?“, unterbricht Eren ihn und befreit seinen Arm aus dem Klammergriff.

 

„Klar, sorry.“ So richtig ernst gemeint ist das nicht. Dafür ist seine Mimik zu fröhlich. „Du hast doch noch nie Halloween gefeiert, nicht?“

 

„Ja?“, bestätigt Eren gedehnt, eine Augenbraue misstrauisch erhoben. Er hat ein mieses Gefühl wo die Frage hinführen könnte.

 

„Am Freitag ist doch die Halloween-Feier...“

 

„Für die wir die Deko gebastelt haben?“, unterbricht der Braunhaarige den anderen.

 

„Ja, also nein. Die ist für die Halloween-Pause am Vormittag“, erklärt Max und bleibt unerwartet stehen. Automatisch tut es ihm Eren gleich. „Die Feier ist am Freitagabend in der Sporthalle. Musik, Tanzen, Punsch, Gruselbuffet und Kostüme. Davor bin ich noch auf Süßes oder Saures unterwegs. Hast du Lust mitzukommen? Normalerweise geht meine kleine Schwester immer mit, aber die hat leider Fieber und wird vermutlich bis Freitag nicht fit genug sein. Und allein macht Süßigkeiten sammeln nur halb so viel Spaß. Na, wie wär´s? Kommst du mit? Danach können wir auf der Schulfeier vorbeischauen.“

 

Eren muss erst einmal die Menge an Informationen verarbeiten, ehe er antworten kann. Er ist schon wieder überfordert. Oder immer noch. „Ist Süßes oder Saures nicht nur was für Kinder?“, fragt er, um etwas Zeit zu gewinnen.

 

Die grünen Augen werden überraschend ernst. So ernst hat Eren ihn noch nie gesehen. „Für Süßes ist man nie zu alt, klar?“ Dann verschwindet der Schatten wieder und das gewohnt fröhliche Gesicht ist zurück. „Also? Kommst du mit? Dann kann ich dir zeigen wie man Halloween richtig feiert.“

 

„Ich weiß nicht.“ Unschlüssig kratzt sich Eren am Hinterkopf. Klar klingt es in seinen Ohren so als könnte es lustig werden, aber dann schiebt sich Ajax dazwischen. Er wird ihm nie erlauben ohne ihn irgendwohin zugehen, was nichts mit der Schule zu tun hat. Vielleicht, mit viel Glück, auf die Schulfeier, aber die Tour durch die Stadt? Wohl kaum. Aber wäre es nicht im Sinne seiner Mission? „Da muss ich erst Zuhause nachfragen. Ich geb dir morgen Bescheid, ja?“

 

Max wirkt etwas enttäuscht. Die Antwort hat er wohl nicht erwartet. „Wird wirklich jede Minute deines Lebens von deinem Vater und Bruder verplant?“

 

„Tja, so ist das eben, wenn man einen superreichen Vater hat“, zitiert Eren Timos Worte von vorhin und wendet die Augen ab. „Aber sie planen nicht jede Minute“, lenkt er noch ein, um den Familienruf nicht noch mehr zu schaden. Bevor Max antworten kann, ergreift Eren erneut das Wort. „Also. Wo ist nun mein Spint?“

 

Es ist deutlich anzusehen, dass Max mit dem Themenwechsel nicht einverstanden ist, lässt es aber zu. „Wir sind schon da.“

Nur den Erfolg im Sinn

Als die Glocke zum Schulschluss läutet, packt Eren wie alle anderen schnell seine Sachen zusammen und verlässt das Klassenzimmer. Er will jetzt nur nach Hause in sein Bett. Er hätte nie für möglich gehalten, dass ihn die normale Schule so schlauchen würde. Aber das tut sie. Dabei ist es gerade mal Zehn vor Eins. Bestimmt hat Ajax schon Nachmittagspläne vorbereitet.

 

Erschöpft lässt der Junge die Schultern hängen, dann reißt er sich zusammen. Wenn er es nicht eh schon gewohnt wäre, könnte ihm das alles wesentlich mehr ausmachen. Aber so findet er sich einfach damit ab. Außerdem ist Kampftraining eine willkommene Abwechslung zum stundenlangen auf einem Stuhl sitzen und Dinge lernen, die er schon weiß. Kunst ausgeschlossen.

 

Mittlerweile haben sich die Wolken verzogen und einem blauen Himmel Platz gemacht. Es könnte ein schöner Nachmittag sein, wenn der kalte Wind nicht wär. Die gefühlt komplette Schülerschaft drängt sich hinaus ins Freie und an Eren vorbei, der oben an der Treppe stehengeblieben ist und den Parkplatz überfliegt. Kurz darauf entdeckt er auch schon das Auto. Allerdings nicht am Parkplatz, sondern fast direkt vor der Schule am Straßenrand. Es ist auch nicht der Mustang von Ajax, sondern eine kleine Limousine. Die Fahrerin steht in ordentlichen Chauffeurklamotten neben der hinteren Autotür und wartet. Viele sehen neugierig zu dem Luxuswagen. Natürlich erregt die Limo viel zu viel Aufmerksamkeit, weswegen Eren seufzt und innerlich den Kopf schüttelt. Was ist aus „am ersten Tag unauffällig bleiben“ geworden?

 

„Hey, Eren, warte mal!“

 

Da Eren sowieso steht, dreht er lediglich den Kopf zu Max um, der sich einen Weg zu ihm bahnt.

 

Bei ihm angekommen platzt er gleich mit der Frage raus: „Kannst du mir noch deine Nummer geben?“

 

Erens erster Gedanke ist: *Meint er die Fähigkeiten-Nummer?*, weshalb ein aufgeflogener Schauer über seine Wirbelsäule kriecht. Doch dann zieht Max ein Smartphone aus der Jackentasche und er entspannt sich wieder.

 

„Geht nicht, sorry, hab kein Handy“, beichtet er.

 

Max starrt ihn mit offenem Mund an, unsicher ob er das glauben soll oder nicht. „Echt jetzt?“

 

„Echt jetzt“, bestätigt der Junge aus der wohlhabenden Familie. „Ich hab bisher auch nie ein Handy gebraucht.“

 

„Und wie hast du dich dann mit Freunden verabredet, wenn du auch nicht in der Schule warst?“

 

„Ich hab nicht wirklich Freunde“, meint er schulterzuckend und möglichst unbekümmert.

 

Die anderen Menschen im Bunker würde Eren nicht als Freunde bezeichnen. Dafür kennt er sie zu wenig und sieht sie auch nur auf Missionen oder beim Training. Diejenige, die einer Freundin am nächsten kommt, ist höchstens Dr. Ryu. Aber die sieht er auch nur bei den Tests und Untersuchungen.

 

„Du musst echt einsam sein“, stellt Max zum wiederholten Mal fest. Bevor Eren reagieren kann, legt der Blonde ihm breit grinsend dem Arm um die Schultern. „Gut, dass du jetzt hier bist und schon einen Freund hast.“ Zufällig fällt dabei sein Blick auf sein Smartphone und er zieht schnell den Arm zurück. „Oh, verdammt!“ Ein hektischer Ausdruck erscheint auf seinem Gesicht während er die ersten Stufen hinabsteigt. „Ich muss los, sonst verpass ich meinen Bus. Und zu Fuß bin ich erst heute Abend daheim. Also, ciao, bis morgen! Und vergiss nicht zu fragen wegen Freitag, ja?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, flitzt er die Treppe runter und verschwindet in der Menge.

 

Eren sieht ihm einen Moment überrumpelt hinterher, schüttelt den Kopf und macht sich dann auch auf den Weg. Ajax soll schließlich nicht länger warten als nötig. Unterwegs muss er ständig daran denken was Max gesagt hat. Geht das denn? Dass man in so kurzer Zeit mit jemandem Freundschaft schließt? Ein seltsamen Gefühl macht sich in seinem Inneren breit, das er nicht zuordnen kann. Aber, das ist gut, oder? Es ist schließlich seine Mission.

 

Nicht gerade wenige beobachten den jungen Turano neugierig und abschätzend als ihm die Autotür aufgehalten wird und er in die Limousine steigt. Zum Glück sind die hinteren Scheiben getönt, sodass er den aufdringlichen Blicken entkommen kann. Doch im Inneren des Wagens begrüßen ihn schon die nächsten bohrenden Augen. Jetzt versteht Eren auch, weshalb er mit der Limo abgeholt wird. Er sitzt seinem Bruder und auch seinem Vater gegenüber. Letzterer lässt sich gerne herumfahren. Es entspricht eben dem Turanostand. Die Tatsache, dass die Drei so reden können, ohne dass jemand auf die Straße achten muss, spielt bestimmt auch eine Rolle.

 

„Hallo“, grüßt Eren seine Familie sobald die Tür hinter ihm zugeschlagen und der Motor gestartet wurde.

 

„Hallo, Eren“, erwidert sein Vater mit einem Lächeln. „Wie war der erste Schultag?“

 

„Hast du schon was herausgefunden?“, ergänzt Ajax ohne Umschweife.

 

Eren hätte auch ohne der Zusatzfrage gewusst, dass sie sich nicht nach den Unterrichtsfächern erkundigen. „Bisher nicht viel. Eigentlich nur, dass Max in Kunst schlecht ist, eine kleine Schwester hat und Halloween liebt.“

 

„Für den ersten Tag ist das gar nicht so schlecht.“ Der Mann nickt zufrieden.

 

Ajax wirkt nicht so zufrieden, behält es aber für sich.

 

Dafür ergreift Turano erneut das Wort: „Und wie war die Schule? Sind die Fächer interessant? Findest du dich schon zurecht?“

 

Erstaunt sieht der Junge zu seinem Vater. „Ähm, ganz okay. Die Schule ist alt und nicht besonders gut ausgeschildert. Es wird noch ein paar Tage dauern, bis ich die wichtigsten Räume kenne“, gesteht er und überlegt, ob er seine Probleme in den ersten Stunden erzählen soll. Besser wäre es. Wenn sie es irgendwie anders herausfinden, wird er nur wieder für sinnlose Gründe bestraft. „Das meiste, was in den Fächern gelehrt wird, kenne ich schon. Außer Kunst. Da mussten wir Halloween-Deko basteln. Ich hab trotzdem eine Eins“, fügt er schnell hinzu als er sieht, dass Ajax die Augen zusammenkneift.

 

„Ach, das macht gar nichts. Du hättest sehen sollen, wie schlecht ich in Kunst war.“ Turano schnaubt amüsiert und wirkt einen Moment in Gedanken versunken. Dann räuspert er sich. „Auch wenn der Schulbesuch nur Teil dieser Mission ist, sollten in den wichtigen Fächern deine Noten nicht schlecht sein. Solange es nur Kunst ist, ist es belanglos. Es ist ja nicht deine Aufgabe ein Halloween-Deko-Bastelgenie zu werden.“

 

Wieder sieht Ajax so aus, als wäre er anderer Meinung, aber in Gegenwart ihres Vaters ist er nicht so pingelig. Nicht laut zumindest.

 

„Apropos Halloween-Dekoration ...“, beginnt Eren zögerlich und fängt an an den Ärmeln seiner Jacke zu spielen, dabei bemüht die Augen auf den Mann gerichtet zu lassen. „Max hat mich eingeladen am Freitag mit ihm auf Süßes oder Saures zu gehen und danach eventuell auf die Party in der Schule. Ich weiß, Halloween ist Zeitverschwendung, aber ich dachte, es könnte helfen mehr über Max herauszufinden.“

 

„Eren, du weißt doch, dass in albernen Kostümen bei Fremden um ungesundes Zuckerzeug zu betteln, unter deiner Würde ist. Das ist einem Turano nicht würdig“, betont Ajax abfällig.

 

„Ich weiß. Ich dachte nur, es wäre eine Gelegenheit mehr über Max herauszufinden, ohne dem ganzen Schulkram“, erklärt Eren.

 

Ajax fixiert Erens Augen für die nächste „Halloween ist Zeitverschwendung“-Rede, doch zum Glück ist der Vater schneller. „Also ich halte es für eine gute Idee.“

 

„Ach ja?“ Überrascht legt der Junge den Kopf schief und überlegt, ob er sich verhört haben könnte.

 

„Aber das schadet doch dem guten Ruf der Familie, wenn die Presse erfährt, dass Eren mit einem Bettlaken über dem Kopf nach Süßigkeiten bettelt“, behauptet Ajax.

 

„Das stimmt wohl“, stimmt der Mann zu und fasst sich grübelnd ans Kinn.

 

Währenddessen zuckt Erens Bein, was er mit dem Rucksack auf den Knien zu verbergen versucht. Er macht sich nur ungern falsche Hoffnungen, aber es sieht doch wirklich so aus, als ob er tatsächlich am Freitag das erste Mal mit Gleichaltrigen Halloween feiern darf. Nur im Sinne der Mission natürlich. Halloween ist schließlich banaler Kinderkram.

 

„Dann verkleidet er sich eben nicht“, entscheidet Turano schließlich an Ajax gewandt. „Eren ist eh nicht so bekannt, wie du oder ich, sollte ihn dennoch jemand erkennen, was sehr unwahrscheinlich ist, sieht er zumindest nicht wie ein Bettlaken aus. Das wäre doch ein Kompromiss, oder?“

 

Eren hätte sich eh niemals als Bettlaken verkleidet oder ein anderes doofes Kostüm angezogen. „Also, heißt das, ich darf?“

 

Turano sieht Eren einen Moment so irritiert an, als hätte er vergessen, dass er auch im Auto sitzt. „Ja, du kannst den Spezialauftrag im Sinne der Mission annehmen.“

 

„Danke, Vater. Danke, Ajax.“ Die Freude des Jungen wird durch die Tatsache, dass es ein Spezialauftrag ist, kaum geschmälert. Immerhin wird das sein erster Auftrag, den er tatsächlich vollkommen auf sich allein gestellt erledigen wird. Auch wenn es nur um eine Halloween-Tour mit einer blonden Nervensäge geht. Und da sein Vater gerade die Gute-Laune-Hose trägt, traut sich Eren sogar um noch etwas anderes zu bitten. „Da wäre noch was ...“

 

„Und was?“, will Ajax nicht so spendierfreudig wissen.

 

„Mir ist heute eine Idee gekommen, wie ich noch schneller Max` Vertrauen gewinnen könnte. Und auch weniger auffalle. Jeder in der Schule hat in den Pausen und Zwischenstunden auf sein Handy gestarrt und ...“

 

„Und du willst jetzt auch eins?“, errät Ajax missbilligend die Arme verschränkend. „Ich halte das für keine gute Idee. Ein Smartphone lenkt dich doch nur ab. Und du weißt doch: Wer abgelenkt ist, ist ein leichtes Ziel und verliert sein Ziel aus den Augen.“

 

„Ja, ich weiß“, stimmt Eren zu, ist aber nicht bereit so einfach aufzugeben. Er muss nur Gründe finden, die die beiden überzeugen. „Aber wenn ich tagsüber in der Schule bin und irgendetwas herausfinde oder was passiert, könnte ich euch erreichen.“

 

Ajax spannt den Kiefer an und Turano hat wieder die Hand grübelnd ans Kinn gelegt. Der Zwölfjährige wartet geduldig-ungeduldig auf die Antwort der beiden. Um die Beherrschung zu behalten, knetet er die Tragegurte der Schultasche. Ja, manchmal ist sein Geduldsfaden ziemlich dünn.

 

„Na schön“, gibt Turano schließlich nach, fügt jedoch eine Bedingung hinzu: „Du bekommst ein Handy, aber nur für die Dauer der Schulzeit. Danach gibst du es Ajax, ja?“

 

„Was?!“, platzt es aus dem Jungen heraus, der gerade anfing sich auf sein erstes Smartphone zu freuen.

 

„Eren!“, zischt Ajax sofort warnend. „Achte auf deinen Ton.“

 

Der Junge versucht sich zusammenzureißen. „Was ich meine ist, was wenn Max mich außerhalb der Schulzeit kontaktieren will? Wäre es dann nicht unauffälliger, wenn er mich erreichen würde? Dann könnte ich schneller herausfinden, ob er einer von uns ist und wir können ihn in Sicherheit bringen.“

 

„Das ergibt durchaus Sinn“, gesteht der Vater eher zu sich selbst, ehe er sich seinem älteren Sohn zuwendet. „Was denkst du, Ajax?“

 

Ajax mustert seinen kleinen Bruder nachdenklich. Erst Minuten später, als die Limousine das erste Grundstückstor der Turanos passiert, antwortet der junge Mann: „Von mir aus. Solange es der Mission dient.“

 

„Okay, dann wäre das beschlossen. Eren, für die Dauer der Mission bekommst du ein Handy, aber du gibst es sofort wieder ab, sobald diese abgeschlossen ist. Einverstanden?“, entscheidet Turano streng.

 

„Ja, natürlich, Vater.“

 

~~~

 

Den restlichen Montag hat Eren nach seinem typischen Stundenplan verbracht. Allerdings wurde der Privatunterricht unter der Woche herausgestrichen, ebenso gekürzt wurden die Untersuchungen und Tests bei Dr. Ryu. Dafür sind die Hausaufgaben, Lernen und Kräfteschrumpfungen hinzugekommen. Sodass sein Terminplan trotzdem voll ist.

 

Bereits am nächsten Morgen hat der Junge sein erstes eigenes Smartphone erhalten, inklusive des unvermeidlichen Vortrags von Ajax, wie er das Handy zu benutzen hat und welche Regeln damit verbunden sind. Unter anderem darf er weder den von Ajax eingerichteten Entsperrcode ändern, noch unnütze Dateien, Fotos, Kontakte und/oder Apps abspeichern. Es dient ausschließlich der Kommunikation mit Ajax, seinem Vater und Max.

 

Auch wenn ihn diese Überwachung stört, ist es nicht überraschend oder ungewohnt für den Zwölfjährigen. Außerdem hatte er eh noch keine Zeit die Funktionen des kleinen Geräts zu erforschen, da es bereits wieder Zeit für die Schule war.

Wer verhört hier wen?

Mittlerweile ist die sechste Schulstunde vorbei und die Klasse leert sich. Es ist Mittagspause und alle wollen schnell in die Cafeteria. Auch Eren packt seine Sachen zusammen und folgt dem Strom an Schülern, um nicht dem nutzlosen Plan des Direktors folgen zu müssen. Heute hat Eren den ersten Nachmittagsunterricht: Musik und Sport. Vor ersterem graut´s ihm. Hoffentlich muss er nicht singen. Oder ein Instrument spielen. Oder tanzen. Alles davon beherrscht er so gut, wie ein zweibeiniger Elefant im berüchtigten Porzellanladen. Sport interessiert ihn da schon mehr. Ob das so wird wie eine Trainingseinheit bei ihm Zuhause? Wohl kaum. Seine Klassenkameraden sehen nicht ansatzweise so aus, als könnten sie mit den Standards des Bunkertrainings mithalten.

 

In der Kantine angekommen, reihen sich die meisten Schüler zielstrebig an der Ausgabe ein oder sichern sich einen der vielen runden Tische. Nur Eren bleibt unschlüssig in Türnähe stehen. Jeder scheint hier schon einen Stammplatz zu haben, was ihm die Entscheidung, wo er sitzen soll, nicht gerade leichter macht.

 

Im Grunde ist es egal, beschließt er und steuert einen freien Tisch am Rand an. Er nimmt die Schultasche und den Sportbeutel ab und setzt sich so, dass er die Wand im Rücken und die Cafeteria im Blick hat. Je voller es wird, desto mehr kristallisiert sich eine Art Hierarchie heraus. Bestimmte Typen sitzen beieinander, wobei die meisten leicht an ihren Uniformen für die nachmittäglichen Wahlfächer erkennbar sind. Sportler - vermutlich Fußball nach dem schwarz-weißen Ball zwischen ihnen zu urteilen - haben drei Tische zusammengeschoben. Am Tisch daneben sitzen Cheerleader mit einem Pompomberg zwischen ihnen. In einer anderen Ecke sammeln sich Schüler mit Musikinstrumenten. Eine Schulband? Hat der Direktor die nicht erwähnt? Irgendwie kommt ihm das alles ziemlich klischeehaft vor. Sogar die Plakate an den …

 

„Hey, hast du keinen Hunger?“

 

Vor Schreck wäre er beinahe vom Stuhl gefallen und, was noch schlimmer wär, hätte aus Reflex nach dem Anschleicher geschlagen. Beides kann er glücklicherweise verhindern, doch zusammenzucken und einen beschleunigten Puls bekommt er dennoch. Anklagend funkelt er den Blonden an, der sich breit grinsend auf den Stuhl neben ihm sinken lässt. „Du liebst es dich anzuschleichen und andere zu erschrecken, oder?“

 

„Sorry, aber du lässt dich auch echt leicht erschrecken“, entgegnet Max und bringt Eren damit dazu, sich über sich selbst zu ärgern.

 

Der Junge hat ja recht. In letzter Zeit lässt er ziemlich nach, was seine Aufmerksamkeit angeht. Echte Gefahren hätten da leichtes Spiel. Er muss das unbedingt ändern, bevor Ajax das noch mitbekommt.

 

„Also? Keinen Hunger? Holst du dir nichts?“, wiederholt er die Frage.

 

„Nein. Also, ja, Hunger schon, aber ich hab was dabei.“ Zum Beweis holt er eine schwarze Box aus der Schultasche hervor.

 

„Gute Entscheidung“, lobt Max anerkennend, der ebenfalls eine blaue Lunchbox aus seiner Tasche zieht. „Das Cafeteriaessen sieht vielleicht gut aus, aber es schmeckt wie alte Sportsocken.“

 

„Auf den Geschmack kann ich gerne verzichten.“ Eren verzieht angeekelt das Gesicht. Das ist zwar nicht der eigentliche Grund für sein mitgebrachtes Essen, aber auch einer der Gründe. Hauptsächlich ist mal wieder seine Familie schuld, die trotz der Schulmission nicht duldet, dass Eren seinen Essensplan durcheinander bringt.

 

„Oh, ist unserem Prinzlein das Schulessen etwa nicht gut genug?“, nörgelt Timo bevor - Wie sollte es anders sein? - er sich zu Max und Eren an den Tisch setzt. Er hat sich etwas von der Kantine geholt und so wie es Max gesagt hat, sieht es nach einer gewöhnlichen Portion Spaghetti Bolognese aus.

 

Warum scheint Eren diese stänkernden Trottel nur magisch anzuziehen? Warum setzt der sich eigentlich zu ihm, wenn er ihn eh nicht ausstehen kann? Möglichst gefasst sieht er zu seinem Klassenkameraden. „Nein, aber ich hab einen Ernährungsplan und keine Lust darauf mir den Magen zu verderben. Max hat mich wegen dem Essen schon vorgewarnt.“

 

„Echt, du hast sogar einen Ernährungsplan?“, hakt Max ungläubig nach.

 

Eren öffnet zwar den Mund, aber Timo ist schneller. Diesmal allerdings richten sich seine harschen Worte an den Blonden. „Hör auf überall rumzuerzählen, dass das Schulessen schlecht sei. Das hab ich dir schon ein paar Mal gesagt! Nur weil du einmal einen verdorbenen Fisch erwischt hast, heißt das noch lange nicht, dass alle Gerichte zu Übelkeit führen!“

 

„Kann sein“, gibt Max schuldbewusst zu und zieht leicht den Kopf ein. „Aber immer wenn ich an Schulessen denke, muss ich an den Fisch denken und dann wird mir schlecht.“ Als Beweis hält er sich den Magen und wird tatsächlich ein wenig grün um die Nase.

 

„Lass ihn doch, wenn er lieber von Zuhause was mitbringen will.“ Auch Paula setzt sich nun zwischen Max und Timo mit einem Tablett voller Spaghetti an den Tisch. An Eren gewandt ergänzt sie: „Timo ist sehr empfindlich, was das Thema betrifft. Die Köchin ist nämlich unsere Mutter.“

 

„Ihr seid Geschwister?“ Ungläubig blinzelt der Experimentjunge die beiden an. Sie sehen sich nicht ähnlich genug, um Verwandt zu sein.

 

„Naja, Stiefgeschwister. Mein Dad hat seine Mom vor ein paar Jahren geheiratet“, erklärt Paula während sie ein paar Nudeln auf die Gabel aufdreht.

 

„Wieso erzählst du ihm das?“, ärgert sich Timo grundlos.

 

„Oh, tut mir leid. Ich wusste nicht, dass das ein Geheimnis ist!“, entgegnet sie pampig.

 

„Streitet Timo eigentlich mit jedem?“, erkundigt sich Eren mit gerunzelter Stirn bei Max.

 

„Ja, so ziemlich“, bestätigt dieser, öffnet seine Box und beißt von seinem Sandwich ab. Mit noch halbvollem Mund - ein Benehmen für das Eren einen Dolch von Ajax kassiert hätte - ergänzt er: „Er will immer recht haben und in allem der Beste sein und steht auch sonst gern im Mittelpunkt. Du als Neuer und auch noch ein Turano bekommst eben seinen ganzen Neid zu spüren. Gib ihm ein paar Wochen … oder Monate. Er wird sich schon wieder einkriegen.“

 

So lange wird die Mission hoffentlich nicht dauern. Aber warum fragt er eigentlich nach dem Streithahn? Der ist nicht seine Zielperson. Um diesen Fehler schnell zu überspielen, wendet sich Eren nun komplett zu Max um. „Übrigens, ich hab wegen Freitag gefragt. Es geht klar.“

 

„Oh, klasse! Das wird spitze, das verspreche ich! Ich zeig dir, wir man richtig Halloween feiert. Und dann wirst du Halloween genauso lieben wie ich“, prophezeit der Blonde zuversichtlich. „Vor allem, wenn wir jede Menge Süßkram erbeuten.“ Ein gieriges Glitzern erscheint in den grünen Augen. Ist das ein Fähigkeitenhinweis? Nein. Das ist nur gewöhnliche Zuckersucht.

 

„Ja, mal sehen.“ *Mal sehen, was ich an Halloween aus dir rausbekomme.*

 

„Und? Weißt du schon, als was du dich verkleidest?“, erkundigt sich der Blonde im Halloweenmodus.

 

„Geht ihr wirklich noch auf Süßes oder Saures?“ Der Klassensprecher zieht eine spöttische Schnute.

 

„Klar. Willst du mitkommen?“, bietet Max freundlicherweise an.

 

Hoffentlich nicht. Wenn Timo dabei ist, kann Eren sein Vorhaben gleich vergessen.

 

„Ganz sicher nicht. Das ist doch Kinderkram“, behauptet Timo zu Erens Erleichterung und stopft sich eine Gabel voll Spaghetti in den Mund. „So sind zwei Konkurrenten weniger am Kostümwettbewerb der Schulfeier beteiligt. Mir ist´s recht. Auch wenn keiner von euch eine echte Konkurrenz wär.“

 

„Da werden wir auch dabei sein“, beschließt Max und funkelt Timo herausfordernd an. „Wir werden ja sehen wer gewinnt. Nur als Erinnerung, ich hab letztes Jahr auch gewonnen. Weißt du noch?“

 

Na sieh mal einer an. Max scheint Wettbewerbe zu mögen. Kann man mit dieser Info irgendetwas anfangen?

 

„Na und? Da hatte ich mir auch den Arm gebrochen und konnte nicht teilnehmen“, erinnert ihn der Schwarzhaarige ausweichend. „Aber dieses Jahr bin ich voll dabei!“ Kampfbereit erhebt er seine Faust. In diesem Zusammenhang und mit einem Tomatenbart wirkt er allerdings eher zum Auslachen als zum Fürchten.

 

„Herausforderung angenommen.“ Die beiden Jungs schlagen ein, funkeln sich noch einmal rivalisierend an und die Sache ist geritzt. „Also, zurück zum Thema.“ Max sieht wieder zu Eren und fügt streng mit dem Sandwich auf ihn gerichtet hinzu: „Dein Kostüm. Damit meine ich ein echtes Kostüm und keinen feinen Anzug wie am Spielplatz.“

 

Timo prustet los. „Echt jetzt? Du hattest am Spielplatz einen Anzug an?“

 

„Jaa, das kannst du vergessen“, lautet Erens vernichtende Antwort, der Timo vollständig ignoriert. Stattdessen öffnet er nun selbst seine Lunchbox. Heute ist Dienstag, nicht? Das heißt es gibt einen Wrap. Nichts extravagantes, aber jede Woche die gleiche Reihenfolge. Es schmeckt gut, aber für etwas anderes, als das was in seinem Ernährungsplan steht, würde er töten. Wortwörtlich. Sein Vater hat den Ernährungsplan extra für ihn von einem Experten erstellen lassen und an den muss er sich schon seit Monaten halten. Einmal im Jahr wird der Plan erneuert. Nicht mal bei seiner Ernährung hat er ein Mitspracherecht.

 

„Was? Wieso?“, verlangt Max empört zu erfahren und ignoriert ebenfalls Timo, der vor Lachen gerade an einer Spaghetti erstickt. Paula klopft ihrem Stiefbruder mehr oder weniger hilfsbereit auf den Rücken.

 

„Na, weil das eine der Bedingungen war, weshalb ich Freitag überhaupt mitgehen darf“, antwortet der junge Turano ehrlich. „Außerdem hatte ich eh keine große Lust mir ein Bettlaken über den Kopf zu werfen und die ganze Zeit Buh zu rufen.“

 

„Ach, komm schon“, quengelt Max flehend und zieht einen Schmollmund. „Du musst ja nicht als Geist gehen, aber ein Kostüm gehört an Halloween einfach dazu.“

 

Eren schüttelt den Kopf. „Da musst du nicht mich überreden, sondern meinen Vater und Ajax.“

 

„Gut, mach ich. Holen sie dich heute ab?“ Der flehende Blick ist von einer Sekunde auf die andere einem mehr als entschlossenem gewichen. Ist Wankelmütigkeit ein Hinweis? Ne, das ist einfach nur eine Eigenart.

 

„Kann ich nicht sagen. Mein Bruder höchstwahrscheinlich schon, mein Vater … keine Ahnung“, meint Eren schulterzuckend.

 

„Dann geh ich einfach mit dir zum Auto und dann sehen wir schon“, entschlossen schiebt er sich den letzten Bissen in den Mund.

 

„Nein, das ist eine ganz, ganz miese Idee.“ Eren wird bleich um die Nase, wenn er nur daran denkt, was passieren könnte, wenn Max bei Ajax´ Mustang oder der Limousine auftaucht und darum bittet, dass Eren sich Freitag verkleiden darf. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass Max dann einfach im Auto mitgenommen, unter Folter befragt und anschließend mit gelöschtem Gedächtnis am Straßenrand ausgesetzt wird. Das wäre die bevorzugte Art seines Bruders diese Mission abzuschließen. „Du kennst meinen Bruder nicht. Der lässt sich nicht überreden. Wenn du ihn fragst, verbohrt er sich nur noch mehr in seiner Meinung.“

 

„Ich kann aber auch ganz schön nervig und verbohrt sein“, verkündet Max als wäre es ein großes Talent und hebt stolz das Kinn.

 

„Ja, das kann er“, stimmt Paula zu. „Er gibt nicht auf, bis er bekommt, was er will. In dem Punkt ist Max eine hartnäckige Nervensäge.“

 

„Das durfte ich auch schon zweimal erfahren.“ Eren wirft Max einen gespielt grummeligen, vorwurfsvollen Seitenblick zu.

 

Max spielt sofort mit, fasst sich verletzt ans Herz und tut so, als würde er sich eine Träne von der Wange wischen. „Ihr seid so gemein zu mir. Und ich dachte, ihr wärt meine Freunde.“

 

Da ist wieder dieses Wort: Freunde. Sieht der naive Blondschopf Eren tatsächlich schon als Freund an? Kann es wirklich so einfach sein, sich in dessen Leben einzuschmuggeln? Irgendwie kann der junge Turano das nicht ganz glauben. Niemand schließt so schnell Freundschaft. Er kennt ihn ja überhaupt nicht. Aber gut, was weiß er schon über Freundschaft? Was beschwert er sich überhaupt? Max macht ihm die Mission so nur einfacher.

 

„Weißt du was mir gerade so auffällt, Eren?“, fragt Max plötzlich mit einem seltsamen Schmunzeln.

 

„Hm?“ Misstrauisch kneift Eren die Augen zusammen und kaut langsam weiter.

 

„Heute bist du viel offener als am Spielplatz oder im Krankenhaus. Du solltest öfter ohne deinem Bruder wo hingehen“, schlägt er mit dem Kinn auf der Handfläche abgestützt vor und einem Schmunzeln voller Genugtuung im Gesicht.

 

Eren erstarrt mitten in der Kaubewegung. Fieberhaft lässt er jeden einzelnen Satz der Mittagspause Revue passieren, analysiert jedes von ihm gesagte Wort und überlegt, ob er zu viel verraten hat. Er hat ein bisschen über seinen Vater und Bruder gemeckert, ja, aber … Kann man das schon gegen die Turanos verwenden? Schädigt das bereits den Ruf der Familie? Erregt das Misstrauen? Das darf nicht sein! Seine erste Solomission, sein erstes Mittagessen mit Gleichaltrigen und diese drei bringen ihn dazu, einfach locker zu antworten, ohne wirklich darüber nachzudenken. Was ist aus dem jahrelangen Verhörtraining geworden? Wo ist das alles hin?

 

~~~

 

Den Großteil der restlichen Mittagspause hat Eren konzentriert an seinem Wrap geknabbert und den dreien hauptsächlich nur zugehört, wie sie über die geplante Halloweenfeier und den Kostümwettbewerb geredet haben. Ab und zu hat er einen Kommentar mit eingeworfen, sodass es nicht komplett so aussieht, als wäre er durch Max´ Feststellung so dermaßen verunsichert worden, dass er nur noch darüber nachdenkt, wie man ihm seine Worte im Mund herumdrehen könnte.

 

Dann endlich zuckt er wegen der schrillen Schulglocke, an die er sich noch immer nicht gewöhnt hat, zusammen, packt sein Mittagessen weg, steht auf und geht zusammen mit den anderen zur ersten Musikstunde seines Lebens. Die Lehrerin ist noch relativ jung, hat kurze braune Haare und trägt ein knielanges braun kariertes Kleid mit schwarzer Leggins. Sie hat sofort bemerkt, dass Eren neu in der Klasse ist, noch bevor er sich auf einen Stuhl gesetzt hat. Sie hat sich vorgestellt, nach seinem Namen gefragt und das war´s dann auch mit Vorstellungsrunde. Zum Glück ist sie nicht die Art Musiklehrerin, die ihre Schüler dazu zwingt etwas vor der ganzen Klasse vorzusingen. Sie lehrt lieber die Notenleiter. Ausnahmsweise ein Theorieunterricht, den Eren noch nicht vom Privatunterricht her kennt. Nur leider ist der Stoff deshalb auch nicht spannender. Und hilfreich für die Missionen erst recht nicht.

Die Umkleideproblematik

„Ah, endlich ist der Unterricht vorbei!“, freut sich Max, streckt die Arme zur Decke und gähnt.

 

Verwundert sieht ihn Eren von der Seite an. „Haben wir nicht noch Sport? Oder hab ich den falschen Stundenplan?“ Wirklich überraschen würde es den Jungen nicht. Bei der unorganisierten Schule.

 

„Nein, stimmt schon. Aber der Theorieunterricht ist vorbei“, korrigiert sich Max auf dem Weg zur Turnhalle. „Sport ist ja nicht wirklich Unterricht.“

 

„Was macht ihr denn so in Sport?“

 

„Also momentan eigentlich nichts bestimmtes“, grübelt Max mit gerunzelter Stirn. „Wir sollen einfach ein paar Stationen im Kreis abarbeiten.“

 

„Also Zirkeltraining?“ Damit kann Eren auch was anfangen. Vermutlich ist es eine einfachere Variante wie bei ihm Zuhause, das bedeutet, er muss aufpassen nicht übernatürlich gut zu sein, um nicht aufzufallen. Schön durchschnittlich bleiben.

 

„Ich glaub“, mischt sich Timo ungefragt ein, der vor den beiden die Treppe zu den Umkleiden hinabsteigt, „Herr Lang ist einfach zu faul, uns was richtiges beizubringen. Im Zirkel muss er uns nicht viel erklären, da kann er die meiste Zeit am Rand sitzen und seine Opamusik hören. Deshalb bin ich auch im Kampf-Club. Ich brauch eine Herausforderung. Nur leider gibt’s da auch keine ebenbürtigen Gegner mehr. Die hab ich schon alle fertig gemacht.“ Was soll dieser Seitenblick zu Eren bedeuten? Das überhebliche, provozierende Glitzern im Augenwinkel gefällt dem Turano auf alle Fälle nicht. „Na, wie wär´s, Eren? Willst du´s nicht mal probieren? Der Kampf-Club sucht immer neue Mitglieder.“

 

„So verlockend das auch klingt … Nein, danke“, lehnt Eren geradeheraus ab.

 

„Ach, komm schon“, versucht der Klassensprecher ihn zu überreden. „Falls du Angst vor ein bisschen Körperkontakt hast, keine Sorge, ich würde mich natürlich zurückhalten.“

 

„Wie nett von dir“, säuselt Eren gespielt gerührt. „Trotzdem, kein Interesse.“

 

Ein wissendes Grinsen zieht Timos Mundwinkel auseinander. „Verstehe. Du bist eben ein typischer reicher Feigling, der seine Bodyguards losschickt, um selbst nicht dreckig zu werden, stimmt´s?“ Timo hebt selbstgefällig das Kinn. „Tja, es kann eben nicht jeder so mutig sein wie ich und selbst die Dinge in die Hand nehmen. Doch davon verstehst du sicher nichts. Tja, tja.“

 

Eren spannt den Kiefer an und vergräbt die Hände in der Bauchtasche seines Sweatshirts, damit der eingebildete Typ die geballten Fäuste nicht sieht. Es kostet ihn wirklich alles an Selbstbeherrschung, ruhig zu bleiben und nicht auf ihn loszugehen. Dem Kerl würde es definitiv nicht schaden mal seine Grenzen gezeigt zu bekommen. Nur leider ist er ein Turano auf geheimer Mission, gleich zwei Gründe, weshalb das hier in der Schule, vor den Augen der ganzen Klasse, eine miese Idee ist. Plötzlich ist der Zwölfjährige doch ganz froh darüber, dass Ajax auch heute auf die morgendlichen Kräfteschrumpfungen bestanden hat. Ansonsten würden jetzt sicher lila Augen sichtbar sein. Also begnügt er sich gezwungenermaßen damit, sich einfach nur vorzustellen, Timo eine zu verpassen. Oder zwei.

 

„Lass dich ja nicht von ihm provozieren“, rät Paula, die ihrem Stiefbruder gegen den Oberarm boxt. „Und du hältst jetzt endlich mal deine Klappe, Timothy Jessy Zaun-Peidl!“

 

„Timothy Jessy Zaun-Peidl?“, wiederholt Eren schmunzelnd.

 

Paula dreht sich mit einem frechen Grinsen zu ihm um. „Sein vollständiger Name. Er hasst ihn.“

 

„Und wieso verrätst du ihm den?! Solltest du als Stiefschwester nicht auf meiner Seite sein?“, regt er sich auf und wird rot im Gesicht.

 

„Dann hör auf, dich wie ein Arsch zu benehmen“, fordert Paula mit verschränkten Armen, ohne sich im geringsten einschüchtern zu lassen. „Was ist nur los mit dir?“

 

Hoffentlich ist die Mission bald vorbei. Täglich dieses provokante Gezanke aushalten zu müssen ... Eren weiß nicht, wie lange er sich beherrschen kann.

 

~~~

 

In den Umkleiden sucht sich Eren einen Platz ziemlich am Rand, stellt dort seine Schultasche ab und öffnet den Sportsack, ebenfalls von Ajax und den Angestellten zusammengestellt. Das Sportoutfit der Schule, das alle Schüler während des Sportunterrichts tragen müssen, besteht aus locker sitzenden schwarzen Shorts mit blauen Längsstreifen an den Seiten und einem T-Shirt im gleichen Blauton mit schwarzen Querstreifen über der Brust und dem Schulmaskottchen am Rücken: ein kämpferisch grinsender Cartoon-Orca mit einem Schweißband an der Finne, auf dem das Schulwappen abgebildet ist. Ziemlich albern in Erens Augen.

 

„Du hast deine Sportklamotten schon bekommen? Als ich neue brauchte, hab ich fast einen Monat warten müssen“, erinnert sich Max, der seine Tasche neben Eren auf die Bank entlang der Wand stellt und die Schuhe abstreift.

 

„Ich könnte auch langsam neue gebrauchen.“ Klar, dass Timo auch seinen Senf dazugeben muss, um sich wieder in den Mittelpunkt zu drängeln. „Die jetzigen werden allmählich zu eng. Tja, das kommt eben davon, wenn man so viel Kampf-Club-Training hat. Davon bekommt man Muckis. Ihr habt´s gut. Das Problem kennt ihr ja nicht.“

 

*Wenn der wüsste*, denkt sich Eren innerlich mit den Augen rollend. Kann man ihn irgendwie auf Stumm schalten? Ein „versehentlicher“ Schlag gegen den Kehlkopf zum Beispiel? Außerdem, so muskulös wie er behauptet zu sein, sieht er gar nicht aus. Ja, man erkennt einen leichten Sixpack und auch an den Armen ein wenig, aber ansonsten sieht er eher schwächlich aus. Eren ist sich sicher, dass er ihn mit einer Hand besiegen könnte. Wahrscheinlich sogar mit weniger.

 

„Klar, versteh ich dein Problem. Ich hab auch Muskeln, die bald nicht mehr in mein T-Shirt passen“, behauptet Max gespielt prahlerisch, kann sich aber ein fettes Grinsen nicht verkneifen. Er hat sich einfach kurzerhand einen Stift heraus gekramt und sich einen Sixpack auf den Bauch gemalt. Ziemlich schief und blau.

 

„Der zählt nicht!“, ärgert sich Timo grummelnd.

 

„Der zählt sehr wohl!“, entgegnet Max bestimmt. „Der sieht doch total echt aus! Nicht wahr, Eren?“

 

Eren dreht den Kopf weg. Er will nichts damit zu tun haben. Mit Sicherheit ist das einer dieser Punkte, der nichts auf dem Turano-Niveau zu suchen hat. Dennoch fragt er sich: Sind die beiden tatsächlich Freunde? Timo wirkt im Moment jedenfalls weniger eifersüchtig und streitlustig. Er lacht sogar ehrlich während er vergeblich versucht Max zu erklären, dass ein aufgemalter Sixpack für die Tonne ist.

 

Dabei fällt ihm eine günstige Gelegenheit auf. Scheinheilig stellt Eren seinen Fuß auf die Bank und öffnet konzentriert die Schnürsenkel, nur um verstohlen zu Max schielen zu können. Max ist, trotz der angeblichen Speckrolle, die ihm Timo aufschwatzen will, schlank, wenn sich auch kaum Muskeln abzeichnen. Außer dem aufgemalten Sixpack natürlich. Aber ansonsten sieht er völlig normal aus. Keine Federn verstecken sich unter den Klamotten, keine Schuppen, kein Fell, keine Flügel. Nicht mal eine Tätowierung, keine aus Buchstaben und Zahlen und auch keine andere.

 

*Eren, du Dödel! Natürlich hat er keine Kennzeichnung! Sonst wäre er ja schon längst im Bunker!*

 

Also hat Max schon einmal keine äußerlichen Merkmale auf irgendwelche besonderen Fähigkeiten. Schade. Das hätte es einfacher gemacht. Wie er es anstellen soll, dass ihm Max von möglichen unauffälligeren Fähigkeiten erzählt, weiß er noch nicht. Vielleicht wäre Hypnose doch eine Option? Er hat nur leider keine Ahnung, wie man jemanden hypnotisiert.

 

Plötzlich fällt ihm etwas auf. Er stockt mitten in der Bewegung, die Schuhe liegen bereits unter der Bank und die Hose hat er auch gewechselt, aber beim Oberkörper zögert er. Max hat vielleicht keine äußeren Merkmale, er selbst allerdings schon. Und wenn er sich jetzt hier vor den anderen umzieht, ist es unvermeidbar, dass sie seine Male und die Tätowierung sehen. Daran hat er vorher natürlich nicht gedacht. Ajax und sein Vater anscheinend auch nicht, sonst hätten sie ihm sicher eine Sportbefreiung geschrieben.

 

Und was jetzt? Soll er einfach so tun, als hätte er das T-Shirt vergessen? Zu spät, es hängt nämlich schon halb aus dem Sportbeutel heraus. Auf alle Fälle sollte er sich schnell etwas einfallen lassen, denn noch lange mit den Fingern im Saum des Sweatshirts verkrallt wie erstarrt dazustehen, erregt nur noch mehr Aufmerksamkeit.

 

„Alles okay, Eren?“, erkundigt sich Max noch immer lachend, hat es aber mittlerweile geschafft sich das T-Shirt überzustreifen.

 

„Ja, i-ich“, beginnt er, räuspert sich kurz und schnappt sich seinen Sportbeutel. „Ich muss nur kurz auf´s Klo.“

 

Bevor jemand was sagen kann, flitzt Eren in einem möglichst unauffälligen Tempo in die Toilettenkabinen und sperrt sich in der ersten ein. Wie gut, dass Umkleiden immer Toiletten- und Duschräume haben. Hier kann er sich unentdeckt umziehen.

 

Offenbar hat sich Ajax doch was beim Sportunterricht gedacht, denn im Beutel findet Eren ein Paar breiter Schweißbänder. Mit Sicherheit wird er der einzige sein, der solche trägt, aber er ist auch der einzige, der eine Tätowierung am linken Unterarm und übersinnliche Male an beiden Handgelenken verbergen muss.

 

Wenig später kehrt er in vollständiger Sportmontur zurück auf seinen Platz und schlüpft in die Turnschuhe.

 

„Alles okay?“, fragt Max erneut nach als sich der junge Turano auf die Bank setzt. „Ist dir schlecht oder so? Dabei hast du doch gar nichts vom Schulessen gehabt.“

 

„Zum letzten Mal: Hör auf ständig rumzuerzählen, dass meine Mom schlecht kocht!“, regt sich Timo wieder auf, tippt dabei bei jedem Wort gegen Max´ Brust.

 

„Nein, alles gut“, antwortet Eren, ohne von den Schnürsenkel aufzusehen oder Timos Worte zu beachten.

 

„Bestimmt hat er sich nur wegen seinem Speckbauch geschämt“, behauptet Timo überzeugt. Wieso ist der noch nicht in die Turnhalle gegangen?

 

„Timo, jetzt hör doch mal auf“, unterbricht Max ihn barsch. An Eren gewandt fährt er fort: „Er meint es ...“

 

„Schon gut“, versichert Eren bevor der Blonde seinen Satz beenden kann. „Ich musste wirklich nur auf´s Klo.“

 

„Und warum hast du dich dann nicht hier umgezogen?“, verlangt der Klassensprecher zu wissen. Hat der keine anderen Hobbys?

 

„Na, weil ich dachte, so Zeit zu sparen. Immerhin sind wir die letzten“, erfindet Eren schnell eine Ausrede. Die ist noch nicht einmal gelogen. In der Umkleide sind wirklich nur noch sie drei, die restlichen Jungs sind bereits zur Turnhalle gegangen. „Können wir dann gehen?“

 

„Klar." Max setzt sich als erstes in Bewegung. „Wie gut, dass Herr Lang keine Strafen für´s Zuspätkommen vergibt.“

 

„Ja, sonst müsstest du ständig zum Nachsitzen“, witzelt Timo, der Eren noch einen seltsamen Blick zuwirft und dann dem Blonden folgt.

 

Eren seufzt stumm auf, erleichtert, dass er die Umziehsituation doch noch so gut gemeistert hat. Für nächste Woche wird er sich fest vornehmen die Schweißbänder gleich in der Mittagspause anzuziehen, um nicht wieder aufs Klo flüchten zu müssen. Zwei Wochen hintereinander wäre doch ein wenig auffällig. Auch wenn es ihm ja eigentlich egal sein kann, was die Nichtzielpersonen von ihm denken. Naja, außer es hat was negatives mit seinem Familiennamen zu tun. Ach, Schule ist so kompliziert!

Und das Verhör geht weiter

In der großen Turnhalle angekommen, die der im Bunker gar nicht so unähnlich ist - allerdings nur halb so groß, ohne Fluggeräte, die von der Decke baumeln und Fenster existieren - werden sie gleich von Herrn Lang begrüßt, der die Arme verschränkt hat und ungeduldig mit dem Fuß tippt.

 

„Da sind ja meine Trödler. Na los, hop, hop, nicht nur rumstehen, wärmt euch auf“, weist der Mann mit ergrauten Haaren die drei Jungs an und klatscht dabei drängend in die Hände. Er wartet allerdings gar nicht auf eine Reaktion, hakt nur die Anwesenheit ab und macht sich auf den Weg zu seinem kleinen Lehrerkammerl an der Seite.

 

Die restliche Klasse ist bereits dabei im Kreis zu laufen. Das erste was Eren dabei auffällt ist: die sind langsam. Und unkoordiniert. Und das, obwohl es wirklich NUR Joggen ist. Keine Hindernisse, Fallgruben oder Monster, die einem im Nacken sitzen. Einige keuchen jetzt schon wie nach einem Marathon, andere sind noch einigermaßen gut in Form, aber die meisten liegen so im Mittelfeld.

 

„Na kommt, wer mehr Runden schafft!“, schlägt Max euphorisch vor und rennt bereits los.

 

„Das war ein Fehlstart! Du wirst disqualifiziert!“, verlangt Timo sofort ihm hinterher sprintend.

 

Eren seufzt noch einmal stumm und setzt sich dann ebenfalls in Bewegung. In wenigen Sekunden hat er die Beiden eingeholt, sehr darauf bedacht sie nicht zu überholen. Er will möglichst durchschnittlich wirken.

 

„Hey, Jungs. Wo habt ihr denn so lange gesteckt?“ Paula hat sich etwas zurückfallen lassen, um bei den Dreien laufen zu können.

 

„Tja, hätte sich das Turanolein nicht so geniert und sich am Klo umziehen müssen, wären wir früher fertig gewesen“, schiebt er die Schuld auf Eren.

 

Dieser verkneift sich einen bissigen Kommentar, stattdessen sagt er: „Ohne euren Bauchvergleich wären wir auch früher hier gewesen. Außerdem hättet ihr nicht auf mich warten müssen.“

 

„Quatsch, das tun Freunde eben“, verkündet Max selbstverständlich.

 

„Moment, Bauchvergleich? Will ich es überhaupt wissen?“ Unsicher hat die Brünette die Augenbrauen hochgezogen, dennoch blitzt belustigtes Interesse in ihren Augen auf.

 

„Wir haben festgestellt, dass Timo und ich einen Sixpack haben. Schau“, genauso dämlich grinsend wie in der Umkleide zieht Max sein T-Shirt etwas hoch und präsentiert den blauen Sixpack. Ehrlich? Der hat ihn immer noch nicht abgewischt? „Der sieht doch voll echt aus, oder?“

 

Paula prustet los, gerät dabei ins Straucheln und stolpert ein paar Schritte vor sich hin, ehe sie sich einigermaßen wieder gefangen hat. Sie gackert immer noch, hält sich den Bauch und wischt sich eine Träne aus dem Augenwinkel. „Echt jetzt, wie kommt ihr immer auf so dämliche Ideen?“

 

Das fragt sich Eren auch.

 

„Übrigens, im Klo umzuziehen ist völlig normal. Das machen bei den Mädchen auch viele“, meint sie überraschenderweise an Eren gewandt.

 

„Vielleicht bei den Mädchen, aber bei den Jungs macht das niemand. Naja, niemand bis auf das reiche Söhnchen.“ Abwertend deutet der Klassensprecher auf Eren, der hinter ihm läuft und denkt nicht daran seine Stimme zu senken.

 

Blöd an diesen Sporthosen ist, es gibt keine Taschen in die er seine Hände vergraben kann. Gut wiederum ist, dass er durch das Joggen sowieso schon die Hände zu Fäusten geballt hat. Jetzt bohren sich nur die Nägel langsam in seine Handflächen. „Ich hab doch gesagt, ich musste nur auf´s Klo.“

 

„Klar, wer´s glaubt.“

 

Er kann einfach nicht aufhören. Und dann grinst er auch noch so provokativ!

 

Nein, Eren muss ruhig bleiben.

 

Der junge Turano schließt für einen Moment die Augen, atmet tief ein, konzentriert sich auf seinen Herzschlag und atmet langsam aus. Als er die Augen wieder öffnet, will er zwar immer noch diesem Timothy Jessy Zaun-Peidl eine Nasenkorrektur verpassen, aber er kann sich zumindest wieder soweit beherrschen, dass er es nicht tut. Jetzt noch nicht. Dafür boxt ihn seine Stiefschwester. Wenigstens etwas.

 

„So. Und jetzt versuch mal für fünf Minuten deinen Rand zu halten. Zeig uns doch lieber wie viele Runden zu schaffst oder ob das nur hohle Angeberei ist“, schlägt Paula vor, um ihren aufbrausenden Bruder von ihnen wegzulocken. „War dein Rekord nicht bei Zwanzig oder so?“

 

„Zweiundzwanzig“, korrigiert Timo prahlerisch. „Und den Rekord werde ich jetzt brechen. Bis nachher, ihr lahmen Schnecken!“

 

Damit flitzt er davon. Endlich. Erleichtert seufzt Eren auf. „Der ist anstrengend.“

 

Völlig unerwartet knurrt Paula neben ihm, weshalb er reflexartig einen Satz zur Seite macht.

 

„Ich weiß er ist mein Stiefbruder, aber manchmal könnte ich ihn einfach ...“ Die Erklärung geht in ein weiteres Knurren über, wobei die Geste, die sie dabei macht, keine Fragezeichen offen lässt. Sie atmet tief durch, bemüht wieder entspannt zu werden. „Danke, dass du ihn noch nicht erwürgt hast.“

 

Eren zuckt nur mit den Schultern und fügt im ernstgemeinten Ton hinzu: „Ich kann nicht versprechen, dass das nicht noch passieren wird.“

 

„Ich könnte dich voll verstehen.“ Sie lässt erschöpft die Schultern hängen. „Ich weiß gar nicht, was er momentan hat. Normalerweise ist er nicht auf so einem Machotrip. Nicht so schlimm zumindest."

 

„Das legt sich wieder“, meint Max zuversichtlich, der langsam rot im Gesicht wird. „Sag mal, wie machst du das nur?“

 

Fragend legt Eren den Kopf schief. „Was genau?“

 

„Naja, dass du nicht schwitzt“, erläutert Max abgehakt. „Mir ist jetzt schon heiß und du hast auch noch Schweißbänder an. Ich würde verglühen.“

 

Tja, das ist ein Detail, dass er nicht ändern kann. Er kann nicht auf Kommando schwitzen und die Entfernung und Geschwindigkeit ist viel zu gering, als dass Eren ins Schwitzen kommen würde. „Ich hatte doch Privatunterricht, auch Sport. Da bin ich auch viel gelaufen.“

 

„Echt? Auch mit Profisportlern?“, fragt Paula begeistert nach, die auch ein paar Schweißperlen auf der Stirn hat. Dabei sind erst knapp zehn Minuten rum, wie die Uhr über der Tür verrät.

 

„So ähnlich“, antwortet Eren ausweichend. „Außerdem“, fügt er hinzu, weil er irgendwie das Gefühl hat eine Erklärung für die Bänder abliefern zu müssen, „hab ich da eine nicht gerade schöne Narbe, die muss niemand sehen.“

 

Das ist zumindest teils wahr. Eine Tätowierung ist auch irgendwie eine Narbe, oder?

 

„Eine Narbe?“, wiederholt Max. Seine Mundwinkel heben sich. „Cool! Ich hab auch ein paar Narben.“

 

Und damit beginnt der Blondschopf für die nächsten fünf Minuten seine Narben und deren Entstehungsgeschichte aufzuzählen. Für die meisten ist er selbst verantwortlich - entweder pure Tollpatschigkeit oder ein dummer Zufall. Oder beides. Sogar Paula scheint die meisten noch nicht gekannt zu haben, denn sie kichert bei jeder Zweiten aufs Neue los. Eren versucht inzwischen hinter den Anekdoten versteckte Hinweise auf Übernatürliches zu finden.

 

Schließlich verkündet Herr Lang mit dem ohrenbetäubenden Lärm einer Trillerpfeife, dass das Aufwärmen vorbei sei.

 

„Endlich“, keucht Max und lässt sich einfach auf den Boden fallen, dreht sich auf den Rücken und schließt die Augen. „Ich kann nicht mehr.“

 

„Ich auch nicht“, stimmt Paula zu, die sich ebenfalls auf den Boden setzt und hechelnd atmet.

 

Mit hochgezogener Augenbraue mustert Eren die beiden. Nach so einem einfachen kleinen Lauf sind sie so außer Puste? Wow. Die können froh sein, dass sie nicht Ajax als Lehrer haben. Er würde sie wegen solchen Bemerkungen gleich noch einmal eine Viertelstunde durch die Halle jagen.

 

Er selbst legt die Hände an den Hinterkopf und streckt die Wirbelsäule. Dabei fällt sein Blick auf die Trainingsstationen in der Mitte der Halle, die ihm vorher gar nicht aufgefallen sind. Wann sind die da hingekommen? Ob der Lehrer sie aufgestellt hat, während die Schüler laufen mussten? Eren kann es nicht genau sagen. Genau das ärgert ihn. Noch so ein Moment, in dem seine Aufmerksamkeit mehr als nur zu wünschen übriglässt. Er schwächelt ganz schön in letzter Zeit.

 

„Du“, presst Max zwischen zwei Atemzügen hervor und kämpft sich auf die Ellbogen, „musst mir dringend verraten, wie du das machst. Gibt es irgendeinen Atemtrick oder einen Kniff beim Laufen oder irgendwas?“

 

„Ja. Das nennt man trainieren“, antwortet Eren sarkastisch schmunzelnd.

 

„Trainieren?“ Stöhnend lässt er sich wieder zurückfallen. „Das klingt anstrengend.“

 

„Hey, was ist hier denn los? Seid ihr schon wegen dem bisschen Laufen k.o.?“

 

Und da ist er wieder. Entnervt rollt Eren innerlich mit den Augen, nimmt die Arme runter und verschränkt sie vor der Brust. Dafür, dass Timo so redet, als wäre es einfach gewesen, sieht er dennoch ziemlich rot im Gesicht aus und das T-Shirt hat ein paar verräterische dunkle Flecken.

 

Mit einem überlegenen Grinsen bleibt er bei ihnen stehen. „Ich bin bestimmt doppelt so viel gelaufen wie ihr und kann noch stehen. Nehmt euch mal ein Beispiel an mir.“

 

„Halt die Klappe, Timo“, verlangt seine Stiefschwester schwach. „Ihr zwei seid nicht normal.“

 

„Ja“, pflichtet Max bei, der inzwischen wieder sitzen kann. „Du rennst ewig viel und Eren schwitzt nicht mal. Das ist echt nicht fair.“

 

Ja, der Kommentar hat Timo nicht ganz so gefallen. Er wirft Eren einen vernichtenden Blick zu und mustert ihn von oben bis unten bis er zu dem Ergebnis kommt: „Der hat sich ja auch bestimmt nicht richtig angestrengt.“

 

„Aber ist er dann nicht noch besser als du, wenn er trotzdem mit uns mithalten konnte?“, überlegt Paula weiter.

 

Jap, das war nicht zu Ende gedacht. Das merkt auch Timo, der sich mit einem „Pha" demonstrativ abwendet und zu den anderen Schülern geht, die sich allmählich vor dem Lehrerkammerl versammeln. „Das ist völlig ausgeschlossen.“

 

Die Drei wechseln amüsierte Blicke ehe sie sich ebenfalls zum Rest der Klasse gesellen. Der Lehrer ist gerade dabei ist ihnen die Aufgaben zu erklären. Da sie schon seit ein paar Wochen dieselben Stationen üben, dauert es nicht lange bis Herr Lang die Gruppe entlässt, um wieder in seinem Kammerl zu verschwinden. Die Schüler verteilen sich auf die unterschiedlichen Stationen, um selbstständig zu sporteln.

 

Eren, Max, Timo und Paula starten mit der Nummer Vier: gewöhnlichen Sit-Ups. Dafür setzen sie sich nebeneinander an eine Sprossenwand, verhaken die Füße darin und legen die Arme hinter den Kopf. Zunächst schielt Eren zu den anderen, um sich an die geforderte Art und Geschwindigkeit anzupassen. Auch hier ist das Niveau eher niedrig. Es gibt noch nicht einmal Zusatzgewichte oder ein Nagelbrett unterm Kreuz, damit man nicht zu weit zu Boden sinkt.

 

„Übrigens, was ich dich mal fragen wollte“, druckst Max nach den ersten fünf Sit-Ups herum. „Vielleicht geht’s mich ja auch nichts an und du musst nicht antworten, wenn du nicht willst und ich bin bestimmt zu neugierig, aber vielleicht verrätst du...“

 

„Jetzt frag einfach“, unterbricht ihn Eren bevor es noch Nacht wird bis er mit der Frage rausrückt.

 

„Warum warst du denn jetzt im Anzug im Park?“, rückt er schließlich doch noch mit der Sprache raus.

 

Verwundert dreht Eren den Kopf zu ihm. „Das ist deine wichtige Frage?“

 

„Ja“, gibt er zu. „Ich bin neugierig, hartnäckig und kann nervig sein, weißt du noch?“

 

„Irgendwie“, beginnt Eren, der Timo wiedermal zu ignorieren versucht, der an seinem eigenen Lachen erstickt, „war mir das schon seit dem Park klar.“

 

„Okay, jetzt reicht´s mir. Könntest du mir endlich verraten, woher du einen Turano kennst?“, mischt sich Paula gespielt schmollend ein. „Gestern habt ihr meine Frage auch schon ignoriert.“

 

Bevor sie die Geschichte erzählen können, hallt der Trillerpfeifenton durch die Halle, was bedeutet: Stationswechsel. Als nächstes ist Seilspringen an der Reihe. Das ist eine Übung, die hat Eren auch noch nicht so oft gemacht, doch oft genug, um mit Max mithalten zu können. Paula dagegen hat Schwierigkeiten einen Rhythmus zu finden und Timo … der übertreibt es mit der Angeberei, verheddert sich im Seil und landet auf der Nase.

 

*Geschieht dir recht*, kommentiert Eren gedanklich.

 

„Also“, beginnt der Blondschopf. „Ihr wisst ja, dass letzte Woche Sport ausgefallen ist, deshalb bin ich mit meinem Nachbarn in den Park gegangen, um ein wenig Skateboard zu fahren. Und da hab ich Eren gesehen. Er hatte einen richtig schicken Anzug an mit Lackschuhe, Krawatte und allem drum und dran.“

 

Das war dann wohl Timos Stichwort sich einzumischen. „Wer geht denn bitte im Anzug in den Park?“

 

Max übergeht den gackernden Timo einfach und fährt unbeirrt fort: „Und er war im Park, weil ...“

 

Auffordernd wirft der Grünäugige Eren einen Blick zu. Dieser verdreht kurz ergeben den Kopf. Soll er die Frage überhaupt beantwortet? Solange er weder etwas vom Ort des Kliententreffens, noch vom Klienten oder dem Auftrag selbst etwas erwähnt, sollte es doch in Ordnung sein, oder? Ach, er riskiert´s jetzt einfach. Er hat heute eh schon genug ausgeplaudert, da kommt es darauf jetzt auch nicht mehr an.

 

„Weil“, übernimmt er also das Wort, „ich meinen Vater und Ajax auf ein Meeting begleiten musste. Aber da ich bei der eigentlichen Besprechung nicht dabei sein durfte, musste ich im Wartezimmer bleiben. Das war mir zu langweilig, also bin ich aus dem Fenster geklettert und rüber zum Park geschlichen. Aber dann hatte ich doch ein schlechtes Gewissen. Und weil mich dann auch noch so ein blonder Dödel genervt hat, bin ich zurück ins Wartezimmer gegangen.“

 

„Der blonde Dödel war ich“, erläutert Max überflüssig und irgendwie stolz, was ihm von Paula einen sarkastischen Kommentar beschert: „Ach, echt? Darauf wär ich ja nie gekommen.“

 

Max grinst daraufhin nur. „Jedenfalls, ich hab also Eren nach seiner Flucht vor dem langweiligen Wartezimmer allein und verloren auf der Bank entdeckt.“

 

„Das klingt ja so, als hätte ich da geheult“, bemerkt der Turano vorwurfsvoll.

 

Max hat schon wieder so ein spitzbübischen Funkeln in den Augen. „Das nicht, aber einsam sahst du trotzdem aus.“

 

„Wenn du meinst.“ Eren ist es aus ihm unerklärlichen Gründen unangenehm, dass Max das so schildert. Es ist ja nichts schlimmes dabei und ein Geheimnis ist es auch nicht. Aber es lässt ihn eben schwach dastehen. Ein Turano ist niemals schwach! „Du musst ja nicht jedes Detail erwähnen.“

 

„Oh, doch. Das muss er, armes, trauriges, reiches Vatersöhnchen“, stänkert Timo. Wird ihm das nicht langsam langweilig?

 

Eren jedenfalls hat genug davon. „Sag mal, Timo, kannst du nicht endlich damit aufhören? Bitte? Wenn ich dir irgendwas getan hab, tut´s mir leid, aber lass die dummen Sprüche, ja? Sind die dir nicht peinlich?“

 

So. Das ist der einzige Versuch es friedlich zu lösen. Er wird zwar trotzdem nicht auf ihn losgehen, aber ihm fällt schon was anderes ein. Es gibt viele Möglichkeiten jemanden zu quälen, ohne dass dieser seine Anwesenheit überhaupt bemerkt.

 

Mit dieser Aussage hat Eren Timo völlig aus dem Konzept gebracht. Mit überraschten großen Augen öffnet und schließt er den Mund, ohne einen Ton von sich zu geben. Durch die gestörte Konzentration verfängt er sich im Seil und küsst den Boden. Sein Kopf wird ganz rot und man kann den bevorstehenden Ausbruch schon beinahe hören, glücklicherweise gibt es da noch Paula, die einfach dazwischen grätscht.

 

„Ja, er versucht sich zu besser. Das verspricht er und ich sorge dafür, dass er es auch wirklich tut. Und jetzt Psst! Ich will die Geschichte weiterhören“, verlangt Paula, wirft ihrem Stiefbruder noch einen warnenden Blick zu und richtet dann ihre volle Aufmerksamkeit auf Max, der verdattert ein paar Sekunden braucht, ehe er begreift, dass das sein Stichwort ist.

 

Doch bevor es weitergeht, muss die Gruppe noch einmal die Station wechseln. Diesmal sind Liegestützen an der Reihe. Sehr zur Freude von Timo, der zeigt, wie gut er diese beherrscht. Sogar kommentarlos, allerdings kann er sich gehässige Seitenblicke nicht verkneifen. Eren bleibt mit Max im Mittelfeld zwischen Timo und Paula, die mit dieser Übung am wenigsten zurechtkommt. Selbst auf Knien zittern ihre Arme deutlich. Wobei, Max´ sehen auch nicht so aus, als würden sie das öfter als im Schulsport tun.

 

„Jedenfalls, ich hab ihn dann angesprochen und dafür eine ziemlich schroffe Antwort bekommen. Doch anstatt wie verlangt zu verschwinden hab ich mich zu ihm gesetzt. Aber dann ist er einfach aufgestanden und abgehauen“, erzählt Max weiter und sieht gekränkt zu Eren. „Das war echt fies.“

 

„Ja, sorry. Ich sollte ja nicht einmal im Park sein und mit Fremden sprechen schon gar nicht“, erklärt Eren ohne Reue in der Stimme.

 

„Fies“, wiederholt Max ehe er fortfährt: „Das nächste Mal haben wir uns im Krankenhaus beim Schulausflug getroffen. Und du warst dort, weil ...?“

 

Wieder spielt er den Ball zu Eren. „Wir haben jemanden besucht.“

 

„Unter der Schulzeit? Also, ohne dass es ein Schulausflug war“, fragt Paula verwundert nach.

 

„Da hatte ich noch Privatunterricht. Die Zeit ist dabei relativ flexibel.“

 

„Ich hab mich doch mal auf´s Klo weggeschlichen und dabei bin ich Eren über den Weg gelaufen“, nimmt Max den Faden wieder auf. „Und wieder saß er allein auf einem Stuhl.“

 

„Ich hab auf meinen Bruder gewartet“, verteidigt sich der Zwölfjährige.

 

„Trotzdem saßt du allein auf einem Stuhl“, besteht Max auf seine Worte. „Ich bin also wieder zu ihm hin und hab ihn genervt. Da er meinte, mit Fremden spricht man eigentlich nicht, hab ich mich einfach vorgestellt. Er nicht. Dafür ist sein Bruder dann gekommen und hat mir seinen Namen verraten. Unabsichtlich, ja, aber er hat ihn mir verraten und ein wenig grummelig geguckt. Er war nicht begeistert davon, dass ich mich mit ihm unterhalten hab. Hast du eigentlich noch deswegen Ärger bekommen?“

 

„Ärger, weil du mit jemanden sprichst?“ Paula hat die Liegestützen inzwischen aufgegeben, sich einfach auf den Boden gelegt und hört nur noch zu.

 

„Mein Bruder ist sehr … kontrollierend? Und nein.“ Eren schüttelt den Kopf. Dass er deswegen die ganze Nacht mit Gewichten herumfliegen musste, kann er ihnen ja schlecht verraten.

 

„Oh, gut“, meint der Blonde froh darüber und sieht wieder zu dem Mädchen. „Und das war´s dann auch schon. Dann seid ihr im Gang vorbeimarschiert und ich hab euch eingeholt.“

 

„Irgendwie seid ihr beide komische Vögel“, kommentiert das Mädchen.

 

Bevor jemand etwas darauf erwidern kann, verkündet das Signal einen weiteren Stationswechsel.

Mathe, Handy und Serumtest

Um 15:35 Uhr entlässt Herr Lang schließlich die Schüler, damit sie sich noch umziehen und trotzdem rechtzeitig zu den Bussen kommen können. Eren beschließt die Sportsachen einfach anzubehalten. Das erspart ihm einmal am Klo umziehen. Obwohl er eigentlich auch einfach die Schweißbänder dran lassen könnte. Aber so ziemlich alle lassen das an, was sie gerade tragen, schnappen sich nur ihre Taschen und verduften aus der Umkleide.

 

„Du musst echt gute Sportlehrer gehabt haben, Eren.“ Max neben ihm kämpft noch mit seinen Turnschuhen, die er in den Sportbeutel zu stopfen versucht. „Ich glaub, du hast nicht einmal geschwitzt. Ich will das auch können. Ich stinke wie eine Sportsocke, die mit benutztem Katzenstreu gefüllt und in der Sonne vergessen wurde.“

 

„Das kannst du laut sagen“, stimmt Timo zu und hält sich theatralisch die Nase zu.

 

„Hey! Du stinkst doch genauso!“, behauptet Max lachend und verpasst dem Klassensprecher einen freundschaftlichen Schlag gegen den Oberarm.

 

Gute Sportlehrer nicht, dafür einen strengen Bruder. Allerdings ist auch genau dieser Bruder dafür verantwortlich, wie stark Eren heute ist. Er sollte Ajax wohl eher dankbar sein. Und das ist er auch, wirklich. Ajax hat ihm so ziemlich alles beigebracht, was er weiß. Ausgenommen dem Schulstoff.

 

Als Eren seine Jeans in den Sportbeutel stopfen will, fällt ihm der Inhalt der Hosentasche ein. „Ach ja, Max?“

 

„Ja?“, gibt Max zu verstehen, dass er zuhört, ohne seine Mission die Turnschuhe in den Rucksack zu bekommen, aufzugeben. Bisher sieht das wenig erfolgversprechend aus.

 

„Bevor ich´s vergesse, hier.“ Mit diesen Worten hält er dem Jungen einen Zettel entgegen.

 

„Was ist das?“, fragt er neugierig und nimmt das Stück Papier entgegen.

 

„Bestimmt Bestechungsgeld, damit du sein Freund wirst“, mutmaßt Timo spöttisch.

 

„Was? Nein“, stellt Eren sofort klar. Wollte er nicht damit aufhören? An Max gewandt fährt er fort: „Du hast mich doch gestern nach meiner Nummer gefragt.“

 

„Du hast jetzt ein Handy?“

 

„Kaum will das Prinzlein was, schon zückt Papi die Kreditkarte“, mosert Timo vor sich hin, greift grob nach seinem Rucksack und stapft mies gelaunt nach draußen. „Bis morgen, Max.“

 

„Bis morgen.“ Verdattert blickt der Blonde seinem Freund hinterher.

 

„Ein paar Wochen, hm?“, erinnert sich Eren zweifelnd an die Schätzung von Max. „Ich glaub, das dauert länger.“

 

Verlegen gluckst der Blonde vor sich hin. „Kann sein. Aber wenn man ihn besser kennt und er sich eingekriegt hat, ist er eigentlich ein echt guter Freund.“

 

„Sorry, aber irgendwie kann ich das nicht glauben.“

 

~~~

 

Max und Eren waren die letzten, die die Umkleide verlassen haben. Es hat ein Weilchen gedauert die widerspenstigen Schuhe in den Rucksack zu stopfen. Schlussendlich haben sie es aufgegeben und Max trägt sie jetzt in der Hand. Pünktlich zum Gong verlassen sie das Schulgebäude. Wie schon gestern wartet eine schwarze Limousine am Straßenrand und die Chauffeurin daneben.

 

„Irgendwann musst du mich mal in so einer mitfahren lassen, ja?“, beschließt Max mit leuchtenden Augen.

 

„Ich weiß nicht. Es ist nichts besonderes. Es ist auch nicht anders wie in einem normalen Auto“, meint Eren ausweichend, wohlwissend, dass Ajax und sein Vater ausflippen würden, wenn er einen Außenstehenden in die Familienlimousine einlädt.

 

Der Blonde ist anderer Meinung. „Aber es ist eine Limousine!“ Das ist die Erklärung. Nicht mehr, nicht weniger. „Also, bis morgen. Ich schreib dir, ja? Ich muss mich nur beeilen, weil mein Bus gleich losfährt.“

 

„Okay. Bye“, verabschiedet sich der Turano, froh darüber, dass er scheinbar vergessen hat, dass er ja einen Überredungsversuch wegen der Kostümsache starten wollte.

 

Die beiden Jungs trennen sich an der Straße, Max geht rechts entlang zu den Bushaltestellen, Eren nach links zur Limousine, wo ihm die Frau bereits höflich die Tür aufhält. „Guten Tag, junger Herr Turano.“

 

„Hallo.“ Den Angestellten immer wieder das Du anzubieten ist sinnlos.

 

Zu Erens Überraschung ist die Limousine leer. Kein Ajax. Kein Vater. Okay? Wollen sie nicht seinen neuesten Bericht hören? Das ist seltsam. Vor allem bei Ajax. Dabei fällt ihm ein, er hat ja jetzt ein Handy. Vielleicht haben sie ihm ja geschrieben?

 

Während er das kleine Gerät aus der Schultasche angelt, fährt die Limo los. Es ist noch keine fünfmal vorgekommen, dass er allein in dem großen Auto hockte. Vielleicht hätte er Max doch mitnehmen können und ihn nach Hause fahren, oder so? Immerhin wüsste er dann, wo der Blonde wohnt und das ist doch gut für die Mission, oder? Diesen Gedanken verwirft er schnell wieder. Er weiß, dass es auch in den Limousinen Kameras gibt und er auf direkten Weg nach Hause fahren soll, um seinen restlichen Stundenplan abzuarbeiten. Außerdem würde es Probleme geben, wenn seine Familie dahinter kommt. Da spielt es keine Rolle, ob er herausgefunden hat wo Max wohnt.

 

Mit dem Smartphone, das natürlich eine Schutzhülle mit dem Logo von Turano Industries besitzt, lehnt er sich zurück und tippt den Entsperrcode ein. Wo war nochmal die App, die Ajax ihm gezeigt hat? Er hat noch immer keine Ahnung wie das Gerät funktioniert und das wird wohl auch noch ein Weilchen so bleiben. Was allerdings wahrscheinlicher ist, ist die Tatsache, dass die Mission vorher beendet ist. Und danach braucht er ja kein Handy mehr. Danach wird alles wieder so sein wie vor der Schulmission.

 

Tatsächlich hat er zwei neue Nachrichten bekommen. Eine von Ajax und die andere von … Max? Aber er hat doch gerade erst seine Nummer bekommen? Auch die Zeit der Nachricht ist erst eine Minute her. Seltsamer Junge. Eren beschließt, dass die Nachricht von Ajax dringender ist, also tippt er auf dessen Chat zuerst.

 

Ajax, 28.10., 15:03

Ich musste kurzfristig einen Auftrag annehmen, daher kann ich dich nicht abholen. Vater ist in der Firma. Schick deinen Bericht in die Gruppe und erledige danach deine restlichen Termine. Nicht schwänzen, ich kontrolliere.

 

Jap, das klingt nach Ajax. Kein freundliches „Hallo", kein „wie war die Schule?“, nur „schick den Bericht, erledige deine Aufgaben“. Irgendwie muss Eren deswegen ja schmunzeln. Das ist so typisch sein Bruder. Anstatt auf diese Nachricht zu antworten, geht er also in die Familiengruppe und beginnt dort seinen Bericht zu tippen.

 

Eren, 28.10., 15:52

Bericht: Auftrag Max

- ist schlecht in Deutsch

- ist sportlich eher Durchschnitt (Klassenniveau)

- fährt Skateboard mit seinem Nachbarn im Stadtpark

- ist ein Kindskopf

- mag Kostüme, Süßigkeiten, Wettbewerbe

- hat äußerlich nicht ein einziges Merkmal auf Fähigkeiten

- haben Handynummern getauscht, hat auch schon geschrieben

 

So, mehr fällt ihm momentan nicht ein. Er sendet die Nachricht in den noch ziemlich leeren Chatverlauf und wechselt dann zu Max. Der hat ihm allerdings nicht viel geschrieben, nur dass er jetzt auch seine Nummer hätte. Schnell tippt Eren ein Ok ein, schickt einen Screenshot davon in die Familiengruppe, sperrt das Smartphone und sieht dann hinaus auf die Straße.

 

~~~

 

Gedankenverloren sieht Eren aus dem Fenster und beobachtet eine Amsel im Schulhof, die angestrengt versucht einen Wurm aus der Erde zu ziehen, die vom Regen letzte Nacht ganz aufgeweicht ist. Den Ellbogen hat er auf der Tischplatte abgestützt und den Kopf auf der Handfläche. Heute ist er nicht so fit auf den Beinen. Schuld daran ist der letzte Punkt seiner gestrigen Liste, bei dessen Durchführung nur er und sein Vater in Erens Zimmer anwesend waren. Kein Arzt zum Beaufsichtigen der Vitalwerte. Es war auch schon ziemlich spät, Dr. Ryu hatte schon lange Feierabend und einem der anderen Ärzte traut Turano sein wertvollstes Familienmitglied nicht an. Dennoch hat der Mann darauf bestanden, den Test durchzuführen. Es steht immerhin auf dem Plan.

 

Im Grunde war der Test recht simpel. Dr. Ryu hat im Vorfeld das Mittelchen vorbereitet, sodass Eren es nur noch nehmen musste. Es hatte die Farbe von Silber, war allerdings von der Konsistenz her eher wie Wasser. Keine Ahnung was das war. Irgendeine nächste Stufe zur Immunisierung. Eren hat auch nicht nachgefragt, sondern das kleine Fläschchen einfach getrunken. Warum ausgerechnet unter der Woche vor einem Schultag ein neues Mittel mit unbekannten Nebenwirkungen getestet werden sollte, versteht er immer noch nicht.

 

Das Zeug zu trinken war jedenfalls ein großer Fehler. Es dauerte zwar wenige Minuten bis sich etwas bemerkbar machte, aber dafür war die Wirkung umso verheerender. Alles in ihm drin hat sich angefühlt, als würde es von Säure zerfressen werden. Er hat Blut und Schaum gespuckt, aus Nase, Augen und Ohren geblutet, sich eine gefühlte Ewigkeit vor Schmerzen im Bett gekrümmt und immer wieder geschrien. In einer Sekunde hatte er das Gefühl zu verbrennen, schon in der nächsten als würde er zu einem Eisblock erfrieren.

 

Sein Vater ist hilflos daneben gestanden, hat irgendwie versucht ihm mit Worten zu helfen, die Eren sowieso nicht gehört hat. Schließlich hat er es nicht mehr ausgehalten und wurde ohnmächtig.

 

Als er heute Morgen dann von seinem Wecker geweckt wurde, lag er in einer richtigen Blut- und Schweißpfütze, die mal sein Bett gewesen war. Jede einzelne Zelle hat bei jeder noch so kleinen Bewegung gebrannt, als würde die Prozedur von vorne beginnen. Nur ganz, ganz langsam hat er es geschafft, sich ins Badezimmer zu schleppen. Vor Schwindel musste er ein paar Pausen einlegen. Da sein Vater gnädigerweise eingesehen hat, dass Eren nicht in der Verfassung war weitere Strapazen zu erdulden, im Moment, hat er die morgendlichen Kräfteschrumpfungen abgesagt. Ajax war auch noch unterwegs und konnte nicht widersprechen.

 

Solche Schmerzen hatte er schon lange nicht mehr ertragen müssen. Was auch immer das war, Eren hofft, dass die Mischung so schnell nicht erhöht wird. Das gute ist, er bekommt noch heute ein neues Bett, das schlechte, es tut ihm noch immer jeder Muskel weh. Zumindest nicht mehr so schlimm, als dass er es nicht mehr verstecken könnte, aber schlimm genug, dass er sich zu nicht mehr fähig fühlt als mit abgestütztem Kopf einer Amsel zuzusehen.

 

„Eren, wenn du Zeit hast aus dem Fenster zu starren, bist du sicher schon fertig, oder?“, holt ihn eine strenge, lispelnde Stimme zurück ins Klassenzimmer.

 

Der geschundene Turano dreht den Kopf und blickt seinem Mathelehrer Herr Tucker ins Gesicht. Es ist die dritte Schulstunde und eigentlich ist die Klasse gerade mitten in einer Prüfung. Eren hätte die Wahl gehabt, diesen Test noch auszusetzen, weil er neu ist, aber da er den Stoff sowieso schon beherrscht, hat er eingewilligt mitzuschreiben.

 

„Ja, bin ich“, gibt Eren Antwort und versucht gleichzeitig seinen Magen davon zu überzeugen, dass er sich nicht gleich wieder aufregen braucht, nur weil er den Kopf bewegt hat. Er hätte sowieso keinen Inhalt, um sich zu übergeben. Er hat heute noch nichts gegessen.

 

„Ach ja?“ Mit dieser Antwort hat der Mann wohl absolut nicht gerechnet. Er blinzelt völlig aus dem Konzept gebracht. „Bist du dir sicher? Ihr hättet noch eine halbe Stunde Zeit. Willst du dir die Aufgaben nicht noch einmal ansehen?“

 

„Nein, ich bin fertig.“

 

„Nun gut. Dann kannst du dich ja für den Rest der Stunde still beschäftigen.“ Mit diesen perplexen Worten nimmt der Lehrer Erens Prüfung mit zum Pult, legt sie verdeckt ab und beginnt wieder mit seinen Aufsichtsrunden durch die Reihen, um Spicker auf frischer Tat zu ertappen.

 

Die verbleibenden Minuten bis zur Pause hat Eren dösend verbracht, die Arme verschränkt auf der Tischplatte und den Kopf darauf gebettet. Dabei hat er sich nur auf seine eigene Atmung und den Herzschlag konzentriert, um die Heilkräfte zu unterstützen.

Gewissensbisse

Als es dann pünktlich zur Pause klingelt, fühlt sich Eren schon ein bisschen besser, aber nicht gut genug, um jetzt aufstehen zu wollen. Aber es hilft ja nichts. In der Pause müssen alle das Klassenzimmer verlassen. Und außerdem ist er ein Turano! Die zeigen keine Schwäche.

 

Blöde Regel.

 

Mit einem schwachen Seufzen lehnt er sich im Stuhl zurück und wartet mit verschränkten Armen bis Herr Tucker die Prüfungen alle eingesammelt hat, um die Schüler endlich in die Pause zu entlassen. Hier und da hört man bereits Beschwerden über schwierige Fragen, es wird sich gegenseitig nach dem Ergebnis der ein oder anderen Aufgabe ausgetauscht und gejammert, dass die Zeit nicht gereicht hätte. Alles Probleme, die Eren nicht versteht.

 

Zusammen mit Max begibt er sich auf den Weg in die Cafeteria. Da es draußen zu nass und kalt ist, findet die Pause heute drinnen statt. Paula und Timo hängen sich wie gewohnt einfach mit dran. Zur normalen Pausenzeit ist um einiges mehr auf den Gängen los als zur Mittagszeit, wenn nur noch die Schüler hier sind, die nachmittags auch noch Unterricht oder Wahlfach haben.

 

„Du bist also auch noch ein Mathe-Ass?“, erkundigt sich Max bewundernd.

 

„Nicht wirklich. Ich hatte Bruchrechnen nur schon vor drei Jahren“, erklärt Eren beim Ausweichen einer drängelnden Gruppe Mädchen.

 

„Vor drei Jahren?“, wiederholt Paula ungläubig. „Im Privatunterricht kommt man wohl viel schneller voran, was?“

 

„Ist auch kein Wunder, wenn man nur ein Schüler ist“, bemerkt Timo augenrollend. „Also ich will ja nicht prahlen, aber ich bin auch ziemlich gut in Mathe.“

 

*Schön für dich*, denkt sich Eren, der froh über das Gewusel um ihn herum ist. So bekommt keiner mit, wie er sich immer wieder kurz an der Wand festhält.

 

„Was hattet ihr denn bei der vorletzten Aufgabe?“, möchte Max wissen. „Ich hab die einfach nicht rausbekommen. Ich hab ewig an der doofen C festgesteckt.“

 

„Das waren die mit den Doppelbrüchen, nicht? Ich glaub, die hab ich auch in den Sand gesetzt“, gesteht die Rothaarige mit einer verlegenen Grimasse.

 

„Ich kann euch ja Nachhilfe geben, wenn ihr wollt“, bietet der Klassensprecher hilfsbereit an.

 

„Du? Klar. Damit du mir das ewig unter die Nase reiben kannst, oder? Nein danke, Bruderherz“, lehnt Paula entschieden ab.

 

Auch Max lehnt dankend das Angebot ab. „Momentan bin ich noch nicht sooo schlecht, aber sobald ich kurz davorstehe durchzufallen, geb ich dir Bescheid, ja?“

 

„Wie ihr meint“, sagt er nur dazu und zuckt gekränkt mit den Schultern.

 

In der Cafeteria setzen sich die Vier an denselben Tisch wie gestern. Eren ist froh endlich wieder eine Tischplatte zu haben, auf die er seine Arme und den Kopf legen kann. Ihm ist gerade egal, wie schwach das vielleicht aussieht. Ihm ist zu schwindelig, um zu riskieren vom Stuhl zu fallen.

 

Mann, was war nur in dem Fläschchen?! Er nimmt sich fest vor, Dr. Ryu danach zu fragen. Wenn das wirklich die schwächste, verdünnteste Form war, will er gar nicht wissen, wie es ihm nach dem Original gehen würde. Vermutlich würde er daran sterben. Im Moment zumindest noch.

 

„Hey, Eren, geht’s dir nicht gut?“, erkundigt sich Max und reißt Eren somit aus seinen gedanklichen Grübeleien.

 

Gezwungenermaßen richtet sich der Turano nun doch auf und lehnt sich zurück, bemüht ein möglichst normales, gesundes Gesicht zu machen. „Ja, alles prima. Hab nur schlecht geschlafen.“

 

„Schlecht geträumt? Oder hatten wir Vollmond? Und dabei hab ich mir doch zu Halloween Vollmond gewünscht!“, ärgert sich der Blondschopf und zieht eine grummelige Schnute.

 

„Nein, Vollmond ist immer noch erst Freitag“, beruhigt Paula den schmollenden Max, dessen Gesicht sich sofort aufhellt.

 

„Das passt perfekt zu unserer Süßes oder Saures-Tour“, verkündet er euphorisch und fügt besorgt hinzu: „Hoffentlich geht’s dir bis Freitag besser. Wenn nicht, mach ich persönlich einen Krankenbesuch und dann feiern wir Halloween einfach bei dir.“

 

„Du würdest nicht mal durch das untere Tor kommen“, belehrt er ihn.

 

„Wenn du mich ankündigst, doch bestimmt schon, oder?“

 

„Nicht, wenn mein Vater nein sagt. Und das würde er. Wir haben so gut wie nie Besuch und ich bin mir absolut sicher, dass er bei dir keine Ausnahme machen wird."

 

Eren bezweifelt stark, dass sein Vater oder Ajax erlauben würden, dass Max zu Besuch kommt. Nicht bevor geklärt ist, ob er einer von ihnen ist und sie ihn in Sicherheit in den Bunker bringen können. So allmählich wünscht sich Eren sogar, dass Max irgendwelche Kräfte besitzt. Dann hätte er vielleicht, ein sehr großes vielleicht, einen Freund im Bunker.

 

„Mann, deine Familie ist echt streng“. Max verschränkt missmutig die Arme und verzieht äußerst angestrengt das Gesicht. Er denkt nach.

 

„Hey, da fällt mir ein, habt ihr eigentlich schon davon gehört, was letzte Woche passiert ist?“, fragt Timo verschwörerisch, senkt die Stimme und lehnt sich sogar etwas vor. „Ich meine, das was im Krankenhaus passiert ist?“

 

Krankenhaus. Irgendwie klingelt da was in Erens Hinterkopf, aber die Nachwirkungen erschweren sein logisches Denken.

 

„Nein, was denn?“, möchte Max neugierig wissen und lehnt sich ebenfalls über den Tisch.

 

„Letzten Freitag wurde im Haikla City Krankenhaus, genau zu der Zeit, als wir auch dort waren, eine Frau getötet. Mitten am Tag! Und niemand hat was davon mitbekommen. Sie war wohl Anwältin oder so und soll sogar von einem Polizisten bewacht worden sein“, erzählt der Klassensprecher weiter. Er genießt es offensichtlich im Mittelpunkt zu stehen.

 

So allmählich kommt Eren die Geschichte wirklich bekannt vor.

 

„Der Polizist wurde erst am Nachmittag in einem ganz anderen Zimmer gefunden. Bewusstlos. Er sagt, er hätte keine Ahnung, wie er dahin gekommen oder wieso er dort sei.“

 

Eren hat sehr wohl eine Ahnung. Mittlerweile ist es ihm wieder eingefallen. Er ist schließlich der Grund dafür. Hoffentlich bemerken die Drei nicht, dass Eren angestrengt ihre Gesichter meidet.

 

Timo fährt ohne etwas zu bemerken fort: „Es gibt keinen Verdächtigen, keine Zeugen. Nicht mal Fingerabdrücke, außer die des Polizisten und des Arztes. Und da der Polizist zur Tatzeit beim Zimmer der Anwältin hätte sein sollen, ist er der Hauptverdächtige. Ist doch echt seltsam, dass es überhaupt keine Spuren oder Zeugen gibt, oder? Also ich glaube, dass es sehr wohl irgendwelche Hinweise gibt, aber die werden uns natürlich nicht verraten.“

 

Der junge Turano muss widerstrebend zugeben: Timo hat recht. Es gibt einen Zeugen. Oder eher einen Mittäter. Und der sitzt genau vor ihnen.

 

Einen Moment herrscht betretenes Schweigen, in Erens Fall ein nervöses, bis Paula als erstes ihre Stimme wiederfindet. „Echt krass, oder? Es kann gut sein, dass wir an dem Mörder vorbeigelaufen sind. Ohne es zu bemerken."

 

Max ist ein bisschen bleich im Gesicht geworden. „Wow. Das war echt letzten Freitag? Genau um die Zeit, als wir unseren Vortrag hatten? Echt gruselig. Ich hoffe, dass ich demjenigen, der so etwas grausames tut, nie über den Weg laufen werde."

 

Wieso sticht plötzlichen etwas in Erens Hinterkopf? Wüsste er es nicht besser, würde er mal behaupten, es wäre schlechtes Gewissen? Ne. Weswegen denn? Es war doch nur ein Job. Kein Grund für ein schlechtes Gewissen.

 

"Ich meine, wie kann man nur jemanden umbringen?“

 

Ach, das ist gar nicht so schwer, wie es sich anhört. Ein Messer, zum Beispiel, gleitet erschreckend leicht durch Haut und Muskeln. Menschen sind ziemlich zerbrechliche Wesen. Aber Max wird wohl kaum das gemeint haben.

 

Das Mädchen zuckt mit den Schultern. „Ich hoffe nur, dass der Täter schnell gefasst wird. Ich bekomme schon eine Gänsehaut, wenn ich nur daran denke, dass so jemand frei in unserer Stadt herumläuft.“ Um ihre Aussage zu unterstreichen legt sie die Arme um den Oberkörper und schüttelt sich.

 

„Ich auch“, stimmt Timo zu. „Vielleicht hätte es sogar einen von uns erwischen können, wenn wir zur falschen Zeit in der Nähe des Zimmers der Anwältin gewesen wären. Ich mag gar nicht daran denken.“

 

Da könnte Eren den Jungen beruhigen. Solange er nicht Teil eines Auftrages ist oder Ajax im Weg steht, hat er nichts zu befürchten.

 

Allerdings gibt es etwas an der Geschichte, die Eren nicht so ganz glauben kann. Laut Timo war die Frau Anwältin, vielleicht stimmt das sogar, aber dann muss sie ziemlich düstere Leichen im Keller versteckt haben. Andererseits wäre sie doch nie auf der Liste der Turanos gelandet. Richtig? Seine Familie gehört schließlich zu den Undercover-Guten. Richtig? Natürlich ist es richtig! Wie kann er auch nur im entferntesten daran denken, dass die Turanos Unschuldige töten würden?! Das ist doch völlig absurd! Ja, Eren hat schon ein paar Mal gemordet, aber das waren alles Bösewichte, die irgendetwas im Schilde geführt haben oder bereits tiefschwarze Westen trugen. Nicht wahr? Ajax und sein Vater würden doch niemals … Oder? Nein! … Oder?

 

„Eren? Geht´s dir wirklich gut? Du bist ziemlich blass“, bemerkt Max mit gerunzelter Stirn.

 

„Ja, alles gut.“ In seinem Kopf beginnt sich wieder alles zu drehen. Hoffentlich hören die Nebenwirkungen bald auf. Oder hat es diesmal einen anderen Grund?

 

~~~

 

Auch die restlichen drei Schulstunden konnte Eren nicht aufhören immer wieder an die Mission vom Freitag zu denken. Ja, er hat den Polizisten in die Falle gelockt. Ja, sie haben ihn betäubt und sein Gedächtnis ein wenig gelöscht. Ja, Ajax hat diese Frau getötet. Dennoch ist es eine Anwältin mit Leichen im Keller gewesen. Anders kann sich Eren nicht erklären, weshalb sie getötet werden sollte. Ja, Anwälte sind nicht überall sehr beliebt, aber deshalb gleich Attentäter anheuern? Das erscheint Eren viel zu übertrieben, um es für die Wahrheit zu halten.

 

Energisch schüttelt der Zwölfjährige den Kopf und die lästigen Zweifel, die Timo in seinem Kopf gesät hat, beiseite. Er wird sich nicht einreden lassen, dass das geheime Familiengeschäft irgendwelche illegalen, kriminellen Hintergründe besitzt. Diese Entscheidung wiederholt er solange in seinem Verstand, bis er sich auf den Beifahrersitz von Ajax´ Mustang fallen lässt und die Tür schließt. Der junge Mann startet den Motor und schlägt den Weg zum Anwesen ein.

 

„Und wie läuft die Mission? Schon irgendwelche brauchbaren Informationen?“ So wie er das Wort „brauchbar“ betont, ist er mit der bisherigen Ausbeute anscheinend nicht zufrieden.

 

„Ich hab noch immer keinen Beweis auf Fähigkeiten oder Kräfte gefunden. Max wirkt wie ein durchschnittlicher, normaler Mensch“, antwortet Eren wahrheitsgemäß. „Wir haben heute einen Test in Mathe geschrieben, offenbar ist er auch da eher Durchschnitt.“

 

„Ich hoffe, du schneidest dabei nicht durchschnittlich ab?“, fragt sein Bruder mit warnendem Unterton.

 

„Ich bin mir sicher, alles richtig zu haben“, versichert er.

 

Ajax nickt. „Gut. Wir wollen ja das hohe Niveau der Turanos bewahren, nicht wahr, Eren?“

 

„Ja, Ajax“, antwortet der Jüngere automatisch.

 

Niveau der Turanos ... Entspricht das wirklich dem einer kriminellen Bande? Nein! Nein, ganz sicher nicht. Timo hat ihm nur einen äußerst hartnäckigen, lügnerischen Floh ins Ohr gesetzt. Obwohl er das weiß, wollen die drückenden Zweifel dennoch nicht verschwinden. Wieso lässt er sich von einer streitlustigen Nervensäge nur so leicht aus seinen Überzeugungen holen? Das entspricht ganz sicher nicht dem Niveau der Turanos.

 

„Was ist lost?“, erkundigt sich Ajax, dem die seltsame Stimmung des Zwölfjährigen nicht entgangen ist.

 

„Nichts. Alles in Ordnung“, lügt Eren darum bemüht ein mehr oder weniger glaubwürdiges Gesicht zu machen.

 

War ja klar, dass ihm sein großer Bruder das nicht abkauft. Er kneift die braunen Augen forschend zusammen und sieht streng zu Eren, ohne dabei den Kopf zu drehen. „Eren, lügt man seinen großen Bruder etwa an?“

 

„Tut mir leid, Ajax.“ Ertappt senkt der Junge den Kopf und versucht die richtigen Worte zu finden. Wie fängt man so ein Thema am besten an? Schließlicht beginnt er vorsichtig: „Ajax, wir gehören doch zu den Guten, oder?“

 

„Wie meinst du das?“ Etwas lauerndes liegt in der Stimme des Älteren und ein argwöhnischer Schatten huscht über sein Gesicht.

 

„Nun ja“, druckst Eren immer noch unschlüssig herum, dabei knetet er die Tragegurte der Schultasche. Damit hört er allerdings sofort auf als er sich daran erinnert, dass ein Turano niemals Schwäche zeigt. Nervosität ist auch eine Schwäche. Er richtet sich also etwas auf und beschließt es einfach nach der Pflaster-Methode zu versuchen. „Heute in der Pause hat ein Klassenkamerad erzählt, dass in den Nachrichten über unsere Mission vom Freitag berichtet wurde.“

 

„Ach ja? Ich hoffe doch sehr, dass du dir nichts hast anmerken lassen?“

 

„Natürlich nicht.“ Für was für eine Quasselstrippe hält er ihn eigentlich? Als würde Eren irgendjemandem auf die Nase binden, dass er und sein Bruder am Mord der Frau schuld seien. „Auch die Polizei hat keinerlei Hinweise oder Zeugen und der Polizist erinnert sich auch an nichts“, ergänzt er sicherheitshalber. „Der Klassenkamerad hat gesagt, dass die Zielperson eine Anwältin war, die anscheinend kurz davor stand einen Fall zu gewinnen, in dem es um irgendein Waldgebiet geht, das zu einem Fabrikgebäude oder so werden sollte. Sie war wohl ziemlich beliebt und wollte den Wald retten. Also hab ich mich gefragt, wieso … Ich meine, es gab sicher einen guten Grund, weshalb die Frau beseitigt werden sollte, aber nach den Nachrichten ...“

 

Eren lässt den Satz unvollendet. Er wüsste sowieso nicht wie er das genau formulieren sollte. Das ist auch gar nicht nötig. Ajax begreift auch so, was ihm sein kleiner Bruder sagen will. Und es gefällt ihm nicht.

 

„Eren“, beginnt er seltsam verstehend und bestimmend zugleich. „Solche Fragen musst du dir nicht stellen. Vater bewertet alle Anfragen, recherchiert ob die Informationen wahr sind und entscheidet, welche Aufträge wir annehmen und welche nicht. Er hat für jede einzelne Mission, die wir tatsächlich akzeptieren, gute Gründe und von allen Seiten beleuchtet. Vielleicht erfahren wir nicht immer alle Einzelheiten, aber das fällt auch nicht in unseren Zuständigkeitsbereich. Vater hat alles im Griff. Also hör auf dir über solche Kleinigkeiten den Kopf zu zerbrechen und erledige einfach nur die dir zugeteilten Aufträge. Du vertraust Vater und mir doch oder nicht?“

 

„Doch, natürlich!“, versichert Eren ohne zu zögern und vollkommen überzeugt. „Trotzdem ...“

 

„Vergiss das, was in den Nachrichten gesagt wird. Die lügen doch ständig und wissen eigentlich überhaupt nichts.“ Damit ist das Thema für Ajax abgehakt. „Und jetzt konzentriere dich lieber voll und ganz auf deine Mission mit Max.“

 

„Ja, Ajax.“

 

Eren fühlt sich zwar immer noch zwiespältig, aber sein Bruder hat sicher recht. Wie immer. Natürlich würde sein Vater niemals eine Mission annehmen, die beinhaltet, Unschuldige zu ermorden. Das traut er dem Mann nicht zu. Nein, Timo irrt sich. Die Nachrichten irren sich. Es ist so, wie Ajax es gesagt hat: Die Nachrichtentypen wissen oft nicht einmal die Hälfte von der Wahrheit und das, was sie zu wissen glauben, ist meist auch nur an den Haaren herbeigezogen. Sie wollen nicht die Wahrheit verbreiten, sondern gute Einschaltquoten oder Verkaufszahlen.

 

*Jetzt ist aber Schluss mit unnötigen Gedanken*, rügt er sich selbst, hebt den Kopf und sieht stur aus dem Fenster, um seinen Entschluss zu unterstreichen.

 

„Übrigens“, erhebt Ajax das nächste Mal die Stimme, als er den Wagen gerade in die Auffahrt zum ersten Tor der Turanos hinauf lenkt. „Vater hat einen neuen Auftrag für uns.“

 

Etwas überrascht sieht der jüngere Turano zu seinem Bruder. „Ach ja? Obwohl ich gerade mitten in einem anderen stecke?“

 

„Ja“, bestätigt der Ältere. „Keine Sorge, sie überschneiden sich nicht. Die neue Mission ist für´s Wochenende angesetzt. Du verpasst also keine Zeit für deine Aufklärungen.“

 

„Und um was geht’s?“

 

„Die Einzelheiten erkläre ich dir am Samstag. Bis dahin gilt deine gesamte Aufmerksamkeit der Aufgabe, herauszufinden ob wir diesen Max in den Bunker bringen müssen.“

Das hässliche grüne Monster namens Neid

„Und vergesst nicht eure Arbeiten Zuhause unterschreiben zu lassen und morgen wieder abzugeben“, erinnert der Mathelehrer Herr Tucker die Klasse, die bereits geschäftig zusammenpackt. Auch der Mann hängt sich seine hässliche braune Tasche um und verlässt den Raum. „Bis morgen, Klasse.“

 

Timo, der gerade seinen Stuhl auf die Tischplatte stellt, fragt neugierig mit einer Spur Selbstgefälligkeit: „Was habt ihr denn für Noten? Ich hab wieder ´ne Eins.“

 

*Angeber.*

 

„Eine Drei“, freut sich Max während er in seine Jacke schlüpft. „Ich hab wohl doch nicht so viel vergeigt, wie ich dachte.“

 

Er scheint ernsthaft zufrieden mit dem Ergebnis zu sein. Wieso? Eren hat gelernt, dass man erst dann zufrieden sein darf, wenn man volle Punktzahl erreicht hat. Nicht einen Punkt weniger. Schließlich soll man immer nach der nächst höheren Stufe streben, nach Perfektion und der Spitze. Dem Turano-Niveau eben. Da genügt es nicht annähernd eine Drei zu bekommen.

 

„Toll, ich hab nur eine Vier“, schmollt Paula auf dem Weg in den Flur.

 

„Ich hab dir Nachhilfe angeboten, du wolltest sie ja nicht“, wiederholt Timo leicht schadenfroh.

 

„Eine Vier ist gut genug, um nicht durchzufallen, also behalte deine besserwisserischen Nachhilfestunden“, meint das Mädchen stinkig.

 

Wow, ist die jetzt mies drauf. Vielleicht hätte sie wirklich nur etwas mehr lernen müssen? Ach, was macht sich Eren überhaupt Gedanken deswegen? Kann ihm doch egal sein, wenn die Brünette sitzen bleibt. Sie sind keine Freunde. Sie hat nichts mit seiner Mission zu tun. Sie ist unwichtig. Nur eine Statistin.

 

„Und du, Eren?“, erkundigt sich Max auf dem Weg zum Ausgang.

 

„Bestimmt hat er eine Menge Flüchtigkeitsfehler drin. Der Angeber musste ja ´ne halbe Stunde früher abgeben als wir anderen, damit er noch schlafen kann“, behauptet Timo schadenfroh grinsend.

 

Würde es sehr auffallen, wenn er dem arroganten Klassensprecher ein Bein stellt? Bestimmt. Also bleibt nur die Ignorierentaktik übrig. Schule ist anstrengend. Mitschüler sind anstrengend. „Eine Eins, alle Punkte.“

 

Der Klassensprecher schnaubt abfällig. „Niemand mag Angeber, Prinzlein.“

 

*Das sagt der Richtige.*

 

Die grünen Augen werden groß vor Staunen. „Echt? Der Privatunterricht muss ja echt spitze sein. Ich hab meine Mom schon oft gefragt, ob ich das nicht auch haben kann, aber sie meinte immer, das wäre zu teuer, dann würde ich keinen Kontakt zu Gleichaltrigen haben, dann würde ich nur faul auf der Haut liegen, blablabla.“

 

Tja, so ganz Unrecht hat seine Mutter nicht. Zumindest mit den ersten beiden Punkten, faul auf der Haut gelegen ist Eren beim besten Willen nicht.

 

„Es ist gar nicht so toll, wie du glaubst. Ja, man kommt wesentlich schneller mit dem Stoff durch und es ist bequem, wenn die Lehrer zu einem nach Hause kommen, aber es ist teuer, dir wird bei jedem Strich über die Schulter geschaut und du bist ständig allein mit klugscheißerischen Erwachsenen. Außerdem kannst du von niemandem die Hausaufgaben abschreiben und auch nicht zu spät kommen.“

 

Verschmitzt lächelt Eren den Blonden an, der sofort eine Unschuldsmiene aufsetzt und ganz empört an seine Brust fasst. „Hausaufgaben abschreiben? So was hab ich noch nie gemacht. Und zu spät kommen? Wann komme ich bitte zu spät?“

 

„In den vier Tage, die ich jetzt hier bin, bist du ganze zweimal zu spät gekommen“, erinnert ihn Eren. „Ein Wunder, dass die Lehrer das alle einfach akzeptieren.“ Und wo schon das Thema Hausaufgaben kurz angeschnitten wurde, fällt ihm etwas ein, weshalb er unvermittelt stehen bleibt. „Ach, Mist. Ich hab mein Deutschbuch im Spint vergessen.“ Ohne dem Buch würde er morgen sicher Ärger bekommen, wenn er keine Hausaufgaben dabei gehabt hätte. Erst von Herrn Steinberger und später von Ajax.

 

„Soll ich mitkommen? Oder kennst du mittlerweile den Weg?“, bietet der Blondschopf an.

 

Eren schüttelt den Kopf. „Du kannst schon gehen, sonst verpasst du sicher deinen Bus.“

 

„Oh, stimmt ja!“, stimmt Max erschrocken zu, sieht kurz auf sein Handy und bekommt einen gehetzten Gesichtsausdruck. „Wieso muss Schulschluss und Busabfahrt so nah beieinander liegen? Wer hat das nur festgelegt?“

 

„Egal wer´s war, er wollte dich sicher nur ärgern“, meint Paula scherzend.

 

„Ja! Ganz sicher!“ Max scheint nicht ganz zu verstehen, dass es als Scherz gedacht war.

 

Das Mädchen rollt mit den Augen, lässt es aber unkommentiert. „Ich verabschiede mich dann mal. Bis morgen.“

 

„Ja, ich geh auch lieber“, schließt sich der Blonde an. „Also, dann bis morgen und denk nochmal über die Kostümfrage nach, ja?“

 

„Ganz bestimmt nicht. Bis morgen!“, ruft Eren ihnen hinterher.

 

Er gibt die Sache mit dem Kostüm einfach nicht auf. Mindestens einmal täglich fragt er danach. Der Blonde muss Halloween wirklich lieben. Eren muss zugeben, er ist schon gespannt auf morgen. Dann ist es endlich soweit. Sein erstes Halloweenfest. Mal sehen, wie das wird. Und mal sehen, was er noch aus Max herausbekommt, wenn kein eifersüchtiger Timo in der Nähe ist.

 

Apropos Timo, wann ist der denn verschwunden? Schulterzuckend beschließt Eren keinen weiteren Gedanken daran zu verschwenden, dreht sich um und geht zurück zur Treppe, da sein Schließfach im ersten Stock ist. Was auch das Image der chaotischen Schule unterstreicht, da alle anderen Klassenräume, die Eren braucht, im Erdgeschoss sind.

 

Er bahnt sich einen Weg durch die wenigen Nachzügler und Nachmittagsschüler, steigt die Treppe rauf und biegt oben nach rechts ab. Mittlerweile kennt er die Wege zu den benötigten Klassenräumen, den Toiletten, der Cafeteria, dem Sekretariat, der Sporthalle und natürlich auch zu seinem Spint auswendig. Deshalb dauert es auch nicht lange bis er seinen gefunden hat. Diesen öffnet er und bekommt plötzlich eine Gänsehaut.

 

Sofort sind all seine Sinne auf Alarmbereitschaft. Er spürt sie ganz deutlich, die Blicke, die ihn beobachten. Verstohlen sieht er sich um, aber außer ihm selbst ist niemand mehr zu sehen. Der erste Stock ist wie leergefegt. Trotzdem ist er sich sicher von irgendwo angestarrt zu werden. Es kribbelt bereits in seinen Adern.

 

Eine Minute später, in der nichts passiert, schüttelt Eren über sich selbst den Kopf. Natürlich ist es nichts ungewöhnliches, dass ihn in einer Schule jemand ansieht. Hier gibt es genug Lehrkräfte und Schüler. Alle harmlos. Auch wenn er wirklich beobachtet werden sollte, besteht keine Gefahr. Genau das redet er den Ameisen in seinen Adern ein, die sich allmählich beruhigen und widmet sich stattdessen wieder dem, weswegen er hier ist. Der Junge zieht das Deutschbuch aus dem Schrank und steckt es in den Rucksack.

 

Um Ajax lieber nicht noch länger warten zu lassen, schlägt er das Schließfach zu, schließt den Reißverschluss der Schultasche und dreht sich zur Treppe um. Als er nur noch wenige Schritte von der ersten Stufe entfernt ist, tritt plötzlich jemand hinter der Ecke hervor. Eren zuckt kurz zusammen, unterdrückt dabei den Drang eine Schattenkugel auf seinen Gegenüber zu feuern, bevor er sich schon einen Herzschlag später wieder fasst, als er den Jungen als Timo identifiziert.

 

Na super. Was will der denn jetzt? Warum ist er nicht schon gegangen? Und wieso hat Eren ihn nicht die Stufen rauf kommen hören? Hat er etwa hinter der Ecke auf ihn gewartet? War er es, der ihn beobachtet hat? Ist er wirklich so ein merkwürdiger Stalker?

 

„Oh, du bist es“, grüßt ihn Eren genervt. „Solltest du nicht schon mit Paula auf dem Weg nach Hause sein?“

 

„Nein. Heute ist mein Kampf Club-Training“, erklärt er nüchtern. Irgendwie gefällt Eren der Ausdruck in seinen Augen nicht.

 

„Schön für dich“, murrt Eren und will sich an Timo vorbeischieben, doch der versperrt ihm den Weg. „Was willst du, Timo? Ich hab doch schon gesagt, dass ich kein Interesse daran hab, deinem kleinen Club beizutreten.“

 

Ein verschlagenes Grinsen zieht seine Mundwinkel auseinander. „Das ist okay. Ich hab nicht vor, dich nochmal einzuladen. Ich dachte nur, ich stelle dir mal meine Freunde vor und zeige dir, was du verpasst.“

 

So langsam bekommt der Turano ein mieses Gefühl bei dieser Begegnung. Dass es nur Zufall ist, daran glaubt er sowieso keine Sekunde.

 

„Freunde?“, wiederholt Eren und hebt eine Augenbraue. „Tut mir leid, aber ich hab gerade keine Zeit. Mein Bruder wartet schon.“

 

Damit unternimmt er einen weiteren Versuch an dem Klassensprecher vorbeizukommen. Allerdings mit genauso viel Erfolgt wie beim ersten Mal. Diesmal allerdings ist nicht Timo selbst Schuld. Einer seiner „Freunde“ taucht hinter ihm auf, baut sich vor Eren auf und verschränkt die Arme vor der Brust. Der Schüler muss vielleicht zwei, drei Jahre älter sein als Eren, ist gut einen Kopf größer und mindestens dreimal so breit. Mit einem überheblichen Grinsen sieht er auf den Turano herab.

 

„Das ist also dieses berühmte, geheime Turanoprinzchen?“, fragt der Neue heiser.

 

„Das ist er“, bestätigt Timo mit einem überlegenen Grinsen.

 

Automatisch spannt sich Erens gesamter Körper an, äußerlich bemüht er sich ruhig zu bleiben. „Ist das einer deiner Freunde? Hey, nett dich kennenzulernen. Kann ich dann gehen?“

 

Der Fremde schnaubt abfällig. „Der ist wirklich so eingebildet, wie du gesagt hast.“

 

„Nicht wahr?“

 

Aus dem Gang hinter Eren nähern sich weitere Schritte. Im ersten Moment hat Eren zu hoffen gewagt, dass es unbeteiligte Schüler oder sogar Lehrer wären, die ihm helfen könnten aus dieser Situation zu entkommen, ohne verdächtige Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Leider Fehlanzeige. So wie die zwei Mädchen und der Junge aussehen, gehören die auch zu Timos Kampf-Club. Was für ein Glück Eren doch hat. Dabei wollte er sich nur sein Deutschbuch holen. Ajax wird nicht erfreut sein, dass er zu spät kommt. Jetzt wird er sicher wegen denen bestraft werden.

Peinliche Überreaktion

„Was soll das hier werden, Timo?“, verlangt Eren zu erfahren.

 

Der Junge macht ein unschuldiges Gesicht, doch in den Augen leuchtet was Dunkles. „Hab ich doch schon gesagt. Ich will dir ein paar Freunde vorstellen und dir zeigen, was man im Kampf-Club so lernt.“

 

„Ach ja?“ Prüfend mustert Eren schnell die anderen vier Clubmitglieder. Niemand weckt in dem Zwölfjährigen das Gefühl bedroht zu werden. „Fünf gegen Einen? Ist das nicht ein wenig unfair? Und ich dachte, du wärst der beste im Kampfclub.“

 

In dieser Situation Timo auch noch zu provozieren ist vermutlich nicht die beste Idee, aber Eren hat nicht vor sich alles von diesem aufgeblasenen Angeber gefallen zu lassen.

 

„Oh, meine Freunde sind nur hier, um sicherzugehen, dass du nicht heulend zu Daddy rennst“, spottet Timo. Es ist deutlich anzumerken, dass er es genießt und sich überlegen fühlt, mit seinen vier Kumpels im Rücken.

 

Gleichgültig zuckt der Junge mit den Schultern. „Schade. Dann wäre es etwas interessanter.“

 

„Für so einen kleinen Knirps spuckst du ziemlich große Töne“, bemerkt die Schwarzhaarige abfällig und lässt die Knöchel knacksen.

 

„Reiche sind doch alle gleich“, pflichtet die etwas molligere Brünette bei. „Nichts weiter als ein Haufen hochnäsiger, arroganter Schnösel, die zwar wichtigtuerisch und überlegen daherlabern, aber eigentlich nichts drauf haben.“

 

Der Turano vergräbt die Hände in den Jackentaschen, um zu verdeutlichen, dass er keine Angst vor ihnen hat. „Woher wollt ihr wissen, dass ich so bin? Ihr kennt mich doch gar nicht.“

 

„Das müssen wir auch nicht“, meint der Schrank neben Timo. „Alle reichen Säcke sind doch gleich.“

 

Irgendwie hat Eren so langsam das Gefühl gegen eine Wand zu sprechen. Er seufzt. „Dann lasst euren sinnlosen Neid doch bitte bei jemand anderen aus. Mir ist das zu blöd. Wie gesagt, ich hab keine Zeit für sowas.“

 

Damit will er sich erneut aus dem Staub machen, doch Timo hat andere Pläne. Er zieht ihn an der Schulter zurück und baut sich mit verschränkten Armen vor ihm auf. Allerdings wirkt er auf Eren eher lächerlich als furchteinflößend.

 

Erneut stöhnt er einfach nur genervt. Allmählich nagt das hier echt an Erens Geduld. „Das ist doch bescheuert. Ich hab dir nichts getan. Ja, wir können uns vielleicht nicht leiden, aber das ist kein Grund deine Kampfclub-Kollegen mitreinzuziehen. Außerdem bekommen wir alle Ärger, wenn wir erwischt werden.“ Vielleicht funktioniert ja ihn an die Schulregeln zu erinnern, um diesem Kindergarten zu entkommen.

 

Doch das scheint den Klassensprecher egal zu sein. Er lacht bitter auf. „Du hast mir nichts getan? Du hast mir in den paar Tagen alles ruiniert!“

 

Ehrlich überrascht wandern Erens Augenbrauen gen Stirn. „Ach ja?“

 

„Ja!“, braust er auf. „Und dann weißt du noch nicht einmal, was du getan hast! Das ist bei den reichen Säcken doch immer so! Sie trampeln auf den Kleineren rum und tun so, als bemerkten sie es gar nicht.“

 

Eren kann irgendwie nicht anders als belustigt zu schmunzeln. Dieses ganze Gespräch, diese ganze Situation ist einfach nur lächerlich. Der junge Turano kann ihn so nicht ernst nehmen.

 

Damit bringt er den Hitzkopf allerdings noch mehr auf die Palme. Sein Gesicht färbt sich langsam rot, er spannt die Fäuste an, sodass deutlich Adern hervortreten und fletscht die Zähne. „Hör auf so überheblich zu sein! Du bist hier nicht mehr in deinem Palast, wo dich jeder verehrt und nach deiner Pfeife tanzt!“

 

„Nur, dass du´s weißt, es tanzt gar nicht jeder nach meiner Pfeife. Nur nach der meines Vaters oder Bruders“, verbessert Eren noch immer amüsiert.

 

Timo knurrt sauer. Ist Eren jetzt zu weit gegangen? Hätte er sich einfach ein-, zweimal schlagen lassen sollen, damit das hier vorbei ist? Ganz entschieden: nein. Ihm wurde beigebracht, jeden Kampf zu gewinnen.

 

„Hör auf zu lachen!“, fordert der Raufbold, holt mit der rechten Faust aus und zielt auf Erens Gesicht.

 

Echt jetzt? Eren hört wie gefordert auf zu lachen, weicht mit einem Schritt zur Seite dem Angriff aus und sieht Timo gelangweilt an, wie er unbeholfen vorstolpert. Die Hände noch immer in den Jackentaschen. „So, du Dödel, ich hab aufgehört zu lachen. Kann ich gehen? Mir wird das hier zu blöd. Und glaub mir, du willst das hier gar nicht.“

 

Der Junge und auch seine Freunde sind sichtlich überrascht darüber, dass Eren dem Schlag so leicht ausweichen konnte. Allerdings macht das Timo nur noch wütender.

 

„Hast du etwa jetzt doch eingesehen, dass du keine Chance hast?“, provoziert er und gibt seinen Kumpels ein nickendes Zeichen, die sich daraufhin je zu zweit links und rechts von Eren und Timo aufstellen und so die Wege blockieren.

 

„Nö, nicht wirklich. Mein Bruder wartet nur nicht gern“, wiederholt sich Eren unbeeindruckt von der Barriere.

 

Timo presst den Kiefer aufeinander. „Du brauchst nicht den Toughen zu spielen, Prinzlein, bestimmt machst du dir in Wahrheit in die Hosen.“

 

„Ne, meine Hosen sind trocken.“

 

Er überlegt fieberhaft, wie er aus dieser Misere entkommen kann, ohne zu viel Aufsehen zu erregen. Er könnte einfach an den Kampfclub-Mitgliedern vorbeiflitzen, allerdings wäre die benötigte Geschwindigkeit verdächtig. Dasselbe gilt für einen von ihnen schnell k.o. zu schlagen. Sich mit Timo auszusöhnen ist genauso unmöglich. Der hat sich in seinem Eifersuchtsanfall regelrecht festgefahren. Den bekommt da so schnell niemand mehr raus. Also was bleibt noch? Soll er jetzt wirklich gegen den unwichtigen Jungen kämpfen? Das würde doch genauso viele Fragen aufwerfen. Aber wenn er es nicht tut, wird er selbst geschlagen und das wiederum wirft doch ein schwaches Licht auf die Turanos. Ach, egal wie er es dreht und wendet, die sicherste Methode wird wohl die sein, einfach auszuweichen und eine günstige Gelegenheit zur Flucht zu inszenieren. Allerdings wird dieser Plan die meiste Zeit in Anspruch nehmen. Er kann jetzt schon die Predigt von Ajax hören: „Ein Turano ist immer pünktlich und blablabla...“

 

Erneut seufzt der Turano entnervt. „Von mir aus. Bringen wir es hinter uns.“

 

„Oh-ho. Sieh mal an, wer plötzlich mutig wird“, höhnt Timo und zeigt dabei angriffslustig seine Zähne.

 

„Los, zeig´s ihm, Timo!“, feuert die Brünette ihren Kollegen an.

 

Der heisere Typ ergänzt: „Mach ihn fertig!“

 

„Zeig ihm, dass eingebildete, reiche Daddys nicht alles regeln können!“, gibt die Schwarzhaarige ihren Senf dazu.

 

Natürlich muss auch der letzte Kumpel irgendetwas dazu sagen: „Los, Timo! Du bist doch der beste im Club!“

 

„Nette Freunde“, kommentiert Eren sarkastisch.

 

Timo lässt seine Finger knacken. Soll das jetzt Einschüchterung sein? „Mach du nur deine Witze. Bald wirst du sehen, dass du dir nicht einfach alles nehmen kannst, was du willst, nur weil dein Alter zufällig reich ist.“

 

„Glaub mir, so ist das gar nicht.“ Er bekommt bei Weitem nicht alles was er will. Diese letzten vier Schultage waren die einzige Zeit, in der er mal allein irgendwo sein durfte und nicht jede Sekunde aufpassen musste, was er sagt und was er tut. Okay, das muss er trotzdem, aber auf andere Themen bezogen.

 

„Hör auf zu lügen“, fordert Timo und eröffnet den „Kampf“ mit einem weiteren Faustschlag.

 

Wie schon zuvor weicht Eren mit einem Schritt zur Seite aus und taucht unter dem nächsten Schlag hindurch.

 

„Bevor du kamst, war ich der Sportstar der Klasse!“, schimpft er weiter.

 

Auch den plumpen Fußkick entgeht der Turano mit einem kleinen Schritt zurück.

 

„Ich war immer einer der besten. Ich hatte immer Einsen! Und dann kommst du, bist ewig viel früher fertig und hast dann auch noch volle Punktzahl! Ohne Spicken ist das unmöglich! Bestimmt hat dir dein Alter die Eins gekauft!“

 

Der nächste Handkantenschlag zielt auf Erens Nacken. Natürlich stolpert er an seinem Ziel vorbei.

 

„Natürlich hattest du auch beim Kampfsport einen Privatlehrer! Alles für das stinkreiche Turanoprinzlein!“

 

Diesmal trifft Timos Angriff … die Wand. Der Zwölfjährige hat sich geduckt und der rasende Mitschüler hat die Wand viel zu spät bemerkt. Doch das hält ihn nicht auf. Er ist gerade richtig in Fahrt gekommen.

 

„Du hetzt meine Schwester gegen mich auf! Seit du in der Klasse bist, streiten wir viel öfter als vorher!“

 

Noch ein Kick, der eher an ein Stolpern erinnert und soweit von Erens Magengrube entfernt ist, dass dieser sich nicht einmal die Mühe gibt auszuweichen.

 

„Und dann klaust du mir auch noch meinen besten Freund! Max und ich waren schon seit dem Kindergarten immer zusammen! Wir haben alles zusammen gemacht! Aber seit du aufgetaucht bist, ist das alles kaputt. Plötzlich will er mit dir auf Süßes oder Saures gehen und ich werde links liegen gelassen! Du nimmst dir einfach alles, ohne Rücksicht auf die anderen! Halt dich gefälligst von ihm fern! Du reicher, selbstsüchtiger, ignoranter...“

 

Es folgt eine ganze Reihe an Schimpfwörtern und Beleidigungen. Jedes begleitet von einem weiteren nutzlosen Angriff. Eren sagt kein einziges Wort dazu. Das heißt nicht, dass er nicht zugehört hat. Vielmehr denkt er über die Worte nach. Ist er wirklich so egoistisch gewesen ohne es zu merken? Dabei hat er doch nur versucht nicht aufzufallen, durchschnittlich zu sein und Max näherzukommen, um über seine eventuellen Fähigkeiten etwas zu erfahren. Ist doch nicht seine Schuld, dass sich der Klassensprecher so leicht angegriffen und außen vor gelassen fühlt. Nicht Erens Problem. Er wird bestimmt nicht plötzlich in allem anfangen schlecht zu sein, nur damit das Ego dieses Obermachos gestreichelt wird. Ganz sicher nicht. Das ist weit, weit unter Erens Würde. Und sich von Max fernhalten kann er auch vergessen. Er ist immerhin seine Zielperson.

 

Hoffentlich kann er diese Mission bald abhaken.

 

So geht es ein paar Angriffe lang weiter, jedem Schlag, jedem Tritt weicht Eren einfach nur aus, er greift weder selber an noch blockt oder kontert er. Er hält es noch nicht einmal für nötig seine Hände aus den Jackentaschen zu ziehen. Er lässt sich auch von den Zwischenrufen und Beleidigungen der anderen nicht ablenken. Währenddessen wird sein Kontrahent immer wütender, seine Angriffe immer schneller hintereinander und zunehmend unkoordinierter. Er atmet bereits schwerer und läuft im Gesicht rot an. Ob vor Anstrengung oder Ärger ist schwer zu sagen.

 

„Jetzt hör endlich auf wie ein Hase davonzulaufen!“, verlangt er keuchend.

 

Im Vergleich zu den Trainingskämpfen ist das hier echt nur ein Witz. Timo ist ungefähr auf dem Niveau, auf dem Eren mit vielleicht Fünf war. Das soll also der beste Kämpfer sein, den dieser Kampfclub zu bieten hat? Ist ja peinlich. Deshalb beschließt Eren nun doch selbst aktiv zu werden.

 

Er wartet bis sein Gegner zu einem erneuten Schlag ins Gesicht ansetzt, zieht blitzschnell die linke Hand aus der Tasche und fängt die des Gegenübers vor seinem Gesicht ab. Plötzlich ist es still im Gang, Timo blinzelt verwundert vor sich hin und verliert für einen Moment das aggressive Blitzen in den Augen. Doch nur so lange, bis er mit dem Knie in Erens Magen zielt. Eren fängt den Tritt ab, fegt gleichzeitig Timos Standbein weg und befördert ihn somit auf den Boden.

 

„Siehst du´s langsam ein, dass du mich nicht treffen wirst? Also können wir mit diesem Spiel dann aufhören? Es langweilt mich“, beginnt Eren in bemüht versöhnlichem Tonfall und geht nebem dem Klassensprecher in die Hocke. Dieser sinnlose Quatsch kostet schon viel zu viel Zeit. „Hör zu, es ist mir ziemlich egal, was du von mir denkst. Ich hab kein Interesse daran, dass wir Freunde werden oder auch nur Bekannte. Deine ständigen Sticheleien sind auch nur kindisch und werfen ein schlechtes Licht auf dich selbst. Es zeigt nur, dass du so verzweifelt bist, dass du auf kindische Beschimpfungen zurückgreifen musst. Und das meiste, was du behauptest, was ich dir angetan haben soll, ist totaler Quatsch, den du dir selbst einbildest. Du bist derjenige, der all deine Probleme hervorruft, schieb das nicht mir in die Schuhe.“ Seltsam. Plötzlich ist Timo ganz stumm, wird ein wenig bleich und wirkt nicht mehr so selbstsicher. „Und zum Schluss“, Eren senkt ein wenig die Stimme, „wenn du das nächste Mal versuchst mich anzugreifen, wirst du nicht unbeschadet am Boden landen, verstanden?“

 

Aus Gewohnheit und weil er nicht mehr schnell genug daran denkt, es nicht zu tun, blitzen seine Augen für den Bruchteil einer Sekunde lila auf. Jegliche Farbe entweicht aus Timos Gesicht, die Augen werden vor Verwirrung und Angst ganz groß und Eren kann den außer Takt geratenen Herzschlag hören. Ups. Hat er es etwas übertrieben? Naja, der hat´s ja verdient.

 

Der Turano steht wieder auf und schenkt ihm ein freundliches, sarkastischen Lächeln. „Also dann, ich geh jetzt. Bis morgen, Timo. Viel Spaß in deinem Kampfclub. Trainiert zur Abwechslung mal ernsthaft.“

 

Diesmal versucht ihn keiner der Anderen aufzuhalten als er einfach durch sie hindurchgeht, die Hände wieder locker in die Taschen stopft und die Treppe hinabsteigt. Im Hintergrund hört er die Freunde, wie sie sich über Timo erkundigen und sich fragen, was denn mit ihm, Eren, los sei. Tja, so ganz mit nicht auffallen hat´s dann doch nicht geklappt. Aber was soll´s. Timo wird von ihrem Zusammenstoß und seiner Blamage vor seinen ganzen Kampffreunden bestimmt niemanden erzählen.

 

Ein kleines, finsteres Lächeln schleicht sich auf Erens Gesicht. Gewinnen fühlt sich immer so gut an, auch wenn es so ein leichter Sieg gegenüber einem völlig von Neid zerfressenen Dödel ist. Was ihn schon ziemlich enttäuscht. Trotzdem. Ein Sieg, ist ein Sieg. Nur leider wird Ajax das nicht so sehen. Abgesehen davon, hat Eren nicht vor diesen Zwischenfall in seinem Bericht zu erwähnen. Doch auch ohne dem Timo-Zusammenstoß hat sein Bruder genug Gründe, ihn heute eine Strafe aufzubrummen. Schwer seufzend und mit hängenden Schultern verlässt er das Gebäude.

Volle Kontrolle

Wie nicht anders zu erwarten, war Ajax ganz und gar nicht begeistert von Erens Verspätung. Die Ausrede mit dem vergessenen Deutschbuch kaufte er seinem Bruder zwar ab, aber als Entschuldigung reichte das nicht. Zur Strafe musste er die Nacht in der Eisernen Jungfrau verbringen, zur Abhärtung gegenüber Schmerzen und zum Lernen länger ohne Schlaf auszukommen. In so einem Metallgestell zu schlafen, ist so gut wie unmöglich. Ein paar Minuten im Halbschlaf gehen vielleicht, aber sobald er tiefer ins Traumreich abdriftete und sein Körper sich auch hinlegen wollte, rissen die Stacheln größere Wunden und er war wieder hellwach. Zumindest musste er so am Morgen nur die dunklen Schattenpfeile verschießen.

 

Und schon ist der Tag da: Halloween. Heute Abend feiert Eren Turano das erste Mal in seinem zwölfjährigen Leben einen Feiertag. Er freut sich richtig darauf, aber er hat auch Angst und ist ein wenig nervös. Doch die Freude ist um ein Vielfaches stärker. Alle Gefühle verbirgt er gekonnt vor seiner Familie.

 

In der Schule gab Timo nicht einen einzigen bissigen Kommentar von sich. Tatsächlich hat er Eren die meiste Zeit einfach ignoriert oder ihm seltsame Blicke zugeworfen, die er jedes Mal mit einem freundlichen Lächeln erwidert hat. Das allerdings schien den Klassensprecher noch weiter zu verstören. Wahrscheinlich grübelte er noch immer über die gestrige Blamage nach. Natürlich fiel auch Paula und Max der veränderte Timo auf, sagten aber vorerst nichts dazu, sondern benahmen sich auch normal. Vermutlich glaubten sie, dass er sich endlich wieder beruhigt hatte oder wollten es durch einen Kommentar nicht wieder ausarten lassen.

 

Die Halloween-Pause war weniger spektakulär, als Eren es sich ausgemalt hatte. Die Schüler hatten dafür eine Freistunde, um sich in der Cafeteria, in der jeder Winkel mit irgendwelchen Gruseldekorationen geschmückt war, mit allerlei Halloweenessen vollzustopfen. Es gab Wackelpudding in Gehirnform, Kekse mit aufgemalten Skeletten, Kürbissen oder Fledermäusen, Würstchen in Form von Fingern, Marshmallows in Augapfelform und einige andere Dinge. Da Eren das alles ziemlich skurril vorkam, hat er sich im Hintergrund gehalten und lieber nichts von dem Zeug probiert, das eh nicht in seinem Ernährungsplan gestanden hätte. Max hat versucht ihm ein paar Mal irgendwas in den Mund zu stopfen, glücklicherweise konnte er das jedes Mal verhindern, was den Blonden zum Schmollen brachte. Allerdings war er sofort wieder fröhlich, als er sich an die bevorstehende Süßes oder Saures-Tour erinnerte.

 

Sobald die letzte Stunde vorbei war, hat Max Eren noch einmal an das Kostüm erinnert. Natürlich. Der Turano bleibt nach wie vor bei seiner Meinung, er bräuchte keines. Er hätte auch gar keines. Max schmollte deswegen zwar ein wenig, aber da der Bus drängelte, hatte er keine Zeit ihm länger zu erklären, weshalb es so wichtig ist an Halloween ein Kostüm zu tragen. Nachdem ihm Max noch versichert hat, dass er ihm später den Treffpunkt und die Uhrzeit schicken würde, ist er davon gestürmt und dabei beinahe die Treppe runter gefallen.

 

Diesmal hat Eren Ajax nicht annähernd so lange warten lassen wie gestern. Noch im Auto hat er seinen neuesten Bericht in die Familiengruppe geschickt, damit auch Benedikt Turano Bescheid weiß, der in seiner Firma beschäftigt ist und schon angekündigt hat, heute nicht viel Zeit für die Familie zu haben. Da der Zwölfjährige selbst heute nicht so viel Zeit für Training hat, stehen lediglich drei bzw. zwei Punkte auf der Liste. Der erste sind die Hausaufgaben, die relativ schnell erledigt sind. Sie sind einfach und freitags verzichten viele Lehrer auf diese. Außerdem ist Halloween.

 

Während er so an den Englischhausaufgaben sitzt, springt plötzlich der Display seines Smartphones an. Wie schon die letzten Tage lässt Max nicht lange auf seine Nachricht warten. Seit er dem Blonden seine Nummer gegeben hat, schreiben sie relativ regelmäßig über belangloses Zeug, wobei es meistens irgendwie immer auf das Thema „Halloween und Kostüme“ raus läuft. Genauso regelmäßig schickt Eren natürlich brav Screenshots in die Familiengruppe, damit auch sein Bruder und Vater auf dem Laufenden bleiben.

 

Max, 31.10., 13:54

Buuh! *Geist-Emoji*

 

Eren, 31.10., 13:55

Hey, sollte mich das erschrecken?

 

Max, 31.10., 13:56

Jaa! Ich will dich schon mal in Halloween-Stimmung bringen *Kürbis-Emoji , Hexe-Emoji , Fledermaus-Emoji , Spinne-Emoji*

 

Eren, 31.10., 13:57

Da musst du dir aber noch mehr Mühe geben

 

Max, 31.10., 13:58

Oh, Kürbislaterne! *Schmollmund-Emoji*

Okay, Herausforderung angenommen! Freu dich auf schauriges Süßes oder Saures *Teufel-Emoji*

Übrigens, kennst du das Eiscafe FrostYum? Da treffen wir uns um 18 Uhr. Sei pünktlich und vergiss dein Kostüm nicht *Zwinkernder Zunge rausstreck-Emoji*

 

Eren, 31.10., 14:00

Das kenne ich nicht, aber werd´s schon finden

 

Max, 31.10., 14:02

Ignoriere meine Herausforderung nicht, Eren!

Bis nachher im Kostüm *Zwinkernder-Emoji*

 

Eren, 31.10., 14:04

Nein

 

Max, 31.10., 14:04

Biiiitttteeee! *Trauriger Schmollmund-Emoji , Dackelblick-Emoji*

 

Eren, 31.10., 14:05

Nein. Bis später

 

Max, 31.10., 14:10

Du bist fies! *Heulender-Emoji*

 

Anschließend noch kurz ein Update in die Familiengruppe und weiter geht’s mit Englisch.

 

~~~

 

Die nächsten beiden Punkte sind identisch, unterscheiden sich lediglich in den Formen: vollständige Verwandlung und Kontrolle. Eren würde dieses Training gerne überspringen. Er hat es schon so oft versucht, bisher ohne Erfolg. Er scheitert wirklich jedes Mal aufs Neue. Entweder er schafft es nicht die vollständige Form anzunehmen oder, sollte es ihm in seltenen Fällen doch gelingen, dauert es nicht lange bis ihm die Kontrolle über seinen Körper von einer der Spiegelstimmen entrissen wird. Und dann läuft er Amok. Das erste Mal, als das geschah, hat er das Turano-Anwesen größtenteils dem Erdboden gleich gemacht. Deshalb wird dieser Test auch in Flaurana stattfinden, unter strengen Sicherheitsvorkehrungen und mit so wenig Beteiligten wie möglich. Heute heißt das: Eren, Ajax, Dr. Ryu und zwei Wachen, die gleichzeitig als Assistenten dienen.

 

Die Turano-Brüder treffen sich mit der restlichen Gruppe im Missionsraum 1 mit der Teleportmaschine. Wie bei der Eierschalensuche steht die Frau am Schaltpult und stellt die Maschine ein. Die Wachleute sind auch schon da, der Mann mit Dr. Ryus Koffer in der Hand und die Frau mit einer länglichen Tasche. Eren kann sich schon denken, was sich darin befindet. Sicherheitsvorkehrungen, sollte er mal wieder scheitern.

 

„Hallo, Dr. Ryu, ist alles bereit?“, erkundigt sich Ajax sofort nachdem sie den Raum betreten haben.

 

Die Rothaarige hebt den Kopf und lächelt die beiden an. „Hallo. Ja, ich muss nur noch zwei Parameter eingeben und dann … So, fertig. Wir können los.“

 

Auf ein erlaubendes Nicken des älteren Turano hin, startet Dr. Ryu die Maschine. Sie brummt, surrt, blubbert und erschafft den bunten Wirbel in die andere Welt. Nacheinander, angeführt von Ajax, dicht gefolgt von Eren, durchschreitet die Gruppe das Portal. Wieder schließt Eren die Augen und öffnet sie erst wieder, sobald er festen Boden unter den Schuhsohlen spürt.

 

Das Reiseziel ist ein anderes als beim letzten Mal. Zum einen, weil es hier keine anderen Arbeiter gibt, die an irgendwas forschen. Außerdem ist das hier überhaupt kein Gebäude, sondern eine Höhle tief unter der Erde. Außer dem Teleporter gibt es keinen weiteren Zugang. Die Luft ist dick und stickig. Lediglich zwei schmale Tunnelchen lassen einen Hauch von Luftaustausch und Licht zu. Ansonsten spenden Stehlampen hier und da genug Helligkeit, um nicht über die Felsen zu stolpern. Es wurden auch kleine Pflanzen hier angesiedelt, sodass man nicht sofort erstickt. Ursprünglich gab es Mal ein Tunnelsystems, das hier runter geführt hat, aber nachdem sich Turano Industries hier eingenistet hat, wurde der Zugang verschlossen, sodass das hier ein Geheimversteck wurde. Ideal für Erens Verwandlungsübungen.

 

Ajax führt seinen kleinen Bruder zur Wand gegenüber der Maschine, wo ein Käfig aus dickem Spezialglas und Metallstangen steht. Da Eren schon weiß was ihn erwartet und was er zu tun hat, steigt er ohne zu murren in den Käfig. Während die Wachen ihre mitgebrachten Instrumente auf dem Tisch daneben ausbreiten, widmen sich die Ärztin und der blonde Turano den vier Ketten, zwei davon baumeln von der Käfigdecke und die anderen beiden liegen am Boden. Bereitwillig lässt sich der Zwölfjährige an Hand- und Fußgelenken fesseln und mit schweren Schlössern die Manschetten verschließen. Damit die Ketten auch einem möglichen Amoklauf standhalten, sind sie mit unzähligen Runen versehen. Laut Dr. Ryu sind das irgendwelche Schutz- und Verstärkungszauber aus Flaurana, wo es schließlich neben monströsen Kreaturen auch Magie gibt.

 

Sein Vater hat ihm erklärt, dass alle Menschen im Bunker ihre Fähigkeiten Flaurana zu verdanken haben. Es ist eine Art Mutation durch die Magiewolken, wie er sie nennt, die durch zufällig auftretende Portale zwischen den Welten hindurch gelangen. Manche Menschen sind für solche Mutationen empfänglicher, deshalb bekommt auch nicht jeder spezielle Kräfte. Je jünger man ist, desto wahrscheinlicher ist die Mutation. Und da Benedikt Turano schon lange mit solchen Portalen experimentiert, waren auch Eren und Ajax sehr früh und sehr vielen dieser Magiewolken ausgesetzt. Daher ist es nicht verwunderlich, dass beide Brüder Kräfte erhalten haben.

 

Sobald die Ärztin das letzte Schloss schließt und danach den Käfig verlässt, um die Vorbereitungen der Assistenten zu kontrollieren, überprüft Ajax noch einmal die Fesseln, die jetzt schon an der Haut zu scheuern anfangen.

 

„Heute will ich Fortschritte sehen“, fordert der Ältere bestimmt. „Du musst endlich lernen dein volles Potenzial nutzen zu können. Du bist kein kleines Kind mehr. Wir trainieren schon zu lange für halbe Sachen. Vater setzt hohe Erwartungen in dich. Schließlich sollst du eines Tages den Bunker leiten. Also, kann ich ihm heute einen Erfolg berichten, Bruder?“

 

„Ja, Ajax.“ *Ich werd´s versuchen. Bisher hat es ja auch immer so gut geklappt. Nur kein Druck.*

 

Tja, leichter gedacht als getan. Der nervöse Knoten in seinem Magen macht sich jetzt schon bemerkbar. Doch davon lässt er sich nicht beeinflussen. Er muss einfach sein bestes geben, dann wird’s schon klappen. Ganz sicher.

 

„Sehr schön.“ Schließlich verlässt Ajax den Käfig, verschließt ihn von außen und stellt sich mit verschränkten Armen etwa drei Meter entfernt auf. An die Frau gerichtet erkundigt er sich: „Sind Sie soweit?“

 

„Ja, alle Vorbereitungen sind abgeschlossen“, bestätigt sie, nimmt ihr Tablet und macht sich bereit alles aufzuschreiben. „Wir können anfangen.“

 

Die Sicherheitsassistenten postieren sich links und rechts des Käfigs, heben die Gewehre an und zielen damit durch kleine Löcher im Käfig auf Erens Hals. In ihren angespannten Gesichtern ist deutlich abzulesen, dass sie jetzt gerne woanders wären. Eren kann es ihnen nicht verübeln. Er würde auch nicht hier in der Höhle sein wollen, wenn er die Kontrolle verliert.

 

„Okay, leg los, Eren. Fang mit der Dämonenseite an“, entscheidet Ajax mit strenger Prüfermiene.

 

Klar, dass sein Bruder die Seite wählt, die er nicht so gut beherrscht. Die komplette dunkle Form hat er noch kein einziges Mal angenommen. Sie will sich einfach nicht seinem Willen beugen und wenn Eren ehrlich ist, hat er Angst vor dieser Kraft und was sie anrichten kann, wenn sie ihn übermannt. Vielleicht ist das auch einer der Gründe, weshalb es ihm noch nicht gelungen ist. Aber heute ist der Tag! Wie Ajax sagte: Er ist schon Zwölf, da sollte er langsam die Kräfte und Stimmen kontrollieren können, nicht andersherum. Es ist sein Körper, nicht der der Spiegel!

 

Um sich besser konzentrieren zu können, schließt Eren die Augen, sucht und findet die schwarz-weiße Tür in seinem Kopf und öffnet sie.

Engel und Dämon

Den leeren grauen Spiegelraum zu betreten, ist noch der einfache Teil der Prüfung, die Gestalten davon zu überzeugen, ihm die gesamte Kraft und Kontrolle zu geben, ist um einiges schwieriger. Der Junge nähert sich den beiden Spiegeln, in deren Inneren die vom Rauch verhüllten Silhouetten erscheinen und ihn aus goldenen und roten Augen anstarren.

 

Hallo, Eren. Lange nicht mehr gesehen.

 

Du hast uns ja lange genug ausgeschlossen.

 

Sei nicht so mürrisch. Er hat eben eine Mission bei der er nicht auffallen darf.

 

Pha! Das ist nur eine faule Ausrede. In Wahrheit will er uns doch loswerden. Wieso sonst wäre er jetzt hier? Er bildet sich mal wieder ein, uns beherrschen zu könne. Sieh´s doch ein, Junge, du wirst nie stark genug sein, meine Kräfte kontrollieren zu können.

 

„Ja, ja. Seid still. Ich hab heute ein kleines bisschen Zeitdruck und kann nicht lange mit euch diskutieren. Also macht es nicht komplizierter als es sein muss“, bittet Eren und nähert sich dem schwarzen Spiegel. Die roten Augen darin verengen sich etwas.

 

Komm nur her, Kleiner. Trau dich. Aber du wirst mich nicht bezwingen können.

 

„Doch. Denn das hier ist MEIN Körper. Nicht eurer.“

 

Als Antwort bekommt er nur ein hallendes, höhnendes Lachen, das von den nicht existierenden Wänden zurückgeworfen wird. Eren gibt sich alle Mühe sich nicht davon einschüchtern zu lassen. Je mehr er an sich selbst zweifelt, je unsicherer er ist, je verwundbarer er wirkt, desto leichter ist es für die Spiegel seinen Körper zu übernehmen.

 

Mutig fixiert der Junge die roten Augen. „Heute wirst du mir gehorchen, Dämon!“

 

Wieder ein amüsiertes Lachen. Das wird ein Spaß.

 

Entschlossen streckt er den rechten Arm vor und legt ihn auf die glatte Spiegeloberfläche. Die schwarze Gestalt dahinter tut es ihm gleich, sodass sich ihre Hände berühren. Sofort fängt der schwarze Armreif an zu wachsen während sich langsam von der Schattenhand ausgehend ein schmerzhaft prickelndes Gefühl, als würde nach langer Zeit ein eingeschlafener Muskel wieder erwachen, einen Weg über die Handfläche den Arm hinauf bahnt. Es schmerzt, aber noch hält er stand. Mit zusammengebissenen Zähnen und angespannten Muskeln nimmt er immer mehr der Dämonenkraft in sich auf.

 

~~~

 

Währenddessen färben sich Erens Haare im Käfig nach und nach schwarz. Erst einzelne Haare, dann ganze Strähnen. Sein Mal breitet sich analog zu der Menge an dunkler Energie, die er ansammelt, über den rechten Arm aus. Es umhüllt ihn auch bereits ein leichter dunkler Nebel, der von nicht vorhandenem Wind um ihn herumgewirbelt wird. Sein gesamter Körper ist angespannt, die Hände zu Fäusten geballt, die Nägel tief in die Handflächen gebohrt. Das Gesicht ist vor Anstrengung und Schmerz verzogen.

 

Die Finger der Wachen zittern am Abzug der Waffen. Sie würden gerne das hier sofort beenden, aber sie wissen, sollten sie das tatsächlich wagen, werden sie mit absoluter Sicherheit in einer hölzernen Kiste unter der Erde landen.

 

Dr. Ryu tippt fleißig mit, hat dabei die Stirn sorgenvoll in Falten gelegt. Genau wie Eren kann sie diesen Test nicht leiden. Sie sieht wie sehr der Junge kämpft, wie er leidet und es dennoch nicht schafft. Sie würde ihm gerne helfen, ihrem Lieblingspatienten, aber sie weiß nicht wie. Sie müsste sich dann einem Befehl ihres Chefs widersetzen und das auch noch vor den Augen der Söhne. Sie würde nicht nur gefeuert werden, sie würde für immer beseitigt werden. Keine Zeugen. Doch das macht es nicht angenehmer dem Zwölfjährige hilflos zusehen und ihn im Notfall mit Gewalt aus der Kontrolle der Stimmen holen zu müssen.

 

Ajax steht noch immer so unbeteiligt da wie zu Beginn. Mit verschränkten Armen und zusammengekniffenen Augen wartet er auf einen Erfolg, auf eine vollständige Verwandlung, die von Eren kontrolliert wird. Dabei ist es ihm egal, wie schwer oder anstrengend das auch ist. Er will nur Ergebnisse, die ihn und seinen Vater zufriedenstellen. Er ist für die Ausbildung von Eren verantwortlich und dieser Punkt hier ist schon viel zu lange offen. Er will diese Stufe endlich abhaken können.

 

~~~

 

Genau für dieses Ziel kämpft auch Eren gegen den Dämonenspiegel.

Mit jeder verstreichenden Sekunde klärt sich mehr und mehr das Bild im Spiegel. Der schwarze Rauch lichtet sich, sodass schon bald eine menschliche Gestalt zu erkennen ist, an deren Rücken sich große lederne Schwingen befinden. Der Spiegeljunge sieht aus wie Erens Zwillingsbruder, gleichzeitig aber auch wieder nicht.

 

Die Iris des Dämons leuchtet tiefrot, umrahmt von einer schwarzen Sklera und einem boshaften Funkeln darin. Die rabenschwarzen Haare fallen ihm ins Gesicht und werfen so ein dunkles Schattenspiel in dieses. Die Nägel sind zu Krallen verlängert, die Eckzähne sind länger und spitzer als normal. Gekleidet ist Dämon-Eren in ein ärmelloses Oberteil, das im oberen Drittel schwarz gefärbt ist und zackig in blutrot übergeht. Darüber reicht ein offener ärmelloser, schwarzer Mantel mit weinrotem, ausgefransten Saum und Innenfutter bis zum Knie. Die dreieckigen Knöpfe im oberen Teil sind ebenfalls rot. Ein zackig geschnittener Stehkragen rundet den Mantel ab. Die knielange schwarze Hose ist bequem geschnitten mit Taschen an den Seiten und die Beine enden ebenfalls gezackt. Die Füße selbst stecken in schwarzen Boots mit weinroten Schnürsenkeln, Sohle und Schuhspitze.

 

Mittlerweile reicht das kribbelnde Machtgefühl bis tief in seinen Bauch hinein. Es fehlt nicht mehr viel. Vielleicht schafft er es ja heute doch? Ist heute der Tag, an dem er über sich selbst siegt? Aber wieso sieht dann sein Spiegelbild so siegessicher aus? Das beunruhigt den Zwölfjährigen, dessen Herz nervös zu stolpern beginnt.

 

Gut so. Nimm noch mehr meiner Energie. Du kannst mich nicht beherrschen. Du wirst wieder verlieren.

 

Eren merkt ganz deutlich, dass der Schatten versucht ihn in den Spiegel hineinzuziehen. Immer stärker scheint der Sog zu werden, je weiter sich die Dämonenkraft in seinem Körper ausbreitet. Die Oberfläche ist schon längst nicht mehr so solide wie zu Beginn dieses Trainings. Seine Hand ist bereits halb im Inneren des Spiegels eingesunken. Gleichzeitig ragt genauso viel vom Schatteneren aus dem Spiegel heraus, sodass sie sich überschneiden wie bei einem … nun ja … Spiegel eben.

 

Genau davor hat Eren Angst. Je weiter er in den Spiegel eintaucht, desto mehr gewinnt sein Dämonen-Ich an Stärke und Kontrolle. Das darf nicht passieren! Er darf den Dämon nicht freilassen! Aber … Er darf auch nicht schon wieder versagen. Er weiß das. Leider weiß er auch, dass es zu spät ist. Sein Spiegelbild grinst ihn bereits finster und triumphal entgegen. Er kann sich noch so viel dagegenstemmen, er wird ja doch immer weiter eingesaugt. Sein halber Unterarm ist schon verschwunden. Wenn er das noch weiter zulässt, wird er in der realen Welt Amok laufen.

 

Tja, du hast wieder verloren. Du bist so ein Schwächling. Aber keine Sorge, ich versuche nicht zu viele umzubringen.

 

Er ist gescheitert. Um zu verhindern, dass das passiert, was dieser rotäugige Dämon verspricht, muss er sofort abbrechen, solange er sich noch nach seinem eigenen Willen bewegen kann. Frustriert knurrt er als er mit all seiner verbliebenen Kraft die Verbindung kappt, den Arm herauszieht und rückwärts umkippt und erschöpft und frustriert den Dämon ansieht. Die roten Augen funkeln ihn zornig an.

 

~~~

 

Keuchend nach Luft schnappend schlägt Eren die blauen Augen auf, blinzelt ein paar Mal orientierungslos vor sich hin bis er Ajax und Dr. Ryu vor sich identifiziert. Er hat leichte Schweißperlen auf der Stirn, sein Herz hämmert wild in der Brust und das Kribbeln in den Adern ist nach wie vor da, wird aber schon langsam schwächer. Trotzdem ist der schwarze Armreif ein ganzes Stück gewachsen. Seine halbe Hand hat sich verfärbt und in fransigen Zacken reicht das Mal bis zum Ellbogen. Irgendwelche Kräfteschrumpfungen werden ganz sicher noch spontan an seinen Terminkalender angehängt werden bevor er auf Süßes oder Saures entlassen wird.

 

Schwächling. Hättest du noch ein bisschen länger durchgehalten, hätte ich endlich mal wieder Spaß haben können. Ich weiß, dass du das auch gewollt hättest, Eren. Ich kann es spüren.

 

Eren ignoriert die Stimme, richtet seine Konzentration lieber auf das, was außerhalb seines Kopfes geschieht.

 

Die Ärztin sieht erleichtert und mitfühlend zugleich zu dem Jungen, schenkt ihm ein kleines aufbauendes Lächeln ehe sie die letzten Worte des Dämonentest in ihren Bericht tippt. Sein Bruder hingegen, der sieht ihn so finster und enttäuscht an, wie immer, wenn Eren die Erwartungen nicht erfüllen kann. Der Junge schluckt schwer. Das wird noch eine gehörige Strafe mit sich ziehen. Wenn er auch bei der Engelvariante scheitert, wird sie sogar noch um einiges schlimmer.

 

„Du hast also wieder versagt“, spricht Ajax das Offensichtliche kühl aus. Es ist schwer zu sagen, was in seinem Kopf vorgeht.

 

„Ja." Eren zieht den Kopf ein. „Tut mir leid, Bruder.“

 

„Du weißt, dass ein tut mir leid dein Versagen auch nicht besser macht, oder?“

 

„Ich weiß.“ Schuldbewusst sieht Eren zu dem jungen Mann und versucht vorischtig sich zu rechtfertigen: „Es ist schwer und tut weh. Die Kräfte kämpfen gegen mich. Wenn ich merke, dass ich die Kontrolle verliere, breche ich ab. I-Ich denke, das ist besser als auszurasten und hier alles zu vernichten.“

 

Ajax kneift die Augen zusammen. „Ich will keine Ausreden hören, Eren. Du strengst dich einfach nicht genug an.“

 

Er hat ja keine Ahnung, wie sehr er sich anstrengt. Er will das hier wirklich hinbekommen, aber es geht nicht. Wenn er nur eine Sekunde lang irgendeine Schwäche zeigt, nutzt der Dämon das sofort aus und zieht ihn in den Spiegel hinein. Amok zu laufen ist doch schlimmer als vorher abzubrechen, oder? Laut Eren schon, nur leider scheint Ajax das nicht so zu sehen.

 

„Du weißt, dass ich dich dafür bestrafen muss, oder? Vater wird enttäuscht sein, wenn ich ihm davon berichte.“

 

Ergeben lässt er den Kopf sinken. Er enttäuscht seine Familie so ungern. Nicht wegen der Strafen, sondern weil er die Erwartungen nicht erfüllen kann. Er will seinen Vater und auch Ajax ja stolz machen, aber es ist schwer, was sie von ihm verlangen. Teilweise sogar schier unmöglich. Aber das sagt er ihnen nicht. Er ist ein Turano. Er muss der Beste sein! Das ist er seiner Familie schuldig, gleich, was es ihn kosten mag. Er muss sich nur mehr anstrengen.

 

„Also gut. Verschwenden wir nicht noch mehr Zeit“, beschließt Ajax schließlich und legt die Hände hinter den Rücken. „Eren, die Engelseite. Los.“

 

„Ja, Bruder.“

 

~~~

 

Der Ablauf ist identisch wie beim Dämon. Wieder betritt Eren gedanklich den Spiegelraum, widmet sich aber diesmal dem weißen Spiegel, der noch immer mit Wölkchen bedeckt ist. Im Rechten beobachtet ihn der Dämonen-Eren immer noch wütend dabei.

 

Warum tust du nur immer das, was dieser wichtigtuerische, eingebildete Ajax verlangt? Wir sind stärker als er! Er hat uns gar nichts zu sagen! Komm zu mir, ich gebe dir mehr Kraft und wir beweisen ihm, dass er uns nicht rumschupsen kann, wie er will! Wir sind kein kleines Kind mehr!

 

„Halt die Klappe. Du willst mich nur wieder hintergehen.“

 

So ist´s richtig, Eren. Du brauchst die dunklen Kräfte nicht. Meine sind bei weitem weniger zerstörerisch, aber genauso stark.

 

Der Junge weiß, dass das auch nicht ganz wahr ist, hat aber jetzt auch keine Lust darauf zu diskutieren. Deshalb lässt er die Worte unkommentiert im Raum stehen, streckt den linken Arm vor und berührt den Spiegel. Die Gestalt auf der anderen Seite imitiert ihn und schickt die nächste Welle Ameisen in seinen Körper. Die Engelkraft fühlt sich nicht so schmerzhaft an, im Gegenteil, es ist sogar ganz angenehm. Ein warmes Prickeln bahnt sich immer weiter einen Weg in jede Zelle seines Körpers. Eren lässt es bereitwillig zu, nimmt immer mehr der Engelkraft an und achtet darauf nicht in den Spiegel gezogen zu werden, der bis jetzt noch unter seiner Handfläche spürbar ist.

 

Auch die sich schärfende Gestalt in diesem Spiegel sieht aus wie ein Ebenbild von Eren mit kleinen Unterschieden. Die Haare sind schneeweiß, die Augen leuchten in einem warmen Goldton und am Rücken prangen große weißgefiederte Flügel. Außerdem lächelt dieser ihn freundlich an, was nicht unbedingt was positives heißen muss. Auch Engel können grausam sein. Die Kleidung ähnelt sehr der des Dämonen. Vom groben Stil her zumindest. Das Top ist nicht ausgefranst, ist im oberen Teil schwarz und geht sanft in Weiß über. Die Hose ist identisch zur Dämonenvariante, nur nicht gezackt und mit goldenen Knöpfen anstatt roten. Die roten Stellen der Dämonen-Boots sind hier weiß und der Rest golden. Der Mantel darüber ist ebenfalls weiß mit runden goldenen Knöpfen und Innensaum, ohne ausgefransten Rändern am Saum und Stehkragen.

 

~~~

 

In der Höhle fängt der junge Turano bereits an sich zu verändern. Erens Haare, die im Augenblick noch die schwarzen Strähnchen besitzen, werden nach und nach komplett weiß. Zeitgleich wächst das Mal bis es aussieht als hätte Eren einen langen weißen Handschuh an. Wie zuvor taucht aus dem Nichts heller Nebel auf, der um den Jungen herumwirbelt wie bei einem Tornado mit ihm als Zentrum. Der Nebel wird immer dichter, immer schneller bis Eren nicht mehr zu erkennen ist. Fasziniert, neugierig, staunend aber auch verängstigt, überfordert und dem Drang wegzulaufen sehr nahe, beobachten die vier Menschen das Geschehen innerhalb des Käfigs.

 

Das Schauspiel dauert nur wenige Sekunden und endet völlig abrupt. Der Tornado verschwindet von einem Herzschlag zum nächsten und enthüllt dabei den Zwölfjährigen, der noch immer an Händen und Füßen gefesselt mit gesenktem Kopf und geschlossenen Augen im Käfig steht. Sein Aussehen hat sich allerdings komplett verändert. Er sieht jetzt vollständig so aus, wie die Gestalt im Spiegel, mit allem drum und dran. Die großen Flügel, die hellen Haare und das komplette auffällige Outfit. Langsam öffnet er die goldenen Augen, mustert zunächst die Kleidung in der er steckt und hebt dann den Kopf, um die stillen Zuschauer anzusehen.

 

Ajax hat wachsam die Auge zusammengekniffen. Auch wenn die Verwandlung erfolgreich war, heißt das noch lange nicht, dass Eren auch die Kontrolle behalten hat. Vorsichtig wagt er sich einen Schritt näher ran.

 

„Eren? Bist du noch da?“

 

Der Junge in Engelform beginnt zu lächeln. „Jap. Bin noch da.“

Sünder

Man kann förmlich hören wie alle erleichtert aufatmen. Dr. Ryu, die bis eben die Luft angehalten hat, entspannt sich und tippt bereits eifrig in ihr Tablet. Ajax nähert sich weiter dem Käfig und mustert dabei seinen Bruder, der in seiner momentanen Erscheinungsform einem Engel zum verwechseln ähnlich sieht. Ist ja auch kein Wunder. Immerhin ist ein Teil von ihm ein Engel.

 

„Zumindest eine Form beherrscht du“, meint Ajax sogar mit einem ganz, ganz kleinen zufriedenen Ausdruck in den braunen Augen. „Wie fühlt es sich an? Hast du es sicher unter Kontrolle?“

 

Probehalber bewegt der Junge seine Hände und Füße, die Ketten rasseln dabei und auch die Flügel entfaltet er, so gut es im Käfig eben geht. Alles funktioniert so, wie er es will. „Es fühlt sich normal an. So wie vorher eigentlich. Nur stärker.“

 

Ajax nickt einmal und sieht dabei so aus, als wäre er gedanklich schon mit der weiteren Planung beschäftigt. Kurz darauf dreht er sich zu Dr. Ryu um. „Machen Sie Ihre Tests. Ich will nicht länger in dieser Höhle bleiben, als nötig.“

 

„Ja, sofort.“ Hektisch schreibt sie schnell fertig, eilt dann zum Tisch, stopft sich ein paar der Sachen in die Kitteltaschen und kommt zurück zum Käfig, den Ajax bereits aufschließt. Beim Eintreten reicht sie ihr Tablet an Ajax weiter, der nicht begeistert davon ist, jetzt zum Assistenten degradiert zu werden. „Hier, halten Sie das, bitte. Ich kann keine Tests durchführen, wenn ich keine Hand frei hab. Und die beiden bleiben vorsichtshalber auf ihren Posten“, fügt sie entschieden hinzu, als sie bemerkt, dass Ajax zu den Wachen schielt.

 

„Meinetwegen“, murrt er schließlich. „Beeilen Sie sich einfach.“

 

„Ja, ja, schon dabei.“ Als erstes zieht sie ein Sprühfläschchen und einen Venenstauer aus der Tasche. „Ihren Arm, bitte“, weist sie den Jungen höflich an, der ihr gehorsam seinen linken Arm entgegenstreckt. Sie bindet ihm den Oberarm ab und sprüht das Desinfektionsmittel auf dessen Armbeuge.

 

Hey, Eren. Weißt du eigentlich wie stark du jetzt bist?

 

*Nicht jetzt. Ich bin beschäftigt.*

 

Dr. Ryu entnimmt ihrem Laborkittel als nächstes eine Spritze. „Das könnte ein wenig piksen. Versuchen Sie entspannt zu bleiben.“

 

„Klar. Ist ja nicht meine erste Blutabnahme.“ Davon gab es schon mehr als er zählen kann. Zwar nicht annähernd so viele in einer vollständigen Verwandlung, aber was sollte daran schon anders sein?

 

Du hast ja noch nicht wirklich viel meiner Kraft benutzt. Weißt du eigentlich, zu was wir jetzt fähig sind?

 

*Ich sagte doch, nicht jetzt. Ich muss das hier schnell hinter mich bringen und mich dann auf das Treffen mit Max vorbereiten.*

 

Die Ärztin sticht geübt in die Vene und beginnt das Blut abzuzapfen. Dabei zeigt sich ein drastischer Unterschied zur gewöhnlichen Blutabnahmen. Das Blut, das sich in der Spritze sammelt, ist strahlend weiß.

 

„Das ist immer wieder faszinierend“, murmelt Dr. Ryu begeistert vor sich hin.

 

Das ist noch gar nichts. Ich zeig euch jetzt, zu was wir tatsächlich im Stande sind.

 

*Was soll das heißen?*

 

~~~

 

Alarmiert verkrampft sich Erens Abbild im Spiegelraum, wo er noch immer mit der Hand am weißen Engelspiegel steht. Die Art, wie die Gestalt ihn ansieht, jagt ihm einen Schauer über den Rücken, der eine böse Vorahnung hinterlässt.

 

Ich zeig´s dir.

 

Schneller als er reagieren kann, als er überhaupt realisieren kann, wird er in einem einzigen Ruck in den Spiegel hineingezogen. Er verschwindet vollständig darin, dafür tritt die Engelgestalt heraus, streckt sich und dreht sich dann mit einem milden Lächeln zu Eren um, der blass geworden ist und schockiert durch das nun wieder solide Spiegelglas starrt.

 

„Was hast du getan?“, fragt er fassungslos, die blauen Augen weit aufgerissen.

 

Tut mir leid, dass ich dich so überrumpeln musste, aber du wolltest mir ja nicht zuhören. Wir haben eine Mission, Eren. Wir müssen die Welten von allen Sündern befreien.

 

„Das kannst du nicht tun! Das ist mein Körper! Gib ihn mir zurück!“, verlangt Eren panisch und trommelt nutzlos gegen das Glas.

 

Der Engel sieht ihn entschuldigend an. Das geht leider nicht. Noch nicht. Sobald wir die Welten gereinigt haben, kannst du ihn zurück haben. Aber jetzt hab ich erst einmal was zu erledigen. Tut mir leid, dass du es deswegen nicht zur Verabredung mit Max schaffen wirst. Er wäre sicher ein guter Freund geworden.

 

~~~

 

„So, das war´s schon“, teilt Dr. Ryu dem Jungen mit und verstaut die Spritze mit dem weißen Blut im Kittel.

 

„Steht noch was auf Ihrer Testliste?“, möchte Ajax grummelig wissen, dem das hier offensichtlich nicht schnell genug geht.

 

Da die beiden beschäftigt sind, bekommen sie nicht mit, wie das weiße Mal des jüngeren Turano von goldenen Linien, die wie Blutgefäße aussehen, durchzogen wird, die von den Fingerspitzen bis zum Rand des Weißen reichen. Als der Junge den Kopf hebt ist sein Blick kälter geworden, gleichzeitig auch trauriger.

 

„Dr. Ryu, Sie sind keine Sünderin.“ Erens Stimme hat einen fremdartigen, hallenden Unterton angenommen.

 

Irritiert unterbrechen die Frau und Ajax ihre Unterhaltung über die noch anstehenden Tests. Die Ärztin blinzelt unsicher. „Sünderin? Was meinen Sie damit, junger Herr?“

 

In Wahrheit weiß sie ganz genau, was das heißt. Es ist schließlich nicht das erste Mal. Dennoch will sie es im ersten Moment nicht wahrhaben. Nicht wegen sich selbst, sondern weil es bedeutet, dass Eren die nächste Strafe für sein angebliches Versagen bekommt. Außerdem könnte bei einem Amoklauf einiges kaputt gehen.

 

Anstatt der Frau zu antworten, richten sich die goldenen Augen auf den blonden Mann. „Ajax Turano, Sie sind ein Sünder und werden für Ihre Verbrechen bestraft werden müssen.“

 

Der Mann seufzt erzürnt und enttäuscht. „Du hast schon wieder versagt, Eren. Erlange sofort die Kontrolle zurück oder du weißt, was passiert.“

 

„Eren macht gerade eine Pause.“ Engel-Eren mustert abfällig die Ketten. „Ach, wie niedlich. Glauben Sie immer noch, dass mich diese Ketten aufhalten können?“ In einem Ruck zerrt er an der Kette, die allerdings standhält. Die Runen beginnen sofort zu leuchten sobald gewöhnliche versagt hätten. „Interessant. Sie haben dazugelernt.“

 

Die Ärztin verlässt bereits blass geworden den Käfig. „Herr Turano, kommen Sie.“

 

„Das heißt dann wohl, dass du die Konsequenzen für dein Versagen tragen musst, Bruder“, beschließt Ajax beim Verlassen des Käfigs. „Steht nicht so nutzlos in der Gegend rum. Erledigt euren Job“, schnauzt er die Wachen an.

 

Diese zucken erschrocken aus ihrer Starre, reißen sich so gut es geht zusammen, zielen und schießen. Aus dieser kurzen Distanz daneben zu schießen ist so gut wie unmöglich und trotzdem schafft es der Wachmann nur die Glasscheibe zu treffen. Die Frau zielt besser, rechts in Erens Hals steckt ein Glasröhrchen mit rosa Puschel am Ende und einer silbrigen Flüssigkeit, die sich sofort in seinen Körper entleert.

 

Der Engel zuckt nicht einmal, zieht nur das Geschoss aus dem Hals und betrachtet es amüsiert. „Noch so ein vergeblicher Versuch mich aufzuhalten. Dabei ist es doch meine heilige Pflicht die Welten vor … Urgh!“

 

Der Engel bricht mitten im Satz ab, stöhnt gequält auf und krümmt sich zusammen, soweit es die Ketten zulassen. Er fängt an Blut und Schaum zu spucken, heftige Schmerzen lassen seinen Körper erbeben. Immer verzweifelter zerrt er an den Ketten bis die Haut darunter blutig wird. Sein Innerstes fühlt sich an, als würde es verbrennen und er kann nichts dagegen tun. Bald schon läuft weißes Blut aus Ohren, Mund, Nase und Augen.

 

„Was haben Sie getan?! Wie können Sie es wagen einem Engel das anzutun?! Sie sind alle Sünder! Sie werden sterben! STERBEN!“

 

Der Engel lässt sich auf die Knie fallen, krallt sich in seinen eigenen Haaren fest und fängt an zu schreien, so schrill, dass die Menschen die Hände auf die Ohren pressen müssen und sogar das Glas vibriert.

 

Eine gefühlte Ewigkeit später ändert sich die Farbe des heraustretenden Blutes von Weiß zu Rot. Die Flügel lösen sich in Nebel auf, der für einen kurzen Moment um Eren herumwirbelt und auch den Rest der Engelkraft mit sich reißt. Sobald der Nebel verblasst, sieht Eren wieder aus wie vorher, nur blutüberströmt und am Ende seiner Kräfte. Sofort erschlafft sein gesamter Körper.

 

Plötzlich ist es mucksmäuschenstill in der Höhle. Der Junge hat das Bewusstsein verloren und liegt nur stumm in seinem eigenen Blut am Boden des Käfigs. Die Wachen haben sich längst ans andere Ende der Höhle zurückgezogen und umklammern schutzsuchend ihre Waffen.

 

Dr. Ryu nimmt ihre Hände von den Augen und legt sie über ihr Herz, das vor Mitleid schneller schlägt. In ihren Augen schimmern Tränen. Sie erträgt es einfach nicht ihn so leiden zu sehen. Es tut ihr weh ihm das Mittel antun zu müssen. Besonders, da sie selbst vorher die Wirkung noch nicht gesehen hat. Es ist die neue Mixtur, die Eren mit seinem Vater am Mittwoch getestet hat. Benedikt Turano wird damit zufrieden sein. Genau so etwas wollte er schließlich. Ein Serum, dass einen ausrastenden Eren bezwingt. Dr. Ryu hofft inständig, dass der Junge keine bleibenden Schäden davongetragen hat und ihr deswegen nicht böse ist. Sie hätte das Mittelchen nicht so wirkungsvoll mixen sollen. Aber dann wäre es vermutlich nicht stark genug gewesen den Engel zurückzudrängen. Das macht es aber auch nicht besser.

Versager

Ajax geht an den Käfig heran und betrachtet seinen kleinen Bruder mit schwer deutbarem Blick. Zufriedenheit oder Mitgefühl ist es auf alle Fälle nicht. „So eine Enttäuschung. Ich hab dich gewarnt was passiert, wenn du die Kontrolle verlierst.“

 

Dr. Ryu räuspert sich kurz, um die Aufmerksamkeit des älteren Turano auf sich zu ziehen. „Wenn Sie erlauben, Herr Turano, heute hat Eren schon mehr von beiden vollständigen Verwandlungen gezeigt und hat auch länger durchgehalten als die Male davor. Er wird stetig besser. Ich bitte Sie von einer Bestrafung abzusehen. Wir wissen noch lange nicht genug über seine Kräfte, um uns anmaßen zu dürfen, wir wüssten, zu was er schon alles fähig sein sollte.“

 

Die Frau ist die einzige, die sich erlauben darf so mit einem Turano zu sprechen, auch wenn sie dabei dennoch sehr auf die Wortwahl achten muss. Benedikt Turano hält viel zu viel von Dr. Ryu, um sie wegen so einfachen Gründen zu beseitigen, wegen denen andere schon längst spurlos verschwunden wären. Dass sie diejenige ist, die am meisten über alle Experimente im Bunker weiß, ist mit Sicherheit der Hauptgrund dabei.

 

Deshalb wirft Ajax ihr nur einen warnenden Blick zu, der die Frau nervös ihre Brille hochschieben und den Blick auf ihr Tablet sinken lässt. Ohne auf ihre Einwände einzugehen, weist er sie an: „Dr. Ryu, bleiben Sie bei ihm, bis er aufwacht. Sorgen Sie aber dafür, dass er spätestens um 17 Uhr in seinem Zimmer ist und sich fertig macht. Er hat heute noch einen Termin. Ich muss jetzt weg und Vater von dieser Enttäuschung berichten.“

 

„Okay, verlassen Sie sich auf mich, Herr Turano“, willigt die Ärztin sofort ein.

 

Ajax schnaubt noch einmal abfällig, dreht sich am Absatz herum und marschiert mit festen Schritte auf das Portal zu. Da es noch immer die Einstellungen des letzten Ziels im Speicher hat, muss er diese lediglich einschalten. Sobald der Turano verschwunden ist, weist die Ärztin die Wachen an, alles wieder einzupacken und den Käfig zu säubern. Sie selbst befreit Eren von den Ketten und lässt ihn von dem Wachmann in eines ihrer Untersuchungszimmer im Bunker bringen. Dort wird er auf die Liege gelegt und vorsichtshalber angebunden. Die Frau setzt sich daneben und wartet darauf, dass er die Augen aufschlägt.

 

Zumindest für zwei ganze Minuten. Dr. Ryu kann nicht einfach nur still dasitzen und warten, dafür ist sie viel zu nervös. Deshalb sucht sie sich irgendwelche Arbeiten, um beschäftigt zu sein. Sie wischt Eren das Blut vom Gesicht und reinigt die Hand- und Fußgelenke, die seltsamerweise noch immer wund sind. Das ist nicht gut. Hat ihn das Mittel so weit geschwächt, dass er sich nicht einmal heilen kann? Und dann soll er auch noch heute einen Auftrag erledigen? Als behandelnde Ärztin sollte sie es eigentlich verbieten, aber sie weiß, dass Ajax das anders sieht. Er schickt Eren auf diese Mission, egal in welcher Verfassung der Junge ist.

 

Dr. Ryu seufzt schwer. Alles was sie tun kann, um ihm zu helfen, ist alles zu tun, damit es ihm bis 17 Uhr wieder so gut geht, dass er zumindest wach ist und stehen kann. Dafür hat sie noch knapp zwei Stunden Zeit. Also gut. Keine Zeit zu verlieren.

 

Zunächst injiziert sie dem Jungen ein Schmerzmittel, sicherheitshalber, danach behandelt sie seine Gelenke und bandagiert sie. Anschließend verfällt sie in eine Art Putzwahn. Sie läuft im Zimmer herum, um in jeder Ecke ein wenig aufzuräumen und horcht dazwischen immer wieder sein Herz ab, prüft die Atmung und stellt sicher, dass alle Vitalwerte im grünen Bereich sind und bleiben. Zu ihrer Erleichterung werden die Werte stetig besser. Trotzdem würde sie ihn am liebsten über Nacht unter Beobachtung stellen.

 

~~~

 

Um Viertel vor Fünf sieht Dr. Ryu noch immer angespannt auf die tickenden Zeiger der Uhr. Eren ist noch immer nicht wach. Ihr Blick gleitet kurz zur Überwachungskamera neben der Uhr, sie seufzt schwer. Sie wird beobachtet, das heißt, sie muss den Jungen jetzt zwanghaft wecken, um nicht Ajax´ Zorn auf sie beide zu verschlimmern. Es gefällt ihr nicht, aber sie keine Wahl.

 

Dazu hat sie einen Behälter mit Aufschrift NaCl aus dem Schrank genommen und eine Spritze mit der durchsichtigen Flüssigkeit gefüllt. Diese injiziert sie in seinen Oberarm und setzt sich wartend auf den Hocker neben der Liege. Sie legt ihm eine Hand auf die angespannte Stirn und seufzt. „Komm schon, Eren. Du willst doch nicht zu spät zu deiner Mission kommen, oder? Wach auf.“

 

Kurz darauf bäumt er sich auf, würgt, hustet und spuckt Blut. Die Gurte, die seinen Oberkörper und seine Beine am Tisch fixieren, hindern ihn daran sich aufzusetzen, weshalb er lediglich den Kopf drehen kann, um nicht am eigenen Blut zu ersticken. Sofort ist Dr. Ryu zur Stelle, öffnet den obersten Gurt, sodass Eren zumindest den Oberkörper ein wenig drehen kann und legt ihm beistehend eine Hand auf die Schulter. Erst ein paar Minuten später beruhigt er sich einigermaßen. Erschöpft bleibt er einfach so liegen und blinzelt benommen vor sich hin. Ihm tut alles weh.

 

„Wie geht’s dir?“, erkundigt sich die Frau besorgt.

 

„Ich hab schon wieder versagt, nicht?“ Es ist mehr eine heisere Feststellung als eine Frage.

 

Dr. Ryu senkt den Blick auf ihre Hand, die noch immer auf seiner Schulter ruht. „Ich fürchte, ja.“

 

„So ein Mist!“, ärgert er sich. „Wieso krieg ich das einfach nicht hin?“

 

„Hey, du schaffst es schon irgendwann. Du wirst von Mal zu Mal besser“, versucht die Frau Eren aufzumuntern.

 

Der Junge dreht den Kopf leicht in ihre Richtung. „Irgendwann ist aber nicht gut genug. Ajax hat recht, ich sollte doch mit Zwölf schon längst meine Kräfte kontrollieren können. Ajax war in meinem Alter selbst schon Mentor und ich bin immer noch dabei herauszufinden, was eigentlich meine Kräfte sind.“

 

„Vergleich dich nicht immer mit deinem Bruder“, rät die Frau streng und beginnt damit die restlichen Gurte zu öffnen. „Du hast ganz andere Fähigkeiten als er und bist auch noch der einzige, der ein Hybrid aus Engel und Dämon ist. Wir wissen noch gar nicht, was du alles mal können wirst. Setz dich nicht so unter Druck, sonst blockierst du dich nur selbst.“

 

„Ich weiß, aber trotzdem“, beharrt Eren darauf. „Wenn ich nicht bald zumindest eine Form beherrsche, wird mich Ajax auf keine Mission mehr schicken und ich darf wieder nur im Bunker hocken trainieren.“ Bei dem Stichwort Mission fällt ihm plötzlich etwas ein, was ihn gestresst die Augen aufreißen lässt. „Wie spät ist es?!“ In einem Ruck setzt er sich auf und bereut es prompt. Der gesamte Raum dreht sich und sowohl sein Kopf als auch sein Magen springen begeistert auf das Kurrassel mit auf.

 

„Zehn vor Fünf“, antwortet sie mit gerunzelter Stirn. „Musst du den Termin heute noch wahrnehmen? Mir wäre es lieber, wenn du dich heute Nacht von den Nebenwirkungen erholen würdest.“

 

„Das geht nicht.“ Eren hat die Augen geschlossen, eine Hand auf die Stirn gelegt und die andere auf den Bauch. So atmet er konzentriert ruhig ein und aus. „Der Auftrag ist zu wichtig.“

 

Die Ärztin seufzt. Das hatte sie schon erwartet. „Mir gefällt das nicht. Du bist noch ein Kind, du solltest in die Schule gehen, mit Freunden spielen, Blödsinn machen und nicht rund um die Uhr trainieren, kämpfen und morden müssen. Außerdem ist heute Halloween, bekommst du nicht mal da ein paar Stunden frei?“

 

„Du kennst doch meinen Vater und Bruder, für sie gibt es sowas wie Feiertage und Geburtstage nicht.“ Der Junge lacht bitter auf und nimmt eine hochnäsige Haltung ein. „Jeder Tag, an dem nicht gearbeitet oder trainiert wird, ist ein vergeudeter Tag“, zitiert er den Spruch, den er schon so oft gehört hat. „Aber ist schon okay, ich hab mich daran gewöhnt“, fügt er so überzeugt hinzu, wie es ihm gerade möglich ist, um der Ärztin zu versichern, dass es ihm nichts ausmacht auch an Halloween trainieren, kämpfen und morden zu müssen. Wobei diese Punkte heute hoffentlich nicht auf der Mission gebraucht werden. So gefährlich kann eine Halloweentour doch nicht sein, oder?

 

„Das ist traurig“, kommentiert die Frau und reicht dem Zwölfjährigen ein Glas Wasser. „Hier. Trink zumindest was, bevor du aufbrichst. Geht´s dir überhaupt gut genug?“

 

„Ja, das wird schon. Danke.“ Als Eren das Glas entgegennimmt, fallen ihm seine Handgelenke auf. Fragend zieht er eine Augenbraue gen Stirn. Seine Wunden werden so gut wie nie bandagiert, dafür sind sie viel zu schnell verheilt. Dementsprechend irritiert ist er beim Anblick der weißen Verbände.

 

„Als ich dich hierher gebracht hab, waren deine Gelenke noch wund, deshalb hab ich sie verbunden“, antwortet sie auf die unausgesprochene Frage. „Ich fürchte, das neue AEUD-Serum war ein wenig zu stark dosiert, es hat deine Kräfte zu gut unterdrückt. Entschuldige.“

 

„Ist mir deshalb so schlecht? Und sind die Male deshalb so klein?“ Sie sind unter den Bandagen nicht einmal zu sehen, dabei erinnert er sich gut daran, dass sie fast den gesamten Arm eingenommen haben.

 

„Ja. Deswegen halte ich es ja auch für eine schlechte Idee, dass du heute noch eine Mission erfüllen sollst. Eigentlich sollte ich es dir als deine Ärztin verbieten, aber du würdest eh nicht auf mich hören“, prophezeit sie und bekommt dafür ein bestätigendes Schmunzeln. Sie seufzt geschlagen, stemmt dann streng die linke Hand in die Hüften und hebt bestimmend den rechten Zeigefinger. „Aber ich werde dir noch ein Schmerzmittel geben und was gegen die Übelkeit und zur Behandlung der offenen Gelenke. Keine Widerworte, klar?“

 

„Okay, okay.“ Abwehrend hebt Eren die Hände, hat dabei aber noch immer gekräuselte Lippen. „Du bist die Ärztin. Aber beeil dich, ja? Ich muss mich noch für die Mission vorbereiten.“ Was bedeutet, er muss noch duschen und sich umziehen. So blutig kann er sich Max doch nicht zeigen. Obwohl, der würde vermutlich glauben, dass das ein Halloweenkostüm sei und wäre begeistert.

 

Erneut seufzt die Frau, sagt aber nichts weiter dazu. Stattdessen sucht sie aus den Schränken alle benötigten Fläschchen, Spritzen und was sie sonst noch braucht zusammen und kehrt damit zu ihrem Patienten zurück. Eren hat mittlerweile angefangen die Verbände abzunehmen. Die Haut darunter ist noch immer offen, rot und geschwollen, aber es blutet nicht mehr und seine Heilkräfte haben auch endlich eingesetzt. Allerdings um einiges langsamer als er gewohnt ist. Normalerweise sollten solche kleinen Wehwehchen innerhalb von Sekunden verschwinden. Hoffentlich sieht seine Haut normal aus, wenn er bei diesem Eiscafé FrostYum ankommt.

 

„Dr. Ryu, wie feiert man eigentlich Halloween?“, fragt Eren unerwartet, den Blick auf den dünnen schwarzen Armreif gerichtet, der trotz der abgeschabten Haut sichtbar ist.

 

Die Ärztin stockt überrascht, ehe sie weiter die Spritze mit der klaren Flüssigkeit aufzieht. „Wie kommst du jetzt darauf? Ich dachte, ihr feiert kein Halloween?“

 

„Tun wir auch nicht“, bestätigt der Junge. „Ich bin nur neugierig. Es scheint eine ziemlich große Sache zu sein. Wenn man durch die Stadt fährt, ist alles mit Kürbissen, Geistern und Spinnen geschmückt.“

 

Verstehend lächelt die Frau, klopft gegen die Spritze, um die Luftbläschen zu lösen und injiziert sie anschließend in Erens Oberarm, der nicht einmal zusammenzuckt. „Also, ursprünglich war Halloween ein Fest, um böse Geister abzuwehren, entweder sollten sie verscheucht oder besänftigt werden, aber heute ist es eher eine große Gruselparty. Alle verkleiden sich als irgendwelche Hexen, Geister oder Monster. Viele wandern von Tür zu Tür, um Süßigkeiten einzusammeln oder gehen auf Halloween-Partys. Es werden Kürbislaternen gebastelt, alles gruselig dekoriert, auch das Essen und alle versuchen ihre besten Freunde zu Tode zu erschrecken.“ Dr. Ryu gluckst amüsiert. „Eigentlich ist es ziemlich albern, aber ich mag das. Alles ist dann irgendwie ein wenig unheimlich und erschreckend, aber auch lustig, wenn man sich mit Freunden zusammen gruselt und danach darüber lacht.“

 

Nachdenklich wickelt Eren seinen rechten Knöchel frei, der noch genauso geschunden aussieht wie die Handgelenke. Für ihn klingt Halloween irgendwie … er weiß auch nicht … Irgendwie kann er es noch nicht einordnen. Es wird also alles Gruselige gefeiert, zu essen gibt’s irgendwas in Form von Körperteilen und alle haben Spaß daran sich gegenseitig zu Tode zu erschrecken und alberne Kostüme zu tragen? Sein Vater hat wohl recht, es klingt nach einer Zeitverschwendung. Und trotzdem würde Eren das alles gerne mal miterleben. Kann er ja auch. Für ein paar Stunden und nur die Tour. Auf die Schulparty darf er nicht, zu viele Leute und zu wenig Gelegenheiten etwas herauszufinden. Deshalb wird er gleich nach der Süßes oder Saures-Tour wieder abgeholt werden.

 

Dabei fällt ihm ein, was ist, wenn Max nur ein gewöhnlicher Junge ist? Dann kann er ja gar keine versteckten Fähigkeiten herausfinden. Wie lange soll er ihn denn dann noch ausspionieren? Er bezweifelt, dass sein Vater und Bruder noch sehr viel mehr Zeit mit dieser Schulmission verschwenden wollen. Das bedeutet, er muss heute sein bestes geben. Er will heute nicht noch einmal versagen. Nicht nach der niederschmetternden Blamage der vollständigen Formen.

 

Die Ärztin verabreicht dem Jungen noch eine weitere Spritze und besteht darauf, dass er vorsichtshalber Tabletten mitnimmt, falls die Nebenwirkungen des Serums wieder schlimmer werden. Da er schon vorher wusste, dass er eine Diskussion verlieren würde, hat er die kleine Dose einfach in die Hosentasche gesteckt und sich auf den Weg nach Hause gemacht, um sich für die Mission vorzubereiten. Dr. Ryu hat angeboten ihn zu begleiten, aber er wollte das nicht. Er ist nicht so schwach, dass er die Hilfe von jemanden braucht, um in sein Zimmer zu kommen. Das schafft er doch wohl noch allein. Auch wenn der Weg durch die Gänge, die Fahrt mit dem Aufzug, der nächste Gang und dann die Einschienenbahn ziemlich an ihm gezerrt haben. Es war anstrengend, ein paar Mal musste er sich an die Wand lehnen und eine Pause einlegen.

 

So gestaltet sich der Weg in sein Zimmer länger als gewöhnlich. Dann tritt er endlich in sein Zimmer und kann die Tür schließen. Er hat zwar nur noch eine Viertelstunde, um sich fertig zu machen bis er in die Stadt fahren muss, aber die Zeit, um mit geschlossenen Augen tief durchzuatmen und zu versuchen die Heilkräfte zu wecken, nimmt er sich dennoch. Ajax würde ihn umbringen, wenn er in diesem Zustand vor Max treten würde. Und seinem großen Bruder noch weitere Gründe für Strafen und Lektionen zu bieten, wo er eh noch eine wegen dem gescheiterten Training erwartet, will er lieber nicht riskieren.

No-Go an Halloween

„Denk dran, Eren, es ist kein Vergnügungsausflug, es ist eine Mission.“ Und da ist er, Ajax´ berühmt berüchtigerter Vortrag vor Missionsstart. „Nimm sie ernst oder ich werde Vater bitten müssen, dich von dem Auftrag abzuziehen. Es gibt auch andere Methoden, um den Jungen zu einer Antwort zu zwingen. Leider sind die aber nicht gerade unauffällig und der Junge würde uns erhebliche Probleme bereiten, wenn er uns mit seiner Entführung in Verbindung bringen könnte. Das heißt, es wäre für uns besser, wenn die Zielperson dann einfach verschwunden bleibt. Entweder als neues Mitglied unserer Bunkerfamilie oder eben als unvermeidbarer Kollateralschaden.“

 

Eren und sein Bruder sind auf dem Weg zum Eiscafé FrostYum, wo Max bereits auf ihn wartet, wie er ihm vor zwei Minuten geschrieben hat. Für Ajax bedeutet das natürlich: Eren ist zu spät. Und ein Turano kommt nicht zu spät. Und das bedeutet, noch mehr Strafe. Was genau, weiß der Junge allerdings noch nicht. Dazu hat sich sein Bruder noch nicht geäußert. Dafür ist er auch zu beschäftigt mit Vorträgen über das Turano-Niveau und Warnungen und Erinnerungen, wie er sich zu benehmen hat und wie die Mission seiner Meinung nach schneller abgeschlossen werden könnte und blablabla ... Als wüsste Eren das alles nicht schon längst.

 

Naja, zumindest muss er deshalb kein schlechtes Gewissen haben, weil er nur mit einem Ohr zuhört und seine Aufmerksamkeit mehr auf die Heilkräfte richtet, die noch immer geringer sind als er es gewohnt ist. Er ist wirklich froh über die Schmerzmittel von Dr. Ryu, die Handgelenke und Knöchel sind zwar inzwischen größtenteils verheilt, aber dennoch fühlt es sich so an, als wäre jede Zelle verkrampft, er hätte den schlimmsten Muskelkater seines Lebens und nebenbei ist ihm auch noch immer schwindelig. Im Großen und Ganzen alles Dinge, die er zum Glück gut überspielen kann. Das Schmerzresistenztraining ist doch zu etwas nütze.

 

„Ich weiß, Ajax. Ich verspreche, ich werde alles tun, um die Mission heute abschließen zu können“, verspricht der Junge feierlich und meint es auch so, denn Ajax´ Vorstellung vom Abschluss der Mission gefällt ihm nicht. Zumindest nicht die Variante, in der Max als Kollateralschaden sterben soll. Deshalb hat er sich fest vorgenommen heute alles daranzusetzen, um die Kräftefrage zu klären. Auch wenn es bedeutet, dass dann seine Schulzeit mit Freunden - manche mehr, manche weniger - vorbei ist.

 

Ajax biegt dem Navi folgend an der nächsten Ampel ab und die mechanische Stimme verkündet, dass das Ziel in fünfhundert Metern erreicht ist. Sie sind im äußeren Vorstadtring von Haikla City unterwegs, hier gibt es keine Wolkenkratzer oder riesige Firmen und Parkhäuser, hier sieht alles kleiner aus. Wohnhäuser mit maximal zwei, in seltenen Fällen drei Etagen reihen sich aneinander, ab und zu sieht man Geschäfte, Restaurants und Läden und dazwischen überall Bäume in herbstlichem Look. An jeder Ecke hängen Gespenster von den Straßenlaternen, die Gebäude sind mit allerlei Halloweendeko verziert, die verschiedensten Kürbislaternen brennen bereits vor den Häusern und die ersten kostümierten Kinder sind mit Körben in Kürbisform unterwegs, um von Fremden ihren Zuckervorrat auffüllen zu lassen. Sogar Hunde in Hot Dog- und Bienenkostümen begleiten die Süßigkeitenjäger. Für Eren ist das alles immer noch skurril, gemischt mit faszinierend und verwirrend.

 

Es wird sogar noch schräger als das Eiscafé in Sicht kommt. Es befindet sich direkt an einer Kreuzung mit einer Terrasse davor, auf der sogar noch Gäste sitzen und einem Torbogen daneben, der in den hinteren Gartenbereich führt. Das Schräge daran ist der bekannte Blondschopf am äußersten Tisch, der sich immer wieder ungeduldig umsieht. Eren musste zweimal hinsehen, um den Jungen zu identifizieren. Er ist doch tatsächlich kostümiert. Und wie! Von Kopf bis Fuß steckt er in einem Kürbiskostüm, bestehend aus grün-schwarz gestreiften Leggins und Pullover, einem bauchigen, breit grinsenden Kürbis darüber, orangefarbenen Turnschuhen und einer grünen Haube mit Blättern. Echt jetzt? So traut er sich auf die Straße? Eren fängt schon jetzt an sich fremdzuschämen, muss aber trotzdem belustigt schmunzeln.

 

Ajax findet es ganz und gar nicht so amüsant. „Was hat der denn bitte an? Weiß der Bengel nicht, dass er zu alt für Verkleidungen ist?“ Der Turano stöhnt genervt. „Hoffentlich erkennt dich niemand. Wenn herauskommt, dass sich ein Turano mit so jemanden in der Öffentlichkeit blicken lässt, war´s das mit dem guten Ruf.“

 

„Anscheinend gehören solche Kostüme zu Halloween eben dazu“, versucht Eren schulterzuckend Max zu verteidigen und deutet auf die anderen kostümierten Menschen. Manche sind sogar noch älter als Max und Eren.

 

„Mag sein, trotzdem ist es lächerlich“, entscheidet Ajax und parkt direkt vor dem Eiscafé. Den Motor lässt er laufen. „Lass dich nicht ablenken, er ist nicht dein Freund, er ist deine Zielperson und außerdem weit unter dem Turano-Niveau. Vergiss das niemals.“

 

Innerlich rollt Eren mit den Augen. Wieso muss sein Bruder das immer und immer wieder wiederholen? So kennt doch eh schon alle Vorträge in- und auswendig. „Ich weiß, Ajax. Ich werde dich nicht enttäuschen.“

 

„Das will ich auch hoffen“, rät der ältere Turano und entlässt Eren mit einem Nicken zur Beifahrertür.

 

Der Zwölfjährige dreht sich zur Tür um und zuckt sofort erschrocken zurück. Mit einem Kürbisgesicht direkt vorm Autofenster hat er jetzt ganz und gar nicht gerechnet. Natürlich hat Max sie schon längst bemerkt und ist an den Mustang herangetreten, um direkt vor Erens Fenster auf diesen zu warten. Eren öffnet kopfschüttelnd die Tür und steigt aus.

 

„Hey, Eren, immer noch so schreckhaft?“, witzelt der Grünäugige verschmitzt.

 

„Du bist so ein Dödel“, begrüßt Eren den Blonden, der nicht im geringsten so aussieht, als würde es ihm leidtun.

 

„Eren, achte auf deine Ausdrucksweise“, ermahnt ihn Ajax sofort, der sich etwas zur Seite gebeugt hat, um seinem Bruder ins Gesicht sehen zu können.

 

„Entschuldigung, Ajax.“

 

Der Mann schnaubt missbilligend. „Schreib mir, wenn ich dich wieder abholen kann oder irgendwas ist.“

 

„Keine Sorge, Mr. Erens Bruder, ich werde schon auf ihn aufpassen“, verspricht Max und legt Eren einen Arm um die Schultern.

 

Ist Eren der einzige, der das abgeneigte Funkeln in den braunen Augen bemerkt? Der junge Turano befreit sich von Max und versichert seinem Bruder erneut: „Ich hab alles im Griff, Ajax. Bis später.“

 

Ajax verzieht kurz nicht überzeugt das Gesicht ehe er sich im Fahrersitz aufrichtet. „Gut. Bis nachher.“

 

Eren schlägt die Tür zu, tritt einen Schritt vom Wagen weg und sieht ihm hinterher bis er bei der nächsten Kreuzung verschwunden ist. Und jetzt steht er das erste Mal allein, ohne Bodyguard, Babysitter, seinem Vater oder Ajax mit einem außenstehenden Jungen im Kürbisanzug in einer ihm völlig fremden Umgebung. Irgendwie fühlt es sich ungewohnt an, aber auch ein Stückchen nach ... Freiheit?

 

„Also, was jetzt?“, möchte Eren wissen und dreht sich zu Max um. Der Blonde hat einen äußerst angestrengten Gesichtsausdruck aufgesetzt, eine Hand am Kinn und mustert ihn kritisch von Kopf bis Fuß. „Geht´s dir gut?“

 

„Ja, ich versuch nur herauszufinden, als was du verkleidet bist“, antwortet Max grübelnd.

 

Eren sieht an sich hinunter. Wieso verkleidet? Mit der blauen Jeans, dem weißen Sweatshirt und der schwarzen Jacke darüber sieht er doch ganz normal aus. Und seine Male sind auch nicht zu sehen. Mit hochgezogener Augenbraue und die Hände in die Taschen gestopft sieht er den Kürbisjungen an. „Ich geh als Eren Turano.“

 

„Was?! Du kannst nicht als du selbst gehen!“, meint Max entrüstet.

 

Der Turano zuckt mit den Schultern. „Ich sagte doch, ich zieh kein Kostüm an.“

 

„Ja, aber ich dachte, das wäre eine Lüge, weil du mit einem supercoolen Kostüm aufkreuzen willst“, gesteht Max mit Schmollmund. „Ich dachte nicht, dass du dich wirklich nicht verkleidest. Hast du zumindest eine Tasche dabei?“

 

„Eine Tasche? Wozu?“, fragt Eren und legt den Kopf leicht schräg.

 

Max sieht so aus, als würde er nicht wissen, ob er das glauben soll oder nicht. „Na, für die Süßigkeiten? Wo willst du deine Beute sonst hin tun?“

 

„Ich hatte nicht vor welche mitzunehmen. Ich dachte, ich spende sie einfach dir“, erfindet Eren schnell eine Ausrede. An so etwas wie eine Tasche auf einer Süßes oder Saures-Tour hat er selbstverständlich nicht gedacht. Wie auch, wenn er so was noch nie gemacht hat?

 

„Magst du etwa keine Süßigkeiten?“

 

„Keine Ahnung“, antwortet Eren ehrlich und verlegen zugleich. „Ich hab noch nie welche probiert.“

 

Ungläubig weiten sich die grünen Augen, sodass Eren Angst hat, dass sie gleich aus seinem Schädel plumpsen. „Wie jetzt? Du hast wirklich noch nie Süßes probiert? Schokolade? Gummibärchen? Kuchen?!“

 

Bei jeder Aufzählung schüttelt der Junge den Kopf. „Ich hab doch schon mal erwähnt, ich hab ´nen ziemlich strengen Ernährungsplan.“

 

Fassungslos starrt der blonde Kürbis ihn einfach nur an. Sein Mund öffnet und schließt sich wie bei einem Fisch.

 

„Kannst du bitte damit aufhören? Die Leute gucken schon“, bittet Eren, dem aufgefallen ist, dass ein paar Passanten zu ihnen hinübersehen. Hoffentlich erkennen sie ihn nicht. Ach, woher denn? Trotzdem, Vorsicht ist besser als Nachsicht, wie Ajax jetzt sagen würde.

 

„Tschuldigung.“ Max schüttelt kurz den Kopf und klatscht sich gegen die Wangen, was die Aufmerksamkeit nicht gerade verringert. „Alles wieder gut. Dann ist heute eben eine zweifache Premiere für dich.“

 

Als er wieder zu dem Turano sieht, hat er ein viel fröhlicheres, hinterhältigeres Gesicht aufgesetzt. Irgendwie gefällt das Eren überhaupt nicht.

 

„Alles okay bei dir?“, möchte er vorsichtig wissen. „Du siehst aus, wie das berüchtigte Honigkuchenpferd.“

 

„Meinst du nicht berühmt?“, verbessert Max ohne seine Mimik zu ändern oder zu leugnen.

 

„Nein, berüchtigt. Wenn jemand so breit grinst, führt er meist irgendwas im Schilde“, erklärt er und kneift wachsam die blauen Augen zusammen. „Also, was hast du vor, Max?“

 

„Gut, erwischt. Komm mit.“

 

Ohne auf eine Antwort zu warten, packt Max kurzerhand Erens Handgelenk und zieht ihn hinter sich her, vorbei an Robotern, Vampiren und Zombies, ignoriert dabei jedes Wort aus Erens Mund und grinst weiter vor sich hin, ohne auch nur daran zu denken seinen Plan zu erklären.

Kürbisse und Skelette

„So, wir sind da“, verkündet der Kürbis am Zielort angelangt.

 

Zehn Minuten später, in denen Eren aufgegeben hat aus Max eine Antwort herauszubekommen, stehen die beiden vor einem kleinen Einfamilienhaus.

 

„Und wo sind wir?“, möchte Eren wissen, der endlich seinen Arm aus Max´ Griff befreit und das Haus mustert.

 

„Willkommen bei mir Zuhause“, erhellt ihn der Blonde feierlich, breitet dabei einladend die Arme aus.

 

„Hier wohnst du?“ Mit neuem Interesse lässt er seine Augen erneut über das Gebäude schweifen. Das könnte eine einmalige Gelegenheit sein, noch mehr über Max herauszufinden. Die muss er auf alle Fälle ausnutzen.

 

Max´ Haus ist um einiges kleiner als das Turano-Anwesen. Vermutlich würde dieses Häuschen komplett in die Eingangshalle passen. Doch diesen Kommentar verkneift er sich lieber. Der Vorgarten ist ziemlich schlicht mit ein paar Halloweenfiguren dekoriert, die in der Wiese links und rechts des Steinweges zur Haustür stecken. An den Fenstern des ersten Stocks kleben Fledermäuse und Hexen am Glas, eine schief geschnitzte Kürbislaterne grinst ihnen von den Stufen zur Veranda entgegen und kleine Papiergeister hängen vom Vordach.

 

„Jap“, bestätigt Max, tritt durch das Tor und folgt dem Weg zur Haustür.

 

„Sieht gemütlich aus“, kommentiert Eren und geht dem Kürbis hinterher. „Und was machen wir hier?“

 

Auf einer Bank vor der Haustür steht eine große Schüssel, randvoll mit Süßigkeiten und einem Schildchen daneben: „Bitte nur eins nehmen, danke“. Ist das diese Tour, von der Max dauernd spricht? Zu Fremden an die Haustür zu gehen und sich aus der Schüssel davor etwas zu nehmen? Das klingt für den Zwölfjährigen irgendwie langweilig. Außerdem bezweifelt er stark, dass sich auch nur einer an die „nur eine Süßigkeit“-Regel hält.

 

Halloween wird immer merkwürdiger.

 

An der Tür selbst prangt eine große Plastikspinne, deren Augen plötzlich anfangen rot zu leuchten, sie zischt und ihre acht Beine bewegen sich als sich die Jungs nähern. Erschrocken macht Max einen Satz zurück, verliert an der Kante das Gleichgewicht und fällt die Veranda hinunter. Wäre die Veranda hinuntergefallen, wenn Eren nicht aus Reflex die Hand aus der Jackentasche gezogen und Max aufgefangen hätte.

 

„Phu, danke. Gute Reflexe.“ Max kratzt sich verlegen am Hinterkopf. „Ich vergesse ständig, dass das Ding das kann.“

 

*Wer ist jetzt hier schreckhaft?*, denkt sich Eren schmunzelnd, behält äußerlich jedoch die Fassung. Ein Turano ist schließlich nicht schadenfroh. Er muss langsam wieder anfangen sich wie ein Turano zu benehmen, sonst könnte es tatsächlich sein, dass er noch glaubt, dieser Max sei wirklich sein Freund. Das ist das schlimmste, was passieren könnte. Eine gescheiterte Mission. Seine Familie zu enttäuschen, die doch so hohe Erwartungen in ihn steckt. Er muss sich endlich zusammenreißen! Es kann doch nicht so schwer sein, den naiven Blondschopf dazu zu bewegen ihm die Wahrheit über mögliche Kräfte zu verraten.

 

Max sperrt die Haustür auf und sie treten ein. Das erste was Eren auffällt ist, es ist ruhig. Bei ihm wuselt ständig jemand herum und putzt, wäscht, ist auf Patrouille, erledigt Botengänge - sogar nachts, sein Vater arbeitet wirklich viel - aber hier scheint niemand sonst im Haus zu sein.

 

„Ist deine Familie nicht da?“, erkundigt sich der Zwölfjährige während er sich neugierig im Flur umsieht, von dem vier Türen und eine Treppe in andere Bereiche des Hauses führen. Da links und rechts lediglich die Türrahmen vorhanden sind, kann man das Wohnzimmer links und ein Arbeitszimmer rechts erkennen. An den Wänden hängen Fotos und ebenfalls künstliche Spinnweben dazwischen, die die Fotos halb bedecken. Natürlich sieht es auch innerhalb des Hauses nach Halloween aus. Aber keine Anzeichen auf Fähigkeiten. Keine Ahnung wie die hätten aussehen sollen.

 

„Nein“, antwortet Max, der seine Turnschuhe abstreift und den Schlüssel in eine Schale auf einer Kommode neben der Haustür wirft. Die knallorangen Socken mit schwarzen Kürbisgesichtern, die dabei zum Vorschein kommen, kommentiert Eren mit gerunzelter Stirn. „Meine Mom ist mit einer Freundin im Kino, irgendeinen Horrorfilm ansehen und kommt erst ziemlich spät zurück. Und mein Vater ist mit meiner Schwester über´s Wochenende zu meinen Großeltern gefahren.“

 

Verwundert blinzelt Eren den Jungen an. „Deine Familie lässt dich für Stunden allein und findet es okay?“

 

Jetzt ist Max derjenige, der Eren verwundert anblinzelt. „Klar. Ich bin ja kein Baby mehr und was soll schon passieren? Wenn was ist, kann ich sie jederzeit anrufen und die Nummern der Polizei, Feuerwehr und des Rettungsdienst kenne ich auswendig. Wieso? Hast du etwa immer einen Bodyguard dabei?“

 

„So in der Art.“ Irgendwie ist Eren das ein wenig unangenehm. Und eifersüchtig ist er auch. Deshalb wendet er sich von ihm ab und sieht sich stattdessen das anscheinend selbstgemalte Bild eines Bauernhofs irgendwo in den Bergen an. „Also, weshalb sind wir hier? Ich fühl mich nämlich langsam gekidnappt. Und ich sag´s gleich: Lösegeld wirst du nicht bekommen.“

 

Ajax und sein Vater würden ihn höchstwahrscheinlich bei den Entführern lassen, wenn er zu schwach wäre von selbst entkommen zu können. Ja, so ist seine Familie. Glücklicherweise lässt sich der Blonde auf den Themenwechsel ein.

 

„Klar, dann komm, meine Geisel.“ Er packt erneut Erens Handgelenk und zieht ihn hinter sich die Treppe hoch und weiter durch eine Dachluke in den Speicher. Max knipst das Licht an und beginnt sich einen Pfad über das Gerümpel zu bahnen. Hier oben ist es wirklich vollgestopft, es gibt kaum einen Winkel, in dem noch irgendetwas Platz hätte. „Willkommen in der Schatzkammer. Zumindest nenn ich sie so, weil man nie weiß, was man hier oben findet.“

 

„Ist auch kein Wunder. Hier ist ja kaum noch Platz für uns beide“, meint Eren, der noch immer neben der Luke steht und dem Kürbis beim Umräumen von Schachteln zusieht. „Verrätst du mir, was du suchst?“

 

„Hier oben muss irgendwo eine Truhe stehen“, antwortet er, ohne seine Suche zu unterbrechen. „Das kann doch nicht sein, wo steckt die nur? Ich hab sie doch gestern erst gesehen.“

 

„Und wozu brauchst du die Truhe?“

 

„Na, so wie du aussiehst, können wir nicht auf Süßes oder Saures gehen“, erklärt er vage.

 

„Wieso nicht? Ich seh doch normal aus“, verteidigt sich Eren leicht gekränkt.

 

Max wuchtet einen zusammengerollten Teppich beiseite. „Genau das ist es ja. Je besser das Kostüm, desto mehr Süßigkeiten bekommt man. Und wenn man ganz normal aussieht, bekommt man nur einen Apfel oder so. Und du willst doch nicht, dass dein erstes Halloween eine Pleite wird, oder?“

 

„Vermutlich nicht.“ Jetzt versteht Eren. Und es gefällt ihm nicht. „Lass mich raten, in der Truhe sind Kostüme und du wirst nicht aufhören zu nerven, bis ich eines anziehe. Das hatte das Honigkuchenpferd-Gesicht also zu bedeuten.“

 

„Richtig!“, stimmt der Blonde sofort zu, der sich gerade damit abmüht eine hölzerne Truhe unter fünf weiteren Schachteln hervorzuziehen. Er wird schon rot im Gesicht. Also Superstärke hat er auch nicht.

 

„Ich zieh trotzdem kein Kostüm an, Max.“ Um das zu unterstreichen verschränkt er die Arme vor der Brust.

 

„Doch, wirst du“, presst er durch zusammengebissenen Zähnen hervor. Er verliert den Halt und plumpst auf den Hintern. Das hindert ihn jedoch nicht daran entschlossen zu Eren hochzusehen. „Weißt du auch wieso? Weil ich versprochen hab, dir zu zeigen wie man Halloween feiert. Mit allem drum und dran. Keine Ausnahmen. Das schließt besonders ein Kostüm und Süßkram mit ein. Halloween ist erst richtig gelungen, wenn man um Mitternacht mit einer Überdosis Zucker und Bauchschmerzen am Boden liegt und sich nicht mehr rühren kann.“

 

„Klingt nicht gerade einladend.“ Eren verzieht das Gesicht. Schon der Gedanke an Bauchschmerz erinnert ihn an die, die er eh schon hat.

 

Max probiert nochmal die Truhe zu befreien, die sich keinen Millimeter bewegt. „Außerdem, wenn du das Kostüm ausziehst, bevor du abgeholt wirst, bekommt deine Familie gar nicht mit, dass du eines anhattest.“

 

In dem Punkt kann Eren noch nicht einmal widersprechen. Im Gegenteil, es klingt verlockend. Er muss zugeben, er würde sich schon gerne auch mal verkleiden, ohne Hintergedanken eine Zielperson auszuspionieren. Was er trotzdem tut. Und wenn seine Familie das eh nie erfahren wird … Wieso also nicht? Was spricht dagegen? Außerdem hilft es ihm doch nur bei der Mission, oder? Ergeben seufzt der Junge. Hoffentlich hat das kein Nachspiel.

 

„Na schön, ich helfe dir, aber gefallen tut´s mir trotzdem nicht“, behauptet er.

 

Der Turano klettert zu Max und hilft ihm dabei die Truhe herauszuziehen, die gar nicht so schwer ist, wie der Blonde tut. Mit Leichtigkeit ziehen sie die Truhe hervor und lösen dadurch eine Kistenlawine aus. Mit schützend erhobenen Händen sitzen sie am Po da, umringt von Kisten, halb darunter begraben und blinzeln perplex vor sich hin. Keiner sagt etwas oder rührt sich bis wenige Sekunden später Max in Gelächter ausbricht. Irritiert sieht Eren ihn einfach an, versteht nicht, was es daran zu lachen gibt, kann aber auch nichts dagegen tun, dass ihn das Lachen ansteckt, sodass er sich kurz darauf selbst den Bauch halten muss. Er kann sich nicht erinnern, wann er zuletzt so ehrlich lachen musste, wegen einem total banalen Grund, der auch noch überhaupt nicht zum Lachen ist. Immerhin hätten sie sich echt verletzen können, wenn die Kisten schwerer gewesen wären. Max zumindest.

 

„Okay, das hat weh getan“, bringt der Blonde schließlich immer noch kichernd hervor. „Bist du verletzt?“

 

„Nein, du?“ Eren schiebt eine Pappschachtel von sich, um sich zumindest aufsetzen zu können.

 

„Nein, der Kürbis hat das meiste abgefangen“, teilt der Junge mit und richtet seinen Blätterhut. „Na dann schauen wir mal, was wir für dich finden.“

 

„Bitte keinen Kürbis“, fleht Eren witzelnd, stellt sich auf die Knie und hilft dabei die Truhe zu drehen, damit sie den Deckel öffnen können.

 

„Was hast du gegen mein Kürbiskostüm?“, möchte Max gekränkt wissen und schiebt schmollend die Unterlippe vor.

 

„Nichts, ist ein schönes Kostüm. Es ist nur so … speziell. Mir würde es sicher nicht stehen. Außerdem wäre es doch langweilig, wenn wir das gleiche Kostüm tragen würden, oder?“, erfindet er schnell eine Lüge, um ihn nicht zu kränken.

 

„Gut mitgedacht.“ Mit dieser Ausrede scheint der Junge zufrieden zu sein. „Keine Sorge. Ich hab nur eins“, beruhigt ihn Max während er sich bereits durch Stoffe, Masken und Haarschmuck wühlt. „Ich schätze wir haben ungefähr die gleiche Größe, dann sollte dir eines meiner Kostüme eigentlich passen. Wie wär´s damit?“

 

„Was soll das sein?“, fragt der Turano nach. Das Teil, das Max hochhält, sieht wie ein gewöhnlicher schwarzer Umhang aus.

 

„Na, ein Vampir. Dazu noch ein altes Hemd mit Blutspritzern und falsche Zähne.“ Besagte Zähne hält er auch mit hoch.

 

„Äh, nein. Ich hab keine große Lust dazu den ganzen Abend mit einem Plastikgebiss rumzulaufen“, lehnt Eren ab. Außerdem will er gar nicht wissen, in wessen Mund die schon waren.

 

„Hast recht. Dann kann man auch keine Süßigkeiten essen.“ Umhang und Gebiss landen wieder in der Truhe und die Suche geht weiter.

 

Eren entdeckt einige Teile von Kostümen, die ziemlich aufwendig aussehen: ein einzelner sehr pelziger Handschuh mit langen Krallen, eine Dose mit der Aufschrift „Halloween-Schminke“, irgendwas mit Tigermuster, etwas durchsichtiges in rot-schwarz, ein Haarreif mit Teufelshörnern ... „Hast du vielleicht irgendwas Einfaches, wo ich nicht ewig zum Umziehen brauche? Und schminken muss auch nicht unbedingt sein.“

 

„Na ja, einen Geist, aber den wolltest du ja nicht. Dann bleibt eigentlich nur noch … Ah! Gefunden!“ Triumphierend zieht Max ein Stück Stoff aus der Truhe und präsentiert es stolz. Es ist ein Einteiler in Schwarz mit Knochen darauf.

 

„Ein Skelett?“ Skeptisch mustert Eren das Kostüm.

 

„Ja, das passt doch perfekt! Es ist einfach zum anziehen und sieht nach Halloween aus. Außerdem musst du dich nicht schminken, du setzt einfach die Maske hier auf. Und?“ Mit leuchtenden Augen sieht Max zu Eren, in einer Hand den Skelettanzug, in der anderen eine weiße Totenkopfmaske.

 

„Okay, na schön“, gibt Eren schließlich endgültig nach. „Aber hör auf mich so anzusehen. Das ist ja peinlich.“

 

Max kommentiert das nur mit einem triumphalen Funkeln in den Augen.

 

Der Turano nimmt das Kostüm entgegen und ist sich noch nicht sicher, was er davon halten soll. „Und wo kann ich mich umziehen?“

 

„Komm mit.“ Max steigt über die Trümmer der Kistenlawine und klettert die Leiter in den ersten Stock hinab. Dort führt er seinen Gast in das erste Zimmer neben der Treppe. Einladend hält er Eren die Tür auf. „Das ist mein Zimmer, hier kannst du dich umziehen und deine Sachen zwischenlagern bis wir zurück sind. Lass dir ruhig Zeit, ich räum inzwischen den Dachboden ein wenig auf. Sonst flippt mein Dad noch aus, wenn er Sonntag Heim kommt. Komm einfach rauf, wenn du fertig bist. Und ignoriere bitte das Chaos, ja? Ich hatte eigentlich keinen Besuch erwartet.“

 

Ohne eine Antwort abzuwarten schließt Max die Tür hinter Eren und kehrt auf den Speicher zurück. Der junge Turano bleibt allein im Zimmer zurück, mit einem kleinen verschlagenen Schmunzeln auf den Lippen. „Keine Sorge, Max. Ich lass mir alle Zeit der Welt, um mich umzuziehen. Und ganz nebenbei dein Zimmer auf den Kopf zu stellen.“ Kaum hat er das letzte Wort ausgesprochen, schon lässt er seine Augen durch den Raum schweifen. „Komm schon. Zeig mir deine Geheimnisse.“

 

Auf den ersten Blick ist nichts Verdächtiges zu entdecken. Außer der allgemeinen Unordnung, die hier und da in Form von kreuz und quer liegenden Klamotten, Schulsachen und Kleinkram unübersehbar ist. Das Zimmer ist quadratisch und hat ungefähr die Größe von Erens Kleiderschrank. Max´ Kleiderschrank steht in der linken Ecke neben der Tür, daneben ein Schreibtisch und schon ist die Wand voll gestellt. Rechts ist ein bequem aussehender Sitzsack mit Kissen darauf und einem Regal voller Bücher darüber. Das Bett befindet sich neben der Tür mit einer, wie sollte es anders sein, passend zum Feiertag bedruckten Bettwäsche. Neben dem Kopfkissen sitzt ein Plüschfuchs, der Eren wachsam beobachtet, als würde er ihn davor warnen etwas zu tun, was man in einem fremden Zimmer nicht tun sollte. Oder bildet sich der Junge das nur ein?

 

Er schüttelt über sich selbst den Kopf und setzt seine Suche fort. Auch wenn Max sagte, er könne sich Zeit lassen, sollte er nicht trödeln. Immerhin kann der Blonde dennoch jeden Moment ins Zimmer platzen und ihn beim Herumschnüffeln erwischen. Deshalb geht er dabei etwas aggressiver vor. Was würde er jetzt nicht alles geben, um Bernhardts Röntgenblick zu besitzen. Oder Gabriellas Schallgeschwindigkeit. So könnte er wirklich jeden Millimeter des Zimmers auf den Kopf stellen, noch bevor Max auch nur die erste Sprosse der Leiter hinabgestiegen ist. Aber da er nunmal nicht diese Kräfte besitzt, muss er es auf die herkömmliche Art versuchen.

 

Er späht unters Bett (Staub, Fussel, vergessene Socken), durchwühlt die Schubladen des Nachttisches (ein Fantasybuch, Kaugummi, Geldbeutel), gräbt sich durch den kleinen Kleiderschrank (nichts als Klamotten und Taschen), öffnet die Schublade des Schreibtisches (auch nichts Interessantes) und prüft sogar den Mülleimer (zusammengeknäultes, teils zerrissenes Papier). Nichts. Wirklich rein gar nichts.

 

Frustriert wirft er das Kissen zurück in den Sitzsack, rauft sich sie Haare und dreht sich verzweifelt um sich selbst. Das kann doch nicht wahr sein, dass er nicht die kleinste Spur findet. Nichts, einfach überhaupt nichts! Ohhh... das wird seinem Bruder gar nicht gefallen. Er hat ihm doch versprochen heute die Mission abzuschließen. Wie soll er das anstellen, wenn es keinerlei Hinweise gibt? Ist er wirklich so unfähig? Das hier ist doch im Grunde eine ganz einfache Mission, also wieso hat er dann so große Probleme damit?

Gestresst beginnt er auf seiner Unterlippe herumzukauen. Das Zeitfenster beginnt sich zu schließen. So allmählich wird sich Max sicher fragen, wo er bleibt und nachsehen kommen. Komm schon! Irgendetwas muss er doch übersehen haben!

 

Und wenn es gar keine Hinweise geben kann, weil Max wirklich nur ein gewöhnlicher Junge ist? Ist das dann nicht Beweis genug, dass er nichts findet? Denn, wenn Max tatsächlich irgendwelche Kräfte hätte, hätte Eren es doch schon längst merken müssen, oder? Ja, genau so muss es sein. Max ist ein Normalo, keine Fähigkeiten, nichts, Fall abgeschlossen. Dann muss der junge Turano nur noch den Süßes oder Saures-Quatsch überstehen und die Mission ist beendet.

 

Um sich wieder zusammenzureißen, atmet Eren tief ein, langsam aus und hebt anschließend das Skelettkostüm auf, das er vorhin hat fallen lassen. Jetzt da das geklärt ist, fühlt er sich wieder etwas entspannter. Er hat den Auftrag doch erfolgreich abgeschlossen. Er ist kein Versager. Alles ist gut.

Aber warum freut er sich dann nicht darüber?

Süßes oder Saures

„Süßes oder Saures!“, ruft Max euphorisch und hält dem älteren Herrn auffordernd seine Beutetasche entgegen.

 

„Was für gruselige Kostüme“, lügt der Mann nicht sehr glaubwürdig. Der Rentner dreht sich halb um und als er wieder zur Tür sieht, hat er ein paar Süßigkeiten in den Händen, die er gerecht in die Taschen von Kürbismax und Skeletteren fallen lässt. „Aber seid ihr nicht ein bisschen zu alt für Süßes oder Saures?“

 

„Dankeschön“, bedankt sich der Blonde und fügt überzeugt hinzu: „Für Gratissüßigkeiten ist man nie zu alt.“

 

„Da hast du wohl recht“, stimmt er lächelnd zu. „Dann wünsch ich euch noch viel Spaß, Jungs. Und haltet euch vom Friedhof fern.“

 

„Machen wir, versprochen. Komm, Eren, auf zum nächsten Haus!“ Schon hüpft der aufgedrehte Junge die Stufen hinab und flitzt zurück zur Hauptstraße.

 

„Vielen Dank“, sagt Eren höflich ehe er seiner Zielperson zum Nachbarhaus folgt und sich dabei fragt, weshalb der Mann sie vor dem Friedhof gewarnt hat.

 

Nachdem Eren mit der enttäuschenden Zimmerdurchsuchung fertig war, hat er vorsichtshalber noch ein paar Fotos gemacht, um sie später nochmal anzusehen. Er hat beschlossen erst Ajax von seiner Vermutung bezüglich Max´ Kräfte zu erzählen, wenn er sich absolut sicher ist, dass es null Prozent Anzeichen auf irgendwas besonderes an Max gibt. Falls nämlich irgendwann herauskommen sollte, dass er sich doch geirrt hat, dann … Nein, Eren führt diesen Gedankengang lieber nicht zu Ende. Deshalb hat er ja die Fotos gemacht, um genau diese Eventualität ausschließen zu können.

 

Und nun ist er tatsächlich im Dunkeln als Gerippe verkleidet mit einem viel zu begeisterten Kürbis unterwegs, um von Fremden Zuckerzeug zu erbetteln. Das Kostüm selbst ist gar nicht so schlimm, wie er es sich vorgestellt hat. Das einzige, was ihn daran stört, ist die Maske, die ihm viel zu sehr die Sicht einschränkt. Es gefällt ihm nicht so viele tote Winkel zu haben, von denen sich mögliche Gegner nähern könnten. Gleichzeitig versucht er sich einzureden, dass es heute keine Gegner geben wird. Es ist Halloween. Alle denken nur an Süßkram, harmlose Streiche und Horrorfilme.

 

„Jetzt beeil dich Eren, sonst sind all die guten Süßigkeiten schon vergeben und wir bekommen nur noch das geschmacklose Zeug, dass man am Ende eh nur wegwirft“, drängelt Max, der bereits vor dem Gartentor des nächsten Hauses wartet.

 

„Ja, ja, ich komm ja schon. Hör auf so rumzuschreien, du Dödel“, meint Eren, dem das peinlich ist. Immerhin zieht Max so die Aufmerksamkeit der anderen Süßigkeitenjäger auf sie beide. Aufmerksamkeit, vor allem ungewollte, ist der schlimmste Feind für jemanden in seiner Branche. Erst recht während einer Mission.

 

„Dann trödle nicht so lange rum“, kontert der Kürbis hibbelig.

 

Seit sie beide mit der Tour angefangen haben, ist bestimmt schon eine Stunde vergangen. Eine Stunde in der sie von Haustür zu Haustür eilen, um ihre Taschen zu füllen, die schon jetzt bis zur Hälfte voll sind. Und Max hat nicht gerade die kleinsten ausgesucht. Es liegt viel mehr daran, dass die Leute hier so großzügig sind und völlig Fremden viel zu viel schenken. Etwas das Eren noch nie erlebt hat. Auch wenn es nur Süßkram ist, er hat noch nie etwas geschenkt bekommen. Nichts offizielles zumindest. Klar hat er ein paar Dinge von seiner Familie erhalten, aber das waren nur Sachen für sein weiteres Training oder etwas für die Missionen. Die paar Schokoriegel, Gummibärchen und Minipopcorntüten sind das, was einem Geschenk bisher am nächsten kommt. Und er darf nicht mal was davon essen.

 

Außerdem muss er zugeben, widerstrebend, so langsam fängt er an Gefallen daran zu finden. Mittlerweile ist er auch längst nicht mehr so maulig wie zu Beginn, wo er noch zerknirscht über die gescheiterte Zimmerrazzia war und sich darüber beschwert hat, wie er rumrennen muss. Max war nämlich mit dem Skelett allein nicht zufrieden, als Eren aus dem Zimmer kam, nein, er hat ihm kurzerhand und ohne sein Einverständnis dazu gedrängt auch noch den knielangen Mantel eines Piratenoutfits darüberzuziehen und den passenden Hut und natürlich den Gürtel mit dem Schwert. Und so ist aus dem einfachen Skelett, ein untoter Pirat geworden. Ganz offensichtlich war das Kostümupgrade keine schlechte Idee, wie man an der Ausbeute sieht.

 

„So, und wieder ein Haus abgehakt“, freut sich Max als sie auch bei dieser jungen Frau je eine Schokoladentafel abgestaubt haben. „Läuft doch bisher gar nicht so schlecht.“ Ohne Vorwarnung legt er dem Turano einen Arm um die Skelettschultern. „Wir werden nachher, wenn wir das Zeug vernichten, so schlimme Bauchschmerzen haben, dass wir uns mindestens eine Woche nicht bewegen können. Das wird toll!“

 

„Deine Vorstellung von Spaß ist irgendwie anders als meine“, stellt Eren trocken fest und schüttelt den fremden Arm ab.

 

„Ach, komm schon“, schmollt Max und ballt entschlossen die Faust mit der Tasche. „Zuckerschock-Bauchschmerzen sind es absolut wert, wenn man sich davor mit Süßkram vollstopfen kann. Das ist eh nur einmal im Jahr, da muss man es vollkommen übertreiben. Noch dazu, wenn ich heute Abend das Haus für mich allein hab! Normalerweise versteckt mir meine Mom die meisten Süßigkeiten, damit es eben nicht eskaliert, aber heute wird mir so richtig schlecht werden. Dein erstes Halloween müssen wir schließlich gebührend feiern.“

 

Eren wirft dem Blonden einen skeptischen Seitenblick zu. Egal wie viele Möglichkeiten er durchgeht, er findet keine Kräfte, die zu diesem Chaoten passen könnten. Noch ein Indiz darauf, dass er mit seiner Kräftelosvermutung recht hat. „Schieb deine Zuckerkomaidee jetzt ja nicht mir in die Schuhe. Ich hab damit gar nichts zu tun.“

 

Schelmisch grinst der Grünäugig zu ihm. „Klar ist es deine Schuld. Ich soll dir doch zeigen, wie man Halloween feiert. Da ist es auch deine Schuld, wenn wir zu viel Süßkram futtern. Übrigens, versuch nachher nicht irgendwohin zu kotzen. Ich will das nicht wegwischen müssen und meiner Mom das zu erklären, würde mich sicher ein Jahr Zuckerverbot kosten.“

 

Mit einem Echt-jetzt-Blick schielt er zu dem Halloweenfanatiker hinüber. „Irgendwie wirst du mit jeder Minute seltsamer. Wie viel Zucker hast du denn schon intus?“ Immerhin nascht der Kürbis zwischendurch immer wieder von seiner Beute.

 

„Vielleicht ein, zwei Riegel?“, behauptet er vage und mit einem Gesicht, dass eindeutig auf mehr hindeutet. „Und das sagt meine Mom auch ständig. Aber sie benutzt das Wort: einzigartig.“ Wieso klingt er auch noch stolz darauf?

 

„Mhm“, murrt Eren nur und belässt es dabei. Einzigartig kann man ihn auch nennen. Eren bevorzugt Dödel.

 

Ein paar Minuten verfallen sie in Schweigen bis sich plötzlich die Ausstrahlung von Max ändert. Er wird ernst, was den jungen Turano noch seltsamer vorkommt. „Du, Eren? Kann ich dich was fragen?“

 

Auch der Tonfall passen nicht zu seiner Heiterkeit der letzten Stunde. Wachsam schielt er zu dem Blonden, der stur geradeaus sieht. „Und das wäre?“

 

„Nun ja, über deinen Vater und Bruder hört man ja ständig irgendetwas und da hab ich mich gefragt ...“ Max räuspert sich ehe er fortfährt. „Was macht eigentlich deine Mutter?“

 

„Meine Mutter?“, wiederholt Eren unterbewusst. Tja, wenn er das nur wüsste. Er versucht möglichst neutral zu klingen als er antwortet: „Keine Ahnung. Ich hab sie nie getroffen.“

 

Geschockt starrt Max den anderen Jungen an. „Du kennst deine Mom nicht?“

 

„Nein“, bestätigt Eren und muss bei seiner Mimik schmunzeln. „Jetzt schau nicht so entsetzt. Ich kenne sie eben nicht, na und? Wenn ich sie nicht kenne, kann ich sie auch nicht vermissen.“

 

Das stimmt so auch nicht, aber das muss er ja nicht wissen. In Wahrheit würde Eren natürlich gerne etwas über seine Mutter erfahren, wenn es auch nur der Name ist oder ob sie überhaupt noch lebt, aber bei diesem Thema blockt seine Familie eisern ab. Es gibt nicht einmal Fotos oder irgendwelche Erinnerungen im Haus, die auf seine Mutter hindeuten könnten, so als hätte es nie eine Mutter gegeben.

 

„Hat dir dein Vater nie von ihr erzählt?“ Mitleidig zieht der Kürbis die Augenbrauen zusammen.

 

„Nö. Ich hab ihn mal vor Jahren nach ihr gefragt, da hat er sofort das Thema gewechselt und gesagt, es wäre nicht wichtig“, erinnert er sich.

 

„Nicht wichtig?!“ Entsetzt packt er Erens Unterarm. „Es geht um deine Mom! Wie kann das nicht wichtig sein?“

 

„Ganz ruhig.“ Eren befreit seinen Arm und überlegt intensiv, wie er von diesem Thema wieder wegkommt. „Ist echt keine große Sache. Ist sie tot, ist es für meinen Vater und Bruder vermutlich zu schmerzhaft darüber zu sprechen. Lebt sie noch, hat sie womöglich irgendetwas schlimmes angestellt oder ist abgehauen und hat uns im Stich gelassen. Für ersteres würde es mir nicht viel bringen eine Tote zu vermissen, die ich nie getroffen hab. Für zweiteres, will ich sie vielleicht gar nicht kennenlernen. Also mach keine große Sache draus.“

 

Perplex mit weit geöffneten Augen starrt Max ihn an. „Meinst du das ernst?“

 

Offenbar waren das nicht die richtigen Worte. „Klar. Und jetzt lass uns das Thema wechseln. Sag mir lieber, wie viele Häuser du noch eingeplant hast.“

 

Max hat Eren inzwischen in eine Nebenstraße geführt. Hier sind keine Wohnhäuser, sondern nur die Rückseiten und Lieferanteneingänge von Geschäften und Restaurants. Sieht nicht wie typische Ziele für Süßes oder Saures aus. Es sind dennoch ein paar kostümierte Leute unterwegs, allerdings hat kaum jemand von ihnen einen Korb oder eine Tasche für Süßes dabei. Auch sind sie älter als Eren und Max. Vermutlich sind diese dann auf den Weg zu irgendwelchen Feiern, die Max erwähnt hat. Dennoch bleibt Eren wachsam. Wie immer in seinem Leben. Unachtsamkeit kann schließlich zum Tot führen.

 

„Na schön, aber ich verspreche dir, darüber reden wir noch mal“, warnt der Blonde, woraufhin Eren nur stumm mit den Augen rollt. Wieso hängt er sich so an der Tatsache auf, dass er nichts von seiner Mutter weiß? Bisher ist er auch ohne einer Mom gut zurechtgekommen.

 

„Nicht mehr viele“, antwortet der Kürbis schließlich auf die Frage von vorhin. „Eigentlich sind wir schon auf dem Rückweg. Wir kommen noch an ein paar Häusern vorbei, wo wir klingeln können, aber den Großteil der lohnenden Türen haben wir schon hinter uns.“

 

„Und du machst diese Tour wirklich jedes Jahr?“, erkundigt sich Eren, der einer schwarzen Katze hinterhersieht, die gerade zwischen den parkenden Autos am Straßenrand verschwindet.

 

„Jap“, nickt Max bestätigend, der allmählich zurück in seine euphorische Halloweenstimmung findet. „Normalerweise kommt meine Schwester mit, dann geben uns die Leute sogar noch mehr Süßes. Sie ist wirklich spitzenmäßig in der Kleines-süßes-Mädchen-Nummer. Aber dieses Jahr ist sie ja leider nicht so fit und weil sie dennoch was halloweeniges unternehmen wollte, hat mein Vater sie zu meinen Großeltern gefahren, um dort zumindest die Scheunenparty mitzumachen. Meine Großeltern haben nämlich einen ehemaligen Bauernhof und veranstalten jedes Jahr eine kleine Halloweenparty für die Verwandten und Nachbarn, die vorbeikommen wollen. Jedenfalls, eigentlich hatte ich ja auch Timo gefragt, aber du hast ja mitbekommen, was er über die Sache denkt. Apropos ...“ Plötzlich wird Max wieder ernster und runzelt die Stirn. „Weißt du was mit ihm heute los war? Irgendwie war er komisch. Und da er immer wieder zu dir geschaut hat und dann irgendwie … keine Ahnung … verstört gewirkt hat, dachte ich, du wüsstest vielleicht etwas?“

 

Für einen kurzen Moment vergisst Erens Herz zu schlagen, dann reißt es sich wieder zusammen. Er hat es also gemerkt, dass er mit Timos Verhalten was zu tun hat? Das ist gar nicht gut. Am besten ist es wohl einfach so zu tun, als wäre nichts schlimmes zwischen ihnen passiert. Nur eine ganz, ganz vage Lüge erzählen, die allerdings ein Fünkchen Wahrheit enthalten muss, falls Timo ihm schon etwas erzählt hat oder noch etwas wegen gestern erzählen wird.

 

Da der Mantel glücklicherweise große Taschen hat, kann Eren seine Hände darin verstecken und sieht ausweichend nach oben, wobei er wegen den Straßenlaternen nicht einmal die Sterne sehen kann. Nur der volle Mond leuchtet in einer Wolkenlücke herab. „Ach, eigentlich nichts besonderes. Gestern bin ich doch nach der Schule nochmal zurück, um mein Buch aus dem Schließfach zu holen. Timo hat mir da seine Freunde vom Kampf-Club vorgestellt. Es ist nicht so gelaufen, wie er es sich ausgemalt hat.“

 

„Was?!“ Schockiert weiten sich die grünen Augen. „Aber ihr habt euch nicht geprügelt, oder? Falls doch, es tut mir so leid. Timo überreagiert oft und seine Kampf-Club-Kumpels nehmen wirklich jede Möglichkeit für einen Kampf an und nennen es Training. Bitte sei ihm nicht böse. Hoffentlich hat er dir nicht weh getan. Oh, Timo! Wenn ich den am Montag sehe, dann...“

 

„Jetzt beruhige dich mal“, unterbricht ihn Eren beschwichtigend. Um seine Mundwinkel zuckt ein amüsiertes Schmunzeln. „Niemand hat sich geprügelt.“ Diesen peinlichen Versuch kann man nicht annähernd als einen Kampfversuch bezeichnen.

 

Für wenige Sekunden blinzelt Max ihn abschätzend an, dabei mustert er ihn von Kopf bis Fuß. „Echt jetzt? Er hat es nicht mal versucht? Das ist ziemlich ungewöhnlich. Normalerweise löst Timo immer seine Uneinigkeiten mit seinem angeberischen Kampf-Club. Er wurde deshalb auch schon ein paar Mal vom Direktor verwarnt, hat Verweise kassiert und musste Nachsitzen. Aber da die Schule eh nicht viele gute Sportteams hat und der Kampf-Club der einzige ist, der bei Wettkämpfen irgendwas gewinnt, wird er nie von der Schule geschmissen, egal was er anstellt. Aber dass er diesmal nicht handgreiflich wurde … vielleicht wird er ja langsam doch erwachsener?“

 

*Nö. Ganz bestimmt nicht*, denkt sich Eren entschieden und ist schon wieder genervt, wenn er nur an diesen eifersüchtigen Kerl denkt. Trotzdem lässt er Max im Glauben daran, dass sein Freund gute Seiten hat. Wenn alles gut geht, muss er Timo sowieso nie wieder sehen.

 

Wieder mal ohne Vorwarnung packt Max Erens Arm und deutet viel zu aufgeregt auf den plakatierten Holzzaun zu ihrer Linken. Wie viel Zucker hat er schon gegessen?

 

„Eren, Eren! Mir fällt gerade ein: Paula, Timo und ich wollten nächste Woche ins Kino gehen, um uns den neuen Teil der Super High-Reihe anzusehen. Kommst du mit?“ So fest wie sich Max´ Finger in seinen Oberarm bohren, akzeptiert er kein Nein.

 

Wenig begeistert mustert Eren das Plakat. Es zeigt ein paar Menschen in unterschiedlichen Altersgruppen, die alle bunte Pyjamas tragen und in angeberischen Posen vor einem großen Gebäude stehen.

 

„Danke, aber nein, danke. Ich hab eh noch keinen Teil davon gesehen. Außerdem geh ich nicht so gern ins Kino.“ Eigentlich war er noch nie in einem, aber es läuft auf´s gleiche raus. Wieso sich etwas auf einer Leinwand ansehen, wenn er es selbst tagtäglich erlebt?

 

„Ach, bitte, Eren. Das wird bestimmt lustig“, prophezeit der Kürbis, der schon wieder anfängt in seinen Träumermodus zu wechseln. „Superhelden sind doch so cool. Sie retten Menschen ...“

 

Das macht Eren inoffiziell auch. Er würde schließlich Max retten, wenn er einer wäre, der gerettet werden und in den Bunker gebracht werden müsste.

 

„... sie erleben Tonnen von fantastischen Abenteuern ...“

 

So wie Erens Missionen. So wie die morgen mit Ajax. So wie diese gerade.

 

„... und sie haben unglaubliche Kräfte!“

 

Die hat Eren auch.

 

„Sag mal, Eren, wenn du es dir aussuchen könntest, welche Kräfte hättest du dann gern?“, erkundigt sich der blonde Kürbis völlig unerwartet und überrumpelt somit das Piratenskelett.

 

Wenn sich der Turano vorhin schon ertappt gefühlt hat, dann kommt es ihm jetzt so vor, als sei er aufgeflogen. Ihm läuft ein eisiger Schauer über die Wirbelsäule, der das Kribbeln in den Adern aufweckt. Noch hat er die Ameisen unter Kontrolle und damit das auch so bleibt, muss er ruhig bleiben. Er darf sich nichts anmerken lassen. Es ist eine harmlose, neugierige Frage ohne Hintergedanken. Es ist völlig ausgeschlossen, dass Max den Spieß umdreht und jetzt ihn nach verborgenen Kräften ausfragt. Vollkommen unmöglich. Er mag eben Superhelden, da ist es normal, dass Fans davon träumen selbst die Fähigkeiten zu besitzen. Vermutet er.

 

Also schluckt Eren den nervösen Kloß hinunter, tut so als würde er sich die Reihe an Plakaten mit Werbungen, Ankündigungen von Veranstaltungen und Kinoprogrammen ansehen und zwingt sich dazu, sich zu entspannen. Wer hätte gedacht, dass das so anstrengend ist?

 

„Keine“, antwortet er und ist froh, dass seine Stimme normal klingt. Danke, Verhörtraining.

 

„Keine?“, wiederholt Max mit schief gelegten Kopf.

 

„Wenn man besondere Superkräfte hat, gibt es doch immer Gegner, die einen dann töten wollen. Also, keine“, erklärt Eren und ist selbst überrascht, dass ihm so spontan eine so gute Ausrede eingefallen ist.

 

„Hm.“ Grübelnd legt der Blonde den Kopf in den Nacken. „Stimmt schon. Aber wenn man Superkräfte hat, kann man die Bösewichte doch besiegen und daran hindern anderen wehzutun. Also ich hätte schon gern irgendwelche Kräfte. Ich wollte schon immer fliegen können. Oder nein! Lieber teleportieren, dann würde ich nicht ständig zu spät komen. Nein, stopp! Mit Lichtgeschwindigkeit bewegen können. Oder ...“

 

„Max, stopp! Du brauchst mir jetzt nicht jede Kraft aufzählen, die du gern hättest“, unterbricht ihn Eren gleich bevor die Liste noch länger wird.

 

„Sorry“, grinst Max ohne Entschuldigungsmine. Im Kopf ist er sicher noch mit weiteren möglichen Kräften beschäftigt. „Aber ins Kino gehst du trotzdem mit, ja? Wir können ja danach noch Pizza essen gehen oder so. Außerdem bin ich mir sicher, dass dir der Film gefallen wird. Es macht auch gar nichts, dass du die vorherigen beiden nicht gesehen hast.“

 

„Nein, danke“, wiederholt der junge Turano und überlegt wie er erneut einen Themenwechsel inszenieren kann.

 

„Biitteee! Du weißt, dass ich dich nerven werde, bis du mitkommst“, warnt ihn der Blonde mit hinterhältigem Funkeln in den Augen vor.

 

Oh ja, das weiß Eren. Was spricht eigentlich dagegen? Er kann doch einfach zusagen und weitere Diskussionen vermeiden. Nächste Woche wird er eh nicht mehr in der Schule sein, also was soll´s? Aber andererseits, jetzt zuzusagen und dann ohne Erklärung einfach zu verschwinden, das klingt auch irgendwie falsch. Und es würde sicher ein schlechtes Licht auf die Turanos werfen. Tja, und was jetzt?

Gejagt von Clown, Tiger, Zombie und Tod

Noch während der Braunhaarige über seine Zwickmühle nachgrübelt, melden sich plötzlich seine Alarmglocken im Hinterkopf zu Wort. Sofort ist sein gesamter Körper angespannt und kampfbereit. Er hebt den Kopf und sieht sich verstohlen um. Links ist noch immer der Holzzaun mit den Plakaten und ein paar parkenden Autos davor. Davon löst nichts den Alarm aus, dafür rechts umso stärker. Hier passieren die beiden Jungs gerade einen Metallzaun mit einem großen schmiedeeisernen Tor. Zwischen den einzelnen Streben kann er die Gräber auf der anderen Seite sehen. Ein Friedhof. Hat der Mann vorhin nicht noch gesagt, sie sollten sich davon fernhalten? Wieso eigentlich?

 

Er hat keine Zeit, um zu fragen, denn die Quelle seiner Alarmglocken taucht vor ihnen auf. Es ist eine Vierergruppe aus kostümierten Jugendlichen, wie Eren schätzt. Unter der Schminke und den Masken ist das schwer zu erraten. Sie alle tragen Tüten oder Taschen bei sich. Allerdings sehen sie nicht so aus, als wären sie auf einer Süßes oder Saures-Tour. Außerdem ragen Flaschenhälse aus den Tüten und die Form von Dosen zeichnet sich ab. Sie lachen ausgelassen über irgendetwas, schubsen sich freundschaftlich, torkeln schon etwas herum und sehen eindeutig angetrunken aus. Das allein kann es aber nicht sein, weshalb sich Erens Nackenhaare aufstellen.

 

„Eren? Alles okay?“, erkundigt sich Max, der von der seltsamen Präsenz der Vier nichts mitzubekommen scheint. Dennoch folgt er Erens Blick und verzieht geschockt das Gesicht. „Was machen die denn da? An Halloween geht man doch nicht auf einen Friedhof. Erst recht nicht bei Vollmond! Da wimmelt es von Geistern, die einen an den Kragen wollen.“

 

Eren wirft dem Kürbis einen Seitenblick zu. Glaubt er echt an solchen Unfug? Ein Friedhof ist ein Friedhof, egal zu welcher Uhrzeit, egal an welchem Tag. Da gibt’s nichts was einem an Halloween das Leben kosten könnte. In dieser Welt gibt es schließlich keine Geister. In Flaurana allerdings würde Eren so eine Warnung ernst nehmen. Ob es vielleicht möglich ist, dass sich hier irgendwo ein zufälliges Portal geöffnet hat und ein Geist hindurchgeschlüpft ist? Nein, völlig ausgeschlossen. Wenn dem so wäre, hätte sein Vater sicher schon Wind davon bekommen und was dagegen unternommen.

 

Nun gut, mögliche Spukgestalten sind jedenfalls nicht der Grund für Erens ungutes Gefühl, auf das er sich bisher immer verlassen konnte. Auch die Tatsache, dass den Vieren wohl keiner gesagt hat, dass man sich an Halloween, noch dazu angetrunken, vom Friedhof fernhalten soll, ist eher unwahrscheinlich. Sie bedrohen dabei ja niemanden. Und trotzdem stellt irgendetwas an der Gruppe seine Nackenhaare auf. Er beschließt wachsam zu bleiben und schnell an ihnen vorbeizugehen.

 

Dummerweise widersetzen sich die Älteren Erens Plan. Wie hätte es auch anders sein sollen?

 

„Hey, Leute, wisst ihr was unserer Party noch fehlt?“, fragt die als Tiger Kostümierte lallelnd mit der Hand/Pranke an der Klinke des Tores ihre Freunde, sieht dabei jedoch deutlich zu Eren und Max. „Mehr Süßigkeiten! Die unfreiwillige Spende der letzten Gruppe reicht ja gerade mal für zwei von uns.“

 

Der Gruselclown verzieht das ohnehin zu breit geschminkte Grinsen noch weiter Richtung Ohren. „Du hast recht. Süßigkeiten brauchen wir unbedingt noch mehr. Hey, ihr da, wartet mal kurz. Wir haben nur eine Frage.“

 

Ja, klar. Jemand der sagt, dass er „nur eine Frage“ hätte, hat ganz sicher mehr im Hinterkopf. Besonders, wenn sie zugegeben haben, dass sie schon Beute anderern Zuckerjägern gestohlen haben. Deshalb denkt Eren gar nicht daran stehenzubleiben. Nach drei Schritten allerdings bemerkt er, dass der blauäugige Kürbis doch tatsächlich stehengeblieben ist. Eren könnte sich mit der Hand gegen die Stirn schlagen. Hat er nicht gehört, was sie gerade besprochen haben? Klar hat er das nicht. Max hat ja kein so gutes Gehör. Mist.

 

„Lass uns weitergehen, Max“, drängt der Turano den Blonden leise aber bestimmt.

 

„Ihr braucht keine Angst haben, Jungs“, behauptet die Sensenfrau mit Plastiksense, über die sie hin und wieder beinahe beim Überqueren der Straße stolpert. „Wir wollen euch nur fragen, ob ihr uns eure Süßigkeiten nicht überlassen wollt?“

 

Sie und ihre Freunde kommen direkt auf sie zu. Erens Instinkt sagt ihm, er solle so viel Abstand wie möglich zu den Vieren aufbauen. Oder sie sofort k.o. schlagen. Nur würde zweiteres wohl mehr Misstrauen erwecken, wie einfach wegzulaufen. Auch wenn es dem Zwölfjährigen sehr widerstrebt wie ein feiger Hase zu flüchten.

 

„Sorry, aber wenn ihr Süßes wollt, müsst ihr selbst an den Türen klingeln. Komm, Max, hauen wir ab.“ Diesmal ist Eren derjenige, der Max am Arm hinter sich herzieht.

 

Der Clown allerdings versperrt ihnen den Weg. „Ach, kommt schon", haucht er ihnen deutlich eine Alkoholfahne entgegen. „Heute ist Halloween. Sollte man da nicht seine Beute mit Ärmeren, die keine Süßigkeiten haben, teilen?“

 

„Seh ich auch so“, mischt sich die Tigerin hinter ihnen ein. Sie haben sie eingekreist.

 

Anders als Eren, der versucht alle Vier gleichzeitig im Auge zu behalten, wird Max immer nervöser. Sein Herzschlag beschleunigt sich und er sieht alles andere als mutig aus.

 

„Komm, Eren, geben wir ihnen die Süßigkeiten einfach“, schlägt Max leicht zittrig vor.

 

„Das ist aber nett von dir, Kleiner“, grinst die Sensenfrau und dreht dabei ihre Sense herum. „Somit ist wohl klar, wer von euch der schlauere ist.“

 

Der Turano spannt den Kiefer an, was unter der Maske nicht zu sehen ist. „Aber du wolltest dich doch heute ins Zuckerkoma futtern.“

 

„Ja, aber ...“, beginnt Max, Eren unterbricht ihn sofort. „Nichts aber.“ Für den Turano ist das Antwort genug und bestätigt seinen Entschluss, nicht einfach klein beizugeben. „Ich bin für diese Süßigkeiten den ganzen Abend in diesem Aufzug von Tür zu Tür marschiert und werde jetzt sicher nicht alles an diese vier Dödel abgeben, nur weil sie glauben sie hätten das Recht dazu, weil sie älter und in der Mehrzahl sind.“

 

„Oh-ho, sieh mal einer an. Der Kleine hält sich wohl für mutig was?“, lacht der Zombie heiser, das vierte Mitglied der Truppe. „Spiel dich lieber nicht so auf, Zwergengerippe. Wenn du weißt, was gut für dich und deinen feigen Freund ist, gib uns einfach die Taschen und ihr könnt gehen.“

 

Zeitgleich mit seinen Worten greift der Zombie nach Erens Beutetasche. Natürlich lässt er sich diese nicht so einfach nehmen. Schnell wechselt die Tasche hinter seinem Rücken die Hand, sodass der Zombie ins Leere greift.

 

„Beeindruckender Trick, Kleiner“, zischt der Zombie und kneift seine mit Kontaktlinsen rot gefärbten Augen zusammen. „Mach mich ja nicht wütend.“

 

*Das Gleiche könnte ich auch sagen*, denkt sich Eren und würde ihm gerne beweisen, was sonst passieren könnte, hält sich jedoch zurück. „Wie wär´s, wenn ihr euch einfach auf den Friedhof verzieht und wir gehen weiter?“

 

„Es sind nur Süßigkeiten. Lass uns gehen“, bittet Max erneut. Er ist ganz klar kein Kämpfer. Mit Kräften wäre er doch wohl selbstbewusster in solchen Situationen, nicht?

 

„Nein“, verkündet Eren entschieden. „Wir haben die Süßigkeiten gesammelt und wir werden sie auch bei dir Zuhause essen. Wie geplant. Also, wärt ihr so freundlich und würdet uns durchlassen?“

 

„Bei dir hat man es wohl versäumt, dir beizubringen, wie man sich älteren gegenüber verhält“, behauptet der Clown und lässt die Knöchel knacken. Soll das einschüchternd sein? „Kein Problem, das übernehmen wir doch gern!“

 

Wie bei solchen Leuten nicht anders zu erwarten, holt er mit der Faust aus. Wenn solche mit ihren Mehrheit-Einschüchterungs-Gebärden mit Alkoholeinfluss nicht weiterkommen, werden sie immer gleich handgreiflich. Erst Timo und jetzt diese Vier. Da Eren blöderweise nicht so weit gedacht hat, dass sich zu weigern zu dem Ergebnis führen könnte, muss er jetzt doch fliehen. Denn vor fünf unbeteiligten Augenpaaren auf hohem Niveau kämpfen zu können, ist nicht gerade unauffällig. Auch wenn er gerade kostümiert ist und die Vier ihn nicht erkennen würden. Aber Max eben schon und jetzt am Ende der Mission das noch zu offenbaren kann er wirklich nicht gebrauchen. Deshalb bleibt ihm zu seinem Unmut nichts anderes übrig, als dem sehr schlecht gezielten Schlag auszuweichen, sich Max´ Handgelenk zu schnappen und zwischen dem Clown und dem Tiger hindurchzuschlüpfen.

 

„Eren, hältst du das für ...“, beginnt Max und wird auch diesmal von Eren prompt unterbrochen. „Später! Sag mir lieber wo lang! Ich kenne mich hier nicht aus.“

 

Max schluckt den Kloß hinunter, reißt sich einigermaßen zusammen und rennt jetzt aus eigener Kraft mit, wobei Eren noch immer die Hauptarbeit leistet. „Nach dem Holzzaun links!“

 

„Flieht nur, ihr Knirpse, aber das macht es nur schlimmer!“, verspricht der Zombie lachend, der ihnen bereits mit der Gruppe folgt.

 

„Ihr glaubt doch nicht ernsthaft, ihr könntet uns entkommen, oder?“, höhnt die Tigerin und gackert dabei. Es scheint ihnen Spaß zu machen eine Jagd ausgelöst zu haben. Na ganz toll.

 

„Hör nicht hin, Max, lauf weiter!“, weißt das Piratenskelett den Kürbis an als dieser merkt, dass er aus dem Takt gerät.

 

Der Blonde zwingt sich nach vorne zu sehen. Eren zieht ihn bereits um die Ecke in eine weitere Seitenstraße und gibt gleich die nächste Richtung weiter: „Am Ende rechts!“

 

Eren folgt den Anweisungen, lässt jedoch sein Handgelenk nicht los. Er befürchtet, dass Max dann sehr schlechte Karten hätte den vier Älteren zu entkommen, die ihnen leere Versprechungen und Drohungen hinterher rufen. Sie kommen näher. Eren wünscht sich, er könne so schnell laufen, wie er wirklich kann oder auf eines der Dächer flüchten, aber das geht ja leider nicht wegen seinem orangen Anhängsel. Aber in dem Tempo werden die streitlustigen Teenies sie früher oder später einholen. Sie haben keine Chance zu entkommen. Na gut, dann eben eine andere Taktik.

 

„Max, können wir uns irgendwo verstecken?“, fragt Eren während er auf die leere Straße abbiegt. Verstecken gefällt ihm noch weniger als zu flüchten.

 

„Ähm, Moment.“ Man kann förmlich den Rauch aus Max´ Ohren qualmen sehen.

 

„Max!“, drängt Eren als die Verfolger ebenfalls auf die Straße rennen.

 

„Äh, ja! Bei der Kreuzung rechts und dann gleich links in die Nebengasse!“, weist Max hektisch an.

 

Eren zieht das Tempo an, um den Abstand ein wenig zu vergrößern. An besagter Kreuzung biegen sie rechts ab und flitzen über die Straße in die Seitengasse zwischen zwei Wohnhäusern. Hier riecht es penetrant nach Abfall, der den Jungs Tränen in die Augen treibt und Würgereflexe auslöst. Kein Wunder, die Gasse wird als Müllcontainer-Sammelplatz genutzt.

 

„Hier rechts!“, ruft Max zwischen Erens inneren Fluchmonolog.

 

Der Turano reagiert gerade noch rechtzeitig bevor sie an der Abzweigung vorbei sind. Wieder eine Zwischenstraße von Wohnhäusern. Zumindest diesmal nur mit alten Schachteln, die mitten im Weg rumliegen. Die Jungs weichen ihnen aus und schlüpfen in eine weitere Gasse des zwischenhäuslichen Labyrinths. Allerdings stehen sie nach wenigen Metern vor einem Maschendrahtzaun.

 

„Max! Das ist eine Sackgasse!“, spricht Eren das Offensichtliche aus.

 

„Ja, tut mir leid. Mit Panik kann ich nicht klar denken!“, verteidigt er sich gehetzt.

 

„Klasse“, stöhnt Eren. „Und was jetzt?“

 

Max ist ganz bleich geworden und sieht sich fieberhaft um. „Wenn wir zurück gehen und links ...“

 

„Ich hab doch gesagt, ihr könnt uns nicht entkommen!“, schreit eine weibliche Stimme gehässig lachend.

 

Sie sind bald da.

 

Hinter ihnen versperrt ein gut zwei Meter hoher Maschendrahtzaun ihren weiteren Fluchtweg und vor ihnen tauchen jeden Moment vier alkoholisierte Jugendliche auf. Wenn sie zurücklaufen, laufen sie ihnen direkt in die Arme. Das sind ja tolle Aussichten. Sie können weder vor noch zurück. Eren und Max sitzen in der Falle.

Mission erfüllt (?)

Vielleicht hätte der Turano die Beutetaschen doch einfach den vier Älteren übergeben sollen. Er hätte doch eh nichts daraus gegessen. Aber nein, sein Stolz war ja zu groß dafür und jetzt ist es zu spät. Da hat er Max ja was schönes eingebrockt. Und sich selbst. Es bleibt ihm wohl nichts anderes übrig als sich zu wehren. Auch wenn das bedeutet, Eren muss zeigen was er kann. Also, die Frage ist: kämpfen oder über den Zaun? Oh, Mann. Egal wofür er sich entscheidet, am Ende wird er dafür sicher ewig lang Strafen abarbeiten müssen und nie wieder allein irgendwohin gehen dürfen. Und wenn Max nicht getötet wird, weil er von Erens Kräften weiß, wird ihm das Gedächtnis gelöscht und auch gleich noch brutal aus ihm herausgekitzelt, ob er selbst Kräfte hat. So oder so, die Mission endet hier. Super. Der Abend wird immer besser und besser.

 

„Okay, Max, bleib hinter mir“, weist Eren den Grünäugigen an und stellt sich schützend vor ihn. Die Maske behält er vorsichtshalber auf, so erkennen die Vier ihn zumindest auf keinen Fall. Auch wenn er dadurch wenig sieht. Aber für diese Trottel sollte es mehr als genügen.

 

Der Kürbis sieht den Zaun hoch, scannt die Umgebung und sucht sichtlich angestrengt nach einem Ausweg, der nichts mit Kämpfen zu tun hat. Mittlerweile kann sogar er schon die Schritte hören. Sie sind bald da. Ihm bleibt keine Zeit lange nach einer Alternative zu suchen. Deshalb atmet er die angehaltene Luft aus und hat plötzlich ein überraschend entschlossenes Funkeln in den Augen.

 

„Bitte, hab keine Angst vor mir“, sagt Max leise.

 

Eren kann gerade Mal irritiert den Kopf drehen, da wird er auch schon ohne Erklärungen umarmt und es geht aufwärts. Mit vor Überraschung großen, perplexen Augen wehrt sich der Turano nicht einmal während Max in einem einzigen, unnatürlich Satz über den Zaun hopst und sicher auf der anderen Seite landet, wo er diesmal den Braunhaarigen hinter die nächste Ecke außer Sichtweite zerrt. Dort gehen sie beide hinter einen Müllcontainer in Deckung.

 

Eren starrt Max fassungslos an, so als wäre ihm plötzlich ein zweiter Kopf gewachsen. Max hat Kräfte? Max hat KRÄFTE?! Wie konnte er sich nur so irren?! Wieso hat er es nicht früher erkannt? Oder überhaupt erkannt? Ist er wirklich so unfähig? So inkompetent? Max hat es ihm sogar so unfassbar leicht gemacht, sich in sein Leben einzuschleichen und auszuspionieren und trotzdem hat er so extrem versagt? Er war schon der festen Überzeugung, er sei völlig normal und war bereit das heute auch Ajax und seinem Vater zu berichten. Bei dem Gedanken läuft es ihm frostig den Rücken runter.

 

Okay, stopp. Jetzt so überflüssig überzureagieren ist doch total unnötig. Alles ist in Ordnung. Er hat seine Mission erfolgreich abgeschlossen und sogar im festgelegten Zeitrahmen. Das Beinaheversagen müssen Ajax und sein Vater ja nicht erfahren. Er hat herausgefunden, dass seine Zielperson besondere Kräfte besitzt, auch wenn eine gute Sprungkraft nicht unbedingt zu den Fähigkeiten gehört, mit denen man angeben kann. Egal, Kräfte sind Kräfte. Der nächste Schritt wird sein, Max in den Bunker zu holen bevor noch böse Menschen auf ihn aufmerksam werden, die ihn nur für ihre Verbrechen ausnutzen wollen.

 

*Und jetzt reiß dich endlich mal wieder zusammen, Eren!*, rügt sich der Zwölfjährige selbst. *Du tust ja so, als hättest du noch nie jemanden mit außergewöhnlichen Fähigkeiten getroffen.*

 

Energisch zwingt er sich zurück in die Gegenwart und auf das aktuelle Problem zu konzentrieren: die vier Süßigkeitendiebe. Sie sind mittlerweile in der Gasse angekommen und haben bemerkt, dass sie die Jungs verloren haben, können sich aber auch nicht auf eine plausible Erklärung einigen. Sie treten gegen herumliegende Kartons, kippen Tonnen um, wobei sie nur Ratten und eine Katze aufscheuchen und beschließen dann weiterzusuchen. Denn über den Zaun und außer Sichtweite zu verschwinden, können zwei kostümierte Zwölfjährige in so kurzer Zeit schließlich nicht.

 

„Sie sind weg“, verkündet Eren als ihre Schritte den Gefahrenbereich verlassen.

 

„Phu.“ Max lehnt den Kopf an die Mauer hinter sich. „Ich dachte schon, wir würden heute noch im Krankenhaus landen. Musstest du sie denn so provozieren?“

 

„Warum provozieren? Ich hab mich nur geweigert diesen vier Obertrotteln unsere Beute zu geben, nur weil sie das verlangen“, stellt Eren klar. „Du darfst nicht immer gleich klein beigeben, sonst benutzt dich jeder nur als Fußabtreter.“

 

„Meinst du?“

 

Der Kürbis scheint das nicht ganz nachvollziehen zu können. Eren überrascht das kein bisschen. Mit dieser Einstellung wird er allerdings im Bunker nicht weit kommen. Da wird ihm der junge Turano wohl als erstes zeigen müssen, wie er sich solchen wie Ajax und Viktor gegenüber zu verhalten hat, um eben nicht wie ein Fußabstreifer behandelt zu werden. Vorausgesetzt, Ajax und sein Vater erlauben ihm weiterhin den Kontakt zu Max.

 

„Wir sollten wohl lieber von hier verschwinden, bevor sie merken, dass wir nicht da lang gerannt sind“, schlägt der Blonde vor und steht bereits auf.

 

Dem kann Eren nur zustimmen, erhebt sich ebenfalls und folgt ihm durch das Gassenlabyrinth zur Hauptstraße. Hier sind wieder mehr kostümierte Kinder auf Süßes oder Saures-Tour unterwegs und nirgends eine Spur der vier Diebe. Dafür ist die Stimmung zwischen den beiden Jungs merklich distanziert. Vor allem, weil Max ziemlich wortkarg ist und wenn er was sagt, dann nur einsätzige Nebensächlichkeiten, wie etwas über eine Dekoration, die ihm gefällt oder ein Kostüm, das er auch mal als Kind hatte.

 

Irgendwann wird dieses gespielte Verhalten, so zu tun als wäre nichts passiert, dem Turano zu anstrengend und er fragt einfach direkt heraus: „Also, erklärst du mir jetzt, wie du die Sache mit dem Zaun gemacht hast oder tun wir weiterhin so, als wäre das völlig normal gewesen?“

 

Im Grunde ist es Eren zwar egal, wie seine Kräfte funktionieren, aber je mehr Infos, desto besser.

 

Ertappt weicht Max Erens Blick aus und lacht schief. „Du hast es also doch bemerkt, was?“

 

„Wie hätte ich es denn bitte nicht bemerken sollen?“, kontert das Piratenskelett.

 

„Auch wieder wahr“, gesteht der Blonde und seufzt überfordert. Ist das wirklich eine so große Sache für ihn? „Ich verspreche, ich werde dir alles erklären, aber nicht hier und jetzt. Später, bei mir Zuhause, okay?“

 

„Na gut“, willigt Eren ein, dem das auch ganz recht ist. Man weiß schließlich nie wer einem auf offener Straße hinterherspioniert. Außerdem kann er dann das Piratenskelett loswerden. Vor allem die Maske. Und er kann schon einmal die Familiengruppe auf den neuesten Stand bringen. Vielleicht nehmen sie Max einfach heute gleich mit in den Bunker? Dass er freiwillig mitkommen würde, bezweifelt Eren, aber wenn er ihm erstmal erklärt, weshalb es für ihn und seine Familie sicherer ist, wenn er im Bunker untertaucht, dann wird er es sicherlich verstehen. Hoffentlich.

 

~~~

 

Bis die beiden Jungs am Haus von Max ankommen, sammeln sie keine weiteren Süßigkeiten, wie es eigentlich geplant war. Die „Süßes oder Saures“-Stimmung ist verschwunden. Nachdem der Blonde die Haustür aufgeschlossen hat, diesmal ohne sich vor der Spinne zu erschrecken, und sie eingetreten sind, streift Eren die Schuhe ab und nimmt zu seiner Erleichterung endlich die Maske ab.

 

„Also? Wie hast du das gemacht?“, fragt der Turano erneut nach.

 

„Ähm“, druckst der Blonde herum. „Wie wär´s, wenn du dich zuerst umziehen gehst und ich mach uns inzwischen eine heiße Schokolade und komm dann rauf?“

 

„Hm.“ Forschend mustert er das Profil seiner Zielperson, die ihn immer noch nicht direkt ansehen will. Da aus diesem Kostüm rauszukommen gar nicht so schlecht klingt, willigt er ein. „Na schön. Aber wehe du willst dich jetzt aus dem Staub machen oder so.“

 

Gekünstelt lacht Max ein paar Mal und kratzt sich ausweichend am Hinterkopf. Während der Kürbis also in der Küche verschwindet, steigt Eren die Treppe hinauf und geht in Max´ Zimmer. Diesmal zieht er sich zuerst das störende Kostüm aus, stapelt es neben dem Bett und schnappt sich dann sein Handy, um den Familienchat zu öffnen.

 

Eren, 31.10., 20:23

Update Auftrag Max:

Ich hab herausgefunden, dass er tatsächlich besondere Fähigkeiten besitzt. Bisher weiß ich nur, dass er eine übernatürlich gute Sprungkraft hat. Ich bin aber dabei mehr herauszufinden.

Wie geht´s jetzt weiter? Soll ich Max schon vom Bunker erzählen und dass wir ihn dorthin in Sicherheit bringen wollen?

 

So, eingetippt und abgesch... Seltsam. Erens Finger schwebt zwar über dem Sendenbutton, aber irgendetwas in ihm sagt ihm, dass er das nicht abschicken soll. Das ist doch lächerlich. Wieso sollte er nicht? Seine Familie hat ein Recht das zu erfahren und weiß viel besser, wie sie jetzt weiter vorgehen sollten. Für Eren ist es die erste Mission einen fähigkeitenbegabten Menschen in den Bunker zu bringen, aber für Ajax und seinen Vater nicht.

 

Dennoch ist die Stimme in ihm lauter und diesmal ist es weder die Engel- noch die Dämonenseite, die ihm das rät. Später kann er immer noch Bericht erstatten und dann hat er sicher auch noch mehr Infos. Aber für´s erste beschließt er seiner inneren Stimme zu vertrauen.

 

Also löscht er das Eingetippt, sperrt das Handy und sieht sich erneut in dem Zimmer um, das noch immer keine Hinweise liefert, was jetzt auch überflüssig ist.

 

Kurz darauf hört er auch schon Schritte auf der Treppe. Max öffnet die Tür und stellt die beiden dampfenden Tassen am Nachtkästchen ab, die schon ihr schokoladiges Aroma im Raum verteilen.

 

„Such dir eine aus und mach´s dir ruhig schon mal gemütlich.“ Der Kürbis deutet einladend auf die Sitzgelegenheiten und Schokotassen, während er selbst zu seinem Kleiderschrank geht. „Ich zieh mir nur auch schnell das Kostüm aus.“

 

Wie geheißen wählt Eren die schwarze Tasse mit dem Aufdruck eines Vollmondes und einer Hexe auf einem Besen – war ja klar, dass auch hier Halloween herrscht – und lässt sich in den Sitzsack sinken. Wie halloweenfanatisch kann man bitte sein?

 

„Und? Wie findest du dein erstes Halloween bisher?“

 

„Du meinst, abgesehen vom gejagt werden, wegen einer Tasche voll Süßigkeiten und sich hinter Mülltonnen verstecken müssen? Eigentlich ganz okay.“

 

Das ist sogar die Wahrheit. Nur ein wenig untertrieben. Er hatte echt Spaß auf der Tour, hat dabei einen Auftrag erfüllt und sogar die Verfolgungsjagd war ganz lustig, wenn er es auch schade findet, dass er diesen eingebildeten Dödeln keine Manieren beibringen konnte. Abgesehen davon, hatte er einen unerwartet schönen Abend. Deshalb findet er es auch traurig, dass heute sein erstes Halloween, gleichzeitig sein letztes sein wird. Vielleicht kann er Ajax und seinen Vater überreden, nächstes Jahr doch zu feiern? Ach, wen versucht er hier falsche Hoffnungen zu machen? Das wird nie passieren. Seine Familie glaubt nicht an Feiertage. Oder Geburtstage.

 

„Hab ich´s nicht gesagt?“ Mit einem triumphalen Grinsen lässt sich Max jetzt in einem blauen T-Shirt mit dem Aufdruck einer Band, von der Eren noch nie gehört hat und schwarzer Jogginghose auf den Boden nieder, lehnt sich gegen das Bett und nimmt seine Tasse in die Hände, eine schwarze mit kleinen Fledermäusen und Spinnen bedruckt. Er pustet ein paar Mal und nippt dann an der Schokolade. „Ah, heiß!“ Prompt zieht er den Kopf zurück, stellt hektisch die Tasse weg, verschüttet dabei beinahe den Inhalt, streckt die Zunge raus und fächelt sich hechelnd Luft zu. „Das passiert mir echt jedes Mal.“

 

„Ach ja?“ Irgendwie überrascht Eren das nicht. Schmunzelnd sieht er dem Blonden dabei zu, wie er versucht seine Zunge zu kühlen und stellt seine eigene Tasse auf den Boden.

 

„Okay. Wenn die heiße Schokolade noch zu heiß ist, sehen wir uns eben unsere Beute an, die du gerettet hast“, beschließt Max, zieht die Tasche vom Bett, die er beim Hereinkommen dorthin geschmissen hat und schüttet den Inhalt zwischen sie beide einfach auf den Boden. Zum Vorschein kommt ein richtiger kleiner Berg an verschiedenen Süßkram, von manchen ist nur noch die zerknüllte Verpackung übrig. „Komm, Eren, her mit deinem Schatz.“

 

Anscheinend hat sich Max wieder ein bisschen normalisiert während er die Schokolade gemacht hat. Aber wenn er glaubt dadurch Eren vom eigentlichen Thema ablenken zu können, hat er sich geschnitten. Dennoch tut der junge Turano wie geheißen, steht auf, holt seine eigene Tasche, die er beim Skelettkostüm hat liegen lassen und verteilt seine Beute neben die von Max. So viele Süßigkeiten auf einmal hat Eren noch nie im Leben gesehen. So viele Süßigkeiten hat er auch insgesamt in seinem Leben noch nicht gesehen.

 

„Sieht doch ganz passabel aus“, kommentiert der Grünäugige höchst zufrieden. „Bereit für dein erstes Zuckerkoma?“

Aufgeflogen

Eren lässt sich wieder im Sitzsack nieder, da dieser nicht mehr der neueste zu sein scheint, fehlt schon ein ganzes Stück der Füllung, weshalb er relativ weit einsinkt. „Du versucht jetzt aber nicht vom Thema abzulenken, oder?“

 

Ertappt verschwindet für eine Sekunde das Grinsen auf Max´ Gesicht und er sieht zur Seite ehe er antwortet: „Nein. Ich hab ja versprochen, dass ich dir alles erklären werde. Und ich halte immer meine Versprechen. Aber ich will nicht dadurch dein erstes Halloween kaputt machen. Oder dass du vor mir flüchtest, wenn ich es dir erzähle.“

 

„Keine Sorge. Ich bleibe bis zum bitteren Ende“, verspricht Eren feierlich. Er ist sich sicher, dass Max ihm nichts erzählen kann, was ihn zur Flucht verleiten würde. Er glaubt eher, dass es andersherum sehr viel wahrscheinlicher ist. Wenn Max in den Bunker kommt, wird er früher oder später von Erens Kräften erfahren und ihn dann sicher mit genauso viel Abstand behandeln wie alle anderen im Bunker auch. Tja, das Turano-Niveau ist ein einsames Niveau.

 

„Okay. Na gut. Wie du willst. Aber versprich mir, dass du mich zuerst ausreden lässt, bevor du doch flüchtest, ja?“, möchte der Blonde die Gewissheit haben. „Und du darfst niemanden auch nur ein Wort von dem erzählen, was ich dir jetzt sage, versprochen?“

 

„Klar, versprochen.“

 

„Indianerehrenwort?“ Auffordernd hält Max ihm den kleinen Finger entgegen.

 

„Was haben Indianer damit zu tun?“ Ratlos sieht der Braunhaarige auf Max´ Finger.

 

„Du kennst kein Indianerehrenwort?“ Als Eren daraufhin den Kopf schüttelt, erklärt der Blonde: „Das ist ein super-duper Versprechen, dass niemals, unter keinen Umständen gebrochen werden darf oder einem passieren sehr schlimme Dinge.“

 

„Ach, ja? Zum Beispiel?“

 

„Keine Ahnung. Ich schätze, bisher wollte das niemand herausfinden“, behauptet der ehemalige Kürbis schulterzuckend. „Also? Indianerehrenwort?“

 

„Von mir aus. Indianerehrenwort“, willigt Eren schließlich ein.

 

„Du musst deinen kleinen Finger mit meinem verhakten, sonst zählt es nicht“, belehrt Max ihn.

 

Innerlich kurz mit den Augen rollend verhakt er seinen Finger mit dem vom Max. „Zufrieden?“

 

„Jap. Jetzt darfst du niemandem von meinem Geheimnis erzählen, wenn du die Strafe nicht erleben willst“, warnt Max verschwörerisch.

 

„Bestimmt nicht.“ Um nicht im Sitzsack zu verschwinden, ändert Eren seine Sitzposition in einen Schneidersitz und stützt die Ellbogen auf die Knie. „Also, leg los. Wie hast du´s geschafft uns beide über den Zaun zu befördern? In Sport bist du nicht annähernd so hoch gesprungen.“

 

„Naja“, beginnt Max nervös und scheint nicht so recht zu wissen, wie er anfangen soll. Wieder meidet er es den Braunhaarigen anzusehen. „Ich bin nicht wirklich gesprungen. Ich hab sozusagen den Wind genutzt, um auf die andere Seite zu kommen.“

 

„Den Wind?“, wiederholt Eren mit hochgezogener Augenbraue. „Soll das heißen, du kannst die Luft kontrollieren?“

 

Ist er so jemand wie Carmen? Nur mit Luft statt Erde?

 

„Ja? Ich weiß, das klingt ausgedacht, aber ich kann´s dir beweisen!“ Max wirkt ein wenig verzweifelt. Er will wirklich unbedingt, dass Eren ihm glaubt.

 

„Das musst du nicht. Ich war ja dabei als wir über den Zaun sind“, erinnert ihn Eren. Luftkräfte also, hm? Ist cooler als eine gute Sprungkraft. „Was kannst du denn noch so?“

 

Perplex mustert der Junge jeden Millimeter von Erens Gesicht auf der Suche nach irgendetwas, das ihm seine Gedanken verrät. Er findet jedoch nichts, weshalb er vorsichtig fragt: „Heißt das, du glaubst mir? Und hältst mich nicht für einen Freak? Oder willst so schnell wie möglich von mir weg und nie wieder mit mir sprechen?“

 

„Ja. Nein. Nein und nein“, rattert der Turano die Antworten ab.

 

„Okay?“ Noch skeptischer als vorher beäugt er den Jungen ihm gegenüber. „Kommt es mir nur so vor, oder nimmst du die Sache viel zu entspannt auf? Oder willst du nur die ganze Geschichte hören, um mich an irgendeine Regierung zu verpfeifen, die mich dann entführt und in ein extrem geheimes Versteck am Meeresboden schleift, um lauter schmerzhafte Tests an mir durchzuführen? Falls ja, dann sag´s mir lieber gleich. Ich will vorbereitet sein, wenn gleich eine ganze Truppe bewaffneter Leute mein Haus stürmt.“

 

„Echt jetzt? So schätzt du mich ein?“ Gekränkt verschränkt Eren die Arme vor der Brust. Auch wenn es beinahe vollständig der Wahrheit entspricht. Max kommt in ein geheimes, unterirdisches Versteck, muss sich ein paar Tests unterziehen und wird trainiert werden. Alles nicht ganz freiwillig, aber immer noch besser als irgendwann von Schurken entdeckt und zu ihren miesen Plänen gezwungen zu werden.

 

„Nein, tut mir leid. Aber wenn in Filmen jemand herausfindet, dass ein Freund Superkräfte hat, flippen die immer total aus und halten es zunächst für eine Lüge“, verteidigt Max seine Zweifel.

 

„Vielleicht kommt das noch später, wenn mein Gehirn das alles verarbeitet hat“, behauptet der Turano ausweichend. „Also, du kannst durch Windkräfte super hoch springen. Was kannst du noch?“ Im Kopf bereitet er bereits einen Notizzettel vor.

 

„Und du sagst, ich sei schräg“, kommentiert Max eher zu sich selbst. Trotzdem entspannt er sich sichtlich, zieht ein Bein an und unternimmt einen zweiten Versuch seine heiße Schokolade zu trinken. Diesmal ohne sich zu verbrennen. „Um ehrlich zu sein, weiß ich gar nicht genau, was ich mit den Elementen ...“

 

„Moment. Stopp. Pause“, unterbricht ihn Eren und lehnt sich wieder etwas vor. „Elemente? Mit E am Ende? Wie in Mehrzahl? Du kannst mehr als Luftbändigen?“

 

„Äh, ja“, bestätigt Max verlegen. So unsicher wie er gerade ist, glaubt der Braunhaarige, dass Max noch nie dieses Gespräch mit jemanden geführt hat. „Ich kann praktisch jedes Element kontrollieren.“

 

„Wie jedes?“ Das ist selbst für Eren neu. Die Leute, die er bisher mit Elementkräften kennengelernt hat, hatten nur ein, maximal zwei Elemente. Aber alle? Das ist dann doch ehrlich beeindruckend. So langsam interessieren ihn Max´ Fähigkeiten wirklich. „Das ist echt cool. Das musst du mir dann doch mal vorführen.“

 

Eigentlich meint Eren damit, wir müssen unbedingt einen Trainingskampf austragen. Das wär sicher … Oh, richtig. Er hat das ja nicht zu entscheiden. Würde er Ajax darum bitten, würde er sicher ein entschiedenes Nein hören. Man kann sich seinen Gegner nicht aussuchen. Nicht auf Missionen, wieso also beim Training?

 

„Klar, kann ich machen. Aber ich bin nicht besonders gut darin. Also erwarte jetzt nichts großartiges, ja?“ Entschuldigend sieht er ihn über den Rand seiner Tasse hinweg an.

 

„Heißt das, du hast Superkräfte und trainierst sie nicht?“ Unbegreiflich legt Eren den Kopf schräg.

 

„Naja, ein bisschen vielleicht. Nur so viel, dass ich es halt kontrollieren kann. Ich wüsste aber auch nicht, wo ich trainieren sollte. Im Haus hätte ich Angst alles abzufackeln, im Garten sieht mich doch jeder und verständigt sofort die Armee. Und sonst …?“ Der Blonde zuckt ahnungslos mit den Schultern.

 

Gut, das versteht Eren. Er wüsste auch nicht wo er trainieren sollte, wenn er weder den Bunker, noch Flaurana oder das Anwesen hätte. Er kann gut verstehen, dass Max so vorsichtig ist.

 

„Ja, da ist was dran“, gibt er zu und ergänzt: „Das heißt, du benutzt deine Kräfte nicht? Ist das nicht totale Verschwendung? Immerhin warst du es, der vor nicht einmal einer Stunde gesagt hat, mit Superkräften kann man die Menschen beschützen und Abenteuer erleben. Du hast dir sogar gewünscht welche zu haben, dabei hattest du die ganze Zeit schon welche. Hattest du sie etwa vergessen?“

 

„Nein, natürlich nicht“, verteidigt sich der Blonde sofort. Trotzdem werden seine Wangen leicht rot. „Aber hätte ich sagen sollen: Ich will auf so eine Schule gehen, weil die Kräfte hab ich ja schon? Das wäre doch auffällig gewesen, findest du nicht?“

 

„Vielleicht ein bisschen.“

 

„Na siehst du? Also, ich brauch jetzt was Süßes, sonst wird das mit dem Zuckerkoma heute nichts mehr“, sagt Max entschieden. Der Blonde wühlt sich solange durch den Zuckerberg, bis er fündig wird und sich mit einem Schokoriegel wieder aufrichtet. Dabei wirft er Eren auch einen Riegel zu, den dieser reflexartig fängt. „Hier, du musst schon mitmachen beim Komafuttern, sonst sag ich kein Wort mehr über meine Kräfte.“ Ein verschlagenes Grinsen schleicht sich auf sein noch schokobartfreies Gesicht.

 

„Das nennt man Erpressung, weißt du das?“ Eren dreht den Schokoriegel lediglich in den Händen herum. Er würde ihn schon gerne probieren, egal was sein Ernährungsplan sagt, aber ihm wird schon beim Gedanken daran, etwas essen zu müssen, schlecht. Die Nachwirkungen haben ihn noch immer nicht freigegeben, trotz einer von Dr. Ryus Tabletten, die er schnell genommen hat, als er sich vorhin umgezogen hat. Die Verfolgungsjagd hat ihn mehr Kraft gekostet, als er sich eingestehen will. Oder als er es jemanden sagen würde.

 

„Jap“, bestätigt Max und beißt vom Riegel ab. „Aber eine leckere Erpressung.“

 

Dazu kann Eren nichts sagen, deshalb kehrt er zum Ausgangsthema zurück. „Wer weiß denn über deine Kräfte Bescheid?“

 

„Abgesehen von dir, nur meine Familie. Du bist der erste Außenstehende.“ So allmählich kehrt die sorglose Ausstrahlung des Jungen zurück. Kann auch sein, dass der Zucker dabei eine Rolle spielt. Immerhin hat er den Schokoriegel schon vernichtet und greift zu einer Gummibärchentüte voller Milchgeister. Wenn er so weitermacht, wird er sein Hauptziel für heute bald erreicht haben.

 

Theatralisch legt Eren seine Hand aufs Herz. „Ich fühl mich geehrt“, scherzt er und wird dann wieder ernst. „Und warum erzählst du das alles dann ausgerechnet mir? Du kennst mich doch gerade mal eine Woche.“

 

„Also, wenn du den armen Schokoriegel noch länger so herumdrehst, wird ihm schlecht“, gibt der Blonde mitleidig zu bedenken, ohne auf Erens Frage einzugehen.

 

„Und wenn du weiter in der Geschwindigkeit Zucker in dich rein stopfst, wird dir schlecht“, kontert Eren.

 

„Touché. Aber genau das ist ja mein Ziel“, wiederholt er und köpft unterstreichend den armen Geist.

 

„Also? Wieso mir?“

 

„Naja, nachdem du ja vorhin dabei warst, muss ich es ja erklären. Und ich versteh immer noch nicht, wie du bei alldem so ruhig bleiben kannst und mich nicht für einen Freak hältst. Das ist unheimlich. Moment, du glaubst mir doch, oder?“

 

„Haben wir das nicht vorhin schon geklärt? Ich war dabei, ich muss dir glauben, ob es mir nun gefällt oder nicht. Was nicht heißt, dass es was schlechtes ist!“, fügt er rasch hinzu als Max´ Hand auf dem Weg in die Tüte erstarrt. „Glaub mir, alle Elemente kontrollieren zu können, ist schon echt übernatürlich, aber um als Freak zu gelten, reicht das nicht. Da laufen viel freakigere Gestalten da draußen rum.“ *Die meisten davon haben sich im Bunker versammelt.*

 

Ein gerührtes Lächeln zuckt um seine Mundwinkel herum, das schnell etwas spitzbübisches bekommt. „Ich glaub eher, du warst zu lang bei dir Zuhause isoliert, um zu wissen was normal ist.“

 

„Hey!“ Entrüstet und aus einem unbekannten Impuls heraus attackiert er Max mit dem Schokoriegel, der ihn lachend versucht abzuwehren und trotzdem am Bauch getroffen wird. Oh je, der wird viel Training vor sich haben, wenn er wie seine Superhelden auf Missionen zur Rettung der Welt gehen will. „Sag mal, wie hast du deine Kräfte eigentlich bekommen? Hattest du einen Chemieunfall oder so?“

 

Noch immer glucksend wirft der Blonde die leere Verpackung auf den Boden und öffnet Erens Munition. Ja, die Gummigeister hat er auch schon vernichtet. Und die Erpressung hat er längst vergessen. „Um ehrlich zu sein, ich weiß nicht genau, woher ich sie hab. Ich weiß nur, dass sie schon immer ein Teil von mir waren. Ich hab sie schon, so lange ich denken kann. Am Anfang, als ich noch klein war, haben die Elemente um mich herum immer zu den ungünstigsten Momenten angefangen verrückt zu spielen. Mit Drei hab ich das Badezimmer in ein Schwimmbad verwandelt. Mit Vier hab ich in der ganzen Straße für einen Stromausfall gesorgt. Ich hab ausversehen beinahe meinen Lieblingsitaliener abgebrannt, hab meine Schwester am Boden festgefroren und was im Sandkasten passiert ist, willst du gar nicht wissen. Glaub mir“, gluckst Max beim Gedanken an die Zwischenfälle.

 

Eren lacht mit, allerdings eher weil Max´ Lachen ansteckend ist. Im Kopf ist er mit was anderem beschäftigt. Wenn der Blonde wirklich schon immer diese außergewöhnlichen Elementkräfte besessen hat und damit auch das ein oder andere Chaos verbrochen hat, wieso hat sein Vater das dann nicht schon viel früher bemerkt und Max entdeckt? Besonders in ihrer Heimatstadt sollte so jemand doch sofort auffallen, oder? Vielleicht wohnt er auch noch gar nicht so lange in Haikla City und blieb deshalb unentdeckt, weil er erst hierher gezogen ist, als er die Elemente bereits unter Kontrolle hatte? Es ist ja nicht so, als würden die Turanos nicht mitbekommen, was in ihrer eigenen Stadt pa...

 

„Max, bist du da?“

 

Der innere Monolog des jungen Turanos verstummt. Er spannt jeden Muskel an und verschluckt sich auch noch am letzten Lachen. Schon wieder so ein unachtsamer Moment, der ihn sich selbst innerlich in den Hintern treten lässt. Er vernachlässigt in letzter Zeit viel zu oft seine Konzentration! Deshalb hat der Zwölfjährige auch nicht mitbekommen, dass jemand das Haus betreten hat. Nicht schleichend wie ein Einbrecher, ganz normal wie ein Bewohner. Was die Sache nur noch schlimmer macht.

 

„Sie ist aber früh zurück“, stellt Max noch immer vor sich hin kichernd nach einem Blick auf die Uhr fest und ruft dann zur angelehnten Zimmertür: „Ja, Mom, wir sind oben!“ An Eren gewandt ergänzt er: „Jetzt lernst du doch noch jemanden aus meiner Familie kennen. Und meine Mom macht die beste heiße Schokolade der Welt. Vielleicht trinkst du die ja lieber“, fügt er mit einem Schmollmund und gekränktem Blick auf Erens unangetasteter Tasse hinzu.

 

„Wir? Hast du etwa noch Besuch?“, erkundigt sich Max´ Mutter, die Eren bereits vor der Tür hört und deren Stimme er glaubt schon mal gehört zu haben. In seinem Hirn rattert es, aber er kommt nicht drauf.

 

Wie aufs Stichwort öffnet sich die Zimmertür und eine schlanke Frau erscheint im Türrahmen, die mit dunkelbraunen Augen freundlich zu den beiden Jungs sieht. Gekleidet ist sie in ein lila-schwarzes mit Spinnen bedrucktes Kleid, einer Netzstrumpfhose mit Spinnennetzprint und sie hält einen Hexenhut in der Hand. Auf ihrer Wange sitzt ebenfalls eine aufgemalte Spinne, die Lippen sind übertrieben lila gefärbt und ihre taillenlangen roten Haare mit schwarzen Strähnchen trägt sie offen. Mit anderen Worten … Eren kennt sie.

 

Eren springt überfordert auf die Füße. Perplex und verwirrt bringt er im ersten Moment keinen Ton heraus.

 

Dafür ist Max zur Stelle, der ebenfalls aufgestanden ist, allerdings nichts von Erens Überforderung mitbekommt. „Mom, das ist der Neue in meiner Klasse, von dem ich dir erzählt hab. Das ist ...“

 

Endlich findet auch Eren seine Stimme wieder, die ungewohnt unsicher klingt. „Dr. Ryu?“

 

„Dr. Ryu?“, wiederholt Max irritiert, wird jedoch nicht beachtet.

 

„Eren?“ Die Frau hat genau wie der Turano einen richtigen Strudel an Emotionen im Gesicht, zwischen Irritation, Unglauben, Freude und Panik ist alles mit dabei.

 

„Wie? Ihr kennt euch?“, stellt Max überrascht fest.

 

„Sie ist deine Mutter?!“, schlussfolgert Eren noch immer nicht sicher ob das hier ein echt gigantischer Zufall ist oder er schon im Zuckerkoma liegt ohne gemerkt zu haben, dass er überhaupt Süßigkeiten gegessen hat.

 

Der Turano hat auch keine Zeit darüber nachzudenken, denn ohne jegliche Vorwarnung überwindet Dr. Ryu die Distanz zu den Beiden, umfasst Erens Gesicht mit den Händen, zwingt den überrumpelten Jungen so ihr in die Augen zu sehen und sagt nur ein einziges, bestimmendes, überzeugendes Wort: „Schlaf“.

 

Eren kann nur unbegreiflich mit den Wimpern zucken, als sich auch schon sein Bewusstsein verabschiedet. Er verdreht die Augen, seine Muskeln erschlaffen und er bricht ohnmächtig zusammen.

Einführung in die dunkle Seite

Dass an Halloween seltsame Dinge passieren, ist an sich nichts ungewöhnliches. Und dennoch hat keiner der Drei auch nur im Traum daran gedacht, wo der Abend hinführen würde. Nicht Max, der eigentlich nur eine Süßes oder Saures-Tour machen und seinem neuen Freund Halloween zeigen wollte, um am Schluss im Zuckerkoma zu landen. Nicht Dr. Ryu, die mit ihrer Freundin im Kino war und noch einen entspannten Abend Zuhause geplant hatte. Auch nicht Eren, der seine Mission erfüllen wollte und froh darüber war, es geschafft zu haben.

 

Tja, wie heißt es so schön? Erstens, es kommt immer anders und zweitens, wie man denkt. Das Sprichwort hat schon was Wahres an sich.

 

„Mom, was hast du getan?“, verlangt Max geschockt zu erfahren, sobald er seine Stimme wiedergefunden hat und entsetzt und verwirrt zwischen der Frau und dem am Boden liegenden Jungen hin und her sieht.

 

„Oh-h... Das ist gar nicht gut!“ Dr. Ryu überhört ihren Sohn komplett, sie ist zu sehr von der Situation überfahren, um sie zu verarbeiten oder gar zu verstehen. Sie beginnt damit zusammenhangloses Zeug vor sich hinzumurmeln während sie ein paar Schritte auf und ab marschiert. „Wie konnte das passieren? Was macht er hier? Kann es sein, dass … Nein, aber was sollte Eren sonst hier zu suchen haben? Aber wenn Benedikt weiß, dass … Oh, bitte nicht! Das wäre eine Katastrophe! Andererseits, wenn er es wüsste, wäre ich doch schon längst … Oder hat er einen größeren Plan? Ich wusste, es ist keine gute Idee mit Max und Elaine in Haikla City zu wohnen. Das war so naiv und leichtsinnig von mir! Sollten wir untertauchen? Fliehen? Oder ist es unauffälliger vorerst die Füße … Und wenn ...“

 

„MOM!“, unterbricht sie der Junge energisch und hält ihren rechten Arm fest, um sie am herumtigern zu hindern, was ihn nur noch nervöser macht. „Was ist los? Wer weiß was? Warum willst du fliehen? Warum hast du Eren einschlafen lassen? Woher kennt ihr euch? Kannst du mir bitte erklären was los ist? Du machst mir Angst.“

 

In den großen grünen Augen spiegelt sich deutlich die Panik wieder, auch seine Hände zittern. Und das nicht wegen dem Zuckerkonsum. Die Frau schließt die Augen, atmet tief durch und legt dann ihre linke Hand beruhigend auf Max´ Hände, die noch immer ihren Unterarm umklammern.

 

„Ich werde dir alles erklären, mein Schatz“, versichert sie und sieht ihn dann ernst an. „Aber zuerst: Weiß Eren von deinen Kräften?“

 

Max ist noch immer durcheinander und dass er jetzt beichten muss, dass er das große, große Geheimnis verraten hat, von dem er seiner Mutter hoch und heilig versprochen hat es niemals jemanden zu verraten, unter keinen Umständen, macht es nicht unbedingt einfacher. Aber er will wissen, weshalb Eren von seiner Mutter in Tiefschlaf versetzt wurde, deshalb nickt er langsam.

 

„Ja“, gibt er zu, ergänzt jedoch sofort: „Aber ich musste es tun! Wir wurden von ein paar Älteren gejagt, die unsere Süßigkeiten stehlen wollten. Ich hab uns ausversehen in eine Sackgasse geführt und musste doch etwas unternehmen. Also hab ich uns über einen Zaun geflogen. Und danach musste ich es ihm erklären. Ich wollte nicht, dass er mich für einen Freak hält und nicht mehr mein Freund sein will.“

 

Gerührt lächelt sie ihren Sohn an. Das ist typisch für ihn. Aber jetzt ist nicht die Zeit für Sentimentalität. Egal wie sehr sie sich auch für Eren freut, dass ihn jemand als Freund bezeichnet.

 

Die Ärztin zwingt sich dazu wieder ernst zu werden. „Hat Eren seit dem mit jemanden gesprochen oder kontaktiert?“

 

„Ähm, ich glaube nicht, nein“, antwortet Max unsicher und lässt ihren Arm los.

 

„Bist du dir sicher? Denk genau nach. Das ist wichtig.“

 

„Ähm.“ Grüblerisch fasst er sich ans Kinn. „Nein, ich war die ganze Zeit bei ihm. Außer … Ich hab vorhin heiße Schokolade gemacht, aber ich glaub nicht, dass er jemanden in der Zeit angerufen hat.“

 

„Okay.“ Erleichtert schließt sie für einen Moment die Augen. Auch wenn Max nicht mit absoluter Sicherheit sagen kann, ob Eren in dieser kurzen Zeit nicht doch seine Familie benachrichtigt hat, ist sie sich sicher, dass es niemand sonst weiß. Vermutlich. Andernfalls würde Ajax sicher schon die Wohnung auseinandernehmen, Max entführen und sie selbst vermutlich wegen Verrat sofort hinrichten.

 

„Mom, kannst du mir jetzt sagen was los ist? Woher kennt ihr euch? Du tust ja so, als wäre Eren ein Schwerverbrecher, oder so.“ Max lacht gekünstelt und schief, was ihm kurz darauf auch schon vergeht als er den ernsten, traurigen Gesichtsausdruck seiner Mutter bemerkt.

 

Die Ärztin geht neben Eren in die Hocke und mustert ihn. Ein Schwerverbrecher, hat Max gesagt. Es war nur als Scherz gemeint, aber er weiß ja nicht, wie recht er damit hat. Eren hat schon etliche Verbrechen und Morde begangen. In dieser Welt würde er sicher Lebenslänglich kriegen, wenn das jemand wüsste, obwohl er noch ein Kind ist. Und trotzdem fühlt die Frau nicht das kleinste negative Gefühl ihm gegenüber. Immerhin kennt sie den Experimentjungen seit er in den Bunker gekommen ist. Sie weiß, dass er nicht böse ist. Das liegt nur an Ajax und Benedikt, wie sie ihn erzogen und belogen haben.

 

„Hilf mir bitte ihn auf´s Bett zu legen“, weist Dr. Ryu den Blonden an.

 

Max kniet sich neben Erens Kopf und richtet dessen Oberkörper auf, um ihn sicher unter den Achseln nehmen zu können. Gemeinsam heben sie den bewusstlosen Turano ins Bett, damit er nicht länger am Boden liegen muss. Auch wenn er davon eh nichts mitbekommt. Sobald der Junge auf der Halloween-Bettwäsche liegt, fällt Max´ Blick auf dessen Kopf. Genauer auf die Haare, die an der Seite dunkler und verklebt sind.

 

„Oh, mein Gummibärchen, er blutet ja! Dabei hab ich seinem Bruder doch versprochen, ich pass auf ihn auf! Schnell, wir müssen ihn ins Krankenhaus bringen!“ Erneut wird der Blonde von Panik erfasst und will bereits aufspringen, doch seine Mutter hält ihn zurück. „Beruhige dich, Max.“

 

Unbegreiflich huschen seine Augen zwischen Eren und seiner Mutter hin und her. „Mich beruhigen? Eren ist verletzt! Hilf ihm, bitte!“

 

„Das ist nicht nötig“, behauptet sie ruhig und streicht die blutigen Haare auseinander, bevor sich Max noch mehr selbst in Panik versetzen kann. „Siehst du? Ihm geht’s gut.“

 

„Gut? Aber ...“ Komplett irritiert lässt er sich zurück auf die Matratze sinken. „Wie geht das? All das Blut, wo kommt das her, ohne Wunde?“ Er fasst sich an die Stirn als hätte er Kopfschmerzen. „Ich glaub mein Kopf explodiert gleich.“

 

„Kann ich gut verstehen, dass das alles ziemlich überfordernd ist. Mir geht es auch so“, gibt die Ärztin ehrlich zu und setzt sich ebenfalls an die Bettkante. „Also, was weißt du alles über Eren?“

 

„Nichts außergewöhnliches. Nichts was mir erklären würde, weshalb es keine Verletzung gibt, du ihn kennst oder einschläferst“, antwortet er.

 

„Bitte, Max, es ist wichtig, damit ich weiß, wo ich anfangen soll.“

 

Für Max wird die ganze Situation immer skurriler. „Ähm, er heißt Eren Turano, ist 12 Jahre alt und hat einen großen Bruder, Ajax. Das erste Mal getroffen hab ich ihn letzte Woche im Park, wo er ziemlich deprimiert auf einer Bank gehockt hat und letzten Freitag dann noch einmal im Krankenhaus, wo ich auch seinem Bruder das erste Mal begegnet bin. Damals wusste ich aber noch nicht, dass die beiden Turanos sind oder Eren in meine Klasse kommen soll. Davor wurde er Zuhause unterrichtet und ist in so ziemlich allem Klassenbester, was Timo tierisch eifersüchtig macht. Er hat noch nie Halloween oder einen anderen Feiertag oder gar Geburtstag gefeiert, ist das nicht schräg? Ich hab ihn deshalb auf Süßes oder Saures eingeladen, auch weil Elaine und Papa ja bei Oma und Opa sind. Und sonst … Naja … Das war´s im Großen und Ganzen.“

 

„Okay“, sagt Dr. Ryu gedehnt und überlegt bereits, was sie ihm erzählen soll. „Du weißt ja, dass ich Ärztin bin, ja? Allerdings nicht in einem Krankenhaus. Ich bin die persönliche Ärztin im Turano-Anwesen, daher kenne ich Eren auch.“

 

„Du arbeitest für die Turanos? Und wieso hast du das nie erwähnt? Ist doch cool für die reichste Familie der Stadt zu arbeiten. Du hättest mich dann auch ruhig mal mit ins Anwesen nehmen können“, wirft ihr Max mit verschränkten Armen vor.

 

„Das wär keine gute Idee.“ Die Frau schüttelt den Kopf. „Die Turanos haben viele Geheimnisse. Sie sind die mächtigste Familie, die es vermutlich auf der Welt gibt. Da ist es für dich sicherer, nicht so viel über sie zu wissen oder mit ihnen zu tun zu haben.“

 

„Heißt das, die Turanos sind wirklich gefährlich?“ Max schluckt bei dem Gedanken und fügt nach dem bestätigenden Nicken seiner Mutter hinzu: „Auch Eren?“

 

„Ja.“

 

„Aber mir kommt er gar nicht so gefährlich böse vor“, gesteht Max und mustert Eren noch einmal kritisch.

 

„Eren ist auch nicht böse“, bestätigt sie mit Bedauern in der Stimme. „Er ist nur bei den falschen Leuten aufgewachsen. Was leider auch bedeutet, unter gewissen Umständen, ist er der gefährlichste von allen.“

 

Mit gerunzelter Stirn sieht der Blonde zu seiner Mutter. „Was soll das heißen?“

 

Dr. Ryu ist sich nicht sicher, was sie ihrem Sohn alles erzählen soll. Sie will ihn in die ganze Turano-Geschichte eigentlich nicht mit hineinziehen. Doch dass Eren hier zwischen ihnen liegt, zeigt doch, dass Max schon mittendrin steckt. Ohne Hintergedanken wird der Turano ohne Begleitung sicher nicht hier sein. „Das soll heißen, Eren besitzt auch besondere Kräfte, allerdings um einiges kompliziertere, unberechenbarere als deine oder meine.“

 

Die Augen von Max weiten sich ungläubig. „Eren hat auch Superkräfte? Warum hat er das nicht erwähnt, als ich ihm von meinen erzählt hab? Das würde allerdings erklären, weshalb er so gar nicht überrascht war zu hören, dass ich die Elemente kontrollieren kann.“

 

„Ja, so was ist Alltag für ihn“, nickt sie und verzieht traurig das Gesicht. „Genauso wie der Grund, weshalb er tatsächlich in deine Klasse gekommen ist. Wie ich zumindest vermute.“

 

Max gefällt der Unterton in ihrer Stimme nicht. „Du meinst, es ist kein Zufall? Er hat gesagt, sein Vater hätte entschieden, ihn auf die Schule zu schicken.“

 

„Nein, das war sicher kein Zufall. Erst recht nicht, wenn Ajax dich kurz davor gesehen hat und Eren gleich am nächsten Schultag in deiner Klasse auftaucht.“ Jetzt versteht die Ärztin auch endlich, weshalb die Termine des Jungen so kurzfristig so umgekrempelt wurden. Das kam ihr schon verdächtig vor, allerdings hat sie nicht im Traum daran gedacht, dass ihr eigener Sohn der Grund dafür sein könnte. „Ich will dir keine Angst machen, aber, um ehrlich zu sein, ich glaube, Eren wurde auf dich angesetzt.“

 

„Auf mich angesetzt?“, wiederholt der Blonde zweifelnd. In seinen Ohren klingt das zu surreal. „So wie ein Attentäter?“

 

„Eher wie ein Kidnapper. In dem Fall“, berichtigt die Frau. Wohl wissend, dass es die Sache auch nicht besser macht.

 

„Ach, komm. Das glaubst du doch selbst nicht. Ein reicher 12-Jähriger mit furchteinflößenden Kräften soll als Kidnapper auf mich angesetzt sein? So langsam glaub ich, dass ihr beide euch mit mir einen Halloweenstreich erlaubt. Bestimmt ist Eren gar nicht wirklich bewusstlos. Sicher hatte er auch Schauspielunterricht.“ Überzeugt rüttelt er an den Schultern des Braunhaarigen. „Komm schon, Eren, es reicht. Du kannst mit dem Streich aufhören. Das war schon echt gut, für dein erstes Halloween, aber jetzt lass uns lieber den Süßkram vernichten, ja?“

 

Dr. Ryu nimmt Max` Hände in ihre. „Ich wünschte, es wäre ein Streich, aber leider ist es ernst.“

 

„Kein Streich?“ Während das Blut aus seinem Gesicht weicht, gerät sein Puls ins Straucheln. „A-Aber wieso ich? Ich hab doch nichts gemacht.“

 

Tröstend legt die Frau eine Hand an seine Wange. „Es ist nicht deine Schuld. Das ist eines der dunklen Geheimnisse der Turanos. Sie sammeln Leute um sich, die besondere Fähigkeiten besitzen. Vermutlich hat Ajax im Krankenhaus irgendwas geahnt und deshalb Eren darauf angesetzt, sich mit dir anzufreunden. Es tut mir leid.“ Auch für Eren. Immerhin ist Max der erste, der ihn einen Freund nennt und es ehrlich meint. „Deshalb müssen wir jetzt überlegen, wie wir damit umgehen.“

Gehirnwäsche

„Heißt das, wir ziehen wirklich um?“, befürchtet Max im halben Flüsterton.

 

„Nein.“ Die Frau schüttelt leicht den Kopf. „Das heißt, wenn wirklich nur Eren von deinen Kräften weiß und sonst niemand, dann haben wir eine Chance hierzubleiben. Da fällt mir ein: Ajax hat ihn abgesetzt, richtig? Also weiß er auch wo wir wohnen?“

 

„Nein, also ja, Ajax hat Eren hergefahren, aber wir haben uns vorm FrostYum getroffen. Es weiß also nur Eren, wo ich wohne.“ Max ist geistig halb abwesend. Sein Verstand versucht das Puzzle irgendwie zu lösen, aber die Informationen wollen nicht ganz zusammenpassen.

 

„Okay, das ist gut. Es ist ein Risiko, aber fürs Erste tun wir so, als wäre der heutige Abend nicht passiert“, beschließt die Frau selbst nicht ganz von ihrer Entscheidung überzeugt. „Weißt du wie viel Zeit wir noch haben bis er abgeholt wird?“

 

„Keine Ahnung“, antwortet Max automatisch. In seinem Kopf wirbelt noch alles durcheinander.

 

„Dann haben wir keine Zeit zu vertrödeln. Ich werde Erens Erinnerungen so manipulieren, dass er nichts mehr von deinen Kräften weiß oder wo du wohnst. Oder dass er mich hier gesehen hat. Du musst nur darauf achten, dich ihm gegenüber auch so zu benehmen als wüsste er das alles nicht. Schon das kleinste falsche Wort würde ihm auffallen. So ist er aufgewachsen. Schaffst du das?“ Eindringlich sieht sie ihren Sohn an.

 

Max sieht alles andere als begeistert von der Idee aus. „D-Du willst ihm sein Gedächtnis löschen? Aber du hast doch gesagt, er ist nicht böse. Können wir ihn nicht einfach darum bitten, dass er niemandem von meinen Kräfte erzählen soll?“

 

„Das Risiko ist leider zur groß. Ich befürchte, Eren würde es dennoch seiner Familie verraten, wenn auch mit guten Absichten. Er wird glauben, er hilft dir, indem er deine Fähigkeiten verrät und sie dich in den Bunker bringen können“, vermutet sie.

 

„Bunker? Klingt nicht lustig“, bemerkt der Blonde und zieht im Zwiespalt die Augenbrauen zusammen während er ein weiteres Mal den Turano beäugt. Er kann nicht glauben, dass er wirklich so gefährlich sein soll. Aber warum sollte ihn seine Mutter anlügen? Sie hat ihn noch nie belogen. Manche Dinge verschwiegen, vielleicht, aber noch nie angelogen. Er seufzt schwer. „Na schön. Wenn du glaubst, es ist so am besten.“

 

„Glaub mir, Max, mir gefällt es genauso wenig, ihm seine Erinnerungen zu verändern, aber wir haben leider keine andere Wahl. Die Turanos dürfen nichts von deinen Kräften wissen. Oder von meinen. Irgendwann erklär ich dir alles, versprochen, aber jetzt ist es einfach zu gefährlich. Vertrau mir, ja?“ Mit einem flehenden Lächeln legt sie ihm eine Hand auf die Schulter.

 

Ganz schwach erwidert der Blonde das Lächeln und nickt kaum merklich. „Okay.“

 

Dankbar zieht sie die Hand zurück und dreht den Oberkörper so, dass sie mit dem linken Zeige- und Mittelfingern Erens Stirn berühren kann. „Keine Sorge, ich lösche nur so viel, wie nötig ist.“

 

Erens Augenlider zucken kurz als die Frau mit Hilfe ihrer Kräfte seine Erinnerungen anzapft. Sie spürt nicht den geringsten geistigen Widerstand, was der Ohnmacht und der Überrumpelung zu verdanken ist. Über seinem Kopf tauchen mehrere goldene Kugeln auf, die durch hauchdünne Fäden mit den Fingern auf seiner Stirn verbunden sind. Jede zeigt einen anderen Ausschnitt aus Erens Vergangenheit, manche liegen schon Monate oder gar Jahre zurück. Die meisten Bruchstücke ähneln sich: Aufnahmen verschiedener Trainingseinheiten oder auch die ein oder andere Mission. In einer Kugel kämpft Eren in der Trainingshalle gegen einen viel größeren, breiteren Mann. In einer anderen steht er mit vielleicht Neun zitternd, allein und auf die Boxershort ausgezogen mitten in einem Schneesturm irgendwo in einem Wald. Und wieder in einer anderen tötet er im Grundschulalter einen Menschen hinter einem Bowling Center.

 

„Mom, alles okay?“ Besorgt sieht der Junge ihr in die Augen. Er kann die Erinnerungskugeln nicht sehen und versteht deshalb nicht, weshalb seine Mutter plötzlich Tränen in den Augen hat.

 

„Alles gut, Schatz“, versichert sie möglichst überzeugend und blinzelt die Tränen weg.

 

Die Frau kann diese tragischen Erinnerungen nicht länger ansehen. Viele der Bruchstücke kannte sie selbst noch nicht, aber auch die, die ihr bekannt vorkommen, sind nicht leichter zu ertragen. Außerdem fühlt es sich falsch an, wie jemanden heimlich zu beobachten. Es sind private Erinnerungen, sie hat darin nichts verloren und sie haben auch nichts mit dem heutigen Halloween zu tun. Deshalb schränkt Dr. Ryu die Suche gedanklich ein. Die Bilder gehorchen aufs Wort, wechseln die Erinnerungen und zeigen nun verschiedene Momente des heutigen Tages.

 

Die erste Kugel, die ihre Aufmerksamkeit weckt, ist eine Szene bei ihr Zuhause. Eren steht unten vor der Eingangstür und sieht äußerst kritisch in den Spiegel. Dabei trägt er ein Piratenskelettkostüm, was die Frau zum Schmunzeln bringt. „Du hast Eren tatsächlich in ein Kostüm gekriegt?“

 

Zuerst verwirrt, dann stolz hebt Max das Kinn. „Jap. Es hat auch die ganze Woche gedauert. Ich hab einfach so lang damit genervt, bis er nachgegeben hat. Als er aus dem Auto ausstieg und wirklich kein Kostüm anhatte - an Halloween! - hab ich ihn einfach mit nach Hause geschleppt und in eines gesteckt.“

 

„Hätte nicht gedacht, dass ich ihn je in einem Kostüm sehe“, gluckst sie leise vor sich hin. „Okay, ich lösche den Teil zwischen FrostYum und unserer Haustür. Hast du davor schon einmal erwähnt, wo wir wohnen? Vor heute?“

 

Max legt nachdenklich die Stirn in Falten. „Ich glaub nicht. Nein.“

 

Mit der rechten Hand berührt sie die Kugel, die die beiden Jungs auf dem Weg zum Haus zeigt. Das Bild wird immer unschärfer, bekommt Lücken, flackert bis es komplett schwarz ist und sie es beiseite schiebt. Auch bei der Erinnerung, als die beiden kostümiert zur Süßes und Saurestour aufbrechen, löscht sie die ersten paar Abzweigungen.

 

„Deine Kräfte hast du erst später eingesetzt, richtig?“, erkundigt sie sich, ohne die Augen von den Bildern zu lösen.

 

„Genau“, bestätigt Max. „Wir waren schon auf dem Heimweg und wollten die Abkürzung am Friedhof vorbei nehmen, als ein paar Jugendlich unsere Beute stehlen wollten. Wir sind weggerannt und ich hab uns dummerweise in eine Sackgasse geführt.“

 

„Ah, hab sie gefunden“, teilst sie ihrem Sohn mit und legt die Hand auf die Erinnerung. „Ich lösche den Zaun und lasse euch beide ohne deinem Supersprung in Deckung gehen.“

 

Die Umrisse des Maschendrahtzauns lösen sich auf. Anstatt dass Eren von Max über den Zaun geflogen wird, wird er nun von ihm einfach hinter die Mülltonnen gezogen. Der Hintergrund des folgenden Heimwegs lässt sie komplett aus Erens Gedächtnis verschwinden. Auch das anschließende Gespräch bearbeitet sie so, dass in allen Teilen, in denen es um Max´ Fähigkeiten geht, nur Rauschen zu hören ist. Die Bilder allein, wie sie beide mit einem Berg Zucker dasitzen, ist schließlich nicht verräterisch. Wie sie nach Hause kommt allerdings schon, weshalb sie sich selbst auch komplett aus seinem Gedächtnis entfernt.

 

Und wo sie schon dabei ist, überfliegt sie auch noch kurz die Momente, in denen Max nicht dabei war. Zu ihrem Schreck hatte Eren tatsächlich ein Handy in der Hand und hat alles über Max´ Kräfte seiner Familie verraten. Bei diesen Bilder bleibt ihr Herz stehen, wie erstarrt beobachtet sie die Kugel, in der Eren nur noch auf Senden tippen muss, um ihr Geheimnis zu offenbaren und sie und Max zur Flucht zu zwingen. Aber das geschieht nicht. Eren löscht die Nachricht wieder. Das Geheimnis ist noch gehütet. Dr. Ryu fällt ein gerührter Stein vom Herzen als sie die angehaltene Luft ausstößt. Sie wusste ja schon immer, dass Eren nicht annähernd so dämonisch ist wie die anderen Turanos. Und dabei ist er der einzige, der wirklich einen Dämon in sich hat.

 

Erschöpft atmet sie tief ein und aus, nimmt ihre Finger von Erens Stirn und reibt sich kurz die Schläfen. Sie ist nicht so gut in Form mit ihren Kräften, dafür benutzt sie sie viel zu selten. „So. Das sollten alle Erinnerungen gewesen sein.“

 

„Er weiß jetzt wirklich nichts mehr von meinen Kräften oder wo wir wohnen?“, hakt Max skeptisch und beeindruckt zugleich nach.

 

„Nein. Solange du darauf achtest, was du sagst“, betont sie noch einmal und schielt auf die Uhr auf Max´ Nachttisch. „Nun gut, da wir dieses Problem jetzt gelöst haben, machen wir mit Nummer Zwei weiter.“

 

„Nummer Zwei?“ Der Blonde legt fragend den Kopf schief. Er hat aufgegeben zu versuchen das alles hier zu verstehen. Er akzeptiert es jetzt einfach und flippt später aus.

 

Seine Mutter nickt. „Ich kann Eren ja schlecht hier bei uns Zuhause aufwecken, dann hätten wir wieder das gleiche Problem. Ich fahr euch zur Eisdiele und wecke ihn dort.“

 

„Wird er sich dann nicht fragen, wie er dorthin gekommen ist?“, gibt der Grünäugige zu bedenken.

 

„Du kannst ihm ja erzählen, dass ihr nach der Süßes oder Saurestour wieder zur Eisdiele gegangen seid, weil Eren von dort abgeholt werden sollte. Und beim Warten ist er eingeschlafen“, spinnt sie sich eine mehr oder weniger plausible Erklärung zusammen. Sie weiß, dass unter normalen Umständen, Eren diese Geschichte nicht glauben würde, aber da er sicher noch immer unter den Nachwirkungen des AEUD-Serums leidet, wird er doch sicher glauben, dass es daran liegt. Darauf baut sie zumindest.

 

Zweifelnd zieht er die Augenbrauen zusammen. „Ich soll ihn anlügen? Aber das machen Freunde nicht.“ Er stockt und sieht traurig zu der Frau. „Richtig. Wir sind keine Freunde, stimmt ja. Schade, dass er sich nur mit mir angefreundet hat, um mich zu entführen.“

 

Mitfühlend sieht sie ihren Sohn an. „Tut mir leid, Schatz, ehrlich. Aber es ist sicherer für uns alle, wenn du dich von ihm fernhältst. Nur nicht zu auffällig, sonst merkt er gleich, dass was nicht stimmt.“

 

„Ja, ich verstehe“, sagt Max alles andere als glücklich.

 

~~~

 

Nachdem Dr. Ryu und Max Eren das Blut aus den Haaren gewaschen haben, das von einer Platzwunde nach der Bekanntschaft seines Kopfes mit der Ecke des Nachttisches stammt, haben sie ihn ins Auto gesetzt und sind zur Eisdiele FrostYum gefahren. Dort haben sie erst einmal eine Viertelstunde am Straßenrand geparkt und gewartet, um sicherzugehen, dass niemand der Turanos bereits auf sie lauert. Als gerade keine Leute auf der Straße vor dem mittlerweile geschlossenen Laden unterwegs waren, haben die beiden den Braunhaarigen auf einen Stuhl vor der Eisdiele geparkt, den Kopf auf die Tischplatte gebettet und es so aussehen lassen, als wäre er tatsächlich dort eingeschlafen.

 

Max lässt sich noch immer mit einem verkrampften Magen auf den Stuhl daneben nieder. „Hoffentlich geht das gut. Ich bin kein besonders guter Lügner.“

 

„Ich weiß. Streng dich einfach an, ja? Ich warte um die Ecke, falls es Probleme geben sollte. Keine Sorge, auch wenn er etwas merken sollte, was ich nicht glaube, lasse ich nicht zu, dass sie dich mitnehmen. Versprochen“, versichert sie zuversichtlich. „Bereit?“

 

Der Blonde atmet tief durch, setzt sich natürlicher hin und nickt. „Bin bereit. Aber ich will später noch mehr Infos haben, ja? Momentan herrscht in meinem Kopf ein einziger Salat.“

 

Amüsiert heben sich Dr. Ryus Mundwinkel. „Wie gesagt, je weniger du weißt, desto besser. Ich kann ja dein Gedächtnis auch manipulieren, wenn dir das lieber ist.“

 

„Nein, schon gut!“, wehrt Max sofort ab und hebt schützend die Hände über die Stirn. „Ich krieg das auch so hin.“

 

„Das glaub ich auch. Viel Glück.“ Die Frau drückt ihren Sohn mutmachend ehe sie ihre Hand auf Erens Kopf legt. „Erwache in fünf Minuten.“

 

„Du kannst Zeitfenster einstellen?“, bemerkt Max bewundernd.

 

„Ja, aber jetzt konzentriere dich lieber auf deine Geschichte. Viel Glück.“

 

Seine Mutter steigt ins Auto und biegt in die Seitenstraße ab. Sobald der Wagen außer Sicht ist, atmet Max erneut langsam ein, noch langsamer aus und versucht die nervöse Panik zu verstecken. Wenn Eren tatsächlich so gefährlich ist und sogar als Spion eingesetzt wird, was ihm immer noch äußerst schwer fällt zu glauben, dann darf er sich keinen noch so kleinen Fehler erlauben. Das zu wissen lässt das Beinzucken leider auch nicht verschwinden. Zumindest verbirgt das die Tischplatte, jetzt muss er sich nur noch überlegen, was er genau dem jungen Turano auftischen will. Bis jetzt ist ihm nichts brauchbares eingefallen. Er hat gehofft, spontan einen genialen Einfall zu haben. Bisher bleibt der aus. Und so wie es aussieht, ist seine Bedenkzeit um. Erens Augenlider zucken, seine Finger bewegen sich und er murmelt unverständliche Laute vor sich hin. Er wacht auf.

Ein neuer Lügner

Allmählich kommt Eren wieder zu sich. Er sieht zwar noch alles verschwommen und Watte verstopft auch noch seine Ohren, aber er kann dennoch erkennen, dass er irgendwo draußen an einer Straße sitzt. Was nicht ganz zu seinen letzten … Oh, doch. Jetzt wo er gezielt darüber nachdenkt, findet er tatsächlich Fetzen von ihm und Max auf dem Weg zur Eisdiele. Sein Gedächtnis muss wohl auch erst noch aufwachen.

 

Mit jeder verstreichenden Sekunde klärt sich sein Sichtfeld mehr und mehr und er hört jemanden in seiner Nähe ununterbrochen plappern. Er vermisst schon jetzt die dämpfende Watte.

 

„... aber das ist eine andere Geschichte“, erzählt Max gerade. „Jedenfalls haben wir irgendwie versucht den Bernhardiner dazuzubringen Schlittenhund zu spielen. Er war alles andere als begeistert. Und stur! Ich dachte immer, Esel wären stur, aber der hat sich keinen Schritt bewegt, solange wir den Schlitten an seinem Halsband … Hey, hörst du mir überhaupt noch zu?“

 

Empört pikst er Erens Oberarm bis dieser nachgibt und genervt den Kopf hebt. „Lass das.“

 

Schmollend sieht er zum gähnenden Eren. „Bist du echt eingeschlafen?“

 

„Eingeschlafen?“ Noch immer nicht ganz wach blinzelt er orientierungslos vor sich hin und fährt sich mit den Händen übers Gesicht. Das ist gar nicht gut. Wie konnte er nur mitten in einer so wichtigen Mission einschlafen? Und das in der Öffentlichkeit?! Wenn ihn jemand erkannt hätte, dann … Keine Ahnung was dann passiert wäre. Ajax und sein Vater hätten es sicher herausgefunden und dann war das hier seine letzte Mission auf die er ohne Bodyguard gehen durfte. Aber das erklärt nicht, weshalb er einschlafen sollte. Er hat schon viel länger ohne Schlaf durchgestanden. Ob das noch immer die Nachwirkungen des Tests von heute Nachmittag sind? „Wie lange war ich denn weg?“

 

„Vielleicht ein paar Minuten“, antwortet Max und rutscht auf seinem Stuhl herum. „Ich wusste nicht, dass dich eine Süßes oder Saures-Tour so erschöpfen würde. Hätte ich das vorher gewusst, hätte ich die kürzere Route genommen.“

 

„Nein, das ist es nicht. Ich musste heute Nachmittag was für meinen Bruder erledigen.“ Das ist der Beweis, dass sein Kopf nicht ganz auf seinen Schultern sitzt. Andernfalls würde er doch nie eine Erklärung erfinden, die so nah an der Realität dran ist.

 

„Ach ja?“ Neugierig geworden beugt sich der Blonde etwas vor, dabei klemmt er die Hände unter die Oberschenkel. „Und was?“

 

Eren lehnt sich im Stuhl zurück und verschränkt die Arme. „Nicht so wichtig. Sag du mir lieber, weshalb du so nervös bist.“

 

„Nervös?“ Ertappt wird er bleich im Gesicht, hält in seinem Herumgerutsche inne und vergisst kurz zu atmen. Als Eren ihn forschend mustert, lacht er gekünstelt und schief und richtet die Augen auf die nicht sichtbaren Sterne. „Ich bin doch nicht nervös.“

 

„Also deine hohe Stimme und das ganze Herumgezappele sagen etwas anderes“, meint Eren überzeugt. „Was ist lost? Hast du Angst im Dunkeln? Oder dass diese Süßigkeitendiebe wieder auftauchen?“

 

„Äh … Genau!“ Vielleicht ein bisschen zu laut stimmt der Blonde den Vorschlägen des jungen Turano zu. Vor Erleichterung bekommt er wieder Farbe im Gesicht, aber das schiefe Grinsen bleibt.

 

In Erens Kopf herrscht noch immer Nebel, weshalb er nicht die Kraft findet mehr in Max´ Verhalten zu interpretieren. „Ich würde dir ja anbieten, dass Ajax dich nach Hause fahren kann, aber so hilfsbereit ist er nicht. Er kann mich aber auch bei dir Zuhause abholen, wenn ...“

 

„Nein!“, platzt es aus Max heraus.

 

Überrascht hebt Eren eine Augenbraue und beäugt den Jungen irritiert.

 

„Äh … Ich meine, nein, danke“, verbessert er sich hektisch und meidet es in die blauen Augen zu sehen. Er beginnt wieder unruhig mit den Beinen zu schaukeln. „Ich hab meiner Mom schon geschrieben. Sie holt mich hier ab, wenn dich dein Bruder geholt hat. Übrigens, hast du ihm überhaupt schon Bescheid gegeben oder warten wir hier umsonst?“ Er versucht sich an einem Lachen, was er schnell in ein Räuspern verwandelt.

 

Eren brummt nur misstrauisch und kneift die Augen etwas zusammen, aber da sich die Straßenlaternen wieder zu drehen beginnen, als er versucht sich zu konzentrieren, lässt er es kurz darauf sein. Max ist ganz klar nervös, irgendwas beschäftigt ihn. Normalerweise würde Eren nachbohren bis er den Grund seiner Zielperson kennt, aber nicht jetzt. Er fühlt sich nicht in der Verfassung dazu. Außerdem hat der Blonde doch schon zugegeben, dass die Dunkelheit und das mögliche Auftauchen der alkoholisierten Diebe schuld sind.

 

Er atmet tief durch und angelt sein Handy aus der Jackentasche, um zu prüfen, ob sein Bruder schon auf dem Weg ist, denn sein Verstand kann die Frage nicht beantwortet. Tatsächlich findet er weder eine Nachricht noch einen Anruf, weshalb er Ajax schreibt, dass er an der Eisdiele abgeholt werden kann. Es dauert keine zehn Sekunden bis sein Bruder mit einem einfachen „Ok“ antwortet.

 

„Ajax ist unterwegs“, teilt der junge Turano dem anderen Jungen mit.

 

„Gut“, meint dieser nur dazu und sieht äußerst interessiert einem Motorroller hinterher.

 

Eren bedenkt ihn mit einem grübelnden Seitenblick. Er spürt ganz deutlich, dass die Stimmung zwischen ihnen irgendwie seltsam ist, so angespannt und distanziert. Hat er irgendwas gemacht, weshalb Max plötzlich so nervös ist und versucht ihm aus dem Weg zu gehen? Im übertragenen Sinne. In seinem Kopf findet er nichts, was ihm eine Antwort darauf geben könnte.

 

Deshalb und weil Ajax diese Atmosphäre sicher auch bemerken würde, fragt er jetzt doch nach: „Also? Was ist jetzt mit dir los? Dass es nur an der Dunkelheit oder den vier Trotteln liegt, glaub ich dir nicht.“

 

„Doch, wirklich. Ich ...“, beginnt der Blonde herumzudrucksen.

 

„Max, ich weiß, dass du lügst“, unterbricht ihn Eren prompt.

 

Jeder Muskel in Max´ Körper spannt sich an und er zwingt sich den Turano anzusehen, mit einem möglichst überzeugenden Lächeln, das trotzdem verrutscht aussieht. „Naja, um ehrlich zu sein, ich frag mich die ganze Zeit schon, wie du dein erstes Halloween findest. Es war ja nicht unbedingt das Beste, das weiß ich. Dieser Zusammenstoß mit den Jugendlichen hätte nicht sein müssen, wir hätten noch zur Halloween-Party in der Schule gehen können und du hast noch nicht einmal Süßigkeiten gegessen. Ich hatte es anders geplant, aber trotzdem können wir das nächstes Jahr gern wiederholen. Vielleicht kommen Timo und Paula dann auch mit. Was hältst du davon?“

 

Im Verlauf der Erklärung, die am Anfang noch sehr stotternd und ausweichend geklungen hat, nimmt seine Stimme nach und nach die typische Maxleichtigkeit an. Jetzt ist Eren derjenige, der zur Seite sieht und der Frage ausweichen will. Er weiß genau, nächstes Jahr wird er nicht mehr in der Schule sein oder noch Kontakt zu Max haben, also ist es völlig ausgeschlossen noch ein Halloween zu erleben. Allerdings, wenn er jetzt ablehnt, fängt der Blonde garantiert wieder an zu betteln, da ist es weniger anstrengend ihn einfach in dem Glauben zu lassen, es gäbe ein nächstes Halloween.

 

„Ja, von mir aus“, stimmt er deshalb ausweichend zu, schließt dabei die Augen und legt die Hände an den Hinterkopf. Schade, eigentlich würde er das Gruselfest schon gern wiederholen und auch mal kurz auf die Schulparty gehen. Nur so, um auch das mal gesehen zu haben. Nicht kostümiert, natürlich. Auf Timo kann er dabei allerdings gut verzichten. Stumm seufzt er und öffnet die Augen wieder, um einen perplexen Max zu sehen, der ihn mit offenem Mund anstarrt.

 

„Hab ich grade richtig gehört? Du kommst nächstes Jahr wieder mit? Ohne zuerst zu diskutieren?“ Ungläubig blinzelt der Junge ihn an.

 

„Klar, wieso nicht“, wiederholt Eren die Antwort.

 

„Mit Kostüm?“, ergänzt Max hoffnungsvoll.

 

„Wenn´s sein muss.“

 

Sprachlos stiert ihn der Blonde an. „Wer bist du und was hast du mit Eren gemacht?“

 

So viel also zu: So gibt’s keine Diskussion.

 

~~~

 

Eren musste noch ganze zehn Minuten lang Max versichern, dass er nächstes Halloween an der Süßes oder Saures-Tour und anschließenden Schulparty im Kostüm dabei ist. So ganz glaubt es der Blonde immer noch nicht als ein grauer Mustang vor der Eisdiele parkt.

 

„Das ist Ajax“, teilt Eren überflüssigerweise mit als er vom Stuhl aufsteht. „Lass dich nicht kidnappen bis deine Mom kommt, ja?“

 

„Was?“ Geschockt erstarrt Max mitten unterm Aufstehen, wird ein weiteres Mal bleich und starrt den Braunhaarigen an.

 

„Das sollte ein Witz sein“, erklärt Eren und rügt sich innerlich selbst. Es wird wirklich höchste Zeit zurück zum Turanoniveau zu kehren. Witze und gewöhnlicher Alltag sind irgendwie nicht seine Stärke, hat er festgestellt. Da trifft es sich gut, dass er morgen eine Mission mit Ajax hat und sich wieder auf seine Normalität konzentrieren kann.

 

„Ach so“, sagt Max und versucht sich an einem Glucksen, was keines wird. „An deinen Scherzen müssen wir noch arbeiten.“

 

Das lässt Eren lieber unkommentiert. „Also dann, wir sehen uns Montag, ja? Viel Erfolg noch mit deinem Zuckerkoma.“

 

„Danke, ich geb mir Mühe“, versichert Max überzeugt. „Bis Montag.“

 

Kaum ist Eren eingestiegen, fährt Ajax auch schon los und Max bleibt allein vorm geschlossenen Eiscafé zurück. Er wartet bis die Rücklichter hinter der nächsten Kreuzung verschwunden sind ehe er seiner Mutter schreibt, dass sie aus ihrem Versteck kommen kann. Kurz darauf hält sie an der Stelle, wo eben Ajax geparkt hat.

 

„Und? Wie ist es gelaufen? Hat er irgendwas geahnt?“, erkundigt sich die Frau sobald Max am Beifahrersitz Platz genommen hat.

 

„Ich glaube nicht“, antwortet Max abwesend. „Er hat wirklich keine Ahnung mehr von meinen Kräften.“

 

„Das ist gut.“ Erleichtert atmet seine Mutter auf.

 

„Er hat aber gemerkt, dass ich ziemlich neben der Spur war“, beichtet der Junge. „Ich hab behauptet, es wäre wegen der Dunkelheit und dass die Leute zurückkommen, die versucht haben unsere Beute zu stehlen. Und dann hab ich ihn nächstes Jahr wieder zu Halloween eingeladen. Ich hab zu spät nachgedacht, dass das sicher keine gute Idee ist. Hoffentlich vergisst er es wieder.“

 

„Da brauchst du dir keine Sorgen zu machen, Schatz“, versichert Dr. Ryu beruhigend. „Eren wird vermutlich nur noch ein, zwei Wochen auf die Schule gehen, dann wird seine Bespitzelmission sicher abgebrochen werden. Vorausgesetzt natürlich, du schaffst es deine Kräfte für dich zu behalten. Hältst du das noch so lange durch? Du könntest auch Zuhause bleiben und wir sagen, du wärst krank.“

 

Einen Moment denkt der Blonde tatsächlich über den Vorschlag nach, dann schüttelt er den Kopf. „Nein, schon gut. Ich schaff das. Außerdem wäre es doch auffälliger, wenn ich plötzlich nicht mehr zur Schule kommen würde, oder?“

 

„Da hast du sicher recht.“ Ermutigend lächelt sie den Jungen an, der es leicht erwidert. „Du schaffst das. Da bin ich mir sicher. Bisher konntest du deine Fähigkeiten doch auch ganz gut verbergen.“

 

„Ja, aber da wusste ich noch nicht, dass ich sie vor jemanden verstecken muss, der mich ausspioniert und kidnappen soll.“

 

„Denk nicht zu viel darüber nach, sonst macht du dich nur selbst verrückt“, rät die Ärztin. Sie legt den ersten Gang ein, setzt den Blinker und fährt los. „Jetzt lass uns nach Hause fahren. Soweit ich weiß, wartet dort ein ganzer Berg Süßigkeiten darauf konfisziert zu werden.“

 

Damit hat sie Max´ vollständige Aufmerksamkeit, der sofort empört widerspricht: „Was?! Du kannst meine hart erkämpfte Beute nicht konfiszieren! Das ist Diebstahl!“

 

„Ach ja?“ Verschmitzt schmunzelt sie den Jungen von der Seite an. „Wie wär´s mit einem Kompromiss? Halbe, halbe und wir sehen uns einen Film meiner Wahl an.“

Missionsbesprechung

In der Sekunde, in der Eren die Autotür hinter sich zuschlägt, biegt Ajax auf die Straße und fährt Richtung Turano-Anwesen.

 

„Und? Was hast du herausgefunden?“, möchte der junge Mann ohne Begrüßung wissen. „Wieso hast du keine Zwischenberichte geschickt?“

 

„Weil Max ständig bei mir war“, erklärt Eren während er sich anschnallt. „Ich wollte nicht riskieren, dass er was merkt.“

 

„Das heißt, du hattest in den letzten vier Stunden keine fünf Minuten Zeit, um ein kurzes Update zu schicken?“ Die Tonlage von Ajax gefällt Eren nicht. Sie klingt so nach Strafe.

 

„Nein. Max ist mir ständig auf der Pelle gesessen“, verteidigt sich Eren und ergänzt, bevor Ajax etwas sagen kann: „Das hatte aber auch was gutes, so konnte ich ihn die ganze Zeit beobachten und herausfinden, dass er nicht die geringste Spur von irgendwelchen Kräften hat. Weder äußerlich noch irgendwie anders. Vom Charakter her scheint er mir auch nicht der Typ zu sein, der Fähigkeiten besitzt. Ich hab auch sein Zimmer durchsucht und fotografiert, konnte aber auch da keine Hinweise finden. “

 

„Soll das heißen, du glaubst, er ist ein gewöhnlicher Mensch?“, hakt Ajax nach, ohne von der Straße zu sehen.

 

Der junge Turano zögert. Wenn er jetzt die falsche Antwort gibt, wird er riesen Ärger bekommen. Er sieht auf seine Hände, die in seinem Schoß liegen und den Saum der Jacke kneten. Gedanklich geht er noch einmal jede Begegnung, jedes Wort mit der Zielperson durch, sucht jeden noch so kleinen verdächtigen Anhaltspunkt und wägt ab, ob sich hinter dem naiven, fröhlichen Dauergrinsen ein Junge mit besonderen Kräften verbergen könnte.

 

„Eren“, mahnt Ajax streng. „Ich hab dich was gefragt.“

 

„Ja. Ich meine, nein! Ich...“ Eren räuspert sich kurz, um sich wieder zusammenzureißen und hebt selbstsicher den Kopf. „Ich hab Max die ganze Woche genauestens unter die Lupe genommen und bin zu dem Entschluss gekommen: Er ist ein gewöhnlicher Junge. Wenn er irgendwelche Kräfte hätte, hätte ich sie sicher schon längst entdeckt. Außerdem hat er sich gewünscht Superkräfte zu besitzen, als wir an einem Kinoplakat vorbeigegangen sind. Das würde doch niemand sagen, der schon Kräfte hat.“

 

„Du bist dir also ganz sicher, dass Max keiner von uns ist?“ Forschend wirft er seinem kleinen Bruder einen Seitenblick zu. „Du musst dir absolut sicher sein, wenn du die Mission als beendet erklären willst. Sollte sich herausstellen, dass dieser Junge doch wie wir ist, ist es für ihn gefährlich weiter unter normalen Menschen zu leben. Das weißt du. Also?“

 

Ja, das weiß Eren. Ajax hat es schon ein paar Mal erwähnt. Böse Gruppierungen könnten ihn entführen und für ihre teuflischen Pläne benutzen und Blablabla.

 

„Ich bin mir sicher. Max ist ein normaler Junge“, verkündet Eren entschieden. Aber warum meldet sich bei dieser Aussage eine kleine, zweifelnde Stimme in seinem Hinterkopf?

 

„Gut. Dann kannst du Vater ja davon berichten, sobald wir Zuhause sind“, entscheidet der junge Mann.

 

„Heißt das, die Mission ist abgeschlossen?“, interpretiert der Junge vorsichtig.

 

„Das wird Vater entscheiden.“

 

~~~

 

„Herein“, ertönt die Erlaubnis aus dem Inneren von Herrn Turanos Büro als Antwort auf Ajax´ Klopfen.

 

Der ältere Bruder öffnet die Tür und sie treten ein. Wie beim letzten Mal sitzt Benedikt auf dem Sofa der Sitzecke und hat ein paar Papiere vor sich ausgebreitet. Eine kleine Stehlampe in der Ecke spendet gerade genug Licht, um zu lesen. Als die beiden eintreten, hebt der Mann den Kopf. Er sieht müde aus, dunkle Ringe sitzen unter seinen Augen und ein paar Strähnen haben sich aus seinem strengen Zopf gelöst, die ihm jetzt ins Gesicht fallen, was ihn nicht zu stören scheint. Eren fragt sich, wann sein Vater wohl das letzte Mal geschlafen hat. Er sieht ihn immer nur arbeiten.

 

„Hallo, ihr zwei. Was führt euch denn so spät noch zu mir?“, erkundigt er sich neugierig und nimmt die Lesebrille ab.

 

„Entschuldige bitte die späte Störung, Vater, aber Eren kommt gerade von seiner Mission zurück“, erklärt Ajax und setzt sich auf den Sessel neben dem Sofa.

 

Interessiert sieht der Mann zu Eren, der sich auf dem Sessel ihm gegenüber niederlässt. „Ah, stimmt. Du warst heute mit diesem Jungen - Max, oder? - auf einer Halloweentour. Heißt das, weil du es mir persönlich berichtest, hast du was herausgefunden?“

 

Unter den direkten Blicken seiner Familie fühlt er sich immer wie in einem Verhör, was das aufrecht sitzen bleiben erschwert. Der Junge erzählt die Ereignisse des Abends in chronologischer Reihenfolge, angefangen beim Eiscafé FrostYum als er aus Ajax´ Wagen gestiegen ist. Er berichtet von der Süßes oder Saures-Tour, den vier Friedhofdieben, der anschließenden Verfolgungsjagd und den Gesprächsfetzen, an die er sich noch erinnert. Außerdem zeigt er seiner Familie auch die Fotos von Max´ Zimmer. Dass er die meiste Zeit dabei als Piratenskelett herumgelaufen oder vor dem Café eingeschlafen ist - was ihm immer noch ein Rätsel ist - behält er für sich.

 

„Es gibt also keinerlei Anzeichen dafür, dass Max irgendwelche Kräfte hat. Er ist ein normaler Junge“, schließt Eren seinen Bericht ab.

 

Schweigend hat der Mann die Augen gesenkt, dabei das Kinn auf die gefalteten Hände gelegt und die Ellbogen ruhen auf den Knien. Die Sekunden ziehen sich für Eren unendlich in die Länge. Sekunden in denen er vor Anspannung mit dem Fuß zu wippen beginnt. Es ist unmöglich zu erraten, was sein Vater denkt und genau das macht den Jungen so nervös. Er will die Mission erfolgreich abschließen und dafür fehlt das Urteil des Mannes, das hoffentlich zu seiner Zufriedenheit ausfällt. Wenn nicht …

 

„Eren, hör auf so herumzuzappeln“, unterbricht Ajax die Gedankengänge seines Bruders.

 

Augenblicklich stoppt Eren das Fußwippen und legt ordentlich die Hände in den Schoß. „Entschuldige, Ajax.“

 

„Nun gut“, sagt Benedikt schließlich, richtet sich auf und sieht seinen jüngeren Sohn an. „Anhand deiner Erkenntnisse scheint die Zielperson tatsächlich keiner von uns zu sein. Allerdings hat Ajax etwas an ihm bemerkt, dass auffällig ist.“ Er sieht kurz zu dem Blonden, der bestätigend nickt ehe er seine Augen wieder auf Eren richtet, dem diese kurze stumme Unterhaltung zwischen den beiden ein mulmiges Gefühl beschert. „Deshalb möchte ich, dass du ihn noch eine weitere Woche im Auge behältst. Entlocke ihm jedes Geheimnis, dass er versucht zu verstecken und berichte es wie gewohnt per Handy. Nächste Woche sehen wir dann weiter, ob eine längere Beschattung nötig ist. Verstanden?“

 

„Verstanden, Vater“, bestätigt Eren nickend.

 

Erleichterung macht sich in seinem Inneren breit. Er hat die Mission zwar doch noch nicht abgeschlossen, aber zumindest ist seine Familie mit den bisherigen Informationen soweit zufrieden, dass er deshalb nicht bestraft wird. Im Gegenteil, er darf sogar noch eine Woche in die Schule gehen! Zwar im Rahmen des Auftrags, aber das macht für den Jungen keinen Unterschied.

 

„Gut, da dieser Punkt nun geklärt ist: Über die morgige Mission hat dich Ajax schon informiert?“, fragt der Vater mit Blick auf den älteren Sohn nach.

 

„Ich hab ihm bisher nur gesagt, dass wir morgen eine Mission haben. Die Details hätte ich ihm während der Fahrt erklärt“, antwortet er.

 

„Okay, sehr gut. Dann überlass ich das dir“, beschließt der Mann zufrieden und wendet sich erneut an Eren. „Du kannst jetzt gehen, Eren. Morgen um dreizehn Uhr treffen wir uns im Missionsraum 1. Bis dahin arbeitest du bitte deinen Terminplan ab.“

 

„Ja, Vater.“ Also ist morgen wieder Training angesagt. Hoffentlich sind die Nebenwirkungen bis dahin verschwunden. „Wo fahren wir eigentlich hin? Und wie lange? Nur damit ich weiß, ob und was ich packen soll.“

 

„Nicht nötig. Das übernehmen die Angestellten. Sei einfach pünktlich im Missionsraum, geduscht und im Smoking“, weist ihn sein Vater an und entlässt ihn mit einem Nicken Richtung Tür. „Gute Nacht, Eren.“

 

„Gute Nacht, Vater, Ajax.“ Mit diesen Worten erhebt sich der Junge und geht Richtung Tür.

 

Auf halber Strecke wird er doch noch von seinem Bruder aufgehalten. „Eren, bevor du gehst, schalt bitte dein Smartphone aus und gib es mir. Du brauchst es für die Mission nicht.“

 

„Und wenn Max versucht mich am Wochenende zu erreichen?“, gibt Eren zu bedenken, der sein Handy nicht jetzt schon wieder hergeben möchte. „Ist es dann nicht verdächtig, wenn ich nicht antworte?“

 

„Ein Smartphone lenkt dich nur bei der Mission morgen ab. Und du weißt ja: wer abgelenkt ist, ist ein leichtes Ziel“, zitiert der Ältere eine seiner Regeln. Mal wieder. „Du bekommst es am Montagmorgen zurück.“

 

„Okay, Ajax.“ Widerwillig zieht er das Handy aus der Jackentasche, schaltet es aus und überreicht es seinem Bruder. „Gute Nacht.“

 

~~~

 

In dieser Nacht hat Eren schlecht geschlafen. Es lag nicht daran, dass er nicht einschlafen konnte, dafür war er müde genug, vielmehr wurde er ständig von seltsamen Träumen geplagt. Teilweise hat er den grauen Raum betreten, allerdings haben die anderen Versionen von ihm kein Wort gesagt. In den Spiegeln war auch nur Rauch zu sehen. Gestört hat das den Jungen nicht, so musste er zumindest nicht diskutieren, aber es bereitete ihm ein äußerst ungutes Gefühl im Magen. Auch wenn die Stimmen im wachen Zustand stumm sind, hier im Spiegelraum waren sie immer äußerst redselig.

 

In anderen Traumfetzen spielte Max und manchmal auch Dr. Ryu eine zentrale Rolle. Verschwommene Bilder in denen Max mit den verschiedenen Elementen Kunststücke aufführt und ihn anfleht, niemandem sein Geheimnis zu verraten, weil er kein Versuchskaninchen am Grund des Ozeans werden will. Die Ärztin steht meist daneben, starrt ihn manchmal einfach nur traurig an oder sagt Dinge, die den Jungen nur verwirren. Dinge über seine Familie, schlimme Dinge, die einfach nicht wahr sein können.

 

Als er am nächsten Morgen von seinem Wecker aus dem Schlaf gerissen wird, kann er sich schon nicht mehr an die Traumfetzen erinnern. Alles was bleibt, ist das Gefühl einer alles anderen als erholsamen Nacht. Zumindest die Nebenwirkungen der Verwandlungstests gestern scheinen verschwunden zu sein.

 

Sobald Eren im Trainingsoutfit sein Zimmer verlässt, stehen schon zwei Butler bereit, die nur darauf gewartet haben, sein Zimmer aufräumen zu dürfen. Als wäre Eren nicht selbst dazu in der Lage sein Bett zu machen, ein bisschen Staubzusaugen oder die gewaschenen Klamotten wieder einzusortieren. Aber wenn er es tatsächlich einmal selbst macht, wird er sofort von Ajax und seinem Vater belehrt, dass er über den niederen Arbeiten der Angestellten steht und es für diese eine Ehre sei, jemandem wie ihm hinterherräumen zu dürfen. Lächerlich.

 

Die lange Tafel im Speisesaal ist groß genug, sodass vermutlich Erens gesamte Schulklasse daran Platz hätte. Allerdings steht nur ein einziges Tablett mit rechteckiger Glosche darauf.

 

„Guten Morgen, junger Herr Turano“, grüßt ihn eine ältere Dame mit Kochschürze freundlich. Sie hebt die Glosche an, als sich Eren setzt und präsentiert so sein Frühstück: Käse-Spinat-Omelett mit Vollkornbrot und Joghurt mit Früchten. Das selbe Frühstück wie seit Monaten. „Ich hoffe alles ist zu Ihrer Zufriedenheit? Sollte Ihnen was fehlen, läuten Sie einfach und ich eile herbei.“

 

„Ja, danke, Anita.“

 

Auch das ist etwas, das Eren aufgegeben hat immer und immer wieder zu erwähnen. Dieses unterwürfige Verhalten ihm gegenüber muss nicht sein. Die silberne Glocke hat er sowieso noch nie benutzt. Abgesehen davon, alles was er zum Frühstück essen darf, befindet sich bereits auf dem Tablett.

 

Mit einem Lächeln und einer leichten Verbeugung zieht sich Anita in die angrenzende Küche zurück und Eren beginnt zu frühstücken. Als er gerade dabei ist sein Omelett zu essen, wagt sich ein noch relativ junger Butler an die Tafel. Er ist vielleicht höchstens Zwanzig, hat den Kopf zwischen die Schultern gezogen und die Augen auf seine behandschuhten Hände gerichtet, die ein Tablet umklammern. Eren ist gut in Gesichter merken, aber ihn hat er hier noch nie gesehen.

 

„G-Guten M-Morgen, junger H-Herr“, stottert er nervös und hält Eren mit zitternden Fingern das Tablet entgegen. „I-Ich soll Ihnen Ihren T-Terminplan übergeben.“

 

„Danke dir.“ Eren bemüht sich darum ein möglichst freundliches Gesicht zu machen als er das Tablet entgegennimmt. „Bist du neu hier?“

 

Überrascht sieht der junge Mann für zwei Sekunden Eren direkt an, dann dreht er hastig den Kopf weg und zupft an den Fingern seiner Handschuhe herum. „J-Ja. N-Nein.“

 

Irritiert sieht Eren von seinem Terminplan auf. „Was jetzt: ja oder nein?“

 

Es ist deutlich zu sehen, dass sich der Butler irgendwo anders hinwünscht. „Ich bin schon seit zwei Jahren ein Butlerazubi, aber heute ist mein erster Tag im Anwesen.“

 

Oh je, der ist echt richtig nervös. Er hat sich auf alle Fälle keinen leichten Job ausgesucht. „Na dann, willkommen im Anwesen. Und danke für den Plan.“

 

Sichtlich erleichtert nickt er und macht kehrt, um sich zu verkrümeln als jemand mit schnellen Schritten auf den Tisch zusteuert. Es ist einer der älteren Butler hier, der beim Anblick des Azubis in Erens Nähe rot im Gesicht wird und sein Tempo erhöht. Unsanft zieht er den Azubi ein paar Schritte vom Tisch weg.

 

„Nils, was denkst du dir dabei?!“, zischt er ihn gedämpft an.

 

„A-Aber Sie haben doch gesagt, ich soll ihm den Terminplan übergeben“, verteidigt er sich eingeschüchtert.

 

„Du solltest das Tablet auf den Tisch neben der Tür ablegen und nicht den jungen Herrn belästigen! Du bist noch lange nicht befugt, direkten Kontakt zu der Turano-Familie zu haben!“, schimpft der ältere Butler im Flüsterton.

 

Eren hört dennoch jedes Wort und ist irgendwie nicht im geringsten überrascht, dass es so streng untersagt ist ihm ein Tablet zu geben. Schon wieder eine unnötig strenge Regel, die der Junge nicht nachvollziehen kann. Er weiß ganz genau, es ist unter seiner Würde sich um die Bediensteten zu kümmern, aber er kann nicht anders als ein schlechtes Gewissen wegen dieser Lappalie zu bekommen. Deshalb beschließt er sich einzumischen und zu hoffen, dass seine Familie keinen Wind davon bekommt.

 

„Bitte, ist schon gut. Ich hab nichts dagegen, das weißt du doch“, versucht der Junge die Situation zu entschärfen.

 

Der Mann dreht sich zu Eren herum, legt eine Hand aufs Herz und deutet eine Verbeugung an. „Das ist wirklich sehr freundlich von Ihnen, junger Herr, aber Sie wissen doch, es überschreitet unsere Befugnisse. Vor allem einem Butlerazubi an seinem ersten Tag im Anwesen Turano ist es nicht gestattet direkten Kontakt zu einem Turano aufzunehmen. Bitte verzeihen Sie ihm diesen Fauxpas. Seien Sie sich gewiss, ich werde sicherstellen, dass das nicht wieder vorkommt.“

 

Bevor Eren noch was sagen kann, es würde sowieso niemand auf seine Worte hören, verschwinden die beiden Butler aus dem Speisesaal. Dem Jungen bleibt nur zu hoffen, dass dieser Nils nicht zu hart bestraft wird, weil er ihm das Tablet direkt ausgehändigt hat. Schwer seufzend wendet er sich wieder seinem Frühstück zu. Irgendwann wird er diese strengen, dämlichen Regeln lockern. Spätestens, wenn er die Leitung des Bunkers übernimmt. Das nimmt er sich fest vor.

Familienausflug

Erens Terminplan ist wie immer sehr vollgepackt. Angefangen bei drei Stunden Kraft- und Ausdauertraining mit den Geräten in der Sporthalle. Anschließend ein Übungskampf ohne Kräfte und Waffen mit verbundenen Augen gegen Quentin, einem der Gruppenleiter der Elitewachen auf dem Anwesengrundstück, mitsamt seiner ganzen Gruppe. Die Mitglieder zu besiegen war relativ simpel für den Zwölfjährigen, bei Quentin musste er sich sogar anstrengen. Der Mann hat zwar selbst keine Kräfte, ist jedoch ein Veteran und Kampfprofi mit jahrzehntelanger Erfahrung. Er ist stark und schnell. Für jemanden mit grauen Haaren. Schlussendlich hat Eren gewonnen, dabei aber auch ein paar Schnitte, Kugeln und gebrochene Knochen eingesteckt. Die „keine Waffen und Kräfte“-Regel galt nur für ihn.

 

Da Ajax ab der Hälfte ungefähr dazugestoßen ist und mal wieder nicht zufrieden mit der Leistung seines kleinen Bruders war, hat er ihm versprochen selbst mal wieder sein Können zu prüfen. Aber erst morgen, wenn sie von der heutigen Mission zurück sind. Und diesmal hat ihm Ajax schon im voraus versprochen, nutzt er seine Fähigkeiten. Was es nicht unbedingt einfacher für den Jungen macht.

 

Nach dem Kampf mit Quentins Einheit ist nur noch Zeit für einen weiteren Termin: ein paar Kräftemessungen mit Dr. Ryu, wobei gleichzeitig seine Male geschrumpft werden sollen. Dafür haben sich die Brüder mit der Ärztin in einem Nebenraum ihres Untersuchungszimmers getroffen. Die Wände, die Decke und auch der Boden bestehen dort aus speziellem Material, damit das Gebäude nicht ausversehen aufgrund des Trainings des jungen Turanos einstürzt, sollte er es übertreiben. Was sehr leicht vorkommt.

 

Im Grunde ist dieser Termin nichts besonderes. Solche Checks stehen öfter auf dem Plan, dennoch kommt Eren die Ärztin heute seltsam nervös vor. Sogar bei der Begrüßung zuckt sie zusammen, was nicht nur daran liegen kann, dass sie mit dem Rücken zur Tür gestanden hat und nicht mitbekam als die beiden eintraten. Ihr Herzschlag und ihre Atmung sind beide schneller und sie wirkt blass. Ihre Stimme hat sie allerdings gut unter Kontrolle. Trotzdem lässt Eren das Gefühl nicht los, dass irgendetwas die Frau beschäftigt. Nur was? Wäre Ajax nicht anwesend, hätte er sie gefragt, aber so verkneift er es sich und tut nur das, weswegen er hier ist. Er will ja nicht, dass Dr. Ryu noch wegen irgendetwas Ärger bekommt.

 

Eren wird allein im Nebenraum eingesperrt, der durch ein Fenster mit Dr. Ryus Untersuchungszimmer verbunden ist. Über Lautsprecher und Mikrofon können sie sich unterhalten. Für den ersten Test klappt ein verstecktes Fach in der Wand auf und fährt einen Sensor aus, der für Temperaturmessungen vorgesehen ist. Der Junge geht an den Sensor heran, hält die Hände links und rechts davon und ruft nach der Engelflamme. Keine Sekunde später färbt sich seine Iris grün und zwischen seinen Handflächen lodert ein lautloses weißes Feuer.

 

„Das ist echt faszinierend“, teilt Dr. Ryu ihre Gedanken per Lautsprecher. „Auch heute hat das weiße Feuer keinerlei Temperatur. Es ist, als wäre es gar nicht da. Haben Sie denn damit schon mal was angezündet, Eren?“

 

„Nein. Nichts will mit dem weißen Feuer brennen.“ Eren löscht seine Hände und zuckt unwissend mit den Schultern. „Keine Ahnung wozu das dann gut sein soll.“

 

„Hm. Vielleicht hat es irgendeine versteckte Fähigkeit, die wir noch nicht gefunden haben“, überlegt die Frau weiter.

 

„Dann finden Sie sie“, weißt Ajax die Ärztin ungeduldig an. „Für nutzlose Kräfte haben wir keine Verwendung. Weiter geht’s, Eren.“

 

„Ja.“ Erneut legt Eren die Hände neben das Thermometer. Diesmal werden die Augen lilafarben und ein schwarz-blaues Feuer brennt zwischen seinen Handflächen. Je länger er sich konzentriert, umso stärker werden die Flammen. Anders als beim Engelfeuer, gibt es diesmal eine deutliche Reaktion. Der Sensor zur Temperaturmessung schmilzt innerhalb weniger Sekunden. „Ups.“

 

Für einen Moment ist es still im Lautsprecher, dann räuspert sich Dr. Ryu. „Ich glaub, wir brauchen einen widerstandsfähigeren Messfühler. Wirklich erstaunlich. Bei der letzten Messung waren es knapp 1500°C und dieser Sensor war auf etwa 2000°C ausgelegt.“

 

„Wenigstens ein Feuer ist brauchbar“, kommentiert Ajax mit steinerner Mine. „Nun gut. Fahren wir fort. Wir haben nicht mehr allzu viel Zeit bevor wir aufbrechen müssen.“

 

~~~

 

Auch für die Dauer der restlichen Tests und Übungen wird Eren das Gefühl nicht los, dass die Ärztin heute anders ist. Er kann sich nur nicht erklären wieso oder was diese Seitenblicke in seine Richtung bedeuten sollen. Ajax scheint dies nicht zu bemerken oder es ist ihm schlichtweg egal. Beides wäre denkbar, was Eren die Frage stellen lässt, ob er nicht zu viel hineininterpretiert. Er ist über die Jahre echt ein wenig argwöhnisch und paranoid geworden und interpretiert viel zu schnell in harmlose Dinge irgendwelche mordenden Hintergedanken. Tja, als Attentäter, Entführer, Monsterjäger und was er sonst noch so tut ist ein gewisses Maß an Misstrauen anderen gegenüber doch normal, oder?

 

Zurück im Turano-Anwesen ermahnt ihn Ajax noch einmal, pünktlich zu sein, ehe sich die Brüder trennen, um je in ihr eigenes Zimmer zu gehen und sich vorzubereiten. Als er den Gang entlang geht, bemerkt er, dass die Tür zu seinem Zimmer offen steht. Eren ist tagsüber selten in seinem Zimmer, weshalb die Angestellten auch die Zeit nutzen, um alles aufzuräumen. Wobei sich der Junge fragt, was sie eigentlich aufräumen wollen. Wenn er eh kaum Zeit hier verbringt, wie soll es dann unordentlich werden?

 

Eine Frau ist dabei das Bett neu zu beziehen während der junge Butlerazubi von heute Morgen den Boden saugt. Der Butler, der den Azubi heute unnötigerweise zusammengestaucht hat, kommt gerade mit einer Reisetasche in der einen und einem feinen Anzug in der anderen Hand aus dem Ankleideraum. Den Anzug hängt er an die Kleiderstange neben dem Badezimmer, die Tasche nimmt er mit zur Tür und stockt auf halbem Weg als Eren den Raum betritt. Er wirft der Frau einen Blick mit Kopfnicken Richtung Azubi zu, die daraufhin den jungen Mann anstupst und zu verstehen gibt, er solle den Staubsauger ausschalten.

 

Der Mann selbst stellt sich inzwischen gerade hin, legt eine Hand auf die Brust und deutet eine Verbeugung an. „Hallo, junger Herr Turano. Willkommen Daheim.“

 

„Hey“, grüßt Eren zurück. „Lasst euch von mir nicht stören. Ich geh nur kurz duschen und bin dann wieder weg.“

 

„Natürlich werden wir inzwischen Ihr Zimmer verlassen, junger Herr“, versichert der Butler ohne Eren anzusehen. „Lasst mich nur erwähnen: Wie von Ihrem Vater gewünscht, hab ich Ihnen den Anzug reinigen und bügeln lassen. Er hängt neben dem Badezimmer für Sie bereit. Außerdem war ich so frei und hab bereits Ihre Tasche für die Reise gepackt. Bitte seht sie kurz durch und gebt mir Bescheid, ob ich etwas vergessen habe.“

 

„Ja, ja, mach ich. Stell sie einfach irgendwo hin“, weist der junge Turano ihn mit einer Handgeste an während er zum Ankleidezimmer geht, um die restlichen Klamotten zu holen. Ihm wird zwar meistens herausgesucht, was er zu tragen hat, aber Dinge wie Unterwäsche oder Socken vergessen sie komischerweise immer.

 

„Wie Ihr wünscht, junger Herr.“ Der Butler stellt die Reisetasche am halb bezogenen Bett ab und verlässt als letzter der Drei den Raum. Die Tür schließt er hinter sich.

 

~~~

 

Gestriegelt und gebügelt betritt Eren ein paar Minuten vor Eins den Missionsraum 1. Da die Angestellten im Anwesen niemals den Bunker betreten – sein Vater will die Arbeitsplätze strikt getrennt halten – trägt Eren die Tasche selbst. Ausnahmsweise. Außerdem ist die sporttaschengroße Reisetasche ziemlich leicht, sodass sich Eren kurzweilen fragt, ob überhaupt was darin ist. Natürlich hat er den Inhalt nicht überprüft, wie es der Butler gewünscht hat. Es ist nicht die erste Tasche, die er für ihn packen musste und bisher hatte er immer alles dabei. Im Missionsraum sind bereits Dr. Ryu und sein Vater anwesend, die in ein Gespräch vertieft sind. Zumindest solange bis die Tür hinter Eren ins Schloss fällt.

 

„Ah, hallo, Eren. Hast du alles für unsere Reise gepackt?“, erkundigt sich der Mann freundlich.

 

„Hallo.“ Der Junge stellt die Tasche am Tisch ab und dreht sich dann zu den beiden um. „Kann ich nicht genau sagen. Ich weiß ja nicht, wo wir eigentlich hinfahren oder was ich da genau tun soll.“

 

Mit einem leichten Lächeln auf den Lippen legt der Mann Eren eine Hand auf die Schulter. „Wir erklären dir alles auf den Weg ins Hotel. Und mach dir wegen deinem Gepäck keine Gedanken. Wenn die Butler nicht völlig unterentwickelt sind und es geschafft haben Ajax´ Liste zu folgen, hast du alles dabei, was du brauchen wirst. Falls nicht, können wir es ja irgendwo nachkaufen.“

 

„Wobei wir das lieber vermeiden sollten“, mischt sich Ajax ein, der gerade durch die Tür kommt. Auch er trägt einen feinen Anzug mit glänzenden Schuhen und gegelten Haaren, die beinahe genauso glänzen. „Wir können nicht immer und überall einfach alles nachkaufen, was die nutzlosen Angestellten vergessen haben vorzubereiten. Das würde mit der Zeit viel zu viele Spuren hinterlassen. Ich frag mich sowieso, weshalb du so viele Angestellten behältst, die mehr als nur unqualifiziert sind.“

 

„Findest du?“, überlegt Turano und legt die Stirn in Falten. „Nun gut. Das wirst du besser beurteilen können als ich. Ich bin ja nicht so oft im Anwesen oder meistens nur im Büro. Okay, wenn wir zurück sind, können wir ja ein Personalgespräch führen, aber jetzt sollten wir erst mal los, sonst kommen wir noch zu spät.“ Benedikt wendet sich an die Ärztin. „Dr. Ryu, ist alles vorbereitet?“

 

Die Frau klappt die Schutzhülle des Tablets zu und schiebt ihre Brille höher. „Ja, Herr Turano. Alle Vorkehrungen auf dieser Seite des Portals und auf der anderen in Rabed sind abgeschlossen.“

 

„Sehr gut“, nickt er zufrieden. „Gehen wir.“

 

Dr. Ryu schaltet die Teleportmaschine ein, sie brummt, klickt und blubbert und erschafft das wirbelnde Portal im Zentrum. Der Vater durchschreitet es als erstes. Sobald dieser verschwunden ist, schnappt sich Eren seine Tasche und folgt ihm mit geschlossenen Augen. Dennoch fühlt er die Reisekrankheit deutlich in seinem Magen. Wie er diese Art der Fortbewegung hasst. Egal wie praktisch es ist, es ist die Übelkeit definitiv nicht wert.

Tatenloser Mitfahrer

Auf der anderen Seite des Portals öffnet Eren seine Augen nur einen Spalt und geht ein paar Schritte von der Maschine weg. Er blinzelt heftig und spannt seine Muskeln an, um der Übelkeit entgegenzuwirken und keine Schwäche zu zeigen. Möglichst aufrecht nähert er sich der schwarzen Limousine, die wenige Meter von der Teleportmaschine entfernt steht.

 

Sie sind in einem privaten Parkhaus gelandet, wo reiche Leute in abschließbaren Abteilen ihre Fahrzeuge unterstellen können, wenn sie nicht in der Stadt sind. Solche Möglichkeiten nutzen die Turanos auf der ganzen Welt, in jedem ist eine Teleportmaschine und mindestens ein Fahrzeug zu finden. Wenn man schon die Möglichkeit der Teleportation besitzt, wird sie natürlich auch für Reisen auf dem Planeten genutzt, nicht nur um zwischen den Welten hin und her zu springen.

 

Zu seinem Unmut warten bereits zwei weitere Personen bei seinem Vater. Niemand hat ihm gesagt, dass ausgerechnet die beiden dabei sind: Igor und Viktor in dunkelblauen Anzügen. Na super. Diese Mission ist gerade um ein Vielfaches anstrengender geworden. Doch da Ajax und sein Vater dabei sind, wird sich doch sogar der hitzköpfige Bienendödel zusammenreißen, oder? Der junge Turano kann es nur hoffen. Diesmal ist zwar seine Dämonenseite noch immer stumm, aber auf die Nerven geht er ihm dennoch.

 

Eren verfrachtet seine Tasche in den geöffneten Kofferraum, in dem schon weitere Gepäckstücke verstaut sind, und lehnt sich dann mit verschränkten Armen gegen die Limo. „Hallo, ihr Zwei. Ich wusste nicht, dass ihr auch dabei seid.“

 

Es ist sein Vater, der anstelle der beiden antwortet: „Igor und Viktor fungieren zur Tarnung als Chauffeure und Bodyguards.“

 

Als Bodyguards? Das bedeutet, es ist eine dieser wichtigen Kundenbesuche? Das würde zumindest erklären, weshalb er sich in den Smoking zwängen musste. Und dass er doch nicht mit den beiden eine gemeinsame Mission hat, beruhigt ihn zusätzlich.

 

„Eren, geh von dem Wagen weg. Du machst nur deinen Anzug schmutzig und einen zum Wechseln hab ich nicht angeordnet einzupacken.“ Mit diesen netten Worten taucht sein Bruder aus dem Portal auf.

 

„Entschuldige, Ajax.“ Eren stößt sich ab und klopft sich halbherzig auf den Rücken. Der schwarze Lack glänzt wie frisch gewaschen. Kein Staubkorn ist darauf. Wie er sich daran das Jackett versauen soll, versteht er nicht.

 

Der junge Mann wirft seine eigene Reisetasche in den Kofferraum und schließt ihn. „Sind wir abfahrbereit?“

 

„Ja. Auf geht’s“, entscheidet Turano.

 

Ganz seiner Tarnung entsprechend hält Igor die hintere Tür für die Turanofamilie auf. Als die Drei eingestiegen sind, schlägt der Materialbeschaffungsexperte die Tür zu und setzt sich selbst auf den Beifahrersitz. Dass das bedeutet, dass Viktor hinterm Steuer sitzt, lässt Erens Puls nervös in die Höhe klettern.

 

„Ihr kennt den Weg zum Treffpunkt?“, erkundigt sich Turano.

 

„Keine Sorge, Sir, wir haben die Adresse schon im Navi gespeichert“, versichert ihm Igor und hält besagtes Gerät hoch auf dessen Bildschirm eine Landkarte mit rot markierter Route zu sehen ist.

 

„Gut. Abfahrt.“ Damit drückt er auf einen Knopf neben dem Fenster, das Fahrerkabine mit der hinteren trennt, und die schwarze Scheibe fährt nach oben, um etwas Privatsphäre zwischen den beiden Bereichen vorzugaukeln.

 

Viktor startet den Motor, Igor öffnet mit einer Fernbedienung das Tor und schließt es wieder sobald die Limousine die Garage verlassen hat. Wie auch in der Limousine Zuhause sind hier die Sitzbänke gegenüber angeordnet. Herr Turano sitzt mit dem Rücken zur Fahrtrichtung, Ajax und Eren ihm gegenüber.

 

„Eren, es wird Zeit dich in die Mission einzuweihen“, teilt ihm sein Vater mit gesenkter Stimme mit.

 

Automatisch richtet sich der Junge gerader auf und sieht direkt zu ihm, die Ohren gespitzt, um kein Detail zu verpassen, das später vielleicht über den Erfolg des Auftrags entscheiden könnte.

 

„Unsere Flauranazentrale hat am Mittwoch im Wald von Rabed ein N-Portal geortet“, beginnt er.

 

„Ein Portal?“, wiederholt Eren automatisch.

 

N-Portal steht für natürliche Portale, die hin und wieder überall auf der Welt erscheinen können. Darum geht´s also. Das Portal zu schließen. So einen Auftrag hatte er in der Tat schon seit ein paar Monaten nicht mehr. Es ist auch eine Anfängermission. Naja, zumindest solange kein Monster hindurchkommt. Aber wenn es Mittwoch schon lokalisiert wurde, weshalb dann bis Samstag warten? Da können schon allerlei Wesen aus den beiden Welten hin und her gewandert sein. Außerdem könnte das Portal schon von selbst wieder verschwunden sein. Eren ahnt, dass mehr dahinter steckt.

 

„Genau. Das Portal selbst ist allerdings schon geschlossen. Leider haben unsere Überwachungen ergeben, dass wir diesmal nicht schnell genug vor Ort waren.“ Der Kiefer des Mannes spannt sich für einen Moment verärgert an. „Eine Gruppe Menschen, die wohl zu einer Mafia gehören, haben vor uns das Portal entdeckt. Sie haben mehrere Tiere, Relikte und Pflanzen aus Flaurana geholt und haben nun vor diese auf dem Schwarzmarkt zu hohen Preisen zu verkaufen.“

 

„Das würde eine Katastrophe auslösen“, ergänzt Ajax mit verschränkten Armen. „Pflanzen und Kreaturen aus Flaurana dürfen in unserer Welt nicht existieren. Erst recht nicht als Haustiere für Privatzoos irgendwelcher Mafiabosse. Außerdem könnten sie auf die Menschen losgelassen werden. Die Magie verträgt sich nicht mit unser Welt. Flaurana muss ein Geheimnis bleiben.“

 

Eren hatte also recht. Es steckt mehr dahinter. Er schnaubt stumm. Wie dumm können Menschen eigentlich sein? Sie finden ein seltsames Portal, beschließen ohne Vorbereitung oder Erforschung hindurchzugehen und alles was sie finden können in ihre Welt zu bringen. Wer weiß, ob die Flora und Fauna aus Flaurana überhaupt auf der Erde überleben kann? Diese Mafiatypen haben doch nur Profit im Sinn. Dafür würden sie auch riskieren, mit ihren Mitbringseln Menschenleben in Gefahr zu bringen.

 

„Die geheime Auktion dafür soll morgen Nacht stattfinden“, fährt der Mann nach einem Räuspern fort. „Deshalb werdet ihr beide heute Nacht in ihr Lagerhaus am Hafen von Rabed eindringen und alle Beweise vernichten. Wir können nicht riskieren, dass die Welt von Flaurana erfährt. Das würde nur unnötige Panik verursachen, wenn die Menschen in ständiger Angst vor den Monster aus den Portalen leben würden.“

 

„Glaubst du, du schaffst das, Eren?“, möchte Ajax mit einem seiner typischen nicht deutbaren Seitenblicke wissen.

 

Ohne zu zögern nickt der Junge. „Klar. Wie ihr sagt, wir können nicht riskieren, dass diese Auktion stattfindet oder jemand von Flaurana erfährt.“

 

Ein zufriedenes Schmunzeln hebt Turanos Mundwinkel an. „Ich wusste, ich kann mich auf meine Söhne verlassen.“

 

„Ich werde euch nicht enttäuschen“, verspricht Eren feierlich. Er hat auch nicht vor diese Untergrundbande zu schonen. Sie sind bestimmt Entführer, Mörder und schlimmeres. Ein düsterer, kalter Schatten legt sich über seine blauen Augen. „Niemand wird das Lagerhaus lebend verlassen.“

 

Während Eren anschließend den vorbeiziehenden Gebäuden und Wolkenkratzern nachsieht, wechseln Ajax und Benedikt vielsagende Blicke.

 

~~~

 

„Gut, hier wären wir“, sagt Turano als die Limousine vor dem Tor einer pompös wirkenden Villa am Stadtrand von Rabed hält.

 

Die Villa selbst ist lediglich durch das goldene Metalltor zu erkennen, das restliche Grundstück scheint von einer hohen Mauer umgeben zu sein. Sieht aber so aus, als wäre das Turano-Anwesen ein ganzes Stück größer. Neben dem Tor steht sogar ein Wärterhäuschen, dessen Wache aufmerksam jede Bewegung genauestens beobachtet. Bestimmt hat er auch irgendwo eine Waffe versteckt. Ob dieser Kunde allerdings ein Neukunde der Bunkeraktivitäten oder von Turano Industries ist, lässt sich von hier nicht sagen.

 

Igor beeilt sich ungelenk auszusteigen und öffnet die hintere Autotür. Die Turanos steigen aus und Eren nutzt die Gelegenheit sich erst einmal zu strecken, wobei ihn Ajax sofort wegen der Male ermahnt.

 

Kaum ausgestiegen schon eilt eine Frau in einem rot-weiß karierten Kleid aus dem Wärterhäuschen herbei. Bei jedem Schritt wippen ihre kurzen Zöpfe auf und ab. Mit der Frisur und dem Kleidchen wirkt sie irgendwie wie ein Kind, obwohl sie sicher schon Vierzig sein muss.

 

„Hallo, Sie müssen Herr Benedikt Turano sein, hab ich recht?“, erkundigt sie sich mit aufgesetztem Lächeln, hinter dem sich eine lauernde Wachsamkeit versteckt. „Mein Name ist Sophie. Ich werde Sie zu meiner Herrin und meinem Herrn begleiten.“

 

„Guten Tag, ja richtig“, bestätigt der Mann und streckt ihr höflich die Hand entgegen, die sie für ein kurzes Händeschütteln annimmt. „Freut mich Sie kennenzulernen. Das hier sind meine Söhne, Ajax und Eren.“

 

„Guten Tag“, grüßt Eren höflich und neigt kurz den Kopf.

 

„Hallo, sehr erfreut.“ Auch Ajax neigt den Kopf.

 

„Schön auch Sie beide kennenzulernen“, meint Sophie ehe ihr Lächeln einem entschuldigenden Ausdruck weicht. „Allerdings befürchte ich, haben wir ein Problem. Ich hab nur eine Anmeldung für zwei Personen, mehr darf ich nicht aufs Grundstück lassen. Ich muss die anderen drei von Ihnen höflich bitten, hier draußen zu warten.“

 

„Das ist kein Problem“, winkt Turano ab. „Igor, Sie kommen mit mir. Viktor, Ajax, ich melde mich, sobald ich hier fertig bin.“

 

„Ja, Vater“, bestätigt Ajax.

 

„Na dann, folgen Sie mir bitte“, weist Sophie die beiden Männer an. Auf ein Kopfnicken Richtung Wärter, öffnet dieser das Tor einen Spalt und schließt es sofort hinter ihnen wieder.

 

Also muss Eren gar nicht zum eigentlichen Kundenbesuch mit? Heißt das, dieser Smoking war nur dafür gedacht, für diesen kurzen Auftritt Eindruck zu schinden? Naja, ist ja nichts ungewöhnliches in der Turano-Familie.

 

~~~

 

Das nächste Mal hält die Limousine vor einem Park, durch den der Fluss fließt, der die Stadt in zwei Hälften teilt, ehe er im Meer mündet. Auch den Hafen kann Eren schon anhand der vielen aufgestapelten Container ausmachen. Ist es etwa jetzt schon Zeit für die Lagerhaus-Mission? Aber dafür ist es viel zu hell und zu viele Zivilisten lungern in der Nähe herum. Außerdem meinte sein Vater doch, dass sie heute Nacht dort einbrechen sollen.

 

Das weiß bestimmt auch Ajax.

 

„Was machen wir hier?“, fragt der Junge mit gerunzelter Stirn als sich Ajax abschnallt.

 

„Du, gar nichts. Du fährst mit Viktor ins Hotel und bleibst im Zimmer bis ich wieder komme“, befiehlt der Ältere streng. „Ich kundschafte schon mal den Hafen aus.“

 

„Ich soll allein mit Viktor im Hotel warten?“ Das klingt nach einer ganz, ganz miesen Idee.

 

„Ja“, wiederholt Ajax und mustert seine kleinen Bruder eindringlich. „Gibt es da etwa ein Problem?“

 

„Äh … nein. Natürlich nicht, Bruder.“ Warum sollte es ein Problem sein mit genau dem Kerl in einem Hotelzimmer festzusitzen, der ständig Streit sucht? Aber er ist ja ein Turano, er steht über solch Pöbeleien. Zumindest redet er sich das in diesem Moment noch ein.

 

„Das will ich auch hoffen. Schließlich bist du ein Turano. Benimm dich auch wie einer bis ich ins Hotel komme. Du willst Vater doch keine Schande bereiten, nicht wahr? Stell keinen Blödsinn an und bleib im Zimmer. Das schaffst du doch wohl, oder?“ Die typische Drohung schwingt bei der letzten Frage als Unterton mit.

 

„Selbstverständlich, Ajax.“ Eren senkt den Blick. Wieso lässt er sich von seinem Bruder nur immer so leicht einschüchtern? Er ist doch derjenige, der einen Dämon in sich trägt. Tja, für das größere Ziel muss man manchmal eben auch solche Bienenhirne wie Viktor ertragen.

 

„Was anderes erwarte ich auch nicht.“ Ajax wirkt noch immer skeptisch, sagt aber auch nichts weiter dazu.

 

Der ältere Turano verwandelt sich mit Hilfe seiner Fähigkeit in einen alten, zittrigen Mann mit Hut und Gehstock. Hätte Eren nicht gesehen, wie sich sein Bruder verwandelt hat, könnte er schwören, dieser alte Senior sei echt.

 

„Denk an meine Worte. Ich komme so bald wie möglich ins Hotel.“ Mit diesen krächzenden Worten steigt Greis-Ajax aus und wackelt den Bürgersteig entlang.

 

~~~

 

„Das ist Ihre Suite, Herr Turano“, teilt der Page des Hotels ihnen stolz mit und hält bereits die Hand für Trinkgeld auf. Immerhin hat er auch ihr ganzes Gepäck in die beiden gebuchten Zimmer gebracht.

 

„Hier. Und jetzt zisch ab.“ Viktor klatscht ihm einen Schein auf die Hand ohne auch nur zu versuchen seine schlechte Laune zu verbergen. Tja, er ist eben kein Turano, der sich um den Ruf seines Namens sorgen muss.

 

Währenddessen sieht sich Eren in dem wirklich großen Zimmer um. Nein, Zimmer trifft es nicht, Haus passt besser. Immerhin erstreckt es sich über zwei Etagen, es gibt hier drei separate Schlafzimmer, jedes inklusive Badezimmer, einen großen Wohnraum, der alles miteinander verbindet, in dem auch eine offene Küche zu finden ist, und einen großzügigen Balkon mit Blick aufs Meer und überdachtem Pool. Jap, wie alles in Erens Leben ist sogar die Suite für eine einzige Nacht, in der er sowieso auf Mission unterwegs sein wird, pompös, teuer und luxuriös. Wie Eren diesen verschwenderischen Lifestyle (nicht) liebt.

 

„Übernachtet ihr immer in so schicken Hütten? Dagegen sieht mein Zimmer ja aus wie eine Absteige“, motzt Viktor sofort los nachdem er die Zimmertür vor der Nase des Pagen zugeknallt hat.

 

Genervt dreht sich Eren zu dem Rotschopf um. „Sag mal, wieso bist du eigentlich noch hier? Du hast selbst ein Zimmer.“

 

„Na weil ich deinen Babysitter spielen muss“, stöhnt er beim Durchsuchen der Minibar in der Küche. „Was?! Hier gibt’s ja echt alles! Sogar Kaviar ist da drin! Das ist sowas von unfair.“

 

Was zu nehmen traut er sich aber doch nicht. Immerhin würde das sein Vater auf der Rechnung sehen. Dass Eren sich was genommen hat ist nämlich ausgeschlossen. Es ist ihm verboten. Schließlich muss man beim Buchen und Einchecken seinen Namen preisgeben und dann kann es gut sein, dass jemand die Minibar vorher präpariert hat. Das heißt nicht, dass er Viktor aufhalten würde, wenn er etwas von dem Kaviar probieren will.

 

Man könnte natürlich auch einen Decknamen verwenden, aber wenn ihn jemand als Firmenchef des weltweit aktiven Turano Industries erkennt, würde die Lügerei auffliegen. Und das würde keine gute Publicity nach sich ziehen. Damit wäre der gute öffetliche Ruf der Turanos zerstört.

 

„Ich brauch keinen Babysitter“, betont Eren mit verschränkten Armen. „Ich bin Zwölf. In einem Hotelzimmer zu bleiben, schaff ich auch allein.“

 

„Nichts da. Ich soll dafür sorgen, dass du auch hier bleibst. Glaub mir, mir gefällt das genauso wenig wie dir.“ Viktor zieht seine Jacke aus, stapft zurück zur Tür und hängt sie an den Kleiderständer daneben. Da sie hier ungestört sind, braucht der Mutant seine Flügel auch nicht zu verstecken.

 

„Ich glaub ja eher, du sollst hier bleiben, damit du keinen hitzköpfigen Blödsinn anstellst“, murmelt Eren vor sich hin, lauter fährt er fort: „Von mir aus. Wenn du schon hier bleibst, dann mach dich wenigstens nützlich. Bring die Taschen in die Schlafzimmer. Und wehe du öffnest sie.“

 

„Du hast mir gar nichts zu befehlen. Ich bin nicht dein Butler, sondern dein Babysitter, was bedeutet, du musst auf mich hören.“ Ein verschlagenes Grinsen zieht seine Mundwinkel auseinander. „Also, hop, hop, geh in dein Zimmer, Kleiner.“

 

Unbeeindruckt lässt sich Eren auf die große Couch fallen. „Ich gehöre immer noch zu den Turanos, also“ Mit einem schelmischen Blitzen in den blauen Augen richtet er sich auf, um dem Mann ins Gesicht sehen zu können, „was würden Ajax und mein Vater wohl davon halten, wenn ich ihnen sage, dass du dich geweigert hast, das Gepäck in die Zimmer zu räumen?“

 

„Du...“ Zähneknirschend ballt er die Fäuste und starrt sichtlich um Fassung ringend Eren direkt an.

 

Schließlich gibt Viktor das Blickduell auf, wirft sich alle Taschen auf einmal über die Schultern und stapft vor sich hin fluchend davon. Ein wenig enttäuscht, über die schnelle Kapitulation, sieht ihm der Junge nach. Dabei kommt ihm eine Idee. Vielleicht hat er gerade eine Beschäftigung für die Wartezeit gefunden: Viktor herumscheuchen.

Langeweile in der Suite

Leider stellt sich bald heraus, dass es in dieser aufgeräumten Hotelsuite keinerlei Aufgaben gibt, die er Viktor aufbrummen kann. Also ist ihm schon bald wieder langweilig. Er hat den Smoking inzwischen durch das Outfit getauscht, das wohl später für die Mission gedacht ist. Es ist auch nicht schwer zu erraten, wenn nur zwei Outfits in der Reisetasche zu finden sind und eine davon ausschließlich aus schwarzen Klamotten besteht. Was ihn aber ein wenig wundert ist die Tatsache, dass keine Waffe in der Tasche war. Vielleicht hat die auch Ajax eingepackt. Er wagt es allerdings nicht dessen Taschen zu durchsuchen.

 

Und so hängt er jetzt halb über der Brüstung des steinernen Balkons und zählt die Autos unten auf der Straße. Weit unten. Was nicht unbedingt spannend ist. Seufzend legt er den Kopf auf den Arm und schielt ins Innere der Suite zu Viktor. Er ist mit der Zimmerinspektion und Beschwerde fertig und hat es sich mit einer Zeitschrift, die er in einem Bücherregal in der Ecke gefunden hat, auf dem Sofa gemütlich gemacht. Irgendwie ein ungewohnter Anblick den aufbrausenden Bienenmutanten still beim Lesen zu beobachten. Eren hat den Eindruck, als würde er den Aufenthalt in der Luxussuite genießen. Ganz anders als Eren.

 

Ein Brummen bringt den Mann dazu, sein Handy aus der Hosentasche zu holen und Eren dazu, empört den Kopf zu heben. Er musste sein Smartphone gestern abgeben. Hätte er es noch, könnte er zumindest mit Max schreiben, um auch an dieser Front weiterzukommen. Der wird sich sicher auch wundern, weshalb er sich heute gar nicht meldet. Dass der Blonde ihm geschrieben hat, zweifelt er gar nicht an. Immerhin hat er ihm seit Dienstag jeden Tag mindestens fünf Nachrichten geschickt. Was er wohl gerade macht? Bestimmt etwas spannenderes wie im Hotel festzusitzen und Autos zu zählen.

 

Andererseits ist es auch erschreckend, wie schnell er sich daran gewöhnt hat etwas mit Max zu unternehmen. Nächste Woche wird die letzte sein. Wenn er dann immer noch der Meinung ist, dass der Junge normal ist, wird er ihn nie wiedersehen. Er will es nicht wahrhaben, aber er weiß sehr wohl, dass er angefangen hat den aufdringlichen, naiven Blondie als Freund zu akzeptieren.

 

Quatsch!

 

Er ist nur die Zielperson. Gefühle haben hier nichts zu suchen. Ajax hat recht: Gefühle, Freunde, machen es nur schwerer seine Mission zu erfüllen. Er darf Max als nichts anderes sehen als eine Zielperson und nicht als so etwas lächerliches, überflüssiges wie einen Freund. Er braucht keine Freunde. Außerdem, wüsste er, was er schon alles in seinem Leben verbrochen hat, würde Max ganz sicher in ein anderes Land auswandern und seinen Namen ändern, sodass Eren ihn nie wieder finden würde. Niemand würde mit jemanden befreundet sein wollen, der schon unzählige Menschen getötet hat und zwei Kreaturen in sich beherbergt, die beide auch liebend gern morden. Ein deprimierter Seufzer entkommt seinen Lippen. Das ist der Nachteil, wenn er Freizeit hat. Seine Gedanken gehen Wege, die sie nicht gehen sollten.

 

„Komm rein oder mach die Tür zu. Hier wird’s verdammt kalt“, beschwert sich Viktor von der Couch aus.

 

„Du kannst dir ja auch deine Jacke wieder anziehen“, entgegnet Eren, der nicht daran denkt, Viktors Anweisung nachzukommen.

 

Der Mutant brummt allerdings nur verstimmt. Er ist der zweite, der sich heute seltsam benimmt. Er reißt sich echt zusammen und versucht ruhig zu bleiben. Das kann Eren spüren. Ob es daran liegt, dass Ajax jederzeit durch die Tür kommen könnte? Vermutlich. Also fällt „Viktor ärgern“ auch von seiner Zeitvertreibliste weg, die somit gähnend leer ist.

 

Schwer seufzend lässt er den Kopf wieder auf den Stein sinken. Eigentlich sollte er die unerwartete Freizeit genießen, aber da seine Tage ständig auf die Minute verplant sind, weiß er gar nicht, was er mit der Freizeit anfangen soll. Außerdem gibt es hier keinerlei Beschäftigungsmöglichkeiten für den 12-Jährigen. Auf Lesen hat er keine Lust. Genauso wenig wie sich hinsetzen und in den Fernseher zu starren, was für ihn das selbe ist wie das, was er gerade eh schon macht. Essen und trinken ist im Zimmer untersagt, auch den Zimmerservice zu rufen.

 

Und sonst …

 

Naja, es gäbe einen Pool in der Suite, aber dafür fehlt die Badehose und da er nicht weiß, wann Ajax zurück kommt, ist es eine dumme Idee. Er hat kurz versucht ein wenig zu trainieren, aber auch das hat er schnell aufgegeben. Allein, ohne feste Vorgaben, lässt er sich dabei viel zu leicht von allem möglichen ablenken. Da reicht schon eine Fliege, die sich in die Suite geschlichen hat oder ein loser Faden, den er an der Hose entdeckte.

 

Schließlich richtet er sich auf, streckt die Hände zum Himmel bis der Rücken knackt und dreht sich dann zu seinem Babysitter um, der nicht einmal den Kopf hebt als er angesprochen wird. „Komm, Viktor, lass uns die Stadt erkunden. Hier ist es so langweilig.“

 

„Vergiss es, Kleiner. Du sollst hier bleiben, also bleiben wir hier“, meint der Mutant entschieden. „Und jetzt sei still und nerv mich nicht.“

 

„Und wenn ich nur eine kurze Runde über die Stadt fliege und verspreche in fünf Minuten wieder da zu sein?“, versucht es Eren weiter. Auch wenn ihm klar ist, dass die Idee nicht gut durchdacht ist. „Ajax und mein Vater müssen es ja nicht erfahren.“

 

„Spinnst du? Dann würden hunderte von Leuten einen Jungen mit Flügeln sehen, der auf diesem Balkon startet und landet. Sogar ich weiß, dass das total bescheuert ist.“ Noch immer sieht der Mutant nicht von seinem Handy auf. „Außerdem würde mir Igor die Flügel ausreißen. Und dein Vater meine Arme. Und Ajax meinen Kopf. Und ich hänge nun mal an meinen Gliedmaßen, also nein! Schluss jetzt mit dem Kinderkram! Setz dich irgendwohin und schlaf. Oder starr Löcher in die Luft, ist mir scheißegal! Hauptsache du bleibst innerhalb dieser Suite und gehst mir nicht auf die Nerven!“

 

Eren brummt schmollend und sieht erneut auf die Stadt. Dass seine Augen zum wiederholten Mal den Strand vor der Haustür sehen, macht die Sache nicht erträglicher. Obwohl November ist und das Wetter nicht unbedingt als Badewetter bezeichnet werden kann, auch wenn die Sonne scheint, entdeckt er eine handvoll Köpfe im Meer, die ihre Bahnen ziehen. Am Strand spazieren dafür mehrere Leute entlang, manche auch mit ihren Hunden. Da die Langeweile nicht kleiner wird, dafür sein Tatendrang größer, beschließt er doch den Strand zu besuchen. Wenn er nur kurz bleibt ist er zurück bevor sein Bruder hier auftaucht. Um nicht noch mehr Zeit zu verlieren, spaziert er zielstrebig auf die Zimmertür zu, direkt an Viktor vorbei, der diesmal sogar den Kopf hebt.

 

„Und was hast du jetzt vor?“, verlangt er angesäuert zu erfahren, legt Handy und Zeitschrift beiseite und steht warnend auf.

 

„Ich geh nur kurz zum Strand“, teilt er ihm selbstbewusst mit.

 

Überraschend schnell ist Viktor an der Tür, baut sich bedrohlich vor dem Jungen auf und verschränkt die Arme. „Was soll der Scheiß? Du hast doch selbst gehört was dein Bruder gesagt hat: Bleib im Zimmer und stell keinen Blödsinn an! Also bleib gefälligst im Zimmer und stell keinen Blödsinn an!“

 

Als würde sich Eren von ihm einschüchtern lassen. Ruhig geht er einfach weiter auf ihn zu. „Ich bin doch nur fünf Minuten weg. Du wirst gar nicht merken, dass ich weg war.“

 

„Wenn du jetzt abhaust, bekommen wir beide gewaltigen Ärger! Ich wär jetzt auch lieber woanders oder zumindest mit jemand anderem hier. Wir haben beide Pech. Und jetzt hör auf dich wie ein bockiges Kind aufzuführen, Kleiner!“, braust Viktor auf. Bestimmt hört man ihn auf der gesamten Etage.

 

„Glaubst du echt, du könntest mich davon abhalten durch die Tür zu gehen?“ Um seine Worte zu unterstreichen, lässt er seine Iris lilafarben aufblitzen.

 

„Nein“, antwortet er überraschend. „Aber dann hast DU dich den Anweisungen widersetzt, nicht ich.“

 

Eren bleibt direkt vor dem Mutanten stehen und sieht ihm in die Augen. Er weiß, dass er recht hat. Ajax hat sicher schon eine Strafe parat, sollte er das Zimmer verlassen. Und diese Genugtuung will er vor allem Viktor nicht gönnen. Das heißt aber auch, dass er noch länger hier rumsitzen und Däumchen drehen muss. Beides keine guten Aussichten. Aber wenn er jetzt nachgibt, gewinnt auch dieser Bienenmutant. So oder so muss Eren eine Niederlage einstecken.

 

Eine ewig erscheinende Minute später gewinnt Erens Vernunft. Halb knurrend, halb schnaubend wendet er sich ab, steckt die geballten Fäuste in die Taschen der Sweatshirtjacke und kehrt auf den Balkon zurück. Etwas gutes hat die Niederlage ja, jetzt freut er sich noch mehr auf die Mission. Wenn sie nur endlich beginnen würde.

 

Dass auch sein Vater noch nicht hier ist, ist auch nichts besonderes. Gespräche mit Neukunden dauern meistens länger. Außerdem ist Igor dabei. Sollte irgendetwas nicht stimmen, kann der Chipssüchtige sie beide in Sicherheit teleportieren. Das ist auch der Grund, weshalb bei Neukunden meist Igor als Zweitmann dabei ist. Eine Art Absicherung, sollten die Verhandlungen nicht so laufen wie geplant.

 

Aber zurück zum eigentlichen Problem: Wo bleibt Ajax nur? Wieso trödelt der so rum?

 

~~~

 

Als Ajax endlich auftaucht, ist es zwar noch nicht ganz dunkel, aber die Sonne ist dennoch verschwunden. Draußen wurde es Eren irgendwann auch zu langweilig und deprimierend, sodass er sich doch auf die Couch zurückgezogen hat und lustlos in einem Buch blättert. Er kann nicht einmal sagen, um was es darin überhaupt geht. Viktor ist auf einen der Hocker in der Küche weitergezogen und mit seinem Handy beschäftigt.

 

Beide sind sofort aufgesprungen als der ältere Turano die Suite betrat. Viktor hat sich kurz darauf auch aus dem Staub gemacht mit irgendeiner Ausrede, er müsse sich für seine eigene Mission vorbereiten. Das war Eren ganz recht. Das war genug Viktor für einen Tag, auch wenn er heute ausnahmsweise gar nicht so schrecklich war wie erwartet und sie sich die meiste Zeit eh nur angeschwiegen haben.

 

Bis die Mission allerdings tatsächlich losgeht, musste Eren noch immer ein paar Stunden warten. Doch diesmal verging die Zeit wenigstens schneller, da Ajax ihn ein paar Übungen machen ließ. Faul herumsitzen und warten gibt’s nicht in Ajax´ Anwesenheit. Um 23 Uhr ist es dann endlich soweit. Die Brüder verlassen das Hotel ganz normal durch den Haupteingang. Die Sicherheitsleute schenken ihnen nicht mehr Aufmerksamkeit als nötig und der Portier sieht noch nicht einmal von seiner Zeitung auf, als sie durch die Lobby spazieren.

 

Draußen führt Ajax seinen Bruder ein paar Straßen weiter zu einem dunkelgrauen VW Golf, der nicht ansatzweise zu Ajax´ Autogeschmack passt. Dementsprechend irritiert ist er, als sein Bruder den Wagen aufsperrt und sich hinters Steuer setzt.

 

„Wo hast du den denn her?“, erkundigt sich Eren schmunzelnd.

 

„Geliehen“, ist die knappe Antwort.

 

Geliehen bedeutet dabei in den meisten Fällen: geborgt, ohne dass der Besitzer es weiß. Das ist zwar illegal, aber mit einer Limousine vorzufahren ist doch ein bisschen auffälliger als mit so einem kleinen Golf.

 

Auf dem Weg zum Hafen berichtet Ajax über das, was er herausgefunden hat. Ihr Ziel ist die Lagerhalle 10F, die ganz am äußersten Rand des Hafens liegt. Mit wie vielen Gegnern zu rechnen ist, weiß er nicht. In der ganzen Zeit, in der er die Halle beobachtet hat, hat sie niemand betreten oder verlassen, sodass er niemanden doublen konnte. Er hat jedoch durch eines der Fenster erkennen können, dass sich mehrere Personen dort aufhielten. Die meisten haben irgendwo zwischen den Kisten geschlafen, was eine günstige Gelegenheit gewesen wär, doch tagsüber sind zu viele Hafenarbeiter unterwegs. Zu viele Zeugen/Kollateralschäden.

 

Eine Waffe hatte Ajax zwar tatsächlich in seiner Tasche, aber die ist für ihn. Eren hat Waffenverbot, deshalb auch das Training heute Vormittag ohne Waffen und Kräfte. Ajax will vermeiden, dass irgendwelche übernatürliche Spuren hinterlassen werden. Und der Ältere macht es seinem Bruder gern schwer. Kein Problem, Eren kann auch ohne Hilfsmittel diesen Job erfüllen.

 

Ajax lenkt den Wagen auf einen öffentlichen Parkplatz neben dem Hafen. Ganz hinten in der dunkelsten Ecke, direkt am Zaun zum Lagerhallenbezirk, stellt er den Motor ab. Eren prüft bereits mit seiner Seelensicht die sichtbaren Gassen zwischen den Hallen. Es scheint dort niemand unterwegs zu sein. Momentan. Ein guter Zeitpunkt, um sich auf das Gelände zu schleichen.

 

„Hier.“ Ajax überreicht seinem Bruder ein kleines Funkgerät, das sich dieser ins Ohr steckt. „Ich kümmere mich um die Leute im Freien und passe auf, dass uns niemand stört. Das heißt, du erledigst alle in der Halle. Verstanden?“

 

„Ist so gut wie erledigt“, versichert der Junge ohne geringste Zweifel in der Stimme.

 

„Gut. Und noch etwas, verschone den Anführer. Ich will ihn noch etwas fragen.“

 

„Muss er dafür unverletzt sein?“

 

„Nein. Mir genügt es, wenn er sprechen kann.“ Ajax zieht sich die Mütze tief ins Gesicht und steigt aus.

 

Das macht es einfacher, wenn der Drahtzieher nur Sprechen können muss. Dann muss er sich nicht komplett zurückhalten. Die Schwierigkeit wird eher sein, den Anführer zu erkennen. Ach, das wird schon. Bestimmt ist es derjenige, der die Befehle brüllt. Die sind es doch immer. Eren streift sich die Kapuze über den Kopf und verlässt ebenfalls den Wagen. Die Mission beginnt.

Die Mafia von Rabed

Um zunächst einmal überhaupt aufs Gelände zu kommen, lässt Eren seine Dämonenschwingen erscheinen. Mit deren Hilfe stellt der Stacheldrahtzaun für ihn und Ajax, den er an den Achseln gepackt hat, kein Hindernis mehr dar. Der Junge fliegt viel höher als es nötig gewesen wär. Von hier oben hat man einen guten Überblick und dank der Seelensicht kann Eren die Personen gut ausmachen, die zwischen den Hallen herumlungern und patrouillieren. Keiner von ihnen kommt auf die Idee nach oben zu sehen. Solche Idioten.

 

Ajax deutet stumm auf die größte Lagerhalle und zudem die einzige, deren Fenster abgedunkelt sind, was den beiden Turanos zu Gute kommt. Eren gleitet auf die Gasse zu, die zwischen dem Ziel und der Nachbarhalle liegt. Ein paar Sekunden verharrt er noch auf Dachhöhe, bis die beiden Männer, die eindeutig Gewehre tragen, um die Ecke biegen und außer Sichtweite verschwinden. Leise setzt er seinen Bruder ab, der ihm per Handzeichen zu verstehen gibt, dass er über das Dach eindringen soll. Eren nickt verstehend und schlägt mit den Schwingen, um wieder an Höhe zu gewinnen. Währenddessen eilt Ajax bereits den beiden Männern von vorhin nach. In der Hand ein Messer, was Eren ein wenig unfair findet.

 

Eines der großen Dachfenster zu finden, ist keine Meisterleistung, sich dort unbemerkt einzuschleichen schon eher. Anders als die Fenster an den Seiten, sind die am Dach unverhüllt, weshalb er aufpassen muss nicht gesehen zu werden. Er landet zwischen den Fenstern, lässt die Schwingen verschwinden und schleicht über das glatte Dach bis er ins Innere spähen kann.

 

Etwa zwei Drittel der großen Halle ist mit Kisten, Koffern, Säcken und Käfigen aller Art und Größe vollgestopft. Ungefähr aus wiederum einem Drittel davon sind irgendwelche Laute oder Bewegungen von Lebewesen zu vernehmen, doch nur vereinzelt und leise. Ob sie irgendwie ruhiggestellt wurden? Vermutlich, sonst hätte sie doch sicher schon jemand hier gefunden und die Polizei benachrichtigt. Ein metallener Steg verläuft einmal komplett an der Wand herum und besitzt im hinteren Teil eine Plattform, die über eine Treppe erreichbar ist. Der Steg selbst kann über ein paar Leitern hier und da erreicht werden.

 

Es sind grob geschätzt dreißig Leute damit beschäftigt die Waren zu beschriften, zu nummerieren, Fotos davon an der Wand aufzuhängen und zu organisieren. Die bereiten tatsächlich alles für eine große Auktion vor. Eine illegale Untergrundauktion mit Waren und Lebewesen aus Flaurana. Wird Zeit, dass sie jemand dafür bestraft. Für das und auch für alles was diese Typen sonst noch verbrochen haben. Die dunkel Outfits mit der kugelsicheren Weste darüber und mindestens einer Schusswaffe am Körper werden sie nicht aus Modegründen tragen.

 

Wer allerdings der Chef der Bande ist oder ob dieser überhaupt hier in der Halle ist, kann Eren von hier draußen nicht sagen. Mal sehen, ob er diese Info aus dem ein oder anderen Mitglied herausquetschen kann. Hoffentlich bringt er nicht ausversehen den Anführer um. Das würde Ajax gar nicht gefallen.

 

Doch bevor er beginnt, muss er noch eine störende Kleinigkeit loswerden. Eren schließt die Augen, atmet tief ein, konzentriert sich auf seinen eigenen Herzschlag und atmet langsam wieder aus. Gefühle haben hier jetzt nichts zu suchen. Emotionen ketten einen, vernebeln das Urteilsvermögen, machen einen schwach, wollen einem ein Gewissen einreden und bringen einen dazu Entscheidungen zu treffen, die man logisch betrachtet niemals in heiklen Situationen treffen würde. Alles Dinge, die Ajax ihm gelehrt hat abzustellen, um einen guten Job machen zu können. Und er ist wirklich gut darin geworden in den letzten Jahren.

 

Als er die Augen wieder öffnet, liegt ein kalter, emotionsloser Schatten darin. Ein Blick, der eindeutig zeigt: er ist bereit ohne Skrupel zu töten.

 

Eren wartet bis die Frau auf der oberen Plattform die Treppe hinabgestiegen ist und öffnet dann ganz langsam das Fenster gerade soweit, dass er hindurchschlüpfen kann. Zum Glück quietscht es wenigstens nicht als er es wieder schließt und lautlos auf der Plattform landet, wo er hinter der nächsten Kiste in Deckung geht. Er ist drin. Und da kommt auch schon sein erstes Opfer. Ein Mann mit je einem dicken Beutel in den Händen stapft leise vor sich hin summend die Stufen hoch. Der Junge geht noch etwas weiter in die Schatten, die spärlichen Leuchtstoffröhren spenden günstigerweise nicht das beste Licht.

 

Ohne das Kind zu bemerken geht der Mann an den Kisten vorbei in die andere Ecke der Plattform, wo schon weitere Säcke liegen, zu denen er seine Ladung dazulegt. Diesen Moment, in dem er ihm den Rücken zukehrt, nutzt Eren aus, um geduckt an ihn heranzuschleichen, auf den Rücken zu springen und mit Dämonenkrallen die Kehle aufzuschlitzen. Schneller als er überhaupt begreift was geschieht, bricht er mit einem letzten Gurgeln zusammen. Eren fängt ihn auf, bevor er geräuschvoll auf dem Metall aufschlagen kann und zerrt ihn zu den Säcken, die er so über ihm verteilt, dass der Mann im ersten Moment nicht zu sehen ist. Das war Nummer Eins. Und weiter geht’s.

 

Der junge Turano hat sich vorgenommen, zunächst die Mafiatypen auf dem Steg loszuwerden, um nicht von oben beschossen werden zu können, wenn er nachher unten herumschleicht. Das schwierige dabei ist nur, der Steg ist nur mit einem Gitter gesichert, durch das man alles sehen kann. Doch da auch dort verpackte Waren stehen, sollte es möglich sein die Leute zu uentdeckt zu killen, wenn er seine Geschwindigkeit nutzt.

 

Aber zuerst nutzt er die Gelegenheit aus, dass sich gerade eine Frau in seine Reichweite begibt. Sie hat die Augen auf ein Klemmbrett gerichtet, während sie die Kisten entlanggeht und vor einer stehenbleibt, den Deckel öffnet und laut murmelnd die darin enthaltenen Gegenstände durchzählt.

 

Er nähert sich ihr im toten Winkel, doch anstatt sie gleich zu töten, spricht er sie an: „Hey, weißt du wo der Boss steckt?“

 

„Ich glaub, unten bei den Statuen irgendwo“, antwortet sie abwesend und zählt weiter. Für eine Sekunde. Sie schafft es gerade mal irritiert den Kopf zu drehen und ein „Was“ herauszubekommen, da ist Eren schon zur Stelle, lächelt sie unschuldig an und drückt seine Hand, an der das Blut ihres Kollegen klebt, auf ihren Mund. „Danke für die Info.“

 

Mit einem knackenden Geräusch verdreht er ihr den Kopf, sie bricht leblos zusammen und wird kurzerhand bei ihrem Kollegen unter den Säcken versteckt. Diese Art zu töten gefällt ihm am wenigsten. Das Geräusch, wenn das Genick bricht, bereitet ihm jedes Mal eine Gänsehaut.

 

Unten bei den Statuen also. Gut, dann muss er sich hier oben ja nicht zurückhalten. Da die Leute hier anscheinend wirklich nur mit den Vorbereitungen für diese Auktion beschäftigt sind, patrouilliert hier niemand. Das macht es einfacher und schwieriger zugleich. Einfacher, weil es keine Wachen gibt. Schwieriger, weil sich die Leute unvorhersehbar bewegen und nicht einfach einer festgelegten Strecke folgen. Rechts sind drei unterwegs, ihm gegenüber einer und links auch nur einer. Da fällt die Wahl nicht schwer, von wo er beginnt.

 

Nachdem er sich vergewissert hat, dass niemand von der anderen Seite herübersieht, flitzt er zum ersten Warenstapel auf der linken Stegseite und duckt sich dort hinter ein Fass. Sein Ziel schnürt gerade Bündel von Zweigen zusammen, an denen kleine rote Früchte mit blauen Punkten hängen. Sie stammen eindeutig aus Flaurana. Eren hat sie schon ein paar Mal gesehen, weiß aber jetzt nicht, wie sie heißen, nur, dass sie drogenwürdige Halluzinationen auslösen, wenn man sie isst. Da der Mann seitlich zu ihm steht, besteht die Gefahr, dass er ihn entdeckt, sobald er sein Versteck verlässt, und die gesamte Halle alarmiert. Jedoch nicht, wenn Eren schneller ist.

 

Er vergewissert sich noch einmal, ob sie noch immer keine Zuschauer haben, spannt die Muskeln an und flitzt los. Innerhalb einer Sekunde hat er den Mafiatypen am Kragen hinter die Kisten mit den Beeren gezogen und ihm dabei den Hals gebrochen. Unbeabsichtigt. Eigentlich hatte er vor den Mann erst außer Sichtweite zu zerren und dann zu töten. Da hat er wohl ein wenig zu fest zugepackt. Ups. Naja, das Ergebnis ist das gleiche und alarmiert wurde auch niemand.

 

Nummer Drei lässt er einfach da außer Sichtweite liegen und nähert sich schon dem nächsten Ziel. Eigentlich sollte es unüberhörbar sein, wenn jemand auf dem Metallsteg rennt, aber nicht Eren. Ihm wurde schon als Vierjährigen beigebracht lautlos zu gehen, auf jedem Untergrund. Dieses Können ist entscheidend für viele seiner Missionen und Aufträge.

 

Die Frau fotografiert kleine goldene Figuren als der Junge bei ihr ankommt, ihr eine Hand auf den Mund presst und mit der anderen den Hals aufschlitzt. In einer letzten verzweifelten Geste versucht sie die Hand von ihrem Gesicht zu lösen, erschlafft jedoch schon bald bei dem Versuch und wird in die Kiste zu den goldenen Figuren gequetscht. Jetzt nur noch die restlichen drei und Eren kann unten weitermachen, wo es einfacher ist, da es weit mehr Verstecke für ihn und die Leichen gibt.

 

Doch jetzt muss er sich erst überlegen, wie er einen der Drei tötet, ohne dass die anderen es mitbekommen. Oder er erledigt einfach alle Drei auf einmal. Er weiß, Ajax sagte keine Kräfte, aber ganz ohne schafft es Eren dann doch nicht. Und solange sein Bruder es nicht erfährt, ist alles prima. In einer Geschwindigkeit, die normale Augen gar nicht wahrnehmen können, sprintet er den Steg entlang. Dem ersten Mann bricht er das Genick, dem zweiten reißt er aufgrund des Schwungs ein ganzes Stück vom Hals raus und der Frau am Ende durchbohrt er das Herz, sodass seine blutigen Krallen vorne aus der Brust herausragen.

 

Auf der Plattform hält er an und begutachtet sein Werk. Die Drei klappen erst jetzt leblos zusammen. Tja, das war sicher nicht seine sauberste Arbeit, aber wenn jetzt eh keiner mehr hier hoch kommt, sieht sie auch niemand. Deshalb erspart er sich die Mühe die Leichen zu verstecken, kauert sich stattdessen an den Rand der Plattform und scannt die Halle nach einem geeigneten Opfer zum Fortfahren ab. Er will das hier schnell und problemlos beenden, um Ajax zu beweisen, dass er noch immer das Turano-Niveau hält. Vielleicht will er es aber auch nur sich selbst beweisen, um die ganzen Patzer und Leichtsinnsfehler der letzten Tage wieder gutzumachen.

 

Dass er schon jetzt am rechten Arm und auch im Gesicht und den Klamotten überall Blut kleben hat, stört ihn dabei nicht. Dafür hat er schon zu oft Blut an sich gespürt, als dass es ihn noch etwas ausmachen würde. Zugegeben, meistens war es sein eigenes, aber egal von wem es stammt, Blut fühlt sich immer gleich an. Warm. Klebrig. Und vielleicht auch ein bisschen nach Stärke.

 

Die Kisten unten sind zu hohen Türmen aufgestapelt worden, zwischen denen schmale Gänge verlaufen. Perfekt für Erens Vorhaben. Er sucht sich eine Stelle am linken Rand aus, ganz an der Wand, klettert dort über des Metallgeländer und lässt sich lautlos auf den Kistenturm fallen. Direkt neben ihm nickt ein Mann im Takt zu seiner Musik aus den Earbuds. Der Junge landet hinter ihm und schlitzt ihm die Kehle auf. Mit weit aufgerissenen Augen schielt er zurück zu seinem Mörder ehe er diese verdreht und umkippt.

 

Irgendwie kommt Eren das ganze hier viel zu leicht vor. Sind das wirklich Mitglieder einer Mafia? Dafür sind sie aber echt schwach und lassen sich viel zu leicht töten. Von einem Kind. Aber gut, wieso sich darüber beklagen? Wenn das so weitergeht wie bisher, hat er den Job in Nullkommanichts erledigt. Ajax und sein Vater werden stolz auf ihn sein. Bestimmt darf er dann öfter Solomissionen erledigen.

 

Er schleicht den Gang entlang auf die Stimmen zu, die am nächsten klingen und lugt am Ende um die Ecke. Zwei Frauen stehen dort beieinander, die mehrere Vasen putzen. Seltsam, diese Vasen sehen nicht aus als wären sie aus Flaurana. Sie versteigern wohl doch nicht nur Dinge aus der anderen Welt. Aber das ändert nichts. Illegale Untergrundauktion bleibt illegale Untergrundauktion, auch wenn nicht nur Flauranadinge versteigert werden.

 

Der junge Turano springt einen Satz vor und rammt beiden seine Krallen in den Hals. Diesmal hat er den Moment nicht wirklich gut abgepasst. Als die beiden zusammenbrechen, rutscht die Vase, die die Blondine geputzt hat, aus ihren Händen und zerbricht geräuschvoll zu etlichen Scherben. Ein Anfängerfehler, für den er sicher noch büßen wird.

 

*So ein Mist!*, flucht der 12-Jährige stumm. *Das hat doch sicher keiner gehört, oder?*

 

Natürlich hat das jemand gehört. Von irgendwoher schreit eine aggressive, tiefe Männerstimme: „Wer hat da was zerbrochen?! Wer es kaputt macht, zahlt es gefälligst auch!“

Serpent

Schritte nähern sich schnell dem Tatort. Es bleibt keine Zeit die Spuren zu beseitigen, also bleibt Eren keine andere Wahl, als selbst zu verschwinden bevor er entdeckt wird. In einem Satz klettert er auf die Kisten, wo er in der Hocke bleibt und die Szene erstmal beobachtet. Ist das so ein großes Drama, dass jemand etwas zerbrochen hat? Eine Fünfergruppe ist auf dem Weg zu den Toten, angeführt von einem Mann, der ganz klar eine Autorität ausstrahlt. Anscheinend hat Eren den Kopf der Gruppe gefunden.

 

„Hallo?! Antworte gefälligst!“, schnauzt er weiter die Tote an. „Hast du deine Zu... Was ist hier denn passiert?“

 

Als die Gruppe die Leichen erreicht, stutzen alle fünf. Drei von ihnen sehen sich sofort alarmiert um und ziehen ihre Pistolen. Komisch dass nie jemand darauf kommt nach oben zu sehen. Gut, die Kistentürme sind auch etwa drei Meter hoch, aber trotzdem. Während die Gefolgsleute versuchen den Täter zu finden, geht der Chef in die Hocke und mustert die noch immer blutenden Hälse der Frauen.

 

„Was glauben Sie, ist hier passiert?“, möchte der bärtige Mann wissen.

 

„Keine Ahnung“, gibt der Anführer zu und steht mit verschränkten Armen auf. „Wer auch immer das war, muss ein Feigling sein. Stark, vielleicht, aber nur ein Feigling tötet aus dem Hinterhalt.“

 

Ein Feigling? Falsch. Ein Assassine trifft hier eher zu. Eren ist sich bewusst, dass der Mann damit rechnet, mit dieser Anschuldigung den Täter herauszulocken. Hätte Eren seine Gefühle nicht abgestellt und wäre nicht so gut trainiert worden, hätte er sich sogar eventuell provozieren und herauslocken lassen. Wie Viktor zum Beispiel. Doch so ist es ihm herzlich egal was der Typ denkt, der eh bald tot sein wird, sobald Ajax mit ihm fertig ist.

 

„Gebt Serpent Bescheid, dass ein Eindringling hier herumschleicht.“ Laut brüllend, sodass es die gesamte Halle hört, fährt er fort: „An alle! Findet den Eindringling gefälligst! Wenn möglich lebendig. Ich hab da ein paar Fragen an ihn.“

 

*Viel Glück dabei*, kommentiert der Turano stumm.

 

Etwas anderes hat eher seine Aufmerksamkeit geweckt. Serpent. Heißt das, dieser Mann ist gar nicht der Anführer? Ist es dieser Serpent? Na super. Wieder steht Eren am Anfang der Suche. Das ist echt anstrengend. Kann der Chef nicht einfach einen auffälligen Hut mit der Aufschrift „Mafiaboss“ tragen? Das würde ihm die Mission ungemein vereinfachen.

 

Nun ja. Zeit zum Beschweren hat er sowieso nicht. Hier in der Halle ähnelt es gerade sehr einem Ameisennest. Alle haben ihre Aufgaben stehen und liegen lassen und laufen jetzt mit gezogenen Waffen herum. Das war´s dann wohl mit dem stillen und heimlichen Morden. Zumindest muss er jetzt die Leichen nicht mehr verstecken oder darauf achten, dass sie nicht schreien. Da der vermeintlich stellvertretende Anführer noch immer bei den Leichen steht, ist er Erens nächstes Opfer. Seine Begleiter wuseln schon irgendwo anders herum. Er richtet sich langsam auf und …

 

Ein Schuss durchschneidet die Luft. Die Kugel trifft Eren hinten am rechten Oberschenkel, weshalb er einknickt und sich reflexartig mit den Händen abzustützen versucht. Dummerweise war er schon soweit am Rand der Kiste, dass seine Hände über die Kante gleiten, er das Gleichgewicht verliert und zu Boden stürzt, wo er schmerzhaft mit dem Rücken aufschlägt. Für einen Moment wird ihm Schwarz vor Augen und er bekommt keine Luft. Es liegt nicht wirklich am Schmerz, das bisschen hält der Junge locker aus, es ist die Überraschung, die ihn so überrumpelt hat.

 

„Erwischt!“, freut sich eine Frau.

 

„Gute Arbeit“, lobt der Mann halbherzig und nähert sich vorsichtig dem Jungen am Boden. „Was? Ein Kind?“

 

„Hier oben hat er auch schon ein paar unserer Leute erwischt“, teilt sie dem Stellvertreter mit. Sie steht oben am Steg, wo Eren den Typen ausversehen schon beim Verstecken getötet hat und deutet zu der Stelle, wo er die drei Leichen auf der anderen Seite hat liegen lassen.

 

„Du sollst das wirklich getan haben?“ Ungläubig hebt der Stellvertreter die Augenbrauen und mustert das blutbefleckte Kind. Zornig stellt er seinen Stiefel mitten auf Erens Brust und fixiert ihn mit seinem ganzen Gewicht am Boden. „Wo ist dein Komplize? Wie viele seid ihr? Zu wem gehört ihr?“

 

Der Junge schlägt die Augen auf und funkelt den großen Mann mörderisch an. Dass er so leichtsinnig war und angeschossen wurde, weckt trotz der abgeschalteten Gefühle, eine peinliche Wut in ihm, die er ohne zu Zögern an dem Stellvertreter auslässt. In einer fließenden Bewegung umfasst er mit der linken Hand die Wade des Mafiamitglieds, bricht ihm dabei den Knochen, was diesen schrill aufschreien lässt und springt selbst zurück auf die Füße. Das zerstörte Bein dabei immer noch in der Hand, weshalb sein Opfer gezwungen wird rückwärts umzukippen. Dieser Mann ist nicht der Boss, also niemand, den er am Leben lassen muss. Mit der rechten Hand drückt er gegen sein Gesicht, schmettert so den Kopf auf den harten Boden. Reglos bleibt der Stellvertreter liegen, während Eren wieder auf den Beinen steht, als wäre er nicht gerade angeschossen und aus drei Metern Höhe auf Beton aufgeschlagen.

 

Es ist noch nicht vorbei. Als nächstes ist die Frau dran, die ihn erwischt hat. Der Junge springt zurück auf die Kisten und von dort hoch auf den Steg. Fassungslos mit weit aufgerissenen Augen ist diese noch wie erstarrt vom Anblick ihres ermordeten Bosses. So bekommt sie selbst gar nicht wirklich mit wie Eren über sie hinwegfliegt und ihr dabei den Kopf mit einem ekligen Knacken nach hinten dreht. Inzwischen hat seine Heilkraft auch die Kugel bereits soweit herausgedrückt, dass sie Eren einfach aus seinem Bein ziehen und wegschnippen kann, sodass die Schusswunde vollständig heilen kann.

 

Natürlich blieb sein Sprung auf den Steg nicht unbemerkt. Einige erklimmen die Leitern oder rennen die Treppe hoch während die restlichen ihre Waffen auf den Zwölfjährigen richten und abdrücken. Noch einmal hat er nicht vor sich treffen zu lassen. Anstatt vor den Mafiatypen zu fliehen, rennt er ihnen entgegen, was diese sichtlich verwirrt. Den Ersten wirft er über die Brüstung, die nächsten Beiden packt er am Hals und schmettert ihre Köpfe auf den Steg und dem Vierten kickt er die Waffe aus der Hand, packt ihn am Kragen und positioniert ihn so, dass er die Kugeln seiner Kollegen abfängt. Bei jedem Treffer zuckt er zusammen bis sein Körper versagt.

 

„Eren? Was ist da drin los? Warum höre ich Schüsse?“, meldet sich Ajax in seinem Ohr.

 

„Ähm, naja, sie haben mich entdeckt. Aber keine Sorge, ich regle das“, versichert der junge Turano, lässt den menschlichen Schutzschild fallen, springt selbst über die Brüstung und landet treffsicher auf den Schultern einer Frau, die er dadurch zu Boden reißt.

 

„Du solltest dich doch nicht entdecken lassen“, seufzt der Ältere enttäuscht.

 

Eren weicht den Schüssen des nächsten Mannes aus, kommt ihm dabei mit jedem Schritt näher bis er dessen Arm mit dem Gewehr zu fassen bekommt und ihn dazu benutzt die nächsten drei Mitglieder zu erschießen, die versuchen wollten ihrem Freund zu helfen. Er selbst benutzt die Waffe ja nicht, deshalb hat er in seinen Augen nicht gegen Ajax´ Worte verstoßen. Sobald der Weg zum Gang frei ist, bricht er seinem unfreiwilligen Helfer das Genick und flitzt zwischen die Kisten in Deckung.

 

„Ja, ich weiß. Es tut mir leid“, rattert er die Entschuldigung ab. Er kann ja nichts dafür, dass er angeschossen wurde.

 

„Ich hab das Gefühl, die Mission mit diesem Max hat dich allmählich weich gemacht“, behauptet sein Bruder.

 

Weich gemacht? Wer rennt denn hier gerade durch eine Lagerhalle und bringt eine Menge Mafialeute um? Hinter der nächsten Abzweigung begrüßen ihn vier der besagten Leute mit einem Kugelhagel. Gerade noch rechtzeitig springt Eren hoch, stößt sich an der Wand ab und landet mit gespreizten Krallen hinter ihnen. Zwei Sekunden später hat jeder der Vier ein hübsches Loch in der Brust.

 

„Nein, das hat nichts mit Max zu tun. Ich war nur kurz abgelenkt“, versucht er den Blonden zu verteidigen. Auch wenn er selbst nicht versteht wieso.

 

Dieser Gang ist gesäubert, weshalb er zwangsläufig wieder auf der freien Fläche in der Mitte landet, wo die Fotos der Auktionsgegenstände aufgehängt wurden. Eine Blockade aus zehn Leuten versperrt ihm den Weg, kein Hindernis für den Zwölfjährigen, aber dennoch bleibt er stehen. Etwas verwirrt ihn. Sie schießen nicht auf ihn. Sein Assassineninstinkt schreit, er solle die Situation ausnutzen, dennoch bleibt er im Abstand von mehreren Metern stehen und fixiert die Reihe der Mafiamitglieder. So wie Eren es beurteilen kann, sind das hier die letzten, die noch am Leben sind. Zumindest schreit sonst nirgendwo mehr jemand, was nicht heißt, er kann ausschließen, dass sich nicht doch jemand irgendwo versteckt hat und das hier ein Hinterhalt werden soll. Nur die Stimmung passt nicht ganz zu einer Falle. Es ist eher eine vorsichtige, geladene Atmosphäre, vermischt mit Angst, Wut und Blut. Letzteres nimmt er am intensivsten wahr, klebt ja genug davon überall an ihm. Ob ihn Ajax so überhaupt ins Auto einsteigen lässt?

 

Mit gespreizten Krallen behält er jeden Atemzug der Mafia im Auge. Wieso schießen sie nicht? Das lässt ihm einfach keine Ruhe. Er hat gerade den Großteil ihrer Freunde umgebracht und trotzdem drückt niemand ab? Sie schreien auch nicht mehr oder laufen unkoordiniert durcheinander. Es ist, als hätte jemand das Kommando übernommen und sie neu organisiert. Das muss es sein! Dieser Serpent steckt doch auch noch irgendwo! Zumindest hofft Eren, dass der Chef nicht schon mit zerfetzter Kehle irgendwo in seinem eigenen Blut liegt.

 

„Na sowas. Du bist ja wirklich noch ein Kind. Als mir das berichtet wurde, dachte ich, sie erzählen nur Unsinn.“

 

Eren fixiert die Person, die seelenruhig aus den Schatten hervortritt, durch die Schützen hindurchgeht und zwei Schritte weiter stehen bleibt. Überrascht sieht der Junge die Frau an, die so aussieht, als wäre sie am falschen Ort. Sie hat blonde Haare, die zu einer kunstvollen Frisur hochgesteckt wurden, blutrote Lippen, eine auffällige Schminke, an ihren Ohren glitzern lange Steinchen und das paillettenbestickte Kleid funkelt bei jeder noch so kleinen Bewegung. Von ihrem rechten Handgelenk den Arm hinauf, über die Schultern und hinunter zum linken Handgelenk prangt eine grüne Schlange mit weit aufgerissenem Maul. Serpent ist anscheinend eine Frau.

 

„Eren, bist du endlich fertig? Ich hör keine Schüsse mehr“, meldet sich Ajax zu Wort, dem Eren gerade nicht antworten kann.

 

Serpent mustert das Kind von der Kapuze über die Krallen bis hin zu den blutbesudelten Turnschuhen. „Ach, herrje. Wie siehst du denn aus, Jungchen?“ Kopfschüttelnd fasst sie sich an die Wange. „Und sieh dir an, was du angestellt hast.“ Vorwurfsvoll deutet sie auf die Leichen, die hier und da zu sehen sind. „Du hast meine Freunde getötet. Wieso tust du so was, Junge? Was bist du? Ein normales Kind könnte niemals so viele meiner Freunde töten, ohne auch nur einen Kratzer abzubekommen. Zu wem gehörst du? Wo sind deine Kollegen, hm? Du bist doch kaum allein hier.“

 

Eren denkt nicht dran auch nur einen Ton von sich zu geben. Stattdessen schweift sein Blick über die verbliebenen Mitglieder. Wie lange würde es wohl dauern, sie auszuschalten? Vermutlich keine zehn Sekunden. Er befürchtet nur, wenn er jetzt vorprescht, verliert mindestens die Hälfte von ihnen die Selbstbeherrschung und feuert wild drauf los. Die Wahrscheinlichkeit, dass dabei die Anführerin getroffen wird, ist zu hoch.

 

„Verstehst du überhaupt, was ich sage, Kleiner?“ Wieso sieht sie ihn so mitleidig an? Ihr Verhalten irritiert den jungen Turano. Ob sie es auch darauf abgesehen hat?

 

*Schluss jetzt!*, ermahnt er sich selbst. *Bleib konzentriert, Eren!*

 

„Eren! Antworte mir!“, fordert sein Bruder ungeduldig.

 

Langsam hebt er den Arm, zieht die Krallen ein und drückt auf den kleinen Knopf am Funkgerät. „Bin gleich fertig.“

 

„Na, so was. Du sprichst ja doch unsere Sprache. Und Freunde hast du auch. Wo sind sie? Stellst du sie uns vor?“, schleimt Serpent übertrieben.

 

Glaubt sie etwa, nur weil Eren erst zwölf ist, ist er naiv genug, um ihr dieses Getue abzukaufen? Da hat sie sich aber gewaltig geschnitten. Okay, lange genug hier herumgestanden. Er hat noch immer einen Job zu erledigen.

Serpent seufzt hörbar. „Wie schade, dass du nicht kooperieren willst, Kleiner. Ich hätte dich gern bei uns aufgenommen. Du hast für dein Alter wirklich was drauf, muss ich zugeben. Na? Wie wär´s? Willst du bei uns einsteigen?“

 

Sprachlos blinzelt der Junge sie an. Meint sie das ernst? Er soll Mitglied der Mafiaorganisation werden, die er gerade versucht auszulöschen? Ist die Frau noch ganz dicht? Am besten erlöst er sie schnell von ihren verrückten Wahnvorstellungen.

 

„Wirklich schade“, wiederholt sie noch einmal, dreht sich um und verschwindet in den Hintergrund. „Tötet ihn.“

 

Auf diesen Befehl haben die zehn Leute gewartet. Sofort fliegt Eren ein regelrechter Kugelhagel entgegen, der jeden anderen komplett durchlöchern würde. Zeit mal wieder Ajax´ Regel ein wenig zurechtzubiegen. Er soll ja keine Kräfte einsetzen, weil er keine Spuren hinterlassen soll. Nun gut. Das versteht er. Dann nutzt er eben nur Kräfte, ohne Spuren zu hinterlassen.

 

Völlig entspannt hebt er den rechten Arm in einer Geste, als würde er einen Schild vor sich halten. Sofort gehorcht seine Kraft, färbt die Iris grün und lässt eine durchsichtige, goldene Kugel um ihm herum entstehen. Gleichzeitig streckt er die linke Hand Richtung Zielperson aus, die auch von einer dieser Kugeln umhüllt wird. Jedes Geschoss prallt am Schutzschild ab und fliegt zu ihrem Ursprung zurück. Das Resultat: die verbliebenen Mafiamitglieder haben sich selbst erschossen, keine übernatürliche Spuren sind zu sehen und die Anführerin lebt auch noch. Mission erfüllt.

 

Eren lässt die beiden Schutzschilde verschwinden und geht auf die Frau zu. „Sie kommen jetzt mit mir. Wenn sie kooperieren, muss ich Ihnen nicht wehtun.“

 

„Was? Wie?“ Sie bekommt nur geschocktes Gestammel zusammen. Vollkommen fassungslos starrt die Blondine vom unversehrten Eren zu ihren toten Handlangern und zurück. Von einem Wimpernschlag zum nächsten verändert sich ihr komplettes Auftreten. Etwas bedrohliches, gefährliches hüllt sie ein, was Eren dazu bringt stehen zu bleiben. Ihr Gesicht ähnelt nun mehr einer Fratze als sie von irgendwo unter dem Kleid eine Pistole hervorzaubert und wutentbrannt auf das Kind richtet. „Was hast du getan?! Wieso bist du nicht tot?! Was bist du? Verrecke gefälligst!“

 

Sie lässt ihm überhaupt keine Möglichkeit zu sagen, dass er ihr nichts sagen wird. Sie schießt sofort, als hätte sie nicht mit eigenen Augen gesehen, dass das bei ihm nichts bringt. Noch bevor die Kugel die halbe Strecke passiert hat, ist Eren verschwunden und taucht hinter der Mafiachefin wieder auf. Sie soll nur auf Fragen antworten können. Zunächst packt er ihren Unterarm, mit dem sie die Waffe hält und bricht ihn. Die Pistole kickt er außer Reichweite. Sie kreischt auf, brüllt Flüche vor sich hin und wird immer rasender. Jetzt flippt sie wohl völlig aus. Ob das daran liegt, dass sie jetzt nichts mehr zu verlieren hat?

 

Irgendwie hat sie es geschafft sogar aus der Frisur ein kleines Messer zu ziehen, mit dem sie nach ihm schlägt. Eren weicht der Klinge geschickt aus, so wie er es schon tausende Male beim Training mit Ajax getan hat und macht auch diesen Arm unschädlich. Vor Schmerzen fällt sie auf die Knie, schreit und weint und flucht.

 

„Noch irgendein Trick oder geben Sie auf?“, erkundigt sich das Kind mit emotionslosem Blick. Ihn lässt der Anblick der verkrüppelten Frau komplett kalt. Da sie nicht den Anschein macht, noch etwas unternehmen zu wollen, benachrichtigt er seinen Bruder. „Du kannst reinkommen. Ich hab alle ausgeschaltet und die Chefin ist bereit für deine Fragen.“

 

„Endlich.“ Warum sollte Ajax auch zufrieden sein? „Bin unterwegs.“

 

Nur wenige Sekunden später wird schon das Hallentor aufgeschoben, doch es ist nicht Ajax, der hereinkommt. Als Eren das klar wird, versteckt er sich sofort auf dem nächsten Kistenturm im Schatten und verfolgt mit geweiteten Augen das Geschehen.

 

Eine ganze Einheit mit erhobenen, schussbereiten Waffen stürmt die Halle. Einer von ihnen brüllt dabei: „Achtung, Polizei!“

Keine Zeugen

„Achtung, Polizei! Keine Bewegung oder wir ...“, kündigt der Hauptmann sie lauthals an und verstummt als er das Massaker erkennt. „... schießen. Ach, du Scheiße. Was ist hier denn passiert?“

 

Was zum Teufel ist hier los? Was haben die hier zu suchen? Verärgert beißt Eren die Zähne zusammen und ballt die Hände zu Fäusten. Müssen die ausgerechnet jetzt hier aufkreuzen? Gerade als er fertig wär? Wieso hat Ajax ihn nicht gewarnt? Dann wäre er schon längst hier raus. Wenn die Polizisten ihn so blutbefleckt finden, gibt’s gewaltige Probleme. Von seiner Familie.

 

Immer mehr Polizisten senken ihre Waffen beim Anblick der vernichteten Mafia. Manche werden sogar ziemlich bleich und sehen so aus, als würden sie sich jeden Moment übergeben.

 

„Könnte das ein Bandenkrieg gewesen sein?“, spekuliert eine Brünette laut.

 

„Das sieht mir nicht danach aus“, antwortet der Hauptmann. „Hier liegen nur Leichen der Serpent-Organisation.“

 

„Vielleicht haben die anderen ihre Toten mitgenommen?“

 

„Ja, vielleicht.“ Der Mann ist neben der Leiche einer Frau in die Hocke gegangen und mustert sie mit gerunzelter Stirn. „Sieh dir mal diese Wunden an. Die sehen nicht aus, wie von Kugeln oder Messern. Eher wie Krallen. Aber welches Tier sollte eine Mafia so abschlachten?“

 

Die Polizistin hat einen weiteren Toten mit seltsamer Wunde entdeckt. „Der hier hat ein Loch in der Brust."

 

„Irgendwas passt hier ganz und gar nicht zusammen. Das war kein Bandenkrieg, soviel steht fest. Und ganz sicher auch kein Tier.“ Der Mann richtet sich auf und kratzt sich überfordert am Kopf. „Teilt euch auf. Vielleicht finden wir irgendwo einen Hinweis.“

 

Eren ist nicht begeistert zu sehen, dass sich die Polizisten aufteilen, um die Gänge zu erkunden. Wenn sie nach oben auf den Steg kommen, sehen sie ihn. Aber wenn er jetzt auf die Plattform springt, um durch das Fenster zu fliehen, würde er seine Zielperson zurücklassen. Zielperson. Sich innerlich verfluchend sieht er sich nach Serpent um. Er hat sie doch tatsächlich vergessen! Das ist ganz und gar nicht gut. Ist sie noch in der Halle? Oder hat sie einen Hinterausgang benutzt? Egal, er muss sie auf jeden Fall vor den Polizisten … Das darf doch jetzt nicht wahr sein!

 

„Bobby, da kommt jemand!“, teilt die Brünette ihrem Hauptmann mit, zückt die Waffe und richtet sie auf die Frau im auffälligen Paillettenkleid.

 

„Nicht schießen! Nicht schießen!“, fleht sie verzweifelt. Jetzt sieht sie nicht mehr so selbstbewusst aus. Ihre Frisur hat sich verabschiedet, durch ihr Geheul ist ihr Make-up verschmiert, ihre gebrochenen Arme haben sich lila gefärbt und hängen nutzlos zu ihren Seiten herab. Taumelnd mit nur einem High Heel stolpert sie auf die Polizisten zu.

 

„Stehen bleiben!“, befiehlt der Hauptmann, Bobby, und zieht ebenfalls seine Pistole.

 

Serpent gehorcht. „Ich ergebe mich. Nur haltet mir IHM vom Leib!“

 

„Ihm?“, wiederholt er alarmiert.

 

Erens Augen huschen zum Tor. Wo bleibt Ajax? Wollte er nicht kommen? Oder hat er sich draußen irgendwo vor den Polizisten versteckt? Was soll er jetzt nur tun?

 

„Sir, diese Schlangentätowierung, könnte das Serpent sein?“, mutmaßt die Brünette leise an ihren Chef gewandt, ohne die Mafiafrau aus den Augen zu lassen.

 

„Nehmen Sie die Hände hoch!“ Fordernd zielt er jetzt direkt auf sie.

 

„Ich kann nicht“, weint sie. Eren hat wohl nicht nur ihre Arme gebrochen.

 

Auf ein Handzeichen hin umzingeln die Polizisten die Frau, die sich nicht vom Fleck bewegt. Äußerst wachsam nähert sich der Hauptmann Schritt für Schritt. „Sie sind Serpent, nicht wahr? Die Anführerin der Serpent-Organisation?“ Die wimmernde Mafiachefin nickt leicht. „Was ist hier geschehen?“

 

„Ich werde alles erzählen, aber bringt mich erst hier weg“, drängt sie zitternd.

 

Einen Moment schweigt der Mann, denkt nach, schließlich senkt er die Waffe. „Nun gut. Ludwig, schnappen Sie sich drei Leute und bringen Sie Serpent ins Krankenhaus. Und lassen Sie sie ja nicht aus den Augen. Ich hab ein paar Fragen an sie.“

 

Dankbar zucken Serpents Mundwinkel während sie gehorsam den vier Polizisten Richtung Tor folgt. Eren ist immer noch kein Plan gekommen, wie er die Frau aus den Fängen der Polizei befreien und zu seinem Bruder bringen soll, ohne selbst verhaftet zu werden. Was soll er nur tun? Überfordert beginnen seine Gedanken zu rasen.

 

„Ajax, hörst du mich?“, erkundigt er sich im Flüsterton.

 

„Was?“, kommt keine Sekunde später die Antwort.

 

„Die Polizisten haben Serpent geschnappt. Sie wollen sie in ein Krankenhaus bringen.“ Wenn sie sie befragen, erfahren sie zwangsläufig von ihm. Sie werden herausfinden, dass ein außergewöhnliches Kind mit seltsamen Kräften die gesamte Serpent-Mafia ausgelöscht hat. Oder zumindest diejenigen, die mit den Vorbereitungen der Auktion beschäftigt waren. Die Chance besteht zwar, dass die Frau ihn nicht als Turano erkannt hat und für eine Verrückte gehalten wird, aber es wäre dennoch eine Zeugin. Eine lebende Zeugin. Weder sein Vater noch sein Bruder mögen lebende Zeugen, egal ob diese nun Informationen hätten, die ihnen gefährlich werden könnten oder nicht.

 

„Und? Tu das, was wir trainiert haben. Du weißt ja, in unserer Branche gibt es keine Zeugen. Ich dachte, dir wäre klar, was jetzt zu tun sei, Eren?“ Ein bekannter, drohender Unterton schwingt in der Stimme von Ajax mit.

 

„Ja, aber ...“, beginnt der Junge mit Gewissensbissen.

 

„Aber?“ Jetzt ist etwas Warnendes dabei.

 

Stumm atmet der Junge tief durch. Keine Gefühle. Keine Hindernisse. Nur das Ziel vor Augen. „Nichts. Habe verstanden. Ist so gut wie erledigt.“

 

Ajax schnaubt nur unzufrieden.

 

Die Polizisten haben vielleicht nichts mit dieser illegalen Auktion zu tun, aber sie stehen der Erfüllung seiner Mission im Weg. Sie dürfen weder Serpent befragen noch die ganzen Sachen und Tiere hier aus Flaurana entdecken. Es gibt nur Ajax´ Lösungsweg, um erfolgreich vor seinen Vater treten zu können. Egal, ob es dem Jungen gefällt oder nicht. Das Risiko ist einfach zu groß. Sein Bruder hat das Kommando, er muss sich an die Anweisungen halten und tun, was von ihm verlangt wird. So wie immer. Ajax weiß schon was er tut. So wie immer.

 

Geduckt schleicht sich Eren über die Kisten nach vorne bis zum Tor, wo er lautlos zu Boden springt. Da alle Anwesenden ihre Aufmerksamkeit auf die Mafiafrau oder die Waren gerichtet haben, bemerkt niemand wie sich der Junge aufrichtet und seelenruhig das große Tor zuschiebt, um den Fluchtweg zu versperren. Erst beim Quietschen der Schienen wenden sie sich zu ihm um, teils mit und teils ohne Waffen. Die Gruppe um Serpent herum ist unsicher stehengeblieben.

 

„Was ist da los?“ Der Hauptmann bahnt sich einen Weg durch seine Einheit. Als er den Eindringling entdeckt, zieht er irritiert die Stirn kraus und wirkt als würde er seinen Augen nicht trauen. „Ein Kind? Nicht schießen. Um Gottes Willen nehmt eure Waffen runter!“

 

„Nein! Das ist er! Das ist ER! Beschützt mich! Er hat alle ermordet! Er ist ein Monster!“, schreit die Frau hysterisch und versucht zu fliehen, wird allerdings von je einem Polizisten an den Oberarmen festgehalten, weshalb sie nur panisch zappeln kann.

 

„Was? Der Junge soll dieses Massaker angerichtet haben? Kommen Sie schon. Der ist doch höchstens Zwölf, wie soll so ein Knirps allein eine Mafiaorganisation so zurichten können?“, lacht der Hauptmann ungläubig. Er steckt die Pistole in den Holster und stemmt autoritär die Hände in die Hüften, setzt dabei ein freundliches Lächeln auf. „Was machst du um diese Zeit hier, Kleiner? Solltest du nicht längst schlafen? Das hier ist kein Spielplatz, das ist ein echter Tatort, kein Ort für ein Kind.“

 

„Ach, nein?“, fragt Eren gespielt überrascht. Er hat inzwischen das Tor ganz zugeschoben und sich unschuldig zu den Polizisten umgedreht. „Heißt das, ihr wollt nicht mit mir spielen?“

 

„Spie...? Hör mal, Kleiner, wir haben keine Zeit für Spiele“, entscheidet der Mann streng und winkt einen jungen Polizisten heran. „Gary, bringen Sie den Bengel nach Hause.“

 

Gary wird blass. Er hat keine Lust darauf diese Fahrt zu machen. Seine Augen sind groß vor Angst als er Eren einen Seitenblick zuwirft und hinter vorgehaltener Hand seinem Boss zuraunt: „Bobby, haben Sie nicht bemerkt, dass er voller Blut ist? Spüren Sie nicht, dass etwas bedrohliches von ihm ausgeht?“

 

„Ich wusste nicht, dass Sie so ein Angsthase sind, Gary“, lacht der Polizeichef. Das Lachen bleibt ihm schon kurz darauf im Hals stecken als er nun doch all das Blut an den Klamotten, den Händen und auch im Gesicht des Kindes bemerkt. „Bist du verletzt, Kleiner?“

 

„Ist nicht mein Blut.“ Eren macht eine wegwerfende Handbewegung. „Ich will jetzt spielen. Es ist echt nichts persönliches, als seid mir nicht böse.“ Ein Unheil verkündendes Versprechen legt sich über seine Augen. „Ihr steht mir einfach nur im Weg.“

 

Bevor auch nur irgendjemand in der Halle reagieren kann, ist Eren vorgeprescht und hat Bobbys Herz durchbohrt. Der Hauptmann hat die Augen weit aufgerissen und versucht irgendwas zu sagen, aber die Worte ersticken noch bevor sie seine Lippen verlassen. Dann erschlafft der Körper, Eren zieht die Hand zurück und geht beiseite, sodass der Mann zu Boden stürzt.

 

„Seht ihr?! Seht ihr?! Ich hab´s euch ja gesagt! Er ist ein Monster!“, kräht Serpent mit einem irren Lachen. Irgendwie kommt sie Eren nicht geeignet vor eine Mafia anzuführen.

 

„Bobby!“, rufen mehrere Stimmen entsetzt. Das Klicken von entsicherten Waffen ist von überall her zu hören.

 

„Was hast du getan?!“ Die Brünette vom Anfang geht mit zitternden Fingern und Tränen in den Augen auf den Jungen zu. „Keine unüberlegte Bewegung oder ich schieße! Nimm jetzt langsam die Hände hoch.“

 

Keine unüberlegte Bewegung? Wie gut, dass Erens Bewegungen alle überlegt sind. Außerdem hat er nicht vor sich zu ergeben oder das zu tun, was eine Polizistin von ihm verlangt. Das beweist er auch gleich, indem er zu der Frau flitzt, über sie hinweg springt und ihr dabei den Kopf nach hinten dreht. Anschließend landet er leichtfüßig und lächelt emotionslos die in Panik geratenen Polizisten an.

 

„Was ist das nur für ein Kind?!“

 

„Wir sind verloren!“

 

„Das ist ein Monster!“

 

„Ich hätte heute doch krank machen sollen!“

 

Egal wie sehr sich die Polizisten auch bemühen, sie schaffen es nicht den Zwölfjährigen aufzuhalten. Zuerst werden diejenigen getötet, die tatsächlich die Torheit besitzen zu versuchen, an Eren vorbei zum Ausgang zu gelangen. In ihrer Verzweiflung zielen sie nicht einmal richtig mit den Waffen, sodass er den meisten Schüssen gar nicht erst ausweichen muss. Wenn doch einmal eine Kugel trifft, dann nur einen anderen Polizisten. Eren wütet durch die Reihen, schaltet einen nach dem anderen aus bis die ohnehin schon blutdurchtränkte Halle regelrecht in Blut schwimmt. Der Geruch hängt schwer in der Luft, überall kleben rote Flecken und Spritzer und dazwischen liegen tote Körper.

 

Sobald er der letzten Polizistin die Kehle aufgeschlitzt hat, sie hatte sich hinter einer großen Truhe versteckt und um ihr Leben gefleht, sieht er sich nach Serpent um. Deren Paillettenkleid hat er in dem Chaos aus den Augen verloren, aber da sie zu aufgelöst ist, um klar denken zu können, hört er in der Totenstille ganz deutlich ihren High Heel klacken und macht sich auf den Weg.

 

„Wo willst du denn hin?“ Unter Flehen und Wimmern zerrt Eren die Frau zurück Richtung Tor und gibt unterwegs seinem Bruder noch einmal Bescheid, dass er diesmal wirklich fertig ist.

Die Perle

Als Ajax kurz darauf die Lagerhalle betritt und sich kritisch umsieht, hat Eren die Frau auf einen der Stühle geparkt, die für die geplante Auktion vorgesehen waren. Anders als sein kleiner Bruder hat Ajax nicht einen einzigen Blutstropfen am Körper. Wie meistens fragt er sich, wie er das schafft. Nun gut, wenn er mehr Genicke gebrochen und weniger Kehlen aufgeschlitzt hätte, wäre vielleicht auch weniger Blut auf ihm.

 

„Das hat ja ganz schön gedauert. Ich dachte schon, du wirst mit den paar Leuten nicht fertig. Nun gut … Hattest du irgendwelche Schwierigkeiten?“ Ajax meidet es in eine rote Pfütze oder auf einen toten Körper zu treten, inspiziert jedoch genauestens die Arbeit seines Bruders, der unter dem kritischen Blick beginnt sich nervös anzuspannen.

 

*So müssen sich die anderen in der Klasse vor einer Prüfung fühlen*, schießt es Eren unerwartet durch den Kopf. „Nein. Die Razzia der Polizei hat mich kurz durcheinander gebracht, aber ich hab sie alle erwischt und auch den Kopf der Mafia gefasst.“

 

„Hm. Du hast ein ganz schönes Blutbad hinterlassen. Hatten wir nicht gesagt, keine Spuren? Das hier sind mehr als deutliche Spuren, die mir sagen: Du brauchst mehr Assassinentraining“, stellt der junge Mann fest als er vor Eren stehen bleibt und abschätzend auf die Frau sieht. „Das ist also die Anführerin der Mafia?“

 

„Ja. Sie haben sie Serpent genannt“, erzählt Eren erleichtert, dass keine Strafpredigt zu hören ist. Im Moment.

 

„Gut.“ Der ältere Turano zieht sich einen weiteren Stuhl heran, mit der Lehne auf die Frau gerichtet und setzt sich rittlings darauf. „Sie sind also Serpent, ja? Unterhalten wir uns ein bisschen.“

 

Die Frau gibt keine Antwort. Sie sieht wie ein zusammengesunkenes Häufchen Elend aus, das nur zu Boden starrt, ohne seine Umwelt wahrzunehmen. Doch Ajax kennt Mittel und Wege, um auch aus solchen Leuten noch Informationen herauszubekommen. Das weiß auch Eren. Genauso wie er weiß, dass er beim Verhör keine Hilfe sein wird, weshalb er sich kurzerhand entfernt und aus reiner Neugier anfängt die Kisten zu öffnen und deren Inhalt zu durchsuchen. Mit einem Ohr hört er dabei auf Ajax´ Stimme, falls er gebraucht werden sollte.

 

In einer Kiste findet er rostige Teile von alten Rüstungen, in einer anderen verschiedene Knochen und Knochenteile. Eine Truhe ist voll mit schicken, teuer aussehenden Schuhen. In einem Fass findet er eine stark riechende, dickflüssige Pampe und in einem kleinen Holzkäfig hocken zusammengedrängt und im Halbschlaf zwei weiße Erdmännchenkinder. Je mehr Waren er begutachtet, desto mehr bestätigt sich seine Vermutung, dass hier nicht nur Dinge aus Flaurana versteigert werden sollten. Diese Mafia hat überall wertvolle Dinge und Tiere zusammengeraubt, um sie hier teuer verkaufen zu können. Wie gut, dass sie dem ein Ende machen konnten.

 

Gerade als Eren durch einen schmalen Spalt in einen Metallkäfig späht und das darin befindliche Kirin entdeckt - eine pferdgroße merkwürdige Mischung aus Hirsch, Hase und Pferd, das leblos am Boden liegt und nur ab und zu atmet - spürt er ein seltsames Gefühl in seinem Magen. Es ist nicht unangenehm, es scheint ihn irgendwohin ziehen zu wollen. Als wäre er mit etwas verbunden, das die Leine zwischen ihnen allmählich einzieht. Vielleicht wäre es klüger, nicht weiter nachzuforschen, aber Eren ist zu neugierig und will wissen, was das zu bedeuten hat. Immerhin sind viele Dinge hier aus einer Welt, in der es Magie gibt.

 

Dem Gefühl folgend dringt er immer weiter in den hinteren Bereich der Halle vor, wo er zuvor noch nicht war, weshalb es hier so unblutbesudelt aussieht. Er kommt an Statuen aus beiden Welten vorbei, an weiteren Käfigen mit betäubten Tieren, vielen Kisten und Truhen.

 

Das ist irgendwie aufregend, nicht wahr?

 

Naja. Wir irren durch ein Lagerhaus wegen eines läppischen Gefühls, was soll daran aufregend sein?

 

*Ach, ihr seid auch noch da? Hab schon angefangen mich daran zu gewöhnen, allein in meinem Schädel zu sein.*

 

Niemals! Das kannst du dir gleich aus dem Kopf schlagen, Kleiner! Wir sind ein Teil von dir. Aber dieses verdammte Mittel! Es hat mich eingesperrt!

 

Uns. Es hat ein bisschen gedauert bis wir stark genug waren wieder mit dir in Kontakt zu treten. Du hast doch sicher auch bemerkt, dass deine Kräfte schwächer waren, nicht wahr?

 

*Ja, stimmt*, gibt der Junge der hellen Stimme recht.

 

Aber seid ihr sicher, dass uns etwas nach da hinten ruft? Ich spür nämlich nichts.

 

*Ach nein?* Stutzig hebt Eren die Augenbrauen. Das ist seltsam. Was hat das zu bedeuten? Er ist sich sicher, dass er diese seltsame Leine spürt. Und der Dämon offenbar auch.

 

Echt nicht? Tja, da ist mein Gespür für coole, seltsame Dinge wohl besser als deins.

 

Woher willst du wissen, dass es etwas cooles oder seltsames ist?

 

*Könntet ihr wieder still sein? Ich glaub, ich bin gleich da.* Da die Stimmen noch geschwächt sind, tun sie sogar was Eren verlangt. Wenn das nur immer so wär.

 

Hinter der nächsten Abzweigung wird das ziehende Gefühl noch stärker, es pulsiert und dirigiert ihn zu einer kleinen schwarzen Truhe auf deren Deckel die Umrisse einer fremdartigen Rune eingraviert sind. Ganz klar ein Gegenstand aus Flaurana. Vorsichtig hebt er die Truhe auf und stellt sie auf einer Kiste ab. Ein Schloss mit weiteren Runen verschließt die Truhe und es sieht nicht so aus, als hätte schon jemand der Mafia diese geöffnet.

 

Was glaubt ihr, ist da drin?

 

Hoffentlich ist es den Aufwand wert.

 

„Das werden wir gleich sehen.“ Eren umfasst das Schloss und zieht daran. Nichts geschieht. Auch beim zweiten und dritten Versuch bleibt die Truhe verschlossen, was den Jungen verwirrt und kränkt. „Ist das Schloss verzaubert oder so?“

 

Wow, was für ein Genie. Was glaubst du denn, wofür die Runen stehen?!

 

Der Junge ignoriert den Einwand, stimmt der Stimme jedoch stumm zu. Wenn das Schloss seine menschlichen Kräfte standhält, dann muss er es eben mit übermenschlichen versuchen. Mit lilafarbenen Augen umfasst er erneut das Schloss, dessen Runen sofort rot aufleuchten und der Bügel von Geisterhand aufspringt, ohne dass Eren daran gezogen hätte. Vor Überraschung lässt er es fallen, das Leuchten erlischt und es landet wie ein gewöhnliches Schloss klirrend am Boden.

 

„Was war das denn?“

 

Magie?

 

Okay, jetzt bin ich doch neugierig. Was ist in der Kiste?

 

Eren löst seine Augen von dem magischen Schloss und sieht zur Truhe. Da er jetzt weiß, dass der Inhalt auf alle Fälle was magisches an sich hat, ist er wachsam als er langsam den Deckel anhebt. Keine Ahnung was er erwartet hätte, aber nichts so ... so normales. Die Truhe ist mir weinrotem Samt ausgekleidet. Lediglich ein einziger Gegenstand liegt darin. Eine vielleicht im Durchmesser zwei Zentimeter große glatte Perle in deren Inneren dunkler Rauch wogt und im Zentrum dieselbe Rune wie am Deckel zu sehen ist. Egal von welchem Winkel er die Kugel ansieht, die Rune wandert mit, wie die Augen eines alten Gemäldes. Unheimlich.

 

Kurz zögert der Junge, doch dann gewinnt die Neugier und er nimmt die Kugel in die Hand. Das ist mit Sicherheit die Quelle des seltsamen Gefühls, das verschwunden ist als er das Schloss entfernt hat. Die Perle fühlt sich warm an und strahlt etwas machtvolles aus. Was auch immer das für ein Ding ist, es ist wertvoll und besitzt eine Menge Magie.

 

„Eren, wo steckst du?“

 

Bei der plötzlichen Stimme in seinem Ohr zuckt er ertappt zusammen und zieht den Kopf ein. „Ich hab mich nur etwas umgesehen.“

 

„Komm sofort her. Ich bin fertig. Wir können gehen.“

 

„Schon unterwegs.“

 

Kurzerhand steckt er die Kugel in die Jackentasche und eilt zu seinem Bruder zurück. Serpent sitzt noch immer zusammengesunken am Stuhl, allerdings läuft ihr Blut aus dem Mund und sie bewegt sich nicht mehr. Diesmal allerdings nicht, weil sie in Schreckstarre verfallen ist.

 

„Hast du herausgefunden, was du wissen wolltest?“, erkundigt er sich ohne der Frau einen Funken Mitleid zu schenken. Jetzt könnte sie eh nichts mehr damit anfangen, verdient hätte sie es erst recht nicht. Sie war immer noch die Anführerin einer Mafia.

 

„Ja. Vernichte die Lagerhalle“, befiehlt Ajax, macht bereits kehrt und geht auf das Tor zu.

 

„Moment“, hält der Jüngere ihn auf. „Vernichten? Du meinst, alles hier drin zerstören? Ich dachte, wir bringen die Sachen zurück nach Flaurana?“

 

Ohne stehenzubleiben antwortet der junge Mann: „Überleg doch mal, wir können nicht alles in den Bunker bringen und jedes Stück dahin zurückbringen, wo es hingehört. Wir wissen nicht einmal wo das sein soll. Es kann überall in Flaurana sein. Dafür ist die Teleportmaschine nicht gedacht. Wir sind kein Lieferdienst. Und wenn wir die Sachen hier herumliegen lassen, findet sie nur der nächste Kriminelle.“

 

„Und die Tiere?“, wirft Eren mit einem dicken Knoten im Bauch ein.

 

Ohne auf seinen Einwand einzugehen, wiederholt Ajax: „Vernichte die Lagerhalle. Wir treffen uns beim Wagen. Du hast drei Minuten.“

 

„Ja, Bruder.“ Geschlagen senkt er den Kopf und entfacht die dunklen Flammen in den Händen. *Tut mir leid.*

 

~~~

 

Mit dem Dämonenfeuer die gesamte Lagerhalle bis auf die Grundmauern niederzubrennen, ist eine leichte Übung. Es ist ein heißes Feuer, dem nichts gewachsen ist. Sobald er sich sicher ist, dass wirklich jede einzelne Kiste Feuer gefangen hat - nicht mal als sie bei lebendigem Leib verbrennen geben die Lebewesen einen Laut von sich, die wurden mit einem starken Mittel betäubt - verlässt der Junge selbst die Halle, schließt das Tor und fliegt auf den Parkplatz, wo Ajax bereits neben dem Golf auf ihn wartet.

 

Wie bereits vermutet lässt Ajax Eren mit all dem Blut nicht in den Golf einsteigen. Außerdem hatte der Ältere für die Heimkehr eh eine andere Route geplant. Den „geliehenen“ Wagen lassen die zwei einfach am Parkplatz stehen, während der Zwölfjährige sie beide über den Luftweg zurück zum Hotel fliegt. Unterwegs sind bereits die ersten Sirenen und Blaulichter auf dem Weg zum Hafen zu vernehmen. Das Feuer ist ja auch von Weitem gut zu erkennen.

 

Er darf jetzt nicht anfangen darüber nachzudenken, was er gerade getan hat, wie viele Leben er heute Nacht ausgelöscht hat, was er den unschuldigen Polizisten und Tieren angetan hat, sonst würde er sicher daran zerbrechen. Es gehört zu seinem Leben dazu: das Morden. Da macht die Form des Lebens, das er auslöscht, keinen Unterschied. Ihm tut das Herz nur wegen der Tiere weh, die rein gar nichts dafür können in der Lagerhalle gelandet zu sein. Zumindest müssen ihre Seelen jetzt nicht mehr in viel zu kleinen Käfigen stecken oder als Machtsymbol bei reichen Säcken versauern. Ein schwacher Trost. Sehr schwach. Sehr, sehr schwach.

 

Der Junge setzte sie beide am Balkon der Suite ab. Auch Benedikt war mittlerweile von seinem Meeting zurück und hatte sich auch gleich nach der Mission erkundigt. Bei der Besprechung selbst war Eren allerdings nicht dabei, Ajax und sein Vater haben ihn unter die Dusche geschickt. Turano konnte Eren nicht einmal ansehen, er kann einfach kein Blut sehen, was in seiner Brache mehr als untypisch ist. Deshalb lässt er die blutigen Aufgaben auch immer von anderen erledigen.

 

Nach der Dusche fühlte er sich wieder besser. Auch wenn er es gewohnt ist, irgendwo Blut zu spüren, ist es ohne einfach angenehmer. Die blutgetränkten Klamotten hat Eren in eine Plastiktüte gesteckt, um sie Zuhause zu entsorgen. Anschließend wurde der Junge ins Bett geschickt. Immerhin brechen sie schon um sieben Uhr wieder nach Hause auf, wo sein Trainingsplan auf ihn wartet.

Väterliche Gefühle (?)

Auf dem Weg zum Portal am nächsten Morgen bekommt Eren nebenbei mit, dass auch Igor und Viktor ihre Mission erfolgreich abgeschlossen haben. Was auch immer das für eine gewesen sein mag. Er hat auch nicht vor nachzufragen. Um keine Zeit zu verschwenden, hat Ajax noch in der Limo Erens heutigen Trainingsplan besprochen. Wie angekündigt, inklusive Bruderkampf in Verbindung mit Assassinentraining.

 

Dafür sollte Eren in einer halb zerfallenen Villaruine in Flaurana und dem umliegenden Wald Ajax finden und mit einem Pfeil, an dem eine Farbbombe als Spitze befestigt war, „töten“. Allerdings hat sich Ajax ständig in irgendwelche Tiere verwandelt oder Doppelgänger postiert, sodass Eren es nicht geschafft hat seinen Bruder ausfindig zu machen. Da er nur einen Köcher bekommen hat, konnte er auch nicht einfach auf alles was sich bewegt schießen. Außerdem war der Junge selbst auch ein Gejagter. Ajax hat ihn ebenfalls mit kleinen Waffen versucht auszuschalten. Mit echten. Der Ältere hat ein paar Mal gesiegt. Es ist einfach unmöglich Ajax in seiner Verwandlung zu erkennen. Aber zumindest war er im Großen und Ganzen am Ende relativ zufrieden mit Erens Leistung, auch wenn er ihn nicht einmal getroffen hat.

 

Für die restlichen Termine ging´s zurück in den Bunker: klassisches Krafttraining unter der Wirkung eines Muskelrelaxans, Zielübungen beider Kräfte – Dämonenseite: Schattenkugeln, Engelseite: Lichtsterne – am Boden und im Flug und zum Schluss Ausdauertraining, ebenfalls am Boden und im Flug.

 

Da am nächsten Tag wieder Schule ansteht, hat Eren kurz überflogen bei welchen Themen sie im Unterricht waren. Am meisten graust es ihm dabei vor der Kunststunde. Er ist einfach zu unkreativ in Dekobasteleien. Er kann dutzende kreative Wege aufzählen, wie man einen Menschen töten kann, aber irgendwelche Dinge aus Papier zu basteln? Das übersteigt seine Fähigkeiten.

 

~~~

 

Es ist mitten in der Nacht, alles ist dunkel und still. Eigentlich sollte Eren längst schlafen, aber er kann nicht. Stattdessen liegt er in seinem Bett, hat die kleine Lampe eingeschaltet und starrt Löcher in die Luft. In den Händen dreht er dabei die Perle aus der Lagerhalle. Er weiß selbst nicht genau, warum er sie mitgenommen hat. Er hat sie einfach eingesteckt, ohne groß darüber nachzudenken. Vielleicht, weil sie sein Interesse geweckt hat? Immerhin hat sie ihn zu sich geführt und das Schloss an der Truhe ist von allein abgefallen, als er versucht hat es mit Dämonenpower zu öffnen. Irgendein Geheimnis muss die Perle doch haben. Das sagt ihm sein Instinkt. Sonst wäre die Kugel doch kaum in einer Truhe mit magischem Schloss versteckt worden, oder?

 

„Komm schon. Verrat mir dein magisches Geheimnis“, versucht er die Kugel zu überzeugen. Außer dem Rauchspiel gibt das Ding keine Reaktion von sich. Was hatte er auch erwartet? Seufzend dreht er sich auf die Seite und mustert den kleinen runden Gegenstand zum gefühlt tausendsten Mal.

 

Plötzlich klopft es an der Zimmertür, was Eren zusammenzucken und schnell die Kugel unterm Kissen verstecken lässt. Gleichzeitig fragt er sich, weshalb jemand um diese Uhrzeit noch zu ihm will. Als er sieht, wessen Kopf im Türspalt auftaucht, irritiert ihn das noch mehr.

 

„Eren, kann ich rein kommen?“, fragt Benedikt Turano.

 

„Vater?“ Eren setzt sich auf und legt den Kopf leicht schief. Irgendwie benehmen sich dieses Wochenende alle in seiner Umgebung out of character. Das verwirrt ihn. „Ja, klar. Komm rein.“

 

Der Mann kommt näher und setzt sich auf die Bettkante. „Solltest du nicht schon längst schlafen? Immerhin hast du doch morgen die Mission in der Schule, nicht wahr?“

 

„Ja, ich kann nur irgendwie nicht einschlafen. Aber die Mission schaff ich trotzdem. Ich komme ja dank Ajax´ Training locker ein paar Tage ohne Schlaf aus“, versichert der Zwölfjährige sofort.

 

„Das weiß ich, aber du solltest trotzdem schlafen“, besteht der Mann darauf, der in der einfachen Jeans und dem Sweatshirt ungewohnt leger aussieht. So gut wie nie trägt sein Vater etwas anderes wie einen Anzug. „Was ist los?“

 

„Ach, nichts. Ich bin nur am Grübeln wegen dieser Sache mit Max. Ich weiß nicht was ich noch versuchen könnte, um herauszufinden, ob er hierher gehört“, gesteht der Junge und zieht die Beine an. Es ist nicht einmal gelogen. Er hat wirklich keinen Plan wie er es anstellen soll. Alles was ihm so in den Sinn gekommen ist, hat er bereits diese Woche ausprobiert. Außerdem, sollte er Kräfte besitzen, würde er sie doch niemandem auf die Nase binden, den er gerade mal eine Woche kennt. Obwohl … Max ist ziemlich naiv und leichtsinnig, also ist es nicht komplett unwahrscheinlich. „Ich meine, äußerlich hat er keinen einzigen abnormalen Hinweis. Da bin ich mir sicher. Auch vom Charakter her scheint er mir nicht der Typ zu sein, der irgendwelche Kräfte besitzt. Er könnte sich diesbezüglich aber auch verstellen …“ Jetzt fängt er tatsächlich an intensiv darüber nachzudenken welche Möglichkeiten er in der Schule noch ausprobieren und inszenieren könnte. „Das einzige, was mir momentan einfällt, wäre, wenn ich ihn irgendwie angreife und er sich verteidigen müsste. Wenn er aber nur ein Normalo ist, dann wäre das ziemlich ... unklug.“

 

„Klingt tatsächlich wie eine Zwickmühle“, kommentiert Turano überraschend verständnisvoll. „Anscheinend ist die Mission schwieriger, als zuerst vermutet, hm?“

 

„Das meinte ich nicht.“ Um nicht so zu wirken, als würde er am Erfolg des Auftrags zweifeln, hebt der Junge den Kopf und sieht möglichst zuversichtlich seinen Vater an. „Irgendwas wird mir schon einfallen, keine Sorge. Ich finde es heraus, versprochen. Ich werde dich nicht enttäuschen.“

 

„Daran hab ich nicht den geringsten Zweifel, Eren.“ Ein ehrliches, väterliches Lächeln hebt seine Mundwinkel an. Noch ein Detail, das Eren selten zu Gesicht bekommt und ihn durcheinander bringt. „Ich weiß, ich verbringe mit dir und Ajax nicht so viel Zeit, wie Väter das sollten und wir unternehmen auch nicht die typischen Vater-Sohn-Aktivitäten, aber unsere Familienaufgabe ist einfach zu wichtig und drängt die anderen Dinge leider in den Hintergrund.“

 

Was wird das hier? Versucht der Typ gerade ernsthaft einen auf Vater zu machen?

 

Ist doch richtig lieb von ihm, dass er es versucht. Sonst hat er doch immer so viel um die Ohren.

 

Was ist denn die Steigerung von verwirrt sein? Was auch immer es ist, Eren fühlt genau das. Nicht falsch verstehen, er freut sich über diesen unerwarteten „normalen“ Vater-Sohn-Moment, aber dennoch versteht er nicht, wieso er plötzlich so ist. Hat er etwa im Moment ein bisschen weniger Druck mit den beiden Firmen, sodass er Zeit hat sich nach seinen Söhnen zu erkundigen? Wird das hier etwa ein richtiges Gespräch? Ein Gespräch, in dem es nicht um eine Mission geht? Was ist heute mit ihm los? Worauf will er hinaus? Da die Situation für Eren viel zu unbekannt ist, bleibt der Junge im Moment lieber stumm und hört einfach weiter zu.

 

„Eigentlich hatte ich vor es dir schon Freitag zu sagen, aber nach diesem Halloweenauftrag fand ich, hättest du eher Ruhe verdient. Und ich hab´s auch vergessen, muss ich zugeben“, gesteht der Mann verlegen und sieht dabei zur Zimmerdecke auf.

 

Also geht’s doch wieder um die Arbeit. Wäre auch zu schön gewesen.

 

Als er wieder in Erens Augen sieht, wirkt er besorgt, aber nicht auf negative Weise. „Dein Bruder hat mir vom Verwandlungstraining berichtet.“

 

„Oh.“ Mehr bringt Eren nicht heraus und senkt beschämt den Kopf.

 

„Ich kann mir nicht vorstellen, wie anstrengend es sein muss, eine komplette Verwandlung zu vollziehen und die Kontrolle über die extremen Kräfte zu behalten – Ich bin mir sicher, du gibst dein Bestes – Ich hab mich nur gefragt, ob du vielleicht weißt, weshalb es nicht klappt, damit wir gezielter daran arbeiten können?“

 

„Hm.“ Der Grund ist eigentlich ganz einfach. Angst. Es ist nichts als Angst. Er hat Angst davor die Kontrolle über diese extremen Kräfte zu verlieren und dabei vielleicht jemanden zu töten, der nicht auf seiner Zielliste steht. Besonders seiner Familie will er nicht schaden. Aber irgendwann wird er diese Hürde überwinden müssen, sonst erlangt er nie seine volle Stärke. Es ist nur so schwer, wenn er vor den Spiegeln steht und deren Absichten genau erkennt. Der Dämon will einfach wahllos zerstören. Einfach nur aus Spaß. Und der Engel will sündige Seelen richten. Dazu gehören nunmal auch die Seelen seiner Familie. Sie haben getötet, wenn auch aus guten Gründen. Doch dem Engel sind die Gründe egal. Jeder der Blut an den Händen hat, soll ausgelöscht werden.

 

Turano hebt Erens Kinn an, sodass dieser gezwungen wird in sein ermutigendes Lächeln zu blicken. „Rede mit mir, Eren. Ich seh doch, dass dich was beschäftigt. Ich will dir nur helfen, deine volle Stärke zu erreichen. Ich glaube nämlich fest daran, dass du dazu im Stande bist, der stärkste von allen zu werden. Deshalb ist dein Training auch so hart, weil Ajax und ich dein schlummerndes Potential schon seit deinen ersten Anzeichen von Fähigkeiten erkannt haben. Ich gebe zu, manchmal ist es vielleicht etwas zu brutal, aber wir meinen es nur gut. Das weißt du hoffentlich, oder?“

 

Erstaunt sieht er seinen Vater an. Das war das netteste, was er je zu ihm gesagt hat. Ein kribbelndes Gefühl entsteht in seinem Bauch, das sich langsam in seinem Körper ausbreitet. „Ja, ich weiß, Vater.“

 

Benedikts Lächeln wird noch ein wenig breiter ehe es wieder der besorgten Mimik weicht. „Also? Sagst du mir jetzt den Grund, wieso die Verwandlung nicht funktioniert?“

 

„Nun ja.“ Wieder sieht Eren auf die Bettdecke. Es ist ihm unangenehm zugeben zu müssen, dass er versagt. Und dann auch noch in Dingen, in denen seine Familie so große Stücke auf ihn hält. Er hasst es ihre Erwartungen nicht erfüllen zu können. „Es ist eigentlich ziemlich bescheuert. Ich glaube, der Hauptgrund ist, ich hab … Angst. Wenn ich die Kontrolle bei den Verwandlungen verliere, könnte ich alles vernichten oder euch sogar töten.“

 

Dass Turano anschließend schweigt beunruhigt den Jungen, dennoch traut er sich nicht ihm in die Augen zu sehen. Stattdessen beginnt er die Decke zu kneten. Eine endlos erscheinende Minute später zuckt er bei der Berührung an der Schulter zusammen und zwingt sich seinen Vater anzusehen. Das Gesicht des Mannes ist nicht wie erwartet zornig oder enttäuscht, aufgrund des lächerlichen Hindernisses, vielmehr zeigt es ermutigendes Verständnis und ein ehrliches Lächeln.

 

„Das ist alles? Deshalb stehst du dir sozusagen selbst im Weg? Nun gut, das Problem können wir leicht lösen“, verkündet er sichtlich erleichtert, eine Lösungsidee gefunden zu haben. „Wie wär´s hiermit: Das Verwandlungstraining findet nach wie vor im Käfig der Höhle in Flaurana statt. Allerdings ohne anwesende Menschen, sodass du dir darum keine Gedanken machen musst. Unsere Ingenieure können sicher irgendwelche Vorrichtungen entwickeln, die dich aus sicherer Entfernung im Bunker betäuben können, solltest du dennoch die Kontrolle verlieren. Und? Was hältst du davon? Denkst du, so hast du weniger Hemmungen die Kräfte freizulassen?“

 

Eren denkt einen Moment darüber nach. Das scheint tatsächlich eine gute Lösung zu sein. Wenn niemand in der Nähe ist, den er unabsichtlich töten könnte und er dennoch aufgehalten werden kann, bevor er Flaurana zerstört, muss er keine Angst mehr haben gegen Engel oder Dämon zu verlieren. Entschieden nickt er seinem Vater zu. „So könnte es klappen.“

 

„Das wollte ich hören.“ Turano zieht zufrieden seine Hand zurück.

 

„Danke, Vater. Ich geb auf jeden Fall mein Bestes, um die Verwandlungen endlich hinzukriegen“, verspricht er feierlich und nimmt sich fest vor beim nächsten Verwandlungstraining, wenn die Vorkehrungen getroffen wurden, zumindest eine der Seiten unter Kontrolle zu behalten.

 

Und wovon träumst du nachts, leichtgläubiger Bengel? Du bildest dir doch nicht ernsthaft ein, dass diese kleinen nutzlosen Änderungen reichen, um mich zu unterwerfen, oder?

 

Du weißt, ich gebe dir gerne all meine Kräfte, aber nur, wenn du sie nutzt, um all die Sünder in den Welten auszumerzen. Wir müssen den Welten Frieden bringen. Versteh das, bitte.

 

*Wartet´s nur ab. Ich bin hier der Chef und ihr werdet tun, was ich von euch verlange.*

 

Als Antwort bekommt er nur zweistimmiges Gelächter zu hören.

 

„Ach ja, da wäre noch eine Kleinigkeit“, holt Turano seinen Sohn aus dessen Gedankendiskussion. „Ajax hat mir erzählt, dass du die gestrige Mission fast im Alleingang bewältigt hast.“

 

Und schon wieder geht’s um die Arbeit. Naja, sein Leben besteht eben auch nur aus Missionen, Aufträgen und Training für Missionen und Aufträge. „Nicht direkt. Ajax hat sich um die Mafia draußen gekümmert und ich hab die in der Halle übernommen. Es war Teamwork.“

 

„Mag sein, aber trotzdem hast du erfolgreich die illegale Auktion verhindert und gleichzeitig das Geheimnis von Flaurana geschützt“, betont er und wirkt dabei ein wenig … entschuldigen? „Dabei bist du gerade mal zwölf Jahre alt, das vergesse ich bei deinen herausragenden Fähigkeiten immer wieder. Entschuldige.“

 

„Äh, nein. Schon gut. Ich komme mit den Aufträgen klar“, versucht Eren die Bedeutung hinter seinen Worten zu beantworten.

 

„Das weiß ich, aber darauf wollte ich jetzt gar nicht hinaus.“ Turano holt tief Luft, als würde er sich innerlich überwinden müssen weiterzusprechen. Dieses Gespräch wird immer skurriler. Auch das schiefe Lächeln beruhigt ihn nicht. „Ich will damit sagen: ich bin stolz auf dich, Eren.“

 

Völlig unerwartet zieht Turano seinen Sohn in eine unbeholfene Umarmung, der sich zuerst überrumpelt versteift und eine ganze Weile braucht bis er sie zaghaft erwidert. Er kann sich nicht erinnern, wann sein Vater ihn zuletzt umarmt hat. Ob er ihn überhaupt schon einmal umarmt hat. Aber das warme Gefühl in seinem Inneren findet er nicht gerade unangenehm.

 

Als der Mann die Umarmung wieder auflöst, sind seine Wangen peinlich gerötet und er räuspert sich verlegen. „Du solltest jetzt wirklich versuchen zu schlafen. Gute Nacht, Eren.“

 

„Äh … Ja, gute Nacht, Vater“, erwidert der Junge nicht minder überfordert von der plötzlichen Vaterliebe.

 

Ohne weitere peinliche Worte verlässt Turano das Zimmer. Es dauert noch mehrere Minuten bis Eren es schafft seine Augen von der Zimmertür zu lösen, die Kugel unterm Kopfkissen hervorzuholen und im Nachtkästchen zu verstecken. Anschließend knipst er die Lampe aus, dreht sich auf die Seite und sieht zu den wenigen Sternen hinaus.

 

Was ist da gerade passiert? Erst dieses überraschende Lob, das Verständnis für seine Verwandlungsangst, der Stolz und dann die Umarmung. War das real? Hat er es nur geträumt? Traum oder Realität, es ist schön auch mal diese Seite seines Vaters zu sehen. Er hat ihm wirklich geholfen und er glaubt, er hat jetzt schon weniger Scheu davor beim nächsten Training eine komplette Verwandlung zu vollziehen.

 

Kommt dir das nicht spanisch vor? Aus heiterem Himmel schwingt der Alte solche Reden? Irgendwas stimmt doch nicht. Vielleicht ist er durch einen Roboter ersetzt worden? Oder er hat was schlimmes vor.

 

Sei doch nicht so misstrauisch. Er ist immer noch unser Vater. Manchmal hat wohl auch er das Bedürfnis das zu zeigen. Ich finde es schön, dass er sich um uns sorgt und uns helfen will.

 

Eren überhört die nervigen Stimmen einfach. Dieses warme Gefühl lässt er sich jetzt nicht kaputt machen. Entschlossen schließt er die Augen, hat ein kleines Lächeln auf den Lippen und gleitet ins Traumreich ab.

Nächtlicher Einbruch

Eren versucht es zumindest, aber aus ihm unbekannten Gründen, findet er heute einfach keinen Schlaf. Stattdessen wälzt er sich in seinem Bett herum, findet jede Position unbequem und richtet sich irgendwann frustriert schnaubend auf. Es bringt nichts sich zum schlafen zu zwingen, dadurch wird es nur schlimmer. Deshalb beschließt er ein wenig frische Luft zu schnappen. Vielleicht lässt ihn das danach endlich einschlafen. Es ist immerhin schon kurz nach Zwei, was ihm ein Blick auf den Wecker verrät.

 

Der Junge schlägt die Decke zurück und geht auf den Balkon in die kühle Nacht hinaus. Inzwischen sind Wolken aufgezogen und es fängt an nach Regen zu riechen, momentan ist es aber noch trocken. Nur der kalte Wind lässt ihn frösteln, hindert ihn aber nicht daran trotzdem barfuß zur Balkonbrüstung vorzugehen, sich dort abzustützen und seine Augen schweifen zu lassen. Haikla City in der Ferne leuchtet taghell, das genaue Gegenteil des Turano-Anwesens. Hier herrscht Dunkelheit. Weder im Wald, noch im weitläufigen Garten oder im Haus selbst brennt Licht. Das heißt, bis auf die Lampen am äußersten Zugangstor.

 

In den Schatten erkennt Eren immer wieder Sicherheitsleute, die im Garten rund um dem Herrenhaus und auch im Wald patrouillieren, viele von ihnen mit den Hunden. Nicht zum ersten Mal fragt er sich, ob der Job nicht ziemlich langweilig ist. Er hat jedenfalls noch nie mitbekommen, dass es tatsächlich einmal jemand gewagt hätte, sich auf das Grundstück zu schleichen. Oder wurden sie einfach schon davor aufgehalten, bevor er es hätte mitbekommen können? Er ist schließlich gar nicht so oft hier. Schwer zu sagen. Eren hat nie wirklich groß darüber nachgedacht. Es kommt ihm jedenfalls so vor, als würden sie die meiste Zeit wirklich nur spazieren gehen.

 

Niemand der Wachen hat Taschenlampen dabei. Um dennoch auch nachts Eindringlinge erkennen zu können, tragen sie alle, egal ob im Anwesen oder im Freien, die modernsten Nachtsichtgeräte. Deshalb weckt auch der kurze Lichtstrahl hinter den Küchenfenstern im Erdgeschoss Erens wachsames Interesse. Es war ganz klar der Strahl einer Taschenlampe, aber die Wachen benutzen sie nur, wenn sie einen Einbrecher stellen. Aber im Haus? Da würden sie doch sicher eher den Lichtschalter betätigen als für nicht einmal eine Sekunde die Taschenlampe einzuschalten, oder? Ajax und sein Vater können es nicht sein, die würden niemals im Dunkeln durchs Anwesen wandern.

 

Hoffentlich sind es viele Einbrecher! Dann dürfen wir mal wieder richtig kämpfen!

 

Können wir sie nicht einfach überzeugen so etwas nie wieder zu tun? Noch haben sie niemandem geschadet. Vielleicht haben sie auch …

 

Ach, halt die Klappe! Der Grund ist mir sowas von scheißegal! Es sind Einbrecher, also darf ich sie vermöbeln! Warum willst du ihnen keine Lektion erteilen? Einbruch ist doch auch eine Sünde.

 

*Könnt ihr verschwinden? Ihr stört einfach nur.*

 

Trotzdem muss er den Stimmen recht geben. Es könnte höchstwahrscheinlich ein Einbrecher sein. Aber wenn es so ist, wie konnte dieser dann an all den Wachen und Sicherheitsvorkehrungen vorbeikommen? Das schreit förmlich danach untersucht zu werden. Und schlafen kann er sowieso nicht, also …

 

Noch bevor er den Gedanken zu Ende geführt hat, tragen ihn seine Beine bereits quer durch das Zimmer, den Gang entlang, die Treppe runter und Richtung Küche. Auf Zehenspitzen nähert er sich der angelehnten Tür, aus der jetzt deutlich der Strahl einer Taschenlampe hervorleuchtet. Für einen Einbrecher ist das aber schon sehr auffällig. Außerdem hört er Stimmen. Sind es mehr als einer?

 

„... nur was vergessen“, sagt eine weibliche Stimme gerade.

 

Eren erkennt sie sofort. Aber was macht sie um diese Uhrzeit hier? Er hat doch keinen Termin vergessen, oder? Die kampfbereite Haltung gibt er auf und betritt die Küche. Sofort blendet ihn der Strahl der Taschenlampe, weshalb er schützend die Hand vor die Augen hält.

 

„Oh, junger Herr Turano“, erkennt ihn der Wachmann und nimmt augenblicklich die Taschenlampe runter. „Bitte verzeihen Sie.“

 

„Schon gut“, meint Eren nur und blinzelt ein paar Mal, um die hellen Flecken vor den Augen loszuwerden. „Was ist hier denn los?“

 

Der Wachmann steht zusammen mit seinem Schäferhund in der geöffneten Glastür zur Terrasse, hat das Nachtsichtgerät hochgeklappt und die Taschenlampe auf Dr. Ryu gerichtet, die ziemlich nervös und ertappt mit einem Gegenstand in ihrer Hand spielt. Es ist das erste Mal, dass er sie ohne Laborkittel sieht. Sie sieht so „normal“ aus.

 

Ach, Scheiße, doch keine Einbrecher. Dabei hätte ich mich schon auf eine kleine nächtliche Schlägerei gefreut.

 

Du bist so gewalttätig.

 

Der Mann räuspert sich kurz. „Junger Herr, ich habe Dr. Ryu dabei ertappt, wie sie außerhalb ihrer Berechtigungszeit hier im Anwesen herumschleicht. Ich wollte es gerade melden.“

 

„Nicht nötig. Ist schon gut“, beschließt der Junge. „Danke, du kannst gehen.“

 

„A-Aber junger Herr, sie“, beginnt er zu widersprechen, doch Eren fällt ihm ins Wort: „Ich sagte, danke, du kannst gehen.“

 

Diesmal nimmt er eine stramme Haltung an. „Ja, junger Herr, wie Ihr wünscht.“

 

„Gut“, sagt Eren, hält den Mann aber doch noch einmal auf, der bereits dabei war die Glastür zu schließen. „Oh, und kein Wort zu meinem Vater oder Ajax. Du willst sie doch sicher nicht mit so etwas Unnötigem nerven, nicht wahr?“

 

„Natürlich nicht. Gute Nacht, junger Herr.“ Mit einer leichten Verbeugung schließt er die Tür, schaltet die Taschenlampe aus, klappt das Nachtsichtgerät runter und setzt seine Patrouille fort.

 

„Danke, Eren“, flüstert die Ärztin nach wie vor nervös.

 

„Nichts zu danken“, winkt er ab. „Aber sag mal, was machst du hier mitten in der Nacht? Hab ich einen Termin vergessen?“

 

„Nein. Nein, ich … hab nur mein Handy hier liegen lassen und wollte es zurückholen“, antwortet sie, sieht dabei allerdings nicht das Kind, sondern die Tür hinter ihm an.

 

Zweifelnd hebt er eine Augenbraue. „Mitten in der Nacht? Hatte das nicht Zeit bis morgen, wenn nicht jede Wache denkt, du seist ein Einbrecher?“

 

„Ja, vermutlich“, lacht sie gekünstelt. „Aber ich habe morgen ausnahmsweise einen freien Tag. Da wollte ich nicht extra herkommen müssen, um mein Handy zu holen.“

 

„Also bist du lieber um Viertel nach Zwei mitten in der Nacht hergekommen?“ Eren verschränkt die Arme vor der Brust und sieht sie zweifelnd an.

 

„Klingt unlogisch, ich weiß, aber wenn dein Vater oder Ajax mich brauchen und ich nicht erreichbar bin?“, erläutert sie ihre Beweggründe.

 

Das wiederum kann Eren gut verstehen. „Stimmt wohl. Soll ich dir suchen helfen? Wo hast du es denn verloren?“

 

„Oh, äh, ich hab´s schon gefunden.“ Als Beweis hält sie den Gegenstand in ihren Händen hoch. „Ich war gerade auf dem Weg zurück zum Tunnel als ich entdeckt wurde.“

 

„Dann begleite ich dich eben noch hier raus, damit dich nicht noch mehr übereifrige Wachen meinem Vater melden wollen“, beschließt der Junge hilfsbereit und geht bereits zur Tür.

 

„Nochmal danke, Eren“, sagt sie und schaltet die Taschenlampe an.

 

„Mach die lieber aus, wenn du nicht willst, dass gleich die nächste Wache hier antanzt“, rät der Junge.

 

„Richtig, richtig.“ Sie schaltet das Licht wieder aus. „Jetzt kann ich allerdings nichts mehr sehen. Wenn ich also gegen irgendwas laufe und kaputt mache, tut´s mir leid.“ An der Wand entlangtastend geht die Ärztin Schritt für Schritt Richtung Tür, die Augen dabei weit aufgerissen und trotzdem erkennt sie nichts außerhalb des wenigen Lichts, das durch die Glasscheiben herein fällt.

 

Eren beobachtet sie ein Weilchen dabei bis es ihm zu lange dauert. „Komm mit, sonst sind wir noch in der Küche bis Vater oder Ajax aufwachen.“

 

Kurzerhand schnappt er sich ihr Handgelenk und zieht sie hinter sich her. Der Zwölfjährige führt die Frau den Korridor entlang, quer durch den Eingangsbereich und weiter ins Wohnzimmer. Immer wenn eine Wache in der Nähe ist, hört oder sieht sie Eren schon von weitem und versteckt sich und die Frau bis die Luft wieder rein ist. So kommen sie beide ungesehen bis ins große Wohnzimmer wo der versteckte Zugang zum Bunker liegt. Vor dem Gemälde bleibt er stehen.

 

„So, da wären wir“, teilt er der Ärztin überflüssigerweise mit. „Hast du im Bunker noch immer durchgehend Zutrittsrecht oder soll ich dich da auch durchschleusen?“

 

„Nicht nötig, arbeiten darf ich praktisch rund um die Uhr, nur ins Herrenhaus nicht. Noch einmal danke, Eren, auch dafür, dass du mich nicht verrätst. Für eine Ärztin ist das vielleicht nicht grade von Vorteil, aber ich kann manchmal ein wenig vergesslich sein“, beichtet sie verlegen. „Dann wünsch ich dir noch eine gute Nacht. Wir sehen uns bei unserem nächsten Termin, ja?“

 

„Ja. Gu ...“ Eren stockt, dreht den Kopf ein wenig und lauscht.

 

„Was ...“

 

„Pst. Ich glaub ich hör jemanden.“ Tatsächlich ertönt das Brummen der Schienenbahn, das allmählich lauter wird. Jemand fährt gerade ins Anwesen. Dieser jemand wird zwangsläufig hier rauskommen. „Wir müssen uns verstecken!“ Ohne auf eine Reaktion zu warten zieht Eren Dr. Ryu hinter die Couch in Deckung. Dabei übersieht er die Kante des Beistelltisches, an der sie sich das Schienbein stößt und deshalb scharf die Luft einzieht. „Sorry, war keine Absicht“, versichert er flüsternd ehe er wieder über die Lehne zum Gemälde späht, um die Lage im Blick zu behalten. Wer wohl so spät in der Nacht noch ins Herrenhaus will?

Schock

Vor Anspannung hält der Junge den Atem an. Dabei wohnt er hier und darf sich hier frei bewegen. Dennoch würde er vermutlich Ärger bekommen, weil er ja eigentlich im Bett liegen müsste. Sollte er allerdings entdeckt werden, dann zwangsläufig auch Dr. Ryu, und sie ist um diese Zeit unbefugt hier.

 

Der Geheimgang öffnet sich und Eren erkennt zwei Gestalten, die das Anwesen betreten und sich dabei nicht wie Einbrecher verhalten. Wieso auch? Ajax und sein Vater wohnen ja auch hier. Allerdings macht das die geheime „Dr. Ryu hinausschmuggeln“-Aktion nicht einfacher.

 

Was machen die denn hier?! Los, haut ab! Wir sind hier auf einer Mission!

 

Die beiden haben immer so viel zu tun, dass sie sogar noch mitten in der Nacht arbeiten müssen. Sollten wir sie nicht lieber mal fragen, ob wir ihnen behilflich sein können? Immerhin sind sie unsere Familie.

 

Pha! Selbst schuld, wenn sie sich so viel aufbrummen. Das lass ich sicher nicht auf uns abladen!

 

Die beiden Männer haben ganz offensichtlich nicht vor sobald von hier zu verschwinden. Im Gegenteil, sie machen es sich auf den Sesseln bequem, schalten die Lampe an und holen sich sogar Drinks aus dem Schrank. Super Timing. Das kann also eine Weile dauern bis er und Dr. Ryu sich von hier wegbewegen können. Klasse, einfach nur klasse.

 

Stumm seufzend sieht Eren zu der Ärztin, die bleich in der Ecke kauert und sich das Schienbein reibt. Sie hatte ganz klar kein Observationstraining. Hoffentlich schafft sie es ruhig zu bleiben bis seine Familie endlich beschließt ins Bett zu gehen. Es ist halb Drei! Solange kann das doch nicht mehr dauern, oder? Hoffentlich. Er möchte wenigstens noch ein bisschen Schlaf bekommen bevor er in die Schule muss, um Max weiter auszuquetschen.

 

„Zusammengefasst also, alle Rekruten machen akzeptable Fortschritte in ihrem Training, nicht wahr?“, sagt Turano gerade. „Das ist gut. Wie viele Schüler haben wir momentan eigentlich?“

 

„Mit dem Neuen von letzter Woche, der allerdings sein Training noch nicht begonnen hat, Neunzehn“, antwortet Ajax nach einem Blick auf das Tablet in seinem Schoß.

 

Sie reden über die Arbeit. Das kann länger dauern. Wieso müssen die das mitten in der Nacht besprechen? Brauchen die keinen Schlaf? Der Junge lässt den Kopf hängen und wünscht sich, er hätte Dr. Ryu einfach per Luftweg von hier weggebracht. Dann hätte er auch noch ein bisschen fliegen können und müsse jetzt nicht für wer weiß wie lange hinter der Couch hocken bis seine Muskeln einschlafen. Die Ärztin denkt wohl ganz ähnlich, ihrem Gesichtsausdruck nach. Sie wäre jetzt auch lieber irgendwo anders. Ihr Grund ist allerdings ein anderer als das Risiko von einschlafenden Muskeln und Langeweile.

 

„Ist jemand dabei, der für eine Materialbeschaffungs-Mission bereit ist?“ Turano lehnt sich zurück und nippt an seinem Glas. „Die Wissenschaftler-Abteilung hat die Anfrage gestellt, neue Lechtalgen zu besorgen.“

 

„Lechtalgen“, wiederholt Ajax überlegend. „Das sind die Algen, die im Tsorfsee in Flaurana wachsen, nicht?“ Der Mann nickt als Antwort. „Das heißt wir bräuchten Fähigkeiten, die gut für kalte Unterwasseraufgaben geeignet sind.“ Grüblerisch wischt er durch die Akten. „Ich stelle ein Team zusammen und lege es dir bis zum Mittag vor.“

 

„Ausgezeichnet.“ Turano nickt zufrieden und schwenkt dabei sein Glas herum. „Momentan kommen wir mit den Anfragen wirklich gut hinterher. Es kommen auch beinahe täglich neue ein. Ich schätze, du und Eren müsst auch bald wieder einen übernehmen. Ich hab nämlich gesehen, Frau Russo hat mal wieder eines ihrer besonderen Anliegen an uns.“

 

„Frau Russo? Schon wieder?“ Nicht unbedingt überrascht schielt Ajax zu dem Mann hinüber.

 

Da Frau Russo eine langjährige, großzügige Stammkundin ist, werden ihre Anfragen immer zur vollsten Zufriedenheit erledigt. Dafür wird natürlich das beste Team eingesetzt. Und das beste Team besteht nunmal aus Eren und Ajax.

 

Na toll. Noch mehr Arbeit? Haben die schon mal was von Freizeit gehört?

 

Sei nicht so mürrisch. Es zeigt doch, wie viel sie von unseren Fähigkeiten halten.

 

Von MEINEN Fähigkeiten!

 

„Ja. Gefühlt hat sie jede Woche irgendeine Aufgabe für uns. Sie ist wirklich unsere beste Kundin.“ Benedikt leert das Glas, stellt es am Tisch ab und lehnt sich wieder gegen die Kissen. „Wenn es allerdings noch mehr Anfragen werden, werde ich wohl oder übel welche ablehnen müssen. Unsere Erfolgsquote und Diskretion hat sich mittlerweile weltweit rumgesprochen.“

 

„Und das ist schlecht?“, hakt der junge Mann verwundert nach.

 

Turano schüttelt den Kopf. „Nein, aber uns gehen langsam die Leute aus. Das Experimentlabor erzielt zwar in letzter Zeit bei den Projekten gute Erfolge, aber die Ausbildung dauert eben doch einige Jahre.“ Der Vater seufzt und verschränkt die Arme vor der Brust. „Wenn es nur eine Möglichkeit gäbe die Ausbildung zu beschleunigen.“

 

„Und wenn wir einfach mehr Rekruten auf Missionen schicken? Auch wenn die Ausbildung nicht abgeschlossen ist, können manche von ihnen leichte Aufgaben übernehmen“, schlägt Ajax vor, die Augen noch immer auf die Akten gerichtet.

 

Doch Benedikt schüttelt erneut den Kopf. „Nein, das lassen wir lieber. Die Herstellung ist viel zu teuer und aufwendig, um jetzt leichtsinnig zu werden. Wir sollten lieber das Training verschärfen.“

 

„Einverstanden. Ich werde die Trainingspläne anpassen.“ Diesen Punkt schreibt sich Ajax auf seine To-Do-Liste am Tablet auf, die schon jetzt ziemlich lang ist.

 

*Die armen Rekruten*, denkt Eren mitfühlend. Er kennt nur zu gut Ajax´ immer strenger werdende Trainingspläne. Aber sie funktionieren, auch wenn sie echt hart sind und man oft glaubt beim nächsten Schritt zu sterben. Aber um stark zu werden, müssen sie da durch.

 

Gleichzeitig runzelt er die Stirn über die Aussage mit dem Experimentlabor. Er ist beinahe täglich im Bunker und war auch schon überall, dachte er zumindest, aber ein Experimentlabor hat er noch nie gesehen. Welche Art Experimente sie dort wohl durchführen? Vermutlich müssen alle mit Fähigkeiten ähnliche Experimente über sich ergehen lassen, wie er selbst. Nur anstatt im Labor von Dr. Ryu eben in diesen Experimentlaboren. Eren weiß, dass es noch mehr Ärzte im Bunker gibt, nicht nur Dr. Ryu, wieso sollte es also nicht noch mehr Labore geben? Der Bunker ist immerhin riesig. Gut möglich, dass er noch nicht jeden Winkel und jede Tätigkeit kennt.

 

Da Eren zu sehr in seine Grübelei vertieft ist, bekommt er nicht mit, wie die Frau neben ihm bei der Erwähnung der Labore schuldig zusammenzuckt und die Augen auf ihre Stiefelspitzen heftet.

 

„Sehr gut“, nickt Turano zufrieden während er sein Glas nachschenkt. Eren hat schon angefangen zu hoffen, dass somit das Gespräch beendet sei und sie in ihre Zimmer verschwinden, aber sein Vater macht ihm einen Strich durch die Rechnung, was ihn lautlos den Kopf gegen die Couch schlagen lässt. „Wo wir schon beim Training sind, ich hab vorhin kurz mit Eren gesprochen.“

 

„Ach ja?“ Überrascht hebt Ajax jetzt doch den Kopf, um ihn direkt anzusehen. Er weiß auch, dass das selten vorkommt.

 

„Ich kenne jetzt den Grund, weshalb er die Verwandlungen nicht hinbekommt“, teilt er ihm mit.

 

Auffordernd lehnt sich der ältere Sohn etwas vor. „Und der wäre?“

 

Oh je.

 

Oh je.

 

*Oh je*, stimmt der Junge den Stimmen zu. Hoffentlich findet Ajax seinen Grund nicht zu albern. Sonst - Wie sollte es anders sein? - befürchtet er irgendeine Strafe. Vermutlich mehr Verwandlungstraining. Sein Bein beginnt nervös zu zucken und er beißt sich auf die Unterlippe. Wäre er doch im Bett geblieben.

 

„Eigentlich ist es ganz einfach“, meint sein Vater beinahe belustigt. „Er hat zu große Angst davor die Kontrolle zu verlieren, deshalb weigert er sich unterbewusst eine vollständige Form anzunehmen, was dazu führt, dass es gar nicht klappt oder er gerade deshalb die Kontrolle verliert.“

 

„Echt jetzt? Das ist alles?“ Ajax scheint auf mehr zu warten.

 

Auch Dr. Ryu mustert Eren forschend von der Seite.

 

„Das ist alles“, bestätigt Turano, stützt die Ellbogen auf die Knie und beugt sich ebenfalls vor. „Die Lösung ist also folgende: Wir lassen ferngesteuerte Waffen am Käfig für die Verwandlungen anbringen, die wir vom Bunker aus steuern können. In der Höhle selbst ist dann niemand mehr, dem er bei einem Kontrollverlust schaden könnte.“

 

„Hm.“ Ajax sieht nachdenklich auf den unberührten Drink in seiner Hand. „Wenn du denkst, es könnte so klappen, einen Versuch ist es wert.“ Er hebt den Kopf und sieht seinen Vater an. „Es wäre höchste Zeit, dass Eren die Verwandlungen hinbekommt. Dann wären wir einen großen Schritt in deinem Plan weiter.“

 

Hellhörig hebt Eren den Kopf und spitzt die Ohren. Was für ein Plan? Drängt Ajax deshalb so darauf, dass er die Verwandlungen endlich kontrollieren soll? Wieso weiß er dann nichts von dem Plan, wenn es offensichtlich ihn betrifft? Bestimmt hätten sie ihm zu gegebener Zeit noch eingeweiht, davon ist der Junge überzeugt, aber es früher zu wissen spornt ihn vielleicht an noch mehr als sein Bestes zu geben. Er will seine Familie schließlich stolz machen.

 

Wieso müssen die beiden immer geheime Pläne vor uns haben?! Sind wir nicht vertrauenswürdig? Tun wir nicht alles, was sie von uns fordern? Und trotzdem enthalten sie uns so vieles vor!

 

Wir müssen ja nicht alles wissen. Es genügt doch, wenn wir die wichtigsten Infos bekommen, um die Missionen und Aufträge erledigen zu können. So wie bisher auch. Da ist es doch nicht schlimm, wenn die beiden nicht jeden Plan mit uns teilen. Schließlich sind sie die Geschäftsleiter von Turano Industries und nicht wir.

 

Noch nicht!

 

Die Ärztin hat ein sehr mieses Gefühl in der Magengrube. Ihr gefällt es ganz und gar nicht welchen Verlauf dieses Gespräch zu nehmen droht.

 

„Ja, das stimmt. Aber da wir sowieso noch nicht alle Puzzlestücke beisammen haben, könnten wir auch noch nicht starten, selbst wenn Eren schon beide Seiten beherrschen könnte“, meint Turano mit dem Bein wippend. „Dennoch, sorge dafür, dass er bald Fortschritte macht, Ajax.“

 

Puzzlestücke? Was genau hat ein Puzzle mit seinen Verwandlungen zu tun? Irritiert legt Eren die Stirn in Falten. Was haben sein Vater und sein Bruder mit ihm geplant? Am liebsten würde er aufspringen und sie direkt fragen, doch das ist die letzte Idee, die er in diesem Moment umsetzen sollte. Das weiß er, trotzdem würde er es gerne tun.

 

„Natürlich. Sobald diese Änderungen umgesetzt wurden, konzentriere ich den Trainingsplan auf die Verwandlungen. Ich weiß ja, wie wichtig der Plan ist“, versichert der junge Mann.

 

„Deshalb bist du auch meine rechte Hand.“ Turano hebt feierlich sein Glas Richtung Ajax, der noch immer dabei ist seine To-Do-Liste durchzugehen, um keinen noch so unwichtigen wichtigen Punkt zu vergessen.

 

Okay, so langsam wird Eren wirklich neugierig auf diesen geheimen Plan. Geduld ist nicht unbedingt seine Stärke und dass er auch noch eine katzenhafte Neugier besitzt macht es nicht erträglicher hier hinter der Couch hocken zu bleiben. Seine Muskeln zucken schon seit einer Weile und wollen ihn dazu bringen doch aufzuspringen und die beiden mit Fragen zu löchern.

 

„Bis wann hast du denn geplant, sollen die Änderungen umgesetzt sein?“

 

„Spätestens am Freitag. Ich will, dass Eren die Schulmission vorher abhakt, damit die erledigt ist“, beschließt Turano.

 

„Gut. Dann bereite ich bis dahin alles nötige vor.“ Ajax überfliegt den aktuellen Trainingsplan und markiert die ersten Punkte, die er zum Ändern vorsieht.

 

Eren wirft einen kurzen Seitenblick zu der Frau hinüber, die nach wie vor wie eine blasse Statue am Boden kauert. Eigentlich dürfte sie gar nicht wissen, dass Eren momentan eine Schulmission erfüllt. Auch wenn sie eine hohe Position innerhalb der Hierarchie einnimmt: ist sie bei einer Mission nicht beteiligt, darf sie nichts darüber wissen. So wie sie jedoch vor sich hinstarrt, bekommt sie eh kaum was von dem mit was gesprochen wird.

 

Denkt der Junge zumindest. In Wahrheit hört sie jedes Wort und ist nur zu geschockt über die Tatsache, dass die beiden ausgerechnet jetzt über diese Themen reden müssen.

 

„Kann ich dich was fragen?“

 

Dieser Unterton lässt Eren leicht den Kopf heben und seinen Bruder durch die Lehne hindurch anstarren. Diesen Ton hat er von Ajax noch nie gehört. Er klingt nervös und unsicher. Sein Bruder ist nie nervös oder unsicher.

 

„Na klar.“ Der Mann leert zum zweiten mal sein Glas, während Ajax noch keinen Schluck genommen hat, und füllt sich bereits wieder nach.

 

Ajax hebt den Kopf, um seinen Vater direkt anzusehen. „Findest du immer noch, dass es eine gute Idee war, wie du dich damals entschieden hast?“

 

„Was meinst du genau?“, hakt Turano nach, der nicht ganz versteht, worauf er anspielt.

 

Anders als die Ärztin hinter der Couch. Das miese Gefühl in ihrem Bauch ist mittlerweile zu einem krampfhaften Knoten angestiegen. Sie hat eine Ahnung und betet, dass sie falsch liegt. Dieses Thema dürfen die beiden nicht hier und jetzt besprechen. Nicht wenn hier und jetzt ein gewisser Engel-Dämon-Hybrid lauscht. Sie spielt mit dem Gedanken, Eren einfach einschlafen zu lassen. Allerdings wagt sie nicht auch nur einen Muskel zu bewegen, aus Angst entdeckt zu werden. Es ist eine Zwickmühle. Welches Risiko soll sie eingehen? Fieberhaft überlegt sie hin und her bis es zu spät ist.

 

„Na, dass du beschlossen hast, Eren zu adoptieren, anstatt ihn im Bunker zu lassen, wie die Anderen.“

Die Wahrheit tut weh

Adoptieren? Soll das heißen …?

 

Hat er gerade ernsthaft gesagt, dass wir adoptiert sind?!

 

Sofort schnellt Dr. Ryus Kopf nach oben, die Augen auf den Zwölfjährigen vor sich gerichtet. Der Knoten in ihrem Bauch ist jetzt so groß, dass ihr schlecht wird. Sie hat sich falsch entschieden, das zeigt ihr ganz deutlich Erens Reaktion. Sie hätte sich einfach nur vorbeugen müssen, seine Haut berühren und ihn schlafen schicken. Doch dafür ist es zu spät. Der Junge hat es gehört. Er weiß es.

 

In der Sekunde, in der das A-Wort an sein Trommelfell gelangt ist, hat sich Erens gesamter Körper versteift. Er bewegt keinen einzigen Muskel, atmet nicht, nicht einmal sein Herz schlägt. Wie versteinert hockt er da, die blauen Augen weit aufgerissen, die Pupillen geweitet. Sein Verstand ist wie leer gefegt, nur ein einziges Wort hallt wieder und wieder durch seinen Kopf.

 

Adoptiert.

 

Adoptiert.

 

Adoptiert.

 

Das kann nicht wahr sein. Er muss träumen. Genau. Er träumt. In der realen Welt liegt er friedlich in seinem Bett, schläft tief und fest und sicher klingelt gleich der Wecker für die Schule. Ja. Genau. So ist es. Das hier ist nur ein ziemlich realer Traum. Es ist immerhin unmöglich, dass er adoptiert sein soll. Er lebt schon immer hier. Benedikt Turano ist sein Vater. Ajax Turano ist sein Bruder. Seine Familie. Das hier ist sein Zuhause. Sein Leben. Das kann keine Lüge sein. Seine Familie würde ihn nicht anlügen. Erst recht nicht bei so etwas wichtigem.

 

Er versucht es sich zwar einzureden, aber sein Verstand weigert sich diese süße, süße Lüge zu glauben.

 

„Warum ich beschlossen hab euch zu adoptieren? Schwer zu sagen.“ Turano schwenkt nachdenklich sein Glas herum, als könne er darin die Antwort finden. „Ich weiß, es war damals eine ziemlich spontane Entscheidung, die jeden überrascht hat. Mich eingeschlossen. Zugegeben, heute wissen nur noch wenige die Wahrheit, aber ...“ Der Mann lässt den Satz unvollendet, räuspert sich und sieht dann zu seinem Gegenüber. „Um ehrlich zu sein, ich weiß es nicht mehr. Damals hab ich Tag und Nacht damit verbracht Projekt Apex Life zu planen. Ich hab mir immer neue Backuppläne überlegen müssen, wenn wieder mal ein HHM-Experiment verstorben ist.“

 

Automatisch wandern Erens Augen zu seinem linken Unterarm: HHM-562, DEM. Ist es Zufall, dass seine Fähigkeitenkennzeichnung die selbe Bezeichnung hat, wie diese Experimentreihe? Bestimmt, oder? Und wenn nicht? Heißt das, er ist Teil dieser HHM-Experimente? Heißt das, er ist nur ein Experiment? Was soll das bedeuten? Was heißt das?! Sein Herzschlag hat wieder eingesetzt, zunächst nur in Zeitlupe, jetzt wird es mit jedem Schlag schneller bis es sich zu überschlagen scheint. Wovon reden sie da? Wovon reden sein Vater und sein Bruder da?!

 

Steh auf, Trottel! Zwingen wir sie dazu, uns die Wahrheit zu sagen! Und danach zeigen wir ihnen, dass sie uns nicht ungestraft belügen können!

 

Es muss für alles eine logische Erklärung geben. Es passt nicht zu ihnen, dass sie uns unser ganzes Leben lang was vorgespielt haben sollen. Sie sind keine Schauspieler. Wir müssen ihnen vertrauen. Sie sind unsere Familie. Es ist bestimmt nur ein Missverständnis …

 

Missverständnis am Arsch!

 

*Ruhe!*, zwingt Eren die Stimmen zum Schweigen. Ihm geht so schon genug durch den Kopf, ohne dass sich auch noch Engel und Dämon in seinen Gedanken streiten.

 

„Du weißt selbst, wie viele Fehlschläge wir durchstehen mussten bis wir sicher sein konnten, dass Eren überlebt“, fährt Turano unbeirrt fort. „Er war unsere letzte Chance. Ich wüsste nicht, woher wir noch mehr Engel- und/oder Dämonenblut bekommen sollten. Wieso ich ihn also adoptiert habe? Hm … Vielleicht hatte ich durch all die fehlgeschlagenen Experimente einfach Angst, dass Eren doch noch genauso enden könnte, wie seine Vorgänger, wenn ich ihn nicht rund um die Uhr im Blick behalte, um die ersten Anzeichen zu erkennen?“ Er zuckt unwissend mit den Schultern. „Wieso fragst du?“

 

„Hat keinen besonderen Grund. Ich hab nur spekuliert, ob er vielleicht schon die Verwandlungen drauf haben könnte, wenn er wie alle anderen Experimente im Bunker geblieben und nicht so verwöhnt als Turano aufgewachsen wär“, meint Ajax.

 

Die Menschen im Bunker sind auch alles Resultate irgendwelcher obskuren Experimente? Werden die Fähigkeiten nicht durch die Magiewolken aus Flaurana hervorgerufen? Gibt´s die überhaupt?

 

Was haben sie uns noch alles verschwiegen?!

 

Ich muss zugeben, so allmählich fange ich an die ganze Sache auch suspekt zu finden.

 

Erst jetzt?!

 

Was zum Teufel ist hier los?! Damit meint er nicht, dass Engel und Dämon ausnahmsweise einer Meinung zu sein scheinen, es kann doch nicht jedes Wort in seinem Leben eine Lüge gewesen sein. Seine Familie … Sie gehören doch zu den Guten. So etwas schreckliches wie Experimente an Menschen durchzuführen, das würden sie doch nicht tun. Eren würde das so gerne glauben, aber er kann nicht. Nicht nach den letzten Minuten, die seine Welt ins Schwanken gebracht haben.

 

Die Ärztin ist genauso versteinert wie der Junge vor ihr. Allerdings wusste sie natürlich die meisten Dinge schon. Sie ist Hauptverantwortliche der Experimente, ist die leitende ranghöchste Wissenschaftlerin, die persönliche Ärztin der Turanofamilie, ist eine der wenigen, die noch weiß, dass die beiden keine echten Turanos sind und gehört zum engsten Vertrautenkreis des vermutlich gefährlichsten Mannes der Welt. Das alles macht es nur unerträglicher das Kind so leiden zu sehen, ohne ihm helfen zu können. Zumindest nicht, ohne Gefahr zu laufen aufzufliegen und alles nur noch schlimmer zu machen. Eine stumme Träne kullert ihre Wange hinunter, sie legt die Hände über den Mund, um das aufkeimende Wimmern zu ersticken.

 

„Tja, das kann man nicht wissen“, philosophiert der Mann. „Hast du etwa Bedenken, wegen meiner Entscheidung damals?“

 

Ajax schüttelt den Kopf. Natürlich würde er nie an den Entscheidungen seines Vaters/Bosses zweifeln. „Es sind nur Vermutungen. Wobei … Ich hoffe, ich bilde es mir nur ein, aber seit gestern bin ich mir relativ sicher, dass Eren in einer Phase ist, in der wir ihn für unsere Pläne verlieren könnten. Ich weiß nicht, ob es Zufall ist, aber ich hab das Gefühl, dass es mit dem Treffen von diesem Max begonnen hat. In Rabed hatte ich wegen diesem Gefühl der Polizei einen anonymen Tipp bezüglich der Lagerhalle zukommen lassen. Wie befürchtet, hat Eren zunächst gezögert und wollte die Zeugen am Leben lassen. Auch wenn er schlussendlich alle getötet hat, er hat für einen Moment Schwäche gezeigt.“

 

Ajax hat die Polizisten informiert? Er hat sie alle umsonst umgebracht? Alles nur als Test? Im Augenblick kann Eren nichts mehr schocken. Mit jedem Satz scheint seine Welt mehr und mehr auseinander zu fallen und ein Netz aus Lügen zu offenbaren, das ihn allmählich zu ersticken droht.

 

Grübelnd tippt der Mann mit den Fingern auf seinen Oberschenkeln herum. „Hm. Meinst du, das legt sich wieder, sobald die Schulmission abgeschlossen ist?“.

 

„Ich hoffe es zumindest.“

 

„Du darfst nicht vergessen, trotz der Kräfte ist und bleibt Eren noch immer ein zwölfjähriger Junge. Wir haben noch Zeit ihn zu formen“, prophezeit Benedikt überzeugt. „Noch dazu ist es jetzt eh zu spät, um über solche Was-wäre-wenn-Fragen nachzudenken. Das ist Zeitverschwendung. Du sagtest ja selbst, er hat dennoch die Mission erfolgreich abgeschlossen. Solange es so bleibt, sehe ich es als Erfolg. Sorge nur dafür, dass es so bleibt.“ Mit einem autoritärem Blick unterstreicht er seine Worte.

 

Ajax nickt sofort einverstanden. „Selbstverständlich. Sobald die Schulmission vorüber ist, werde ich mehr Zeit für Erens Ausbildung einplanen.“

 

Mit Entsetzen muss die Frau dabei zusehen, wie der Junge immer stärkere emotionale Qualen erleidet. Das führt dazu, dass sie dabei zusehen kann, wie sich die Male immer weiter ausbreiten. Die dunkle Seite dabei doppelt so schnell. Zeitgleich bekommen seine Haare unzählige Strähnchen, wobei auch hier das Schwarz dominiert. Wenn das so weitergeht, wird er schon bald die Kontrolle verlieren. Ihr will im Moment nur nichts einfallen, wie sie das verhindern soll.

 

„Tu das“, stimmt sein Vater zu und ergänzt: „Spätestens wenn wir alle Puzzlestücke beisammen haben, brauchen wir sein Blut. Eren ist unsere einzige Quelle, da wir unsere Vorräte ja bedauerlicherweise bei Erens fehlgeschlagenen Vorgängern verbraucht haben.“ Turano spannt verärgert seinen Kiefer für einen Moment an. „Wer hätte gedacht, dass es so schwierig wär einen Körper zu finden, der mit Engel- und Dämonenblut kompatibel ist?“ Kopfschüttelnd verwirft er die Frage. „Wie auch immer, wir machen weiter wie bisher, aber halte mich auf dem Laufenden, sollte Eren tatsächlich anfangen unsere Befehle zu hinterfragen.“ Er nippt erneut an seinem Drink ehe er fortfährt: „Also, gibt es sonst noch etwas zu besprechen?“

 

Okay, jetzt reichts! Lass mich frei, Eren! Ich bring sie dazu, uns alles zu sagen, was sie uns verheimlichen! Gib mir deinen Körper! SOFORT!

 

Gewalt ist nie die Lösung. Wir müssen sie anders dazu bringen uns zu sagen, ob das alles wahr ist.

 

Der Junge nimmt die Stimmen in seinem Kopf gar nicht richtig wahr. Seine eigenen Gedanken sind ausnahmsweise lauter. Adoptiert. Experiment. Quelle. Geheime Pläne. Diese Worte wiederholen sich immer und immer wieder in einer endlosen Dauerschleife. Mit jeder verstreichenden Sekunde wird der ungläubige Kloß in seinem Hals größer, um ihm herum scheint sich alles zu drehen, sein ganzer Körper verkrampft und vor seinen Augen verschwimmen seine zitternden Hände.

 

Erinnerungen durchfluten seinen Verstand, offenbaren Szenen und Details, die er vergessen hat, die er gekonnt ignoriert hat oder denen er einfach keine Beachtung geschenkt hat. Momente und Satzteile, die ihn schon vor Jahren hätten stutzig machen sollen. Hätte er nur mehr darauf geachtet, wäre ihm womöglich aufgefallen, dass er weder seinem Bruder noch seinem Vater ähnlich sieht.

 

Die Bilder überschlagen sich mit den Fragen und Stimmen, sodass er sich auf überhaupt nichts davon konzentrieren kann. Ihm wird schwindlig. Es wird so unerträglich, dass er es schon bald nicht mehr aushält und bereits die Couch umrundet hat, noch bevor er realisiert, dass er sich überhaupt bewegt hat.

Kollabierende Gefühle

Sobald Eren aufgestanden ist, springen die beiden Männer entsetzt auf, jegliche Farbe ist aus ihren Gesichtern gewichen. Sogar dem sonst so emotionslosem Ajax steht der perplexe Schock deutlich ins Gesicht geschrieben.

 

„Eren?! Seit wann bist du hier?“, verlangt sein Bruder zu erfahren, ohne sich die Mühe zu machen, ruhig zu klingen. „Wie lange lauscht du schon?“

 

„Wieso liegst du nicht im Bett?“, fügt sein Vater mit einem schiefen Lächeln hinzu.

 

Der Zwölfjährige überhört ihre Fragen, zu viele schwirren ihm selbst im Kopf herum und schreien nach einer Antwort. Seine Stimme klingt heiser als er sie zur Rede stellt: „Ist es wahr? Ich bin adoptiert? Und Ajax auch?“

 

Die beiden Männer sehen sich ertappt mit schwer deutbaren Blicken an. Diese schweigsamen Sekunden sind für Eren reinste Folter. Er ballt die Hände zu Fäusten, um das Zittern zu verbergen. Dass sich dabei die Krallen in seine Handflächen bohren, bemerkt er kaum.

 

„Hör zu, Eren“, beginnt Turano vorsichtig.

 

Sogleich unterbricht ihn der Junge, was er vorher noch nie gewagt hat. „Antwortet mir! Und keine Lügen!“

 

Ungläubig blinzelt der Mann ihn an, doch es ist Ajax, der das Wort ergreift. „Eren, spricht man etwa so mit seinem Vater?“

 

„Ich will wissen, ob er überhaupt mein Vater ist!“, entgegnet Eren äußerst bemüht darum ruhig zu bleiben, dem Dämon nicht nachzugeben, der immer wieder Stirb, du Lügner in seinem Kopf brüllt. Der Engel ist inzwischen längst verstummt.

 

Sein Bruder kneift angespannt die Augen zusammen, als Turano tief durchatmet, sieht er ebenfalls zu ihm. „Du hast ja recht, Eren. Es wird Zeit für die Wahrheit.“

 

„Du willst es ihm wirklich sagen?“, hakt Ajax überrascht nach und fügt leiser hinzu: „Soll ich nicht lieber das Memory-Serum holen?“

 

Benedikt schüttelt den Kopf. „Diesmal nicht.“

 

Geschockt starrt Eren die beiden Männer an. „Diesmal? Ihr habt an meinen Erinnerungen rumgespielt?!“

 

Schuldbewusst zuckt Dr. Ryu hinter der Couch zusammen und betrachtet ihre Stiefelspitzen, ohne diese wahrzunehmen. Ajax und Benedikt zeigen nicht ansatzweise ein schlechtes Gewissen deswegen.

 

„Ja, haben wir. Aber es war nur zu deinem besten“, behauptet Turano schnell.

 

„Zu meinem besten?“, wiederholt der Junge und lacht trocken auf. „Das ist die bescheuertste Ausrede, die es gibt!“

 

„Eren, achte auf deine Wortwahl“, ermahnt ihn Ajax mit verschränkten Armen.

 

Eren ignoriert ihn.

 

„Lass es uns erklären, dann wirst du es verstehen.“ Der Mann hält an der Lüge fest. „Fangen wir von vorne an. Zu deiner ersten Frage: ja, Ajax und du, ihr seid adoptiert.“

 

Erens Körper stellt alle Funktionen ein. Er hat es ja schon vor dem Geständnis gewusst, es aber jetzt bestätigt zu hören, bohrt eiskalte Krallen des Verrats in sein Herz.

 

Sie haben uns tatsächlich all die Jahre belogen?! Das werden sie bereuen! Ich bestrafe sie! Lass mich frei!

 

„Eren, hör mir bitte zuerst zu, bevor du uns verurteilst, ja?“, fleht der Mann schon fast und geht dabei auf den Jungen zu.

 

Dieser weicht gleichzeitig zwei Schritte zurück, was Turano sichtlich verletzt. Doch das ist Eren im Augenblick vollkommen egal. Sie haben ihn sein Leben lang angelogen! Weil sie ihn hierbei belogen haben, fragt er sich zwangsläufig: Bei was noch? Was haben sie ihm noch alles vorgespielt und verheimlicht? Wer sind die beiden Männer, von denen er dachte, sie wären seine Familie?

 

„Heißt das, das andere ist auch alles wahr?“ Erens Stimme ist belegt, er wagt es kaum die Worte über seine Lippen zu bringen, aus Angst, sie sind genauso wahr. Aber er muss es einfach wissen. „Die Menschen im Bunker, all ihre Fähigkeiten … Sie sind nur Resultate irgendwelcher Experimente? Die Kräfte kommen gar nicht von Flaurana?“ Eren wartet gar nicht auf eine Antwort, die Blicke der beiden sagen alles. „Dann stimmt es also. Auch, dass ihr nur wollt, dass ich die Verwandlungen hinbekomme, weil ihr das Blut der beiden Seiten braucht?“

 

„Grob vereinfacht: ja“, antwortet der Mann ehrlich. „Beruhige dich bitte, lass uns das alles in Ruhe klären.“

 

Eren ist gar nicht mehr in der Verfassung rational zu denken oder auch nur ruhig zuzuhören. Der Dämon in ihm und seine eigenen Gedanken schreien in seinem Kopf um die Wette. Alles in seinem Körper zieht sich schmerzhaft zusammen, außerhalb dreht sich der Raum immer schneller. Er fühlt sich, als hätte ihm jemand zuerst das Herz herausgerissen und anschließend den Boden unter den Füßen eingeschlagen. Und jetzt fällt er unaufhaltsam immer tiefer hinab in seine Verzweiflung ohne Aussicht auf ein Rettungsseil.

 

„All die Jahre … Mein ganzes Leben … Ich hab alles getan, was ihr von mir verlangt habt. Hab das ganze Training über mich ergehen lassen. Hab alles getan, um euch stolz zu machen. Und ihr? Ihr habt mich die ganze Zeit nur belogen. Ihr führt Experimente an Menschen durch. Ihr habt mich mein Leben lang gefoltert, mich nur benutzt, um an mein Blut zu kommen, mir was vorgespielt. ... Ihr … Ihr …“ Erens Atmung wird unregelmäßig, hysterisch. Mit weit aufgerissenen Augen starrt er vor sich hin, ohne etwas wahrzunehmen oder die Versuche ihn zu beschwichtigen zu hören. „Ihr habt mich zu einem Mörder gemacht. Wie viele der Zielpersonen haben wirklich den Tod verdient? Wie viele waren nur Teil eines eurer dämlich Tests, um herauszufinden, ob ich Unschuldige immer noch umbringen kann? War überhaupt irgendetwas, was ihr mir jemals gesagt habt, wahr?!“

 

Das alles hier wird ihm zu viel. Es überfordert ihn nicht nur, die Lügen überrollen ihn. Er hält die Wahrheit einfach nicht mehr aus. Es tut weh. Körperlich und seelisch. Er kann nicht mehr. Er will, dass das alles aufhört. Im Versuch das Karussell in seinem Kopf zu stoppen, presst er sich die Hände an die Schläfen. Ein nutzloser Versuch. Der rechte Arm ist mittlerweile bis zum Ärmel des T-Shirts schwarz gefärbt, nur noch wenige einzelne Haare haben die natürliche Braunfärbung. Der Dämon ist kurz davor die Oberhand zu gewinnen. Und Eren hat nicht vor ihn aufzuhalten.

 

~~~

 

Komm zu mir, Eren. Ich kann dir den Wunsch erfüllen.

 

Eren ist wieder einmal im Spiegelraum gelandet. Im weißen Spiegel herrscht nur dichter Nebel, nicht einmal die goldenen Augen beobachten ihn. Im rechten, dunklen Spiegel steht die vollständig sichtbare Gestalt des Dämonen-Eren mit verschränkten Armen und sieht ihm genauso aufgewühlt, wütend und rachsüchtig entgegen, wie er sich fühlt.

 

Ich lasse sie den Tag bereuen, an dem sie uns das erste Mal belogen haben. Sie werden uns nie wieder anlügen, nie wieder für ihre egoistischen Zwecke missbrauchen. Das verspreche ich.

 

Der Junge steht zwischen den beiden Spiegeln, den Kopf gesenkt, die Augen leer auf den nicht vorhandenen Boden gerichtet. Wie in Trance nähert er sich mit emotionslosem Blick langsam der dunklen Seite, angelockt von den süßen Versprechungen des Dämons darin, der ihm aus roten Augen triumphierend entgegen starrt.

 

Gut so. Du tust das richtige. Sie haben uns verletzt, wir revanchieren uns nur für all die Jahre in denen sie uns gefoltert haben und es Training nannten. Für alle Missionen, für die sie uns nur als Marionetten missbraucht haben. Sie haben uns angelogen, ausgenutzt, vergiftet, verbrannt, eingefroren, erstochen, erschossen, ausgesetzt und mehrmals beinahe getötet ohne auch nur mit der Wimper zu zucken.

 

Eine ganz, ganz leise Stimme in ihm drin meldet sich, dass er sofort umdrehen soll ... aber er tut es nicht, blendet die Vernunft aus und geht stoisch weiter. Schritt für Schritt nähert er sich der dunklen Gestalt bis er nur noch wenige Zentimeter vom Spiegel entfernt ist.

 

Lass mich frei, Eren. Du weißt, die beiden haben es verdient bestraft zu werden. Immerhin haben sie uns schon immer belogen. Sie wollten nur unser Blut haben, um einen geheimen Plan umzusetzen, dieses Projekt Apex Life, von dem sie uns auch nichts erzählt haben. Sie haben uns als Quelle bezeichnet. Sie haben uns ihre Drecksarbeit machen lassen und uns zu Mördern gemacht. Viel zu lange haben wir uns wie brave Spielsteine in ihrem kranken Spiel bewegt. Damit ist jetzt Schluss! Heute bekommen sie alles zurück!

 

Wie von einem unsichtbaren Faden geleitet, hebt der Zwölfjährige seinen rechten Arm und legt die Handfläche auf den Spiegel. Da sich das Mal ohnehin schon viel zu weit ausgebreitet hat, existiert keine Spiegeloberfläche mehr. Seine Hand gleitet sofort hinein.

 

Sehr gut. Komm rein, Eren. Ich werde das für uns regeln. Ruh du dich aus.

 

Bereitwillig steigt der Junge durch den Rahmen ohne den geringsten Widerstand zu leisten als sich zeitgleich der Dämon befreit. Im Inneren des Spiegels bleibt Eren mit dem Rücken zum grauen Raum stehen, den Kopf und die Schultern noch immer gesenkt. Er bewegt sich nicht, starrt nur abwesend in die schwarze Leere um ihm herum.

 

Auf der anderen Seite des Spiegels entfaltet der Dämon seine Schwingen und lässt die Knöchel angriffslustig knacken.

 

Keine Sorge, Eren. Sie haben uns das letzte Mal belogen. Wird Zeit endlich mal wieder ein bisschen Spaß zu haben.

Entfesselter Dämon

„Eren, ich verspreche, wir werden dir alle Fragen beantworten. Keine Lügen mehr. Nur bitte, beruhige dich“, versucht es Turano erneut, den Jungen zu besänftigen. Er geht zu ihm und legt ihm die Hände auf die bebenden Schultern.

 

Schon bei der kleinsten Berührung schlägt Eren grob die Hände des Mannes weg und durchbohrt ihn mit roten Augen. „Fass mich nicht an!“

 

Schwarzer Rauch taucht plötzlich aus dem Nichts auf, hüllt den Zwölfjährigen wie ein Tornado ein und verschwindet genauso schnell wieder, wie er gekommen ist. Ein schwarzhaariger Junge mit roter Iris, schwarzer Sklera und einem dunklen Outfit steht an Erens Stelle. Der rechte Arm ist komplett schwarz, durchzogen von unzähligen roten Adern. Dämon-Eren hat die Kontrolle übernommen. Es ist nicht das erste Mal, dass Turano und Ajax ihn sehen, allerdings das erste Mal ohne Ketten oder Sicherheitsvorkehrungen. Vom ersten Vorfall mal abgesehen. Dementsprechend reagieren die Männer auch. Während Turano blass wird und zurückweicht, sieht Ajax angesäuert zu seinem Bruder, erhöht jedoch auch den Sicherheitsabstand.

 

„Eren? Bist du noch da?“, erkundigt sich Benedikt mit leicht zittriger Stimme.

 

Der Dämon schnaubt abfällig. „Eren will nichts mehr mit euch zu tun haben. Ihr habt ihn echt traumatisiert. Eigentlich müsste ich euch dankbar sein, ich bin dadurch freigekommen, aber ich habe ihm versprochen, euch für all die Lügen zu bestrafen. Also, nichts für ungut.“ Er sagt das zwar bedauernd, aber sein Grinsen dabei zeigt eindeutig, dass er sich darauf freut, ihnen wehzutun.

 

„Bist du wirklich so schwach? Du überlässt diesem Dämon die Kontrolle? Sei nicht so theatralisch und hör uns erst mal zu“, verlangt Ajax, bemüht darum, gefasst zu klingen und sich nicht einschüchtern zu lassen.

 

Der Dämon lacht nur amüsiert. „Ein netter Versuch, aber vollkommen sinnlos. Eren hört euch nicht.“

 

Turano schluckt schwer, richtet sich auf und ballt die Hände zu Fäusten. „Das glaube ich nicht. Mein Sohn ist noch irgendwo da drin. Das weiß ich. Komm schon, Eren. Komm zurück!“

 

Wütend kneift Dämonen-Eren die Augen zusammen, bedrohliche blaue Flammen umspielen seine Hände. „Du bist NICHT unser Vater! Wie Eren schon sagte, ihr habt uns mit jedem Wort belogen und nur trainiert, damit wir für euch die Drecksarbeit machen können! Doch damit ist jetzt Schluss. Dafür werde ich sorgen.“ Ein finsteres Lächeln umspielt seine Mundwinkel und ein kalter Schatten legt sich über die ohnehin dunklen Augen. „Noch irgendwelche letzten Worte?“

 

„Eren würde das nie zulassen. Ja, wir haben Fehler gemacht, aber es war nur zu seinem Besten“, wiederholt Turano vollkommen überzeugt und weicht noch weiter zurück. Dennoch zeigt sein Gesicht keine Reue oder Angst, nur unzufriedenen Zorn. „Verschwinde, Dämon! Gib mir meinen Sohn zurück!“

 

„Falsche Worte“, meint der Dämon nur, ehe er die Hand hebt. Doch anstatt auf die beiden Männer zu zielen, dreht er den Arm nach links auf die Brüstung des oberen Korridors zu und schickt die Flammen los, die sofort die teuren Teppiche, Vorhänge und Dekorationen versengen. Sogar die Steinsäule, die das Dach stützt, und die Brüstung schmelzen. Nichts davon war sein Ziel. Der Wachmann hatte keine Zeit, um auch nur einen Muskel zu bewegen. In dem Moment, in dem er den Abzug seiner Pistole betätigt hat, hat der Dämon reagiert. Die Kugel schmolz noch in der Luft, von dem Mann ist nur noch ein glühendes Häufchen Asche übrig. Er hat nicht mal geschrien. Kurz darauf ertönt auch schon ein hohes Piepen und die Sprinkleranlage versucht das Feuer zu löschen.

 

Entsetzt und panisch sehen die Männer zwischen dem Feuer und dem Dämon hin und her. Endlich scheint die Angst bei ihnen angekommen zu sein, jetzt fangen sie an zu verstehen, in welcher Situation sie stecken. Turanos Gesicht wirkt angespannt, er scheint zu überlegen, wie er diese Situation noch zu seinem Gunsten wenden kann. Ajax hat sich schützend vor ihn geschoben und seine Hände kampfbereit erhoben.

 

„Dachtest du ehrlich, ich würde dein Nicken zu dem Aschehäufchen da oben nicht bemerken?“, höhnt der Dämon schmunzelnd. „Abgesehen davon, das war ein erbärmlicher Ver...“

 

Ein weiterer Schuss durchschneidet die Luft. Diesmal trifft die Munition seinen Oberarm, aus der Wunde tritt sofort schwarzes Blut hervor. Zischend dreht der Dämon den Kopf auf die andere Seite, wo ein weiterer Wachmann steht.

 

„Wir haben mehr als eine Wache, Dämon“, teilt ihm Ajax überlegen mit.

 

Mit einer einfachen Handbewegung erschafft der Dämon eine Schattenkugel, mit der er die Brust des Mannes durchbohrt, der daraufhin leblos zusammenbricht.

 

„Mit so feigen Tricks werdet ihr eurer Strafe ganz sicher nicht entkommen können“, prophezeit er finster. „Ihr habt sowieso genug meiner Zeit verschwendet. Macht euch auf den Tod gefasst!“

 

Der Dämonenjunge streckt die Hände nach ihnen aus. Um ihm herum erscheinen weitere Schattenkugeln, die er in einem Hagel auf sie einschlagen lässt. Sofort hebt Ajax seine Arme, woraufhin sich ein Schild vor sie beide manifestiert. Mit zusammengebissenen Zähnen stemmt er sich dagegen, Schweißtropfen erscheinen auf seiner Stirn, aber der Schild hält stand.

 

„Hm. Hätte nicht erwartet, dass du das abwehren kannst“, gesteht der Dämon neutral.

 

„Ich habe noch mehr Tricks auf Lager. Du vergisst, ich war es, der Eren trainiert hat“, erinnert ihn Ajax. Die Augen weiterhin auf den Jungen gerichtet, führt er eine Hand zu seinem Rücken.

 

„Mag sein. Aber mich nicht.“ Mit misstrauisch zusammengekniffenen Augen beobachtet er jede Bewegung.

 

Turano sieht indessen auf Ajax´ Hand und versteht sofort. Genau wie der Dämon. In einer für menschliche Augen nicht wahrnehmbaren Geschwindigkeit flitzt der Junge zu den Männern, an ihnen vorbei und bleibt unter dem noch immer brennenden Korridor stehen. Dabei wirft er immer wieder ein Funkgerät in die Luft und grinst süffisant zu den überrumpelten Männern. Natürlich hätte er sie jetzt töten können, aber wo bliebe da der Spaß?

 

Der Dämon schnalzt kopfschüttelnd mit der Zunge. „Wir wollen doch nicht noch mehr Mitspieler einladen, nicht wahr? Es ist immerhin eine Privatveranstaltung“, säuselt die leicht hallende Stimme, während er das Funkgerät in der Hand zum Schmelzen bringt.

 

„So ein Mist“, flucht Turano durch zusammengebissene Zähne. „Wo bleiben diese nichtsnutzigen Wachen?! Bekommen die nicht mit, was hier drin geschieht? Wofür bezahle ich die eigentlich?“

 

„Geh und hole sie“, weißt Ajax seinen Chef an. Das Familienschauspiel scheint beendet zu sein. „Ich beschäftige ihn solange.“

 

Im ersten Moment scheint es dem Älteren nicht zu passen, von Ajax Befehle zu bekommen, aber in dieser Situation ist er nun mal der Erfahrenere. Deshalb fügt er sich, nickt knapp und macht sich bereit, durch die Terrassentür zu fliehen.

 

„Hört auf zu flüstern!“, verlangt der Dämon auf sie zufliegend, die Krallen angriffslustig gespreizt.

 

„Jetzt!“, gibt Ajax das Kommando.

 

Turano wirbelt sofort herum und rennt auf die Glastür zu. Dämon-Eren will ihm folgen, wird jedoch von Ajax angegriffen. Keine Ahnung, wo der plötzlich die zwei Sai her hat, mit denen er immer wieder versucht auf ihn einzustechen. Beinahe gelangweilt weicht der Junge ihnen aus.

 

„Nur weil du gegen Eren gewinnen kannst, brauchst du dir nicht einzubilden, dir gelingt das auch bei mir. Ich bin stärker als er und halte mich sicher nicht zurück.“

 

Um das zu beweisen, schlägt er ihm in einer flinken Bewegung die Sai aus den Händen, die sich daraufhin in Luft auflösen und zieht mit den Krallen tiefe Spuren quer über seine Brust. Als Ajax aufschreit, befördert Eren ihn mit einem kräftigen Tritt in die Rippen gegen die Mauer und zertrümmert dabei den Schrank mit den alkoholischen Getränken. Scherben und Holzsplitter regnen auf den jungen Mann herab. Aus mehreren Schnittwunden blutet er, dennoch versucht er sich stöhnend und hustend aufzurichten.

 

„Keine Sorge. Wenn ich mit dem Alten fertig bin, erlöse ich dich von deinen Schmerzen“, verspricht ihm der Dämon feierlich.

 

Ohne weitere Worte stürmt er aus dem Herrenhaus, wobei er schon gerne seinen „Bruder“ für all die unsinnigen, überflüssigen, übertriebenen Strafen und Trainings büßen lassen würde. Naja, danach ist ja immer noch Zeit dafür. Ajax soll schließlich erst mal einen kleinen Einblick in das Leben bekommen, das Eren wegen ihm führen musste. Dafür fliegen ihm auch schon ein paar Ideen im Kopf herum, aber zuerst ist Turano an der Reihe, sonst alarmiert er noch jede Wache unter seinem Befehl und das würde lästig werden, wenn er erst die alle töten müsste.

 

Gerade als der Dämon das Anwesen verlässt, schreit jemand „Feuer“. Aus mehreren Richtungen fliegen Kugeln auf das Kind zu. Vermutlich würden die meisten ihn sogar treffen, wenn er nicht intuitiv ausgewichen wäre und nun selbst angreift.

 

„Ihr sollt ihn nicht töten, ihr Schwachköpfe!“, brüllt Turano aufgebracht, was den Dämon auflachen lässt. Als hätten diese Schwächlinge überhaupt eine Chance gegen ihn.

 

Der Dämon fegt regelrecht durch die von Turano versammelten Wachleute, schlitzt grinsend die Kehlen auf, durchbohrt lachend Herzen und genießt das Schreien der lebendig verbrennenden Menschen, bis gut die Hälfte von ihnen tot im Gras liegt. Schließlich bleibt der Junge einige Meter über dem Boden schweben, verschränkt die Arme und sieht beinahe erschrocken und enttäuscht zugleich zu den noch verbliebenen Wachen hinab. Die meisten von ihnen haben bereits aufgegeben und die Waffen gesenkt und die, die noch töricht genug sind, den Lauf auf den Dämon zu richten, zittern dabei.

 

„Sind das echt die Wachleute, die uns die ganzen Jahre lang vor Eindringlingen beschützen sollten? Irgendwie fühle ich mich jetzt überhaupt nicht mehr sicher hier. Wie gut, dass ich heute ausziehe.“ Schulterzuckend dreht er sich auf der Suche nach Turano um die eigene Achse. Er entdeckt ihn am Rand der Terrasse, zitternd, bleich und mit weit aufgerissenen Augen. So hat er ihn noch nie gesehen. Irgendwie löst das ein triumphales Gefühl in ihm aus. Die anderen ignorierend steuert er betont langsam auf seinen ehemaligen Vater zu.

 

„E-Eren … Bitte … Du willst das doch gar nicht tun. Wir sind trotzdem deine Familie.“ Seine Stimme klingt genauso ungläubig und verletzt, wie er aussieht.

 

Das und die Worte machen den Dämon nur noch wütender. „Wage es ja nicht, jetzt von mir Mitleid zu erwarten! Und hör auf mit diesem Familienscheiß!“

 

Ohne eine Reaktion abzuwarten stürzt er sich auf ihn. Je schneller er das hier erledigt, desto schneller kann er verschwinden und irgendwo anders Chaos und Zerstörung stiften. Schon der Gedanke daran lässt ein breites, unheilverkündendes Grinsen auf seinen Lippen erscheinen, während er sich schon alle möglichen Taten ausmalt, die er umsetzen will, solange er die Kontrolle hat. Wenn er dabei Erens Verfassung bedenkt, wird er sicher noch eine ganze Weile Spaß haben dürfen.

Eskalation

Ein plötzlicher Schmerz in seinem Flügel lässt ihn scharf die Luft einziehen. Er taumelt, verliert den Rhythmus und kracht zu Boden. Lange bleibt er allerdings dort nicht liegen. Wütend springt er auf die Füße und begutachtet seinen rechten Flügel, dessen Haut drei fingerlange blutende Löcher aufweist, die mit Sicherheit vorher nicht da waren. Zornig sieht er sich nach dem Übeltäter um, Flammen züngeln wieder an seinen Armen empor. Es ist nicht schwer zu erraten, wer der lebensmüde Angreifer war: Ajax steht auf der Terrasse. Er hält mehrere Shuriken zwischen den Fingern und neben ihm liegen zwei Gewehre.

 

„Bist du jetzt ein Ninja oder was?“, knurrt der Dämon auf dem Weg zu seinem ehemaligen Bruder. „Ich hätte wissen müssen, dass dich so ein kleiner Kratzer nicht kampfunfähig macht. Das ist gut, vielleicht wird es dann doch noch interessant mit dir.“

 

„Behaupte doch was du willst. Wir werden Eren zurückbekommen“, entgegnet Ajax überraschend ruhig.

 

„Und dann? Löscht ihr ihm wieder das Gedächtnis, damit er weiterhin eure kleine, brave Marionette bleibt?“, faucht er aufgebracht. „Darauf haben wir keine Lust mehr!“

 

„Du bist Eigentum von Turano Industries. Genau wie der Engel. Genau wie Eren.“ Der junge Mann wirft alle Shuriken auf einmal auf den Dämon, der sie ohne viel Aufwand mit seinen Schattenkugeln abfängt und auf halber Strecke zum Explodieren bringt.

 

„Ich bin niemandes Eigentum!“, brüllt er wütend, während er blind auf Ajax zustürmt.

 

„Ajax!“, ruft Turano von seinem Versteck aus, hat aber nicht vor selbst einzugreifen. Ohne Waffen und Kräfte wäre das glatter Selbstmord. Es bleibt ihm nichts Anderes übrig, als seinem Stellvertreter die Sache anzuvertrauen. Plötzlich fällt sein Blick auf einen der toten Männer nicht weit von ihm entfernt. Oder doch nicht?

 

Ajax´ Mundwinkel zucken leicht. „Als Dämon hast du deine Gefühle noch weniger unter Kontrolle wie sonst.“ Blitzschnell hat er die Waffen zur Hand und zielt damit auf den Jungen, der trotzdem auf ihn zurast. „Wie gut, dass ich dir das noch nicht gänzlich abtrainieren konnte.“

 

Als Ajax den Abzug drückt und den Kugelhagel auf Eren loslässt, wird dieser zum Stehenbleiben gezwungen, um mit einem Feuerschwall aus beiden Händen zu kontern. Dabei knirscht er wütend mit den Zähnen und wartet darauf, dass die Schüsse verstummen. Keine einzige Kugel schafft es durch sein Feuer, aber dennoch spürt er plötzlich einen stechenden Schmerz im Rücken. Mehr erschrocken, als dass es wirklich wehtut, obwohl die Wunde blutet und der schwarze Mantel an der Stelle noch dunkler wird, dreht er den Kopf nach dem neuen Gegner um, ohne seine Feuerwand abzubrechen. Als er den Täter entdeckt, muss er amüsiert schmunzeln.

 

Nicht weit von ihm entfernt steht ein ziemlich zittriger Benedikt Turano, eine Pistole in der Hand und eine lustige Mischung aus Entsetzen, Angst, Wut und Unglauben auf den Gesichtszügen. „G-Gib meinen Sohn frei!“

 

„Na sieh mal einer an. Das ist das erste Mal, dass du selbst etwas unternimmst, nicht wahr? Wie fühlt es sich an, auf deinen Sohn zu schießen und ihn bluten zu lassen?“, fragt der Dämon giftig. Dabei spuckt er das Wort Sohn aus, als wäre es die größte Beleidigung der Welt.

 

Turano antwortet nicht. Seine einzige Reaktion besteht daraus, dass er noch stärker zittert und die Pistole fallen lässt. „Eren …“

 

„Wie erbärmlich“, kommentiert der Junge. „So jemand will der Oberchef zweier Firmen sein, von denen eine hauptsächlich Attentate übernimmt? Echt jämmerlich.“

 

„Hey, hier spielt die Musik!“ Mit diesen Worten zieht Ajax nicht nur die Aufmerksamkeit des Dämons auf sich, er nutzt den Moment ebenfalls dazu, einen Dolch im Magen seines überrumpelten Gegners zu versenken.

 

Abrupt erlöschen die blauen Flammen. Mit großen Augen betrachtet er den Dolch, als würde er überlegen, ob er wirklich in seinem Bauch steckt. Dass die Schüsse aufgehört haben, hat er gar nicht mitbekommen. Trotzdem, wie ist Ajax so schnell zu ihm gekommen?

 

„Du bist zu unaufmerksam“, beantwortet er seine unausgesprochene Frage, zieht den Dolch heraus und sticht erneut zu, sodass der Dämon schwarzes Blut spuckt. „Verschwinde. Gib uns Eren zurück.“

 

Der Dämon lacht. Er lacht nur, was die beiden Männer sichtlich irritiert und Ajax alarmiert die Augen verengen lässt.

 

„Glaubt ihr echt, ich bin so leicht zu besiegen? Dann seid ihr noch dämlicher, als ich dachte.“ Er lacht zwar immer noch amüsiert, aber sein Blick, mit dem er Ajax fixiert, ist mörderisch. „Wie gesagt, ich bin stärker als Eren. Ich halte mich nicht zurück.“

 

Das Feuer entfacht sich erneut, diesmal steht sein gesamter Körper in Flammen, ohne ihn selbst zu verletzen. Der flackernde Schein gibt seinem Gesicht eine unheimliche Fratze. Ajax ist gerade noch im Stande, die Warnung zu erkennen und von dem Dämon zurückzuspringen, bevor das Feuer auch ihn erfassen konnte. Schützend nimmt er wieder seine Position vor Turano ein.

 

Unbeeindruckt zieht der Dämonenjunge den Dolch aus seiner Magengrube und wirft ihn achtlos beiseite. Dass dadurch die Wunde nur stärker blutet nimmt er gar nicht wahr. Mit einem überlegenen Schmunzeln sieht er zu seiner ehemaligen Familie, die fieberhaft nach einer Lösung sucht. Mittlerweile hat er zwei Kugeln eingesteckt, zwei Stiche eines Dolches und drei Löcher im rechten Flügel und dennoch steht er aufrecht in Flammen gehüllt und lacht.

 

„Ich weiß, ich wiederhole mich, aber netter Versuch. Mit so kleinen Verletzungen werdet ihr Eren nie zurückbekommen“, höhnt er. „Wie auch immer, so langsam langweilt ihr mich. Wollen wir das beenden? Es warten nämlich noch andere darauf, meine Bekanntschaft zu machen.“

 

Ajax´ Gesicht verfinstert sich. Er erträgt nicht mal den Gedanken, eine Niederlage einstecken zu müssen. So leicht gibt er sich aber auch noch nicht geschlagen. Laut genug, sodass ihn alle noch lebenden Wachen im Umkreis hören können, gibt er den Befehl: „Worauf wartet ihr noch?! Schießt endlich!“

 

Da Ajax keine Sekunde daran glaubt, dass sie den Dämonenjungen wirklich tödlich treffen würden, spart er sich die Erwähnung, ihn nur bewegungsunfähig zu machen. Der Dämon wirbelt auf der Stelle herum, einen ganzen Schwarm an Schattenkugeln umkreist ihn mit denen er die zunächst vereinzelten, zögerlichen Schüsse abwehrt. Mit der Zeit werden es mehr, bis die verbliebenen Wachleute ihren Mut gefunden zu haben scheinen, um das Feuer auf das jüngste Turanomitglied zu intensivieren. Viele der Schattenkugeln vernichten die Angriffsversuche der Wachen, manche treffen auch den Schützen, sodass es immer weniger werden. Einfache Menschen sind keine Gegner für den Dämon.

 

Das war auch gar nicht Ajax´ Absicht. Er benutzt sie lediglich als Ablenkung. In der Sekunde, in der der Dämon angefangen hat, seine Aufmerksamkeit auf die Wachen zu richten, hat er sich Turano geschnappt und ist mit ihm zurück ins Anwesen gestürmt. Um ihnen mehr Zeit zu verschaffen, hat er eine Illusion von ihnen auf dem Rasen zurückgelassen. Sie wird sicher nicht reichen, um den Dämon zu täuschen, aber so haben sie ein paar Sekunden mehr Zeit.

 

„Ajax, was ist dein Plan?“, möchte Turano wissen, als sie sich einen Weg durch das noch immer brennende Wohnzimmer bahnen.

 

„Wir brauchen das AEUD-Serum. Ich hab doch gesagt, wir sollten davon auch einen Vorrat im Anwesen haben“, erklärt und wirft ihm Ajax zeitgleich vor, ohne sich zu ihm umzudrehen.

 

„Wir hatten aber auch nie vor, hier Verwandlungstraining abzuhalten und wenn die Male zu groß wurden, gab es ja noch immer die Zelle im Bunker. Wer hätte ahnen können, dass er ausgerechnet hinter der Couch hockt, wenn wir solche Themen besprechen?“ Wütend auf sich selbst spannt Turano den Kiefer an. „Das war leichtsinnig von uns.“

 

Ajax führt ihn weiter hinter das Gemälde und hinunter in den geheimen Tunnel zum Bunker, wo seltsamerweise kein Fahrzeug auf dieser Seite wartet. „Ist eine der Wachen in den Bunker geflüchtet?“

 

„Wenn ich herausfinde, wer das war, wird diese Person auf der Stelle getötet“, verspricht Turano. Er drückt auf den Knopf und kurze Zeit später sind sie auch schon auf dem Weg in den Bunker.

 

„Wir werden ihm doch das Gedächtnis löschen, nicht wahr?“, fragt Ajax nach einer Weile, während er sich notdürftig die Wunden auf seiner Brust mit dem Erste-Hilfe-Koffer im Wagen verbindet. „Du siehst ja was passiert, wenn er die Wahrheit kennt. Er ist emotional einfach zu instabil für unsere Pläne.“

 

Schwer seufzend sieht Turano nach vorne, wo schon das Ende des Tunnels in Sicht kommt. „Ja, das wird wohl das Beste sein.“

 

~~~

 

Sobald der Dämon jeden Schützen erledigt hat, streckt er seine Arme nach oben, bis sie knacken. Dabei meldet sich die ein oder andere Wunde, von denen er zu seiner Schande doch ein paar von diesen nutzlosen Wachen kassiert hat. Schuld daran war seine gerissene Flügelmembran, die er ständig vergessen und sich gemeldet hat, als er in den Luftkampf wechseln wollte. Mit einem Schmollmund mustert er seine Klamotten und die Löcher darin.

 

„Ach, verdammt. Seht ihr, was ihr mit meinen Klamotten angestellt habt?“ Empört dreht er sich um, um Ajax und Turano den Schaden zu zeigen, doch sobald er sie erblickt, fangen seine Augen an mörderisch zu glühen. Er bemerkt sofort, dass die beiden Illusionen sind. Der Grund ist einfach, sie haben keinen Herzschlag. Seine Wut darüber explodiert wortwörtlich in Form blauer Flammen, die im Umkreis mehrerer Meter alles verbrennen, egal ob Leichen, Waffenteile oder Pflanzen.

 

„Sie sind abgehauen!“, brüllt er auf dem Weg ins Wohnzimmer, nachdem er draußen alles überflogen hat, was mit einem löchrigen Flügel gar nicht so einfach ist. „Wo seid ihr Feiglinge?!“

 

Auch im Wohnzimmer sind sie nicht, weshalb er erneut eine blaue Explosion verursacht, die einen Teil der Wände und Decke schmelzen lässt. So allmählich wäre die Sprinkleranlage mit dem Feuer klargekommen, jetzt hat sie noch mehr zu löschen. Dann fällt sein Blick auf das Gemälde, das nicht ganz auf seinem Platz hängt. Er geht darauf zu, schiebt das Bild beiseite und klettert die Leiter hinab, um sich zu vergewissern. Es ist kein Fahrzeug hier.

 

„So-so. Ihr seid also in den Bunker geflohen.“ Ein hochmütiges Grinsen kräuselt seine Mundwinkel. „Meinetwegen. Dann ändern wir den Schauplatz eben.“

 

Er wirbelt auf dem Absatz herum, steigt die Leiter wieder hinauf und verlässt das Anwesen. „Aber ich werde sicher nicht so dumm sein und in eine Falle tappen.“ Am Ende der Terrasse bleibt er stehen und sieht über den Wald und die Mauer hinweg zur hell beleuchteten Skyline von Haikla City. „Es gibt mehr als einen Weg in den Bunker.“

 

Der Dämon breitet die Flügel aus und schwingt sich in den Himmel. Sein Ziel ist der TuranoTower in der Stadt. Das Hindernis dabei ist nur, er hat keine Ahnung, wo genau der steht. Er kennt sich in der Stadt nicht aus und in den Bunker fährt er immer mit dem Tunnelfahrzeug. Na ja, so schwer kann ein Gebäude mit einem großen T darauf doch nicht zu finden sein. Und falls er es tatsächlich nicht finden sollte, macht er einfach die gesamte Stadt dem Erdboden gleich.

 

Mit diesem Plan im Kopf steigt er höher, um einen guten Überblick über Haikla City zu haben. Der Wind pfeift um seine Ohren, zerrt an seinen Haaren und lässt den Mantel flattern. Es ist das erste Mal, dass er die Stadt aus der Vogelperspektive sieht, was die Suche nicht unbedingt vereinfacht. Außerdem erkennt er aus der Wolkenhöhe nur ein typisches Stadtlabyrinth aus Straßen, Fabriken und Wolkenkratzern. Aber kein T. Deshalb und weil diese Höhe und Kälte seinem verwundeten Flügel gar nicht guttut, gleitet er tiefer und beschließt die Taktik zu ändern. Er wird wohl doch die Stadt strategisch absuchen und Pausen einlegen müssen, um nicht zu riskieren, irgendwann abzustürzen.

 

Mit lodernden Augen sieht er zu den schwerfälligen Bewegungen seiner Schwingen und wünschte - auch wenn er es niemals vor dem Engel oder Eren zugeben würde - er hätte in dieser Gestalt dieselben starken Heilkräfte wie der Engel. Aber da er das nun mal nicht ändern kann, bleibt ihm nichts Anderes übrig, als vor sich hin fluchend den TuranoTower zu suchen.

Planänderung

Um der Ärztin herum explodiert, brennt oder schreit seit den letzten Minuten alles und jeder. Darunter mischt sich der unverwechselbare Lärm von Schüssen. Wenn sie ehrlich ist, will sie gar nicht genau wissen, was da draußen vor sich geht. Aber sie kann nicht anders als es sich auszumalen. Mühsam befreit sie sich aus ihrer Starre. Sie weiß, es hilft niemandem, wenn sie hier wie ein verschrecktes Kaninchen hocken bleibt. Ihr selbst oder Eren am wenigsten. Die Vorwürfe und das schlechte Gewissen quälen sie dann. Sie muss was tun! Sie muss es wieder gutmachen! Oder es zumindest versuchen.

 

Langsam hebt sie den Kopf bis sie über die Lehne sehen kann. Durch die Sprinkleranlage sind ihre Klamotten komplett durchnässt, dennoch brennt Erens blaues Feuer noch immer im oberen Stockwerk. Ihre Augen weiten sich entsetzt bei dem Chaos und all den Toten. Als sie ein Ächzen vernimmt, zieht sie schnell den Kopf zurück. Noch nicht alle haben sich dem Freiluftkampf angeschlossen.

 

„Verdammt“, ächzt Ajax, der sich aus dem Trümmerhaufen des Schrankes befreit und die tiefen Kratzer auf seiner Brust betastet. Sein Hemd ist an diesen Stellen zerrissen und getränkt in Blut. Hätte der Dämon es gewollt, hätte er ihm in diesem Moment die Kehle aufschlitzen können. Dass er es nicht getan hat, macht ihn stutzig, aber er hat keine Zeit, lang darüber nachzudenken. Draußen tobt immerhin ein Kampf und diese nutzlosen Wachen sind Dämon-Eren ganz sicher nicht gewachsen.

 

„Wage es ja nicht, jetzt von mir Mitleid zu erwarten! Und hör auf mit diesem Familienscheiß!“, hört Dr. Ryu den Dämon im Garten brüllen. Mittlerweile sind die Schüsse verstummt, was kein gutes Zeichen sein kann.

 

Das denkt wohl auch Ajax, der sich auf der Stelle auf den Weg zur Terrasse macht. Bereits unterwegs erschafft er mit seiner Fähigkeit mehrere Shuriken zwischen den Fingern, um sofort eingreifen zu können, sobald er den Dämon sieht.

 

Als Ajax das Wohnzimmer verlassen hat, wagt es Dr. Ryu wieder aufzutauchen. Mit zittrigen Beinen erhebt sie sich, dabei hält sie sich an der Couch fest, da ihre Muskeln durch die unbequeme Position eingeschlafen sind und sie ihnen nicht zutraut, sie im Moment sicher halten zu können. So kommt sie nur langsam voran. Sie vermeidet es, den toten Wachen zu viel Beachtung zu schenken und durch die weit geöffnete Glastür hinaus in den Garten zu sehen, wo der Dämon und Ajax sich gegenseitig mit Schattenkugeln und Shuriken zu töten versuchen.

 

Dabei hört sie laut und deutlich die zornige, tiefe Stimme des Dämons, die nicht mehr viel Ähnlichkeit mit der Stimme hat, die seinem Körper normalerweise gehört, aber viel erschreckender sind die Worte: „Ich bin Niemandes Eigentum!“

 

Er hat ja so recht damit. Die Turanos haben ihn schon immer wie eine Marionette behandelt, die sie so formen können, wie sie sie brauchen, ohne dabei auch nur eine Sekunde an sein Wohlergehen zu denken. Ein schmerzhafter Stich in ihrem Hinterkopf erinnert Dr. Ryu daran, dass sie genauso daran Schuld ist wie Turano. Dieser Gedanke ist auch der Auslöser für ihre Entscheidung. Damit muss jetzt Schluss sein! Sie will nicht länger einem größenwahnsinnigen Egoisten ohne Skrupel dienen und Kinder foltern und quälen müssen. Nein, das endet heute!

 

„Halte noch etwas durch, Eren. Ich bin unterwegs!“

 

Die Frau richtet sich auf, wirbelt am Absatz herum und stürzt zum Gemälde. In der Hektik wäre sie beinahe die Leiter hinuntergefallen. Sie stolpert zum Wagen, steigt ein und drückt den Startknopf. Noch während das Fahrzeug den Tunnel entlang rast, fischt sie ihr Smartphone aus der Tasche, das ihre Schuldgefühle noch weiter wachsen lässt. Sie hat Eren heute Nacht auch belogen. Sie war nicht im Anwesen, um ihr vergessenes Handy zu holen, sie war auf der Suche nach Informationen über Projekt Apex Life, über das sie vor einer Weile gestolpert ist. Es ist eines der wenigen Projekte des Bunkers, über das sie nichts weiß und das Erste, über das sie keinerlei Informationen auf den Servern des Bunkers finden konnte. Sie hatte nur zufällig ein paar Gesprächsfetzen zwischen Ajax und seinem Adoptivvater aufgeschnappt, als sie letztens auf dem Weg zu dessen Büro im TuranoTower gewesen war. Dass dabei Erens Name gefallen war, hatte ihr Interesse geweckt. Sie wusste schon seit der Nacht vor acht Jahren, dass es irgendeinen Grund gegeben haben musste, weshalb ihr Boss aus heiterem Himmel beschloss, Eren und Ajax zu adoptieren.

 

Bis jetzt hat sie noch immer keine Informationen über das Geheimprojekt finden können, auch heute nicht, da sie zu früh von dem Wachmann entdeckt wurde. Zum Glück war Eren aufgetaucht und hatte ihr geholfen. Jetzt ist es an der Zeit, sich zu revanchieren!

 

Neue Entschlossenheit durchströmt ihren Körper. Sie wird Eren zurückholen, koste es, was es wolle. Und wenn das geschafft ist, befreit sie ihn von den Fesseln der Turanos! Er hat das hier nicht verdient. Niemand hat das.

 

Da es im Tunnel keinen Empfang gibt, sucht sie zumindest schon mal den Namen in ihren Kontakten heraus, um nachher nur noch auf Anrufen tippen zu müssen. Sie springt aus dem Wagen, noch bevor er vollständig hält, hechtet die Leiter hoch und durch die verborgene Tür. Um keine unnötige Aufmerksamkeit zu erregen zwingt sich Dr. Ryu dazu, im Schritttempo den Gängen zum Fahrstuhl zu folgen. Die meisten der Schüler hier unten sind bereits in ihren „Zimmern“, weshalb die Lampen auf den Gängen ausgeschaltet sind. Das einzige Licht stammt von ihrer Handytaschenlampe, die sie hier ohne Heimlichkeit einschalten kann. Hier darf sie sich aufhalten. Hier hält sie niemand des Wachpersonals auf, von denen immer wieder einer an ihr vorbei geht. Die meisten grüßen sie nickend und sehen ihr nur verwundert nach, weil sie so durchnässt ist, aber niemand hält sie auf oder stellt ihr unangenehme Fragen. Ein gutes Zeichen dafür, dass keiner ahnt, was gerade im Turano-Anwesen vor sich geht. Jetzt kommt es ihr zu Gute, dass Benedikt die Arbeitsplätze getrennt hält, bis auf ein paar kleine Ausnahmen.

 

Dr. Ryu ist schon unzählige Male an all den kleinen Zimmern mit den Experimenten vorbeigegangen, aber heute Nacht schmerzt ihr der Anblick besonders, gleichzeitig blendet sie sie so gut es geht aus, um sich auf ihre eigentliche Aufgabe zu konzentrieren.

 

Nachdem Eren als Sohn aufgenommen wurde, hatte Turano veranlasst, die Zellen ein wenig wohnlicher zu gestalten, um die Gefängnisatmosphäre zu überspielen und Eren zu täuschen. Zumindest eine Kleinigkeit, die sich für jene Insassen hier verbessert hat, die noch nicht zu hundert Prozent hinter Turano stehen. Im Moment kann Dr. Ryu nicht jeden retten, das weiß sie. Irgendwann hofft sie stark darauf, aber im Moment muss sie sich mit Eren zufrieden geben. Vor allem, wenn dadurch dieses Projekt Apex Life gestoppt wird. Was auch immer das ist. Ist auch nicht so wichtig. Wenn Turano und Ajax diesen Plan selbst mit solch brutalen Mitteln umsetzen wollen, kann es nichts gutes bedeuten.

 

Die Ärztin fährt mit dem Fahrstuhl ins Stockwerk -01, wo ihr Labor und die Lagerräume liegen. Letzteres steuert sie als Erstes an. Auch die Gänge hier sind um diese Uhrzeit nur noch spärlich beleuchtet, was ihr immer ein mulmiges Gefühl in der Magengrube beschert. Sie ist nicht unbedingt ein Angsthase, aber an diesem Ort allein durch dunkle Gänge zu wandern, während man vorhat den Ort zu verraten und hinter jeder Kurve eine Wache mit Waffe erwartet, kann ganz schön an den Nerven zerren. Deshalb beschleunigt sie ihre Schritte.

 

Das „Equipment-Lager 2“ hat sie schnell erreicht. Sie zieht ihre Zutrittskarte durch den Scanner neben dem Türrahmen und schlüpft in den Raum. Typisch für Lagerräume sind hier haufenweise deckenhohe Regale zu finden, in denen alle möglichen Gerätschaften aufbewahrt werden, von denen auch an den Wänden welche hängen. Gezielt betritt sie die Reihe F, überfliegt dort mit den Augen hektisch die Kisten, bis sie eine Box mit der Aufschrift F18 entdeckt. Diese zieht sie heraus, sieht kurz hinein, um sicherzugehen, dass es die richtige Box ist und nimmt sie kurzerhand mit.

 

Nachdem sie im Gang kontrolliert hat, dass noch immer niemand hier Alarm geschlagen hat, schleicht sie weiter zu ihrem eigenen Labor. Gut, erste Hürde gemeistert. Doch zum Ausruhen oder sich selbst loben bleibt keine Zeit. Es gibt einen Jungen, der darauf wartet gerettet zu werden. Deshalb setzt Dr. Ryu die Box auf der Arbeitsfläche ab, entsperrt den Computer, der eh rund um die Uhr läuft und klickt sich geübt durch die Server und Ordner, bis sie die Datei findet. Diese schickt sie sich über ihre E-Mailadresse selbst auf ihr Privathandy.

 

Während also die Datei gesendet wird, widmet sie sich ihren nassen Klamotten, um die Wartezeit zu überbrücken und nicht pausenlos herumzutigern. Aus einem Schrank in der Ecke zieht sie eine Sporttasche heraus, in der sie Wechselklamotten aufbewahrt, falls sie sich während der Arbeit umziehen muss. So wie jetzt. In Rekordzeit schlüpft sie in die schwarze Jeans, den grünen Pullover und ist froh, sogar an Turnschuhe und einen Mantel gedacht zu haben. Wie gut, dass sie gern auf alle Eventualitäten vorbereitet ist. Die nassen Klamotten wirft sie einfach in den Schrank und schließt ihn, die nun leere Tasche nimmt sie allerdings mit zur Box F18. Ein kurzer Blick auf den PC-Bildschirm sagt ihr, dass das Versenden abgeschlossen ist. Sie kontrolliert ihr Handy, ob auch alles da ist und löscht anschließend die Daten endgültig vom Server.

 

Dann stopft sie alle Geräte aus F18 in ihre Sporttasche und ruft im Anschluss die Person an, die ihr bei ihrem Plan helfen soll, wobei sie sich das Handy zwischen Wange und Schulter klemmt. Obwohl es mitten in der Nacht ist, hebt der Gesprächspartner schon nach dem zweiten Klingeln ab.

 

„Hallo?“ Er klingt noch sehr verschlafen. Anscheinend hat sie ihn geweckt.

 

„Jack, ich bin´s. Ich brauche deine Hilfe!“, platzt sie sofort mit ihrem Anliegen heraus.

 

„Lia?“ Jack klingt plötzlich hellwach und alarmiert. „Was ist los?!“

 

„Komm zur Westhain-Station und hol mich da ab. Ich erklär dir dann alles unterwegs“, teilt sie ihm knapp mit, steckt das letzte Gerät in die Tasche und zieht den Reizverschluss zu.

 

„Schon unterwegs.“ Ohne Abschiedsworte oder nach mehr Informationen zu fragen, legt Jack auf.

 

Ein leichtes Lächeln hebt ihre Mundwinkel an. Wie immer ist er sofort zur Stelle, wenn sie ihn braucht. Egal zu welcher Tages- oder Nachtzeit. So war er schon immer. Da sie weiß, dass er vermutlich gerade panisch in seine Klamotten schlüpft und zum Auto rennt, beeilt sie sich, ihn nicht lange warten zu lassen. Der PC ist zum Glück auch mit seiner Arbeit fertig. Sie schaltet ihn aus, verstaut die leere Box im Schrank bei den nassen Klamotten und macht sich mit der Tasche über der Schulter auf den Weg.

 

Irgendwie findet sie es schon seltsam, dass noch immer kein Alarm angegangen ist. Vielleicht sollte sie sich lieber nicht darüber beschweren. Bei ihrem Glück springt sonst wirklich noch die Alarmanlage an und riegelt den Bunker ab. Dann sitzt sie hier fest und wird zwangsläufig auffliegen, wenn jemand erfährt, was sie gerade getan hat und was sie noch im Begriff ist zu tun.

 

Schluss damit. Entschieden schüttelt sie den Kopf und zwingt sich dazu, die beiden Wachfrauen freundlich zu grüßen, die an ihr vorbeigehen, während sie auf den Aufzug wartet. Sie versucht, sich möglichst normal zu benehmen. Ihr Herz hat die Botschaft wohl nicht bekommen, es rast vor Angst. Angst davor entdeckt zu werden. Angst davor, was dann mit ihr geschieht. Angst um Eren. Das alles mischt sich zu den Schuldgefühlen, was sie alles zu verdrängen versucht. Jetzt nur nicht den Kopf verlieren. Sie hat einen Plan. Alles wird gut werden. Ihre Pläne gehen schließlich so gut wie nie schief. Deshalb plant sie ja alles vor, um auf alles gefasst zu sein und auf alles reagieren zu können.

 

Zu ihrer eigenen Überraschung schafft sie es sogar in die Eingangshalle, ohne unnötiges Aufsehen erregt zu haben. Das läuft besser als erwartet, aber spätestens, wenn jemand den Schrank in ihrem Labor öffnet, weiß derjenige, dass sie eine Verräterin ist. Egal. Es ist zwar schade, da sie so nicht mehr an Informationen über die ganzen Untergrundaktionen der Turanos gelangt, aber sie tut es für einen guten Zweck. Sie hat schon viel zu lange nur zugesehen.

 

Der Mann am Empfang wünscht ihr eine gute Nacht, als sie den großen TuranoTower verlässt. Durch die ganzen Überstunden ist es nichts außergewöhnliches, dass sie so spät das Gebäude verlässt. Oder so früh. Den Weg zur U-Bahnstation kennt sie nur zu gut, schließlich fährt sie täglich mit der U-Bahn zur Arbeit. Sie hat zwar ein eigenes Auto, aber dafür ist ihr die Streckenlänge von ein paar Minuten mit der U-Bahn nicht wert. Außerdem gibt es zu wenig Parkplätze hier in der Nähe. Ein weiterer Pluspunkt ist, niemand von Turano Industries würde ihr Auto auf der Straße erkennen. Der Bahnhof ist nur zwei Straßen weiter, noch dazu an einer Hauptstraße, was ihr im Moment sehr gelegen kommt. Auf offener Straße, mit Zeugen, fühlt sie sich sicherer.

Hinterhalt

„Wie schwer kann es sein, diesen bescheuerten Wolkenkratzer zu finden?!“, verlangt der Dämon lautstark zu erfahren, auch wenn er nicht wirklich eine Antwort erwartet.

 

Seinen Frust lässt er an der nächsten Reklametafel aus. Durch die Wucht verbiegen sich die Metallstreben, die die Reklame eigentlich halten sollten. Dem Mädchen mit dem breiten Zahnpasta-Lächeln darauf fehlen anschließend ein paar Zähne und es hat nun ein Loch im Gesicht, aus dem Funken sprühen. Die Beleuchtung flackert, fällt teilweise komplett aus und verleiht der Werbung so einen unheimlichen Touch.

 

Da diese Aktion sicher nicht unbemerkt bleiben wird und weil der Dämon keine Lust darauf hat entdeckt zu werden, flieht er ein paar Straßen weiter und landet auf der flachen Dachterrasse eines mehrstöckigen Wohngebäudes. Dort setzt er sich auf die niedrige Mauer, die das Dach komplett umschließt und prüft erneut seine Schwinge. Die Löcher sind noch da. Genau wie der Engel hat zwar auch der Dämon verbesserte Heilkräfte, allerdings nicht so ausgeprägt, weshalb es deutlich länger dauert, bis so einfache Verletzungen heilen, was den Dämon tierisch aufregt. Dafür kann er mehr Schmerzen ertragen, was die Sache ein wenig ausgleicht. Trotzdem … das größte Problem momentan sind und bleiben die Shurikenwunden. Sie tun nicht weh, aber sie behindern ihn beim Fliegen.

 

Genau das macht ihn im Augenblick so rasend. Das, dass es angefangen hat zu regnen und die Tatsache, dass er nicht in der Lage ist, ein einfaches Gebäude zu finden. So groß ist Haikla City nun auch wieder nicht! Zornig ballt er die Hände zusammen, schlägt damit neben sich auf die Mauer, wo er eine deutliche Mulde hinterlässt und hebt anschließend knurrend den Kopf auf der Suche nach der nächsten Möglichkeit, um sich abzureagieren. Dabei ist es ihm vollkommen egal, ob die Möglichkeit atmet oder nicht. Er will nur auf etwas einschlagen.

 

Ein unerwarteter Knall gefolgt von plötzlichem Schmerz im rechten Knöchel lässt den Dämon kampfbereit aufspringen. Dabei fällt etwas klirrend zu Boden. Auch ohne dass er hinsieht, hätte er sagen können, was es ist. Das sich vom Knöchel ausbreitende Brennen ist Hinweis genug. Der Blick auf das Glasröhrchen mit der Nadel am einen und dem Puschel am anderen Ende bestätigt seinen Verdacht. Jemand hat ihn mit dem AEUD-Serum erwischt. Doch zu seinem Glück scheint die Menge nicht auszureichen, um ihn zu bezwingen. Ein Teil der silbernen Flüssigkeit steckt auch noch immer im Röhrchen.

 

Das heißt nicht, dass es komplett wirkungslos ist. Von der injizierten Menge her reicht es nicht, Eren aus dem Spiegel zu holen, aber es genügt, um sein Bein zu lähmen. Je weiter sich das Gift ausbreitet, desto stärker wird der Krampf in seinen Eingeweiden. Sein Sichtfeld verschwimmt. Das bedeutet, er muss schnell die Gegner ausschalten und ein Versteck finden, bis das Serum abgeklungen ist. So ein Mist! Und die Suche nach dem TuranoTower muss er auch noch abbrechen! Das missfällt ihm gewaltig.

 

Wütend sieht er hinunter in die Gasse zum Scharfschützen. Turanos Männer haben ihn schneller gefunden als vermutet. Als er den Mann entdeckt, blinzelt er sofort überrascht, ehe er sich argwöhnisch umsieht. Dort am Ende der Gasse steht ein einzelner Mann, der hektisch sein Gewehr nachlädt.

 

„Was? Nur einer?“, stellt der Dämon gekränkt fest, als er sonst niemanden finden kann. Gleichzeitig ist er am überlegen, ob dieser Mann der Mutigste oder Dümmste von Turanos Männern ist. Er beschließt Zweiteres.

 

Ist ja auch egal. Möglichkeit ist Möglichkeit. Der Dämon lässt eine Schattenkugel um seinen Zeigefinger kreisen, die er in dem Moment auf den Mann schnippt, als dieser seine Waffe hebt. Die Kugel durchbohrt dessen Kopf vollständig und schlägt hinter ihm im Asphalt ein. Allerdings hat der Mann nicht einen einzigen Kratzer abbekommen. Vollkommen unbeschadet zielt er auf den perplexen Dämonenjungen, der irritiert und angesäuert nach dem Grund sucht, und drückt ab. Gerade noch rechtzeitig erwacht der Dämon aus seiner Starre, geht gemächlich einen Schritt nach links und weicht so dem Pfeil aus. Inzwischen hat er auch die Erkenntnis erlangt, wieso sein Angriff danebenging, obwohl er zu hundert Prozent sicher getroffen hat.

 

„Du bist keiner der Wachen, richtig? Du bist auch eins von Turanos Experimenten“, sagt er mehr zu sich selbst. Für einen kurzen Moment blitzt Mitleid in den roten Augen auf, dieser Funke weicht jedoch sehr schnell wieder dem angriffslustigen Mordglitzern. „Ich werde dich von seinen fesselnden Lügen erlösen.“

 

Um dem Mann keine Chance zum Nachladen zu geben, der Dämonenjunge hat schließlich keine Ahnung, wie viele dieser Seren er noch dabei hat, stürzt er sich kopfüber vom Dach, breitet die Flügel aus und stürzt mit gespreizten Krallen auf ihn zu. Wenn der Mann Fernangriffe so leicht abwehren kann, greift der Dämon eben physisch an.

 

Sein Gegner trägt einfache Kleidung, eine Jeans, ein kariertes Hemd und eine gefütterte Lederjacke offen darüber. Wenn er sich so leger anziehen darf, gehört er doch sicher zu den höherrangigen Gefolgsleuten. Trotzdem hat Dämon-Eren ihn noch nie gesehen, weshalb er auch nichts über seine Fähigkeiten weiß. Andernfalls hätte er nicht beschlossen, einen Direktangriff zu starten. Genau wie seine Schattenkugel schlitzen auch seine Nägel nutzlos durch seinen Feind hindurch. Das lässt ihn frustriert knurren, als er sofort herumwirbelt und erneut zum Angriff ansetzt. Auch der Tritt gleitet so einfach durch seinen Bauch wie durch Luft.

 

„Lass dich endlich töten, du Feigling!“, verlangt der Dämon halb knurrend, halb schreiend.

 

Egal wie oft er es auch versucht, das Ergebnis bleibt dasselbe, was ihn zunehmend wütender macht. Sein Gegner jedoch denkt gar nicht daran, sich einfach so töten zu lassen. Obwohl der Mann eigentlich nichts zu befürchten hat, ist er dennoch vorsichtig und weicht sogar zurück. Außerdem ist der Dämon zu schnell, weshalb er nicht richtig zielen kann. Sobald er ihn im Visier hat, ist er auch schon wieder ganz woanders.

 

Nach ein paar Minuten wirkungslosem Herumschlagen sieht es der Dämon endlich ein, dass er ihn nicht treffen wird. Er hält sich im zweiten Stock am Geländer der Feuerleiter seitlich des Wohngebäudes fest und fixiert den Mann unter sich so finster er kann. Vielleicht funktioniert es ja, ihn mit Blicken zu erdolchen?

 

Sein rechtes Bein ist mittlerweile komplett taub, weshalb es nur nutzlos herunterhängt. Auch seine Organe fangen an, eine schmerzende Karussellfahrt zu planen und er erkennt größtenteils nur noch verschwommene Flecken. Seine Kräfte haben sich ebenfalls drastisch vermindert. Er schafft es nur noch maximal fünf ziemlich schwache Schattenkugeln auf einmal zu kreieren und sein Feuer ähnelt mehr einem Streichholz als einem Flammenwerfer. Trotzdem weigert er sich, aufzugeben. Er hat sogar versucht, dem Mann das Gewehr aus der Hand zu schlagen, um zumindest die Gefahr des Serums zu eliminieren, aber nicht einmal die Waffe konnte er berühren. Das kann doch nicht sein, dass ein einziger Mann mit einer bescheuerten Materielosigkeit ihn, einen Engel-Dämon-Hybriden, besiegt! Das kann der Dämon nicht akzeptieren! Das ist doch lächerlich! Welchen Trick benutzt dieser fremde Typ, der plötzlich hier aufgetaucht ist? Was ist seine Schwachstelle?!

 

Der Dämon kann nicht anders. Er muss einfach erneut angreifen. Es ist schließlich unmöglich, dass ein einzelner Mann ihm überlegen ist. Noch dazu einer mit so einer einfachen, langweiligen Fähigkeit! Er reißt sich zusammen und stürzt sich mit einem heiseren Schrei erneut auf seinen Gegner, seine Hände in Flammen gehüllt. Er weiß, es ist nutzlos, aber irgendetwas muss doch funktionieren! Irgendeine seiner Kräfte müssen ihn doch trotz des geisterhaften Körpers verletzen können!

 

Das hier kratzt sehr am Stolz des Dämons. Genau dieser Stolz und die Unachtsamkeit führen schließlich dazu, dass er nicht realisiert, wie der Mann vor ihm die Waffe hebt, zielt und abdrückt. Erst den Stich in der Brust, dicht gefolgt vom sich entfaltenden Serum wecken ihn aus seinen Gedanken. Durch den Schock darüber, getroffen worden zu sein, stürzt er zu Boden, wo er nach zwei Purzelbäumen gegen einen Müllcontainer kracht und benommen an diesen gelehnt sitzen bleibt. Dort zieht er sich mit zusammengebissenen Zähnen das Röhrchen aus der Brust und wirft es weg. Allerdings zu spät. Diesmal hat er die gesamte Ladung des Serums abbekommen, dessen Wirkung sich sofort bemerkbar macht.

 

Säure breitet sich im Körper des Dämonenjungen aus. Auf ihrem Weg zerfrisst sie jede einzelne Zelle bis wirklich jede Faser seines Körpers brennt. Ihm ist gleichzeitig so heiß, als würde er in einem Kochtopf sitzen, während er vor Kälte eine Gänsehaut bekommt und stark zu zittern anfängt. In seinem Kopf arbeitet eine ganze Abrissfirma daran, seine Schädeldecke zu spalten und vor seinen Augen dreht sich diese stinkende Gasse. Es dauert nicht lange, bis er schwarzes Blut hustet, das ihm kurz darauf aus Nase, Augen und Ohren zu tropfen beginnt. Auch das Atmen meidet er, da jeder Atemzug es nur schlimmer zu machen scheint. Entschlossen, jetzt hier nicht ohnmächtig zu werden, kämpft Dämon-Eren gegen die Schmerzen an.

 

Der Mann nähert sich vorsichtig mit erhobener Waffe dem bewegungsunfähigen Dämonenjungen, der ihn aus trüben Augen rachsüchtig anfunkelt. Testhalber stupst er ihn mit der Stiefelspitze an. Mehrmals. Als der Junge keine Anstalten macht aufzuspringen und anzugreifen, geht der Fremde ein paar Schritte zurück, zieht ein Handy aus der Jackentasche und wählt eine Nummer.

 

„Hey, ich hab ihn. Du kannst herkommen“, teilt er der Person am anderen Ende der Leitung mit.

 

Für den Dämon klingt es so, als wäre sein Va- … als wären Turano und/oder Ajax in der Nähe. Aber warum hat Letzterer nicht selbst eingegriffen? Ist er zu verwundet? Dabei fällt ihm noch etwas auf, was eindeutig beweist, dass sein Verstand von dem Serum in dichten Nebel gehüllt ist. Er hat noch immer die Dämonengestalt. Aber wieso? Sollte das Serum nicht ausreichen, um Eren zurückzubringen? Weigert der sich etwa, aus dem Spiegel zu kommen? Oder ist der Dämon einfach stärker als er selbst angenommen hatte, sodass er noch genug Kraft besitzt, um aktiv zu bleiben? Er beschließt, dass die zweite Option ihm besser gefällt.

 

Dennoch erfüllt das Serum seinen Zweck. Abgesehen von den höllischen Schmerzen, der Taubheit und dem defekten Sichtfeld sind auch die roten Adern zurückgegangen, sodass sie nur noch die Hand bedecken. Auch das schwarze Mal ist ein wenig geschrumpft, es reicht jetzt nur noch bis zum Ellbogen, aber trotzdem ist der Dämon noch bei Bewusstsein. Er selbst war zwar nie wach, wenn sein Gegenstück das Serum bekommen hat, aber soweit er es beurteilen kann, war es bei dem Engel wirkungsvoller. Okay, dass Eren damals auch in einer besseren seelischen Verfassung war, könnte auch eine Rolle spielen. Außerdem sind seine Kräfte natürlich um ein Vielfaches stärker als die des schwachen Engels, redet er sich ein.

 

Aus dem Augenwinkel nimmt er eine Bewegung wahr. Eine Frau läuft auf die beiden zu. Sie trägt Turnschuhe, eine schwarze Jeans und einen grünen Pullover, der im halb geöffneten Reißverschluss unter ihrem dunkelblauen Mantel hervorlugt. Sobald sie den Dämonenjungen erblickt, taucht ein erschrockener, irritierter Ausdruck auf ihrem Gesicht auf.

 

„Was? Er hat noch die Dämonengestalt? Wie viel Serum hast du ihm injiziert?“, möchte sie von dem Mann wissen, der noch immer den Lauf auf die Brust des Dämons richtet.

 

„Zwei. Allerdings weiß ich nicht, wie viel vom Ersten tatsächlich in seinen Körper gelangt ist“, gibt er ehrlich zu.

 

„Okay.“ Sie geht näher zu ihm, wird jedoch am Arm festgehalten.

 

„Sei vorsichtig. Er scheint gefährlicher zu sein, als du mir beschrieben hast.“

 

Beruhigend lächelt sie ihn an. „Keine Sorge. Ich ken...“

 

„Lia, pass auf!“

 

Der Dämon hat soeben beschlossen, seine Theorie über seine Überlegenheit gegenüber dem Engel zu prüfen. Er hat seine gesamten verbliebenen Kraftreserven mobilisiert und es dadurch tatsächlich geschafft ein bisschen von der Taubheit zurückzudrängen. Gerade genug, um einen letzten, verzweifelten Angriff zu starten. Er ist aufgesprungen mit dem Ziel, seine Krallen durch die Kehle der Frau zu ziehen, die ihm am nächsten mit dem Rücken zugewandt steht. Allerdings hat der Mann das natürlich bemerken müssen und da er noch immer die Waffe auf ihn gerichtet hielt, hat er reflexartig abgedrückt.

 

Und jetzt kniet der Dämon zitternd auf allen Vieren, spuckt pausenlos Blut und wünscht sich, zu seiner Schande, er würde endlich zurück in den Spiegel gezogen werden, damit Eren diese Qualen ertragen muss und nicht er. Lange muss er darauf auch nicht warten. Der schwarze Nebel erscheint, trägt das Dämonische fort und bringt den Jungen zurück, der sofort bewusstlos zusammenbricht.

Auf der Jagd nach einem Dämon

Als die Frau am Tor zur U-Bahnstation ankommt, fährt gerade ein bekanntes, dunkelblaues Auto vor, das neben ihr parkt. Gerade rechtzeitig, mittlerweile hat es nämlich angefangen zu nieseln. Die Frau reißt sofort die Beifahrertür auf, steigt ein, knallt die Tür zu und wirft die Tasche auf den Rücksitz.

 

„Fahr zum Turano-Anwesen“, weist sie den Mann am Steuer an, während sie nach dem Sicherheitsgurt angelt.

 

Der Mann ist Mitte Dreißig, hat einen dunkelblonden Fünftagebart und einen beidseitigen Sidecut, wobei er die verbliebenen, längeren Haare zu einem unordentlichen Zopf am Hinterkopf zusammengebunden hat. Er trägt einfache Jeans, ein rotes kariertes Hemd und wie immer eine Lederjacke dazu. Aus besorgten dunkelbraunen Augen sieht er sie an. „Was ist los, Lia?“

 

„Fahr los! Wir haben keine Zeit zu verlieren!“, drängt die Frau flehend.

 

Für eine Sekunde sieht er so aus, als würde er noch etwas sagen wollen, doch dann nickt er und schlägt den Weg zum Turano-Anwesen ein. „Also, wieso zum Anwesen? Du weißt, dass es unmöglich sein wird, dort reinzukommen. Auch für dich.“

 

„Mag sein, aber wir müssen es versuchen. Ich hab Angst, dass sie Eren etwas Schlimmes antun werden“, gesteht sie.

 

„Eren? Du meinst, diesen Engel-Dämon-Jungen? Was ist mit ihm?“ Jack zieht beunruhigt die Augenbrauen zusammen. Die Frau hat ihm alles über ihren Job im Bunker erzählt. Es gibt keine Geheimnisse zwischen den beiden.

 

Sie nickt, nimmt ihre Brille ab und legt sie ins Handschuhfach. Die gehört ebenfalls nur zu ihrer Tarnung, die sie ja jetzt nicht mehr braucht. „Genau. Ich hatte eigentlich vor, nach ein paar Informationen zum Projekt Apex Life im Anwesen zu suchen, aber ich bin erwischt worden.“

 

„Was?! Gehts dir gut?“

 

„Ja, alles okay. Zum Glück hat mich Eren gerettet. Ich mache mir eher Sorgen, dass es ihm nicht gut geht.“ Dr. Ryu dreht sich um, öffnet die Tasche am Rücksitz und zieht eines der Geräte heraus. „Er wollte mich noch zum Tunnel begleiten, falls wir weiteren Wachen begegnen sollten … Ab da ist alles schief gelaufen.“

 

Jack mustert sie nur abwartend von der Seite. „Was ist passiert?“

 

„Turano und Ajax kamen plötzlich nach Hause. Eren und ich haben uns deshalb hinter der Couch versteckt, um zu warten, bis sie weg sind. Aber sie haben es sich nur bequem gemacht und über die denkbar schlechtesten Themen gesprochen.“ Die Frau hat das Gerät inzwischen eingeschaltet. Es besteht hauptsächlich aus einem Bildschirm mit einem Griff darunter und zwei Knöpfen am Rahmen. Sie legt es auf ihren Schoß und durchsucht ihr Handy nach den gestohlenen Dateien. Hauptsächlich geheime Informationen über einen Zwölfjährigen, die dieser größtenteils selbst nicht einmal weiß. „Eren hat es herausgefunden. Alles.“

 

„Alles?“, wiederholt der Mann fassungslos. „Anscheinend hat er es nicht gut aufgenommen, oder?“

 

„Ganz und gar nicht.“ Sie ist froh über die beherrschte Art ihres Freundes, sie hilft ihr, sich selbst zu beruhigen. Inzwischen hat sie auch die Infos gefunden und tippt eine mehrstellige Zahlenkombi auf dem Bildschirm ein. „Er weiß, dass die Turanos nicht seine Familie sind, dass sie an ihm und allen Anderen experimentiert haben, dass sie ihn nur benutzen, um an Engel- und Dämonenblut zu kommen. Er hat die Kontrolle verloren und wütet jetzt als Dämon im Anwesen herum. Ich hab Angst, dass es Turano und Ajax, in ihrem Versuch, ihn unter Kontrolle zu bekommen, übertreiben. Deshalb müssen wir ihn vor den Beiden erwischen und mitnehmen.“

 

„Mitnehmen? Wir schaffen es doch nicht einmal aufs Grundstück, du weißt genauso gut wie ich, was für Sicherheitsvorkehrungen die haben, und da willst du das wertvollste Experimente vor ihrer Nase einfach mitnehmen? Das werden die sicher nicht zulassen. Außerdem, was machen wir danach? Hast du dir überhaupt einen Plan überlegt?“ Jack ist alles andere als begeistert von ihrem Vorhaben, dennoch fährt er weiter auf das Turano-Anwesen zu.

 

„Ich weiß, dass es eine Schnapsidee ist, aber ich kann ihn nicht länger dort lassen.“ Dr. Ryu sieht ihn entschlossen an. „Wir müssen endlich was unternehmen und nicht nur rumsitzen und warten, bis wir herausfinden, was Turano überhaupt geplant hat. Dann kann es schon zu spät sein.“

 

„Hey, ganz ruhig. Ich steh auf deiner Seite, das weißt du, ich will nur sichergehen, dass es kein Fehler sein wird, einen Jungen zu uns zu holen, der eine ganze Stadt vernichten kann, wenn er einen schlechten Tag hat“, versucht er seine Zweifel zu erklären.

 

„Das weiß ich nicht. Aber er ist nicht böse. Die ganzen Lügen auf einmal zu erfahren, das ist einfach zu viel für ihn gewesen.“ Das Bild von Erens gequältem Gesicht taucht in ihren Gedanken auf. Sofort steigen wieder Tränen in ihren Augen auf. Eine Hand auf ihrer lässt sie aufblicken. „Keine Sorge. Wir retten ihn. Irgendwie. Immerhin ist es nicht unsere erste Flucht vor Turano, nicht wahr?“

 

Ein schwaches Lächeln hebt ihre Mundwinkel an. „Stimmt. Wir schaffen das schon. Außerdem herrscht dort sowieso gerade Chaos. Vermutlich wird uns da niemand beachten.“

 

Ein Pling lenkt ihre Aufmerksamkeit zurück auf das Gerät in ihren Händen. Ein grüner Kreis leuchtet auf dem Bildschirm auf und eine Landkarte erscheint. Auf den ersten Blick sieht es aus wie ein Navi. Es gibt einen kleinen Punkt mit Fähnchen auf dem „Aktuelle Position“ steht und ein weiteres Fähnchen mit dem Bild von Eren. Die Position ist allerdings nicht da wo erwartet. Er bewegt sich geradewegs durch oder eher über den Wald des Anwesens, direkt auf Haikla City zu. Die Bewegungsrichtung schließt den Tunnel somit aus. „Das ist seltsam. Wieso ist er auf den Weg in die Stadt?“

 

„Will er jetzt die Stadt angreifen?“

 

„Vielleicht“, antwortet sie nachdenklich.

 

„Soll ich umdrehen?“, fragt Jack, der bereits die Straße zum ersten Tor eingeschlagen hat und jetzt das Tempo drosselt.

 

„Ja. Kleine Planänderung. Wir müssen ihn in der Stadt erwischen“, entscheidet sie kurzerhand. Der Ortswechsel ändert nichts an ihrem Plan. Wenn überhaupt, vereinfacht es ihn.

 

„Aye, Madame!“ Da die Straße sowieso meistens leer ist, legt Jack eine stuntverdächtige Wende hin und fährt den Weg zurück, den sie gerade gekommen sind. „Zumindest müssen wir uns jetzt keine Ausrede einfallen lassen, wieso wir auf das Grundstück wollen.“ Während Dr. Ryu als Navigatorin dient, fährt Jack den Wagen gehorsam von einer Seitenstraße in die nächste. „Hat er überhaupt ein Ziel?“

 

„Ich glaube, er sucht etwas. Oder jemanden“, grübelt die Ärztin. „Ich hab nur keine Ahnung, was. Irgendwas muss im Anwesen passiert sein, weshalb er jetzt in der Stadt ist. Wie blöd, dass Ajax keinen Chip hat, sonst könnte ich jetzt überprüfen wo sich er und Turano aufhalten.“

 

„Vielleicht sind sie geflohen und Eren sucht sie jetzt? Anscheinend will er sich ja an den Beiden rächen“, mutmaßt der Mann.

 

„Hm. Gut möglich. Ich kann mir jedenfalls momentan nichts anderes vorstellen.“ Die Frau tippt auf Erens Bild, um sich die Informationen anzeigen zu lassen. „Seine Herzfrequenz ist zu hoch. Die Körpertemperatur auch, wobei das bei einem Dämon auch normal sein kann. Ich konnte seine Verwandlungen bisher ja nicht wirklich untersuchen. Was mir allerdings mehr Sorgen bereitet, sind seine Gehirnwerte. Er ist vollkommen durcheinander und überfordert.“

 

„Mach dir nicht so viele Gedanken“, versucht Jack sie zu beruhigen. „So wie du ihn mir beschrieben hast, hält er einiges aus. Es geht ihm bestimmt gut, sobald wir ihn haben.“

 

„Hoffentlich.“ Sie ist nicht überzeugt, will es aber gern glauben. Die Schuldgefühle, wenn dem nicht so wäre, würde sie nicht ertragen. Stumm seufzend geht sie zurück auf die Ortung. „Da vorne rechts.“

 

Der Dämon arbeitet sich wild quer durch die ganze Stadt, ohne System, ohne Plan. Momentan fahren die beiden durch eine Wohngegend mit hohen Appartementgebäuden. Eren wird hier langsamer, bis sein Bild komplett stehen bleibt.

 

„Er hat angehalten. Park da vorne rechts am Straßenrand.“ Die Ärztin vergleicht inzwischen das Bild der Karte mit den Gebäuden um sie herum. „Er muss irgendwo in der Gasse sein. Die Waffe ist im Kofferraum, oder?“

 

Jack nickt, stellt den Motor ab und löst den Sicherheitsgurt. Als Dr. Ryu Anstalt macht aussteigen zu wollen, hält er ihren Arm fest. „Ich halte es für besser, wenn du hier warten würdest. Zurzeit ist er anscheinend gefährlich. Ich will nicht, dass dir was passiert.“

 

„Aber mich kennt er“, protestiert sie. „Mich würde er nicht angreifen.“

 

„Es ist aber im Moment nicht Eren, über den wir sprechen, nicht wahr?“

 

Sie öffnet den Mund, schließt ihn aber gleich wieder und senkt den Blick. „Ja, stimmt.“

 

„Bleib hier“, wiederholt Jack. „Ich ruf dich an, wenn ich ihn hab. Außerdem weißt du doch gar nicht, wie man ein Gewehr hält“, zieht er sie noch auf und steigt aus, bevor sie etwas erwidern kann.

 

Jack öffnet den Kofferraum und die versteckte Klappe im Boden, wo ein Koffer zum Vorschein kommt. In diesem befindet sich ein Gewehr inklusive verschiedener Munition. Auch das AEUD-Serum hat die Ärztin aus dem Bunker geschmuggelt und sich auf Vorrat gelegt. Er bewaffnet sich mit beidem, schließt den Kofferraum und erkundigt sich noch einmal bei seiner Freundin, ob der Dämon noch immer in der Gasse sitzt. Als sie das bestätigt und ihn erneut erinnert vorsichtig zu sein, macht er sich auf den Weg.

 

An der Ecke angekommen, späht er vorsichtig in die Gasse, kann aber niemanden sehen, weshalb er sich schon fragt, ob sich das Trackinggerät geirrt hat. Doch dann hört er ein verdächtiges Krachen und hebt den Kopf. Da ist er. Der Dämon sitzt oben auf der Mauer der Dachterrasse und scheint sich nach etwas umzusehen. Gut, das heißt, er ist abgelenkt.

 

Lautlos lädt er die Waffe mit dem Serum, atmet tief durch, um sich zu beruhigen und zielt dann auf den Dämonenjungen. Er drückt ab. Er ist ein guter Scharfschütze, aber manchmal geht auch bei einem Profi ein Schuss daneben. Jack erwischt den Dämon zwar, aber nur am Knöchel, wodurch dieser alarmiert aufspringt. Verärgert presst der Mann den Kiefer zusammen. Das wäre seine beste Chance gewesen. Und die hat er vermasselt.

 

~~~

 

Immer wieder hört Dr. Ryu einen Schrei und Kampflärm aus der Gasse. Bei jedem zuckt sie zusammen und ringt mit sich selbst, ob sie doch aussteigen und nachsehen soll. Es gefällt ihr nicht nutzlos im Hintergrund bleiben zu müssen, aber sie weiß, dass sie nur im Weg wäre. Jack hat ja recht, der Dämon ist nicht Eren. Er würde sie vermutlich wirklich angreifen. Zumindest ist die Chance, dass jemand von Turanos Männern sie hier findet, ziemlich gering. Deshalb hat sie ja alle Trackinggeräte gestohlen und Erens Daten - inklusive Chipnummer - gelöscht. Gut möglich, dass es irgendwo eine Sicherungskopie und Notfallgeräte gibt, aber da bisher keiner der Gegner aufgetaucht ist, zählt sie es als Erfolg.

 

Trotzdem macht es das Wissen nicht erträglicher, hier im Auto zu sitzen, den Kampfgeräuschen zweier Menschen zu lauschen, die sie beide wirklich lieb hat und dabei die Werte von Eren vor Augen zu haben, die sich plötzlich rapide verschlechtern. Sie kann es sich nur so erklären, dass Jack ihn mit ihrem Serum erwischt hat. Die Wirksamkeit findet sie immer noch erstaunlich, deshalb tut es ihr umso mehr leid. Zum wiederholten Mal fragt sie sich, weshalb sie es eigentlich so effektiv zusammengemischt hat. Eine schwächere Variante hätte Turano fürs Erste auch zufriedengestellt. Jetzt ist es zu spät, das zu bereuen. Turano hat das AEUD-Serum und der Dämon hat es gerade injiziert bekommen. Sie will Eren nicht verletzen, aber in diesem Fall hat sie keine andere Wahl. Sie wüsste nicht, wie sie den Dämon sonst bezwingen sollten.

 

Plötzlich klingelt ihr Handy, was sie erschrocken zusammenzucken lässt. Als sie „Jack“ auf dem Display liest, geht sie sofort ran. „Jack? Geht´s euch gut?“

 

„Hey, ich hab ihn. Du kannst herkommen.“

 

Darauf hat sie gewartet. Ohne eine Antwort zu geben legt sie auf, springt aus dem Auto, holt ihren Notfallarztkoffer aus dem Kofferraum und beeilt sich zu den Beiden zu kommen. Als sie die Gasse betritt, bleibt ihr vor Schreck und Kummer das Herz stehen. Eren … Nein, es ist immer noch der Dämon, der dort verwundet am Müllcontainer lehnt, den Kopf gesenkt, aber die Augen durchbohrend auf sie und Jack gerichtet.

 

„Was? Er hat noch die Dämonengestalt?“, stellt die Frau irritiert fest. Beim Engel hat die Dosis ausgereicht, um Eren zurückzubringen. Und der Engel sah nicht so voller Blut aus, wie der Dämon vor ihr. Liegt es an seiner höheren Schmerzresistenz? Oder an Erens emotionalem Zustand? Beidem? „Wie viel Serum hast du ihm injiziert?“

 

Jack hat vorsichtshalber noch immer das Gewehr auf die unregelmäßig hebende Brust gerichtet. „Zwei. Allerdings weiß ich nicht, wie viel vom Ersten tatsächlich in seinen Körper gelangt ist.“

 

„Okay.“ Also hat sie mit ihrer Vermutung recht? Auf alle Fälle sieht er echt mitleiderregend aus. Mehrere Wunden sind mit verkrustetem Blut umrahmt, seine Kleidung ist an diesen Stellen dunkel und verklebt, seine Schwingen liegen nutzlos neben ihm, eine davon weist drei Löcher auf. Ein Wunder, dass er mit denen überhaupt fliegen konnte. Rinnsale von schwarzem Blut laufen ihm aus Augen, Nase und Ohren. Er hustet und spuckt immer wieder Blut. Es muss ihm wirklich nicht gut gehen, aber er kämpft eisern gegen die Schmerzen an. Sein Gesicht ist vor Anspannung ganz verkrampft und sein rasselnder Atem geht stoßweise.

 

Ihr Herz tut bei dem Anblick weh, es blutet durch die Schuldgefühle, dass es ihr Serum ist, das ihn so leiden lässt. Aber sie will Eren zurückholen, da muss der Dämon jetzt durch. Sie müssen hier so schnell wie möglich weg. Wer weiß, wie lange sie noch Zeit haben, bis einer von Turanos Männern hier auftaucht?

 

Sie schluckt schwer und drängt all die schlechten Gefühle für den Moment in den Hintergrund. Langsam nähert sie sich dem Dämon, wird aber am Arm festgehalten. Verwundert bleibt sie stehen und sieht zu Jack auf.

 

„Sei vorsichtig. Er scheint gefährlicher zu sein, als du ihn mir beschrieben hast“, warnt er sie eindringlich.

 

Sie befreit ihren Arm und lächelt ihn schwach, aber zuversichtlich an. „Keine Sorge. Ich ken...“

 

… kenne ihn, wollte sie eigentlich sagen. Sie wusste, dass es nicht stimmt, in diesem Fall. Das hat sie vorher ja selbst zugegeben. Und trotzdem hätte sie nie damit gerechnet, dass er sie tatsächlich angreifen würde.

 

„Lia, pass auf!“, schreit Jack, während er gleichzeitig den Abzug betätigt.

 

Langsam dreht sie den Kopf herum, vor Entsetzen werden ihre Augen ganz groß. Der Dämon kniet auf allen Vieren, würgt und spuckt immer mehr Blut und Schaum aus. Nach und nach taucht schwarzer Rauch um ihm herum auf, die roten Adern verschwinden, das Mal schrumpft schnell auf einen Strich am Handgelenk zusammen. Seine Muskeln zittern deutlich, er kann sich kaum noch auf Händen und Knien halten. Als der dunkle Nebel ihn komplett umhüllt und den Dämon zurück in den Spiegel zwingt, versagt sein Körper endgültig.

 

In der Sekunde, in der Eren zurück ist, verliert er das Bewusstsein und bricht leblos zusammen.

Überdosis und Blutverlust

„Eren!“ Sofort stürzt Dr. Ryu zu dem Jungen, stellt den Koffer ab und legt zwei Finger an dessen Halsschlagader.

 

„Wow“, haucht Jack genauso geschockt. „Das ist also Eren? So sieht er gar nicht so gefährlich aus. Ich muss schon sagen, dieses Mittel von dir, das hat ziemlich beängstigende Nebenwirkungen.“ Als die Frau darauf nicht reagiert, geht er neben ihr in die Hocke. Er kennt den Jungen nicht, trotzdem macht er sich Sorgen, obwohl er sie beide vor nicht einmal einer Minute töten wollte. „Lebt er noch?“

 

Erst quälend schweigsame Sekunden später atmet die Ärztin erleichtert auf. „Ja, er lebt noch. Aber sein Puls ist ziemlich schwach. So viel von dem Serum hat er noch nie injiziert bekommen, schon eine Dosis hat ihn für mehrere Stunden außer Gefecht gesetzt. Ich will mir gar nicht ausmalen, was Drei für Schmerzen verursachen. Außerdem verliert er noch immer Blut. Wir müssen schnell was unternehmen!“

 

Ohne die übernatürlichen Kräfte platzen die Wunden alle wieder auf. Diesmal tritt rotes Blut hervor, das sehr schnell seinen Pyjama tränkt und mehrere kleine Lachen um ihm herum bildet.

 

„Sollen wir ihn in ein Krankenhaus bringen?“, schlägt Jack vor und steigt bereits über Eren hinweg, um ihn für diesen Fall hochheben zu können.

 

Entschieden schüttelt sie den Kopf und zieht ihren Koffer heran. „Da würden sie zu viele Fragen stellen und womöglich Turano informieren. Wir bringen ihn zu uns nach Hause. Da hab ich auch alles, was ich brauche. Aber zuerst … Dreh ihn auf die rechte Seite.“

 

Gehorsam legt Jack die Waffe weg und dreht den Jungen so, dass Dr. Ryu an seine linke Halsseite kann. Sie hat inzwischen etwas Desinfektionsmittel auf ein Papiertuch gesprüht und auch ein Skalpell vorbereitet. Fragend hebt Jack eine Augenbraue als sie mit den Fingern zwischen seinem Ohr und den Halswirbeln etwas abzumessen scheint.

 

„Ich will ihm den Chip entfernen“, antwortet sie auf seine unausgesprochene Frage.

 

Die Frau reinigt die Stelle, als sie fündig geworden ist, ehe sie einen gezielten Schnitt nach dem nächsten setzt, um so Haut und Muskeln nach und nach zu durchtrennen bis sie auf den Chip stößt. Kurz darauf entfernt sie auch schon mit einer Klemme ein kleines ovales Gerät aus Erens Körper.

 

„Turano schreckt echt vor nichts mehr zurück, was? Jetzt chippt er sogar schon seine Experimente“, kommentiert Jack zähneknirschend.

 

„Ja, seit damals sind die Sicherheitsvorkehrungen drastisch verstärkt worden.“ Dr. Ryu packt eilig ihren Koffer zusammen, steht auf, wirft den Chip zu Boden und tritt ein paar Mal drauf, bis nur noch unbrauchbare Splitter übrig sind. „Kannst du ihn nehmen? Wir müssen hier schleunigst weg.“

 

„Klar.“ Jack schiebt vorsichtig seine Arme unter den Jungen, wohl bedacht darauf keine der Stich- oder Schusswunden zu berühren. Mit einer Hand unter dessen Kniekehlen und der anderen bei den Schulterblättern hebt er den Zwölfjährigen vom dreckigen, blutigen Gassenboden auf und folgt zügig der Frau, die schon zum Auto vorgegangen ist. Dabei hängt Eren wie eine leblose Stoffpuppe in seinen Armen.

 

Die Frau hat bereits die hintere Tür geöffnet, als er beim Auto ankommt und sich auf die Rückbank gesetzt. Als Jack ihr den Jungen reicht, rutscht sie mit diesem auf die andere Seite, sodass der Mann die Tür schließen kann und sie Erens Kopf am Schoß liegen hat. Während ihr Freund zur Fahrertür hastet, klappt sie erneut ihren Arztkoffer auf. Sie will keine Minute vergeuden, in der sie sich schon um Erens Verletzungen kümmern kann. Er sieht nämlich gar nicht gut aus. Ohne der Schmerzresistenz des Dämons oder den Heilkräften des Engels erleidet er die Schmerzen der Schuss- und Stichwunden wie ein gewöhnlicher Junge. Die Wirkungen des Serums nicht zu vergessen. Die Chance, dass ein gewöhnlicher Junge diese Verletzungen übersteht, sind nicht …

 

Nein! Entschieden schüttelt Dr. Ryu den Kopf. Sie wird jetzt nicht anfangen über Fakten und Tatsachen nachzudenken. Sie wird Eren nicht aufgeben! Wie gut, dass er kein gewöhnlicher Junge ist. Er wird das schaffen!

 

Entschlossen das zu beweisen zieht sie eine Schere aus dem Koffer, die sie vorerst neben sich ablegt. Behutsam hebt sie Erens Kopf leicht an und setzt sich seitlich hin, um besser arbeiten zu können. Mit der Schere schneidet sie das T-Shirt vom Ausschnitt bis zum Saum auf, wodurch ein blutroter Oberkörper zum Vorschein kommt, der sich unregelmäßig und kaum merklich hebt und senkt. Dieser Anblick schnürt ihr die Kehle zu. Es ist schlimmer als sie dachte. Wie oft haben diese Idioten mit scharfen Waffen auf ihn geschossen? War Turano und Ajax wirklich egal, ob Eren dabei draufgehen könnte? Haben die überhaupt auch nur eine Sekunde über die Folgen nachgedacht?! Oder haben sie einfach gehofft, dass sie ihn schon wieder zusammenflicken wird? So wie immer?

 

Mit einem Kopfschütteln verdrängt sie die ablenkenden Fragen. Dafür ist keine Zeit. Stattdessen zieht sie eine Packung Kompressen, Mullbinden und Pflaster hervor. Hier im Auto ist es zu eng, um den Patienten richtig behandeln zu können, außerdem fehlt ihr das meiste Equipment, deshalb muss es fürs erste reichen die Blutungen zu stoppen. Hoffentlich.

 

Während die Frau auf dem Rücksitz versucht den Jungen am Leben zu erhalten, fährt Jack rücksichtslos über alle roten Ampeln und überholt rasant die wenigen Autos, die um diese Zeit unterwegs sind. Immer wieder wirft er besorgte Blicke in den Rückspiegel. Der angestrengte Gesichtsausdruck in Kombination mit den Schweißperlen auf Dr. Ryus Stirn und den Tränen auf ihren Wangen verleiten ihn dazu, seine sonst so vorschriftsmäßige Fahrweise komplett über Board zu werfen.

 

Als er an einer weitere Kreuzung viel zu scharf abbiegt - Dr. Ryu wird dabei gegen die Autotür in ihrem Rücken gedrückt - bemerkt diese: „Ich weiß, wir müssen schnell nach Hause, aber fahr bitte trotzdem etwas vorsichtiger. Wir können nicht gebrauchen, jetzt von der Polizei aufgehalten zu werden.“

 

„Tschuldigung“, stimmt der Mann ihr zu und bremst runter auf nur noch 70km/h Innerorts. „Wie sieht´s aus? Wird er´s überleben?“

 

„Ganz ehrlich? Ich kann es noch nicht sagen. Ich muss mir Zuhause erst die Wunden genauer ansehen und welche Schäden das Serum in seinen Eingeweiden angerichtet hat“, gesteht sie ehrlich mit belegter Stimme.

 

Sie zwingt sich professionell zu bleiben und das Zittern ihrer Finger zu unterdrücken, während sie eine Wunde nach der nächsten notdürftig verbindet. Nebenbei prüft sie ständig, ob noch Atmung und Herzschlag aktiv sind. Obwohl der Zwölfjährige ganz klar ohnmächtig ist, ist sein Gesicht immer wieder für einen kurzen Moment schmerzverzerrt. Wie gern hätte sie irgendwelche Schmerzmittel im Notfallkoffer. Sie spielt auch kurz mit dem Gedanken einfach ihre Kräfte zu benutzen. Wenn sie mit ihnen andere dazu bringen kann einzuschlafen, vielleicht kann sie auch fremde Gehirne davon überzeugen keine Schmerzen zu haben? Aber da sie das noch nie probiert hat und Eren eh schon in einem lebensbedrohlichen Zustand ist, beschließt sie ihn nicht als Testobjekt zu missbrauchen. Außerdem hat sie Angst, dass wenn die Schmerzen plötzlich verschwinden, die Ohnmacht nachlässt und er aufwacht. Und gleich wieder die Kontrolle verliert.

 

Sollte sie vielleicht die Erinnerungen an das Gespräch zwischen Turano und Ajax löschen? Aber wie erklärt sie dann, dass Eren plötzlich bei ihr wohnt und nicht nach Hause darf? Nein, es haben genug Leute an seinem Gedächtnis herumgespielt. Er soll die Erinnerungen behalten. Sie wird ihm alles erklären, falls er wieder gesund wird … nein, wenn er wieder gesund wird. Dieses „falls“ ist viel zu pessimistisch.

 

Als Jack das Auto nach einer gefühlt ewig langen Fahrt endlich in der Garage abstellt, hat Dr. Ryu die sichtbaren Wunden auf Erens Oberkörper soweit mit Kompressen und Pflastern behandelt, dass er aus diesen vorerst kein Blut mehr verliert. Allerdings sind diese schon komplett vollgesogen und die Verletzungen am Rest seines Körper noch immer unbehandelt, weshalb die Rückbank einem Schlachthaus gleicht.

 

Sobald der Mann das Garagentor geschlossen hat, öffnet er die hintere Tür und hilft ihr den Jungen vorsichtig aus dem Auto zu heben. Den Koffer lässt sie einfach im Wagen liegen und öffnet stattdessen die Tür die ins Haus führt. Genauer gesagt, in die Küche, wo sie das Licht anknipst.

 

Die Küche besitzt eine kleine Kücheninsel auf der lediglich eine Schale mit Obst steht. Kühlschrank, Herd, Geschirrspüler und Arbeitsfläche inklusive weiterer Küchengeräte sind in einer U-Form um die Insel herum angelegt. Zielstrebig steuert die Frau auf eine Schublade zu, die sie aufreißt, um sich eine Ladung Geschirrtücher daraus zu schnappen.

 

„Bring ihn runter in den Keller. Ich hol nur noch schnell ein paar ...“, beginnt die Frau, stockt jedoch, als sie eine Bewegung im Augenwinkel wahrnimmt und ein Blondschopf die Küche betritt. Sie bemüht sich darum möglichst normal zu klingen, was ihr nicht ganz gelingen will. „Max? Solltest du nicht schlafen, Schatz?“

 

Max trägt einen roten Pyjama mit kleinen Skateboards auf der Hose, hat die Augen nur einen minimalen Spalt geöffnet und reibt sich verschlafen über diese. „Mom? Was machst du hier? Und wo ist D...“

 

Der Blonde erstarrt als sein Blick auf den Mann oder eher den Jungen in dessen Armen fällt, als die Beiden die Küche betreten. Auf Eren, das aufgeschnittene T-Shirt, die provisorischen Verbände und das Blut. So viel Blut.

 

„I-Ist das Eren? Was ist passiert? I-Ist er …?“ Er wagt es nicht das T-Wort auszusprechen. Von einer Sekunde auf die andere ist er hellwach, blass und sieht irritiert zwischen den Dreien hin und her. Er ist sich noch nicht ganz sicher, ob er träumt oder wach ist.

 

„Ich bring ihn schon mal runter“, teilt Jack mit, durchquert schnell die Küche und verschwindet im Flur, wo er die Tür zum Keller öffnet.

 

„Mom?“ Max sieht sie mit ängstlich zusammengezogenen Augenbrauen an. „Was ist los?“

 

„Ich erklär dir morgen alles, jetzt hab ich keine Zeit dafür. Geh ins Bett, Schatz“, versucht sie den Jungen mit einem möglichst beruhigenden Lächeln zu überreden. Ihre eigene Sorge spiegelt sich dennoch deutlich in ihren Augen wieder.

 

„Mom, was ist los?“, wiederholt der Blonde, der sich nicht so leicht abschütteln lässt.

 

Eigentlich hatte die Frau nicht vor Max zu erzählen, dass Eren im Keller liegt. Sie hat nicht damit gerechnet, dass er um diese Uhrzeit überhaupt wach wäre. Noch dazu an einem Tag, an dem er in wenigen Stunden zur Schule muss. Sie hat aber jetzt keine Zeit für Erklärungen, weshalb sie sich von ihm abwendet, die Packung Küchenrollen aus dem Schrank holt und mit diesen und den Geschirrtüchern in den Armen zur Kellertür läuft. Max dicht auf den Fersen.

 

„Geh ins Bett, Max. Ich meins ernst“, betont sie diesmal autoritärer.

 

Davon lässt sich Max auch nicht überzeugen, stattdessen folgt er ihr die Stufen hinunter. „Ich kann jetzt unmöglich schlafen, wenn ich weiß, dass Eren halb tot bei uns im Keller liegt!“

 

Ergeben seufzt sie. Sie weiß nur zu gut, wie stur ihr Sohn sein kann. Egal was sie jetzt sagen würde, er hat sich in den Kopf gesetzt mitzukommen und das wird er auch tun. Da sind weitere Diskussionen reine Zeitverschwendung. Zeit, von der sie ohnehin nicht viel hat.

 

„Also gut“, gibt sie schließlich nach. „Aber versuch nicht im Weg rumzustehen, ja?“

 

„Verstanden!“


Nachwort zu diesem Kapitel:
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So, damit ist das erste Kapitel beendet. Hoffentlich hat's euch zumindest ein bisschen gefallen. :)

Die ersten drei Kapitel werden noch hauptsächlich Zusammenfassungen sein nach dem Thema "Was bisher geschah ...", aber dann, wenn wir in der Gegenwart angekommen sind, fängt die Geschichte richtig an.

Ich wünsche euch noch ein schönes Wochenende und wir lesen uns nächsten Freitag bei einem neuen Kapitel,

eure tears-girl :D Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
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Hallo und ein großes Danke ans Durchlesen bis hierher :D

Ich weiß, die ersten Kapitel ziehen sich und sind noch relativ langweilig, aber ich verspreche euch, es wird sich lohnen. Die Infos aus den Anfangskapiteln sind nunmal wichtig, um zu verstehen, wie Eren aufgewachsen und zu dem geworden ist, der er ist.

Also, haltet durch ;)

Ich wünsche euch noch ein schönes Wochenende und wir lesen uns nächsten Freitag bei einem neuen Kapitel,

eure ChibiKinako :D Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
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Hallöchen Zusammen zu einem neuen Kapitel(ende) :D


Jetzt ist Eren also endlich Zwölf, das bedeutet: Wir haben die "Was bisher geschah"-Kapitel abgeschlossen! Yuhuu!

Danke an alle, die bisher mit dabei sind :) Freut euch auf den richtigen Start von Erens Geschichte ab nächster Woche. Ich verspreche, es wird allmählich immer besser ;)

Ich wünsche euch noch ein schönes Wochenende und wir lesen uns nächsten Freitag bei einem neuen Kapitel,

eure ChibiKinako :D Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
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Halli Hallo :D

Jetzt beginnt endlich die eigentliche Hauptgeschichte. Yuhuu! Danke an alle, die bis hierher gelesen haben. Ich hoffe euch hat das Kapitel gefallen und lasst doch bitte einen Kommentar da, ja? :D Es würde mich wirklich freuen zu erfahren, was ihr so über die Story denkt.

Eren darf jetzt seine erste Mission ohne Ajax durchführen, ob das was wird? Besonders wenn zwei Leute dabei sind, von denen er nicht so begeistert ist? Somit kommt auch bald die Parallelwelt ins Spiel mit ihren Bewohnern, unter Anderem den Dagono. Was das für Tiere sind? Lest weiter und erfahrt es im Laufe der Mission. ;p

Ich wünsche euch noch ein schönes Wochenende und wir lesen uns bald bei einem neuen Kapitel,

eure ChibiKinako :D Komplett anzeigen

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