Eren von tears-girl (Geheimnisse der Turanos) ================================================================================ Kapitel 4: Eine neue Mission ---------------------------- „Junger Herr Eren! Junger Herr, wo seid Ihr?", hallt der Ruf eines Mannes durch das gigantische Anwesen der Turanos. Der Zwölfjährige hört die eiligen Schritte der beiden Männer auf dem Parkett im oberen Stockwerk, wie sie auf der Suche nach ihm Türen aufreißen und Zimmer durchsuchen. Der Junge denk nicht daran aus seinem Versteck zu kommen. Er hat keine Lust schon wieder zu einem Kliententreffen mitzukommen. Es reicht doch, wenn ihm sein Vater nachher alles über die neue Mission erzählt. Da er dieser Meinung ist, schiebt er sich noch ein Stückchen zurück, um nicht so leicht gesehen zu werden. Das Kind hat sich in dem Labyrinth aus Lüftungsschächten verkrochen, die jeden Raum in dieser Villa miteinander verbinden. Da die Erwachsenen zu groß sind, um dort hineinzuklettern, ist es das absolut perfekte Versteck. Von hier aus kann er bequem am Bauch liegen und durch die Schutzgitter hinaus auf den oberen Korridor spähen, wo die beiden Butler, die ihm helfen sollten sich fertig zu machen, gehetzt nach ihm suchen. Leider muss genau dann, wenn es am schönsten ist, der Spielverderber aufkreuzen. Direkt unter dem Lüftungsgitter, hinter dem sich Eren verbirgt, bleibt ein junger Mann stehen und sieht zu dem Gitter auf. „Eren. Hör auf mit dem Unsinn. Vater wartet schon." Eren hat keine Ahnung wie Ajax das macht. Er findet ihn jedes Mal, egal wo er sich versteckt. Für ein paar Sekunden verharrt der Junge, hält sogar die Luft an, aber als seine Augen die von Ajax treffen, weiß er genau, es hat keinen Sinn mehr sich zu verstecken. Seufzend kriecht er vor, drückt die Gittertür auf und sieht wenig begeistert zu seinem Bruder hinab. „Warum muss ich da mit? Du kannst mir doch danach die Infos geben. So wie früher. Ich steh doch eh nur rum und warte", beschwert sich das Kind. „Du weißt, Vater will dich mit den Kunden vertraut machen." Ajax steckt schon in seinem feinen dunkelblauen Anzug mit der schwarzen Fliege und peinlich streng zurückgekämmten Haaren. Seine Lackschuhe glänzen im Licht der Kronleuchter, genauso wie das Gel in den blonden Haaren. Sein typisches kunterbuntes Bandana hat er in seinem Zimmer gelassen. „Komm runter. Ich bin mir sicher, ich habe dir nicht beigebracht, dich wie ein verängstigtes Kaninchen in Tunneln zu verstecken." Der Junge rollt mit den Augen, zieht sich nach vorne, hält sich am Rahmen fest, schiebt sich komplett heraus und hängt nun mit den Armen am Schacht. Dann lässt er los, um sicher nach einer halben Drehung in der Hocke zu landen. Er richtet sich auf und klopft sich den Staub von der Kleidung. „Wozu muss ich mit den Kunden vertraut werden? Ich bin nicht derjenige, der die Missionen mit ihnen durchspricht und plant." „Eren", sagt Ajax warnend. Die Augen leicht zusammengekniffen. „Schon gut. War ja nur 'ne Frage." Beschwichtigend hebt der Junge sofort die Hände. Wenn sein Bruder diesen Blick bekommt, ist es besser gleich nachzugeben. Das musste er auf schmerzhafte Weise lernen. Das Gesicht des Älteren nimmt wieder die ausdruckslose Mimik wie zuvor an. „Jetzt geh dich umziehen. In dreizehn Minuten fahren wir los." „Ja, Ajax." Gehorsam geht das Kind an seinem Bruder vorbei. Auf dem Weg in sein Zimmer wird er von den beiden Butlern begleitet, die ebenfalls mitbekommen haben, dass Ajax ihn gefunden hat und in respektvollem Abstand gewartet haben, um ihre Aufgabe wieder aufzunehmen. ~~~ Genau dreizehn Minuten später, Punkt 14 Uhr, verlässt Eren das Anwesen durch den Vordereingang, steigt die Treppe hinab und geht auf die wartende schwarze Limousine zu. So wie sein Bruder trägt auch er Lackschuhe und einen Anzug, allerdings mit Krawatte. Er hasst dieses Ding. Er hat ständig das Gefühl, als würde es ihm die Luft abschnüren. Ein Butler hält die hintere Tür auf bis der Junge eingestiegen ist. Dann klopft Benedikt Turano an die dunkle Glasscheibe, die Fahrerkabine mit dem hinteren Bereich trennt und schon heult der Motor auf und die Fahrt in die Stadt beginnt. Ihr Ziel ist ein nobles Restaurant in der Innenstadt von Haikla City. Das Besondere daran ist, dass es nicht wie typischerweise ein Großraum mit mehreren Tischgruppen ist, sonder ein Tisch pro Raum. Sehr exklusiv, sehr extravagant, sehr zum Kotzen. Eren kann dieses Schickimickiessen nicht ausstehen, außerdem muss er meistens im Eingangsbereich warten bis die Verhandlungen beendet sind. Noch ein Grund weshalb er nicht versteht, weshalb er überhaupt dabei sein muss. Das Kind sitzt auf dem Rücksitz, hat den Ellbogen an der Tür abgestützt und sieht den vorbeiziehenden Bäumen des Familienwaldes zu, die vom Herbst in bunten Farben erstrahlen. Ein Schwarm kleiner Waldvögel flattert aus den Baumkronen am Straßenrand hinauf in das Blau des Himmels. Das riesige Tor am Fuß des Berges wird geöffnet als sich die Limousine nähert und sofort danach wieder verschlossen. Außerhalb sieht der Wald um einiges lichter und freundlicher aus als innerhalb der Mauern. Vermutlich alles nur Einbildung. Es ist im Grunde der selbe Wald. Nur das im Turanoteil kaum Wildtiere leben. Nur die paar, die sich irgendwie hineingeschlichen haben oder über die Mauer fliegen können. Es dauert gar nicht lange bis die Skyline der Stadt auftaucht. Hohe Wolkenkratzer in der Stadtmitte ragen in das Blau hinauf. Je weiter man von der Stadtmitte entfernt ist, desto kleiner werden die Gebäude bis zu einem Ring aus einfachen Einfamilienhäusern. In dieser Stadt hat er noch nie einen Auftrag erledigt, das heißt, niemand von Turanos Untergebenen wird dort eine Mission erfüllen. Das ist eine Abmachung, eine Sicherheitsvorkehrung, damit keine Verbindung mit den Turanos und den Morden, Diebstählen, Entführungen und so weiter weltweit entsteht. Dafür finden dort viele der persönlichen Treffen mit potentiellen Kunden statt. „Eren, setz dich ordentlich hin", bemerkt Ajax, der neben dem Jungen sitzt. Stumm seufzend wendet er den Blick vom Fenster ab, richtet sich gerade auf und legt die Hände in den Schoß. „Zieh die Ärmel nach unten. Du weißt doch, du sollst aufpassen, dass deine Male nicht zu sehen sind", erinnert ihn sein großer Bruder. „Ja, Ajax. Ich weiß." Obwohl seine farbigen Armreife eh unter den Hemdärmeln verborgen sind, zupft er diese weiter nach unten, damit sein Bruder zufrieden ist. Dieser nickt auch und dreht den Kopf wieder zu ihrem Vater nach vorne, der den Beiden gegenüber sitzt. Er hat seine Haare wie immer zu einem Pferdeschwanz im Nacken zusammengebunden, einen teuren Anzug an, die Beine übereinandergeschlagen und die Hände ruhen auf seinem Oberschenkel. Mit einem zufriedenen Schmunzeln beobachtet er seine Söhne. Zu Beginn hätte er nie damit gerechnet, dass sich alles so problemlos entwickelt. Ajax und Eren. Er hat sich in den vergangenen acht Jahren so sehr an die Beiden gewöhnt, als wären sie tatsächlich seine Söhne. Einerseits freut es ihn, so ist sein Vorhaben einfacher umsetzbar, doch andererseits erschreckt es ihn und ist befremdlich. Er hat davor nie daran gedacht, jemals eine Familie zu wollen und jetzt hat er eine und kann sie sich nicht mehr wegdenken. Die Limousine hält vor einem mehrstöckigen Gebäude an. Sofort eilt ein Mann in der Uniform des Restaurants Universe zum Wagen, um die hintere Tür zu öffnen. Eren mag dieses Getue nicht. Er ist sehr wohl in der Lage selbst eine Autotür zu öffnen. Dennoch reißt er sich zusammen und steigt nach seinem Vater und Bruder aus. Die Tür wird zugeschlagen und die Limo fährt um die Ecke ins restauranteigene Parkhaus. „Na kommt, Jungs." Mit den Worten geht Turano die Treppe hoch und durch die Eingangstür, die ihnen ebenfalls aufgehalten wird. Seine Söhne folgen ihm artig auf den Fersen. Der Eingangsbereich ist ein großer Raum, ausgelegt mit glänzenden kaffeebraunen Fliesen, die das Licht der kleinen Kronleuchter widerspiegeln. Ein großer rot-goldener Teppich führt vom Eingang bis hin zur Anmeldung gegenüber. Durch eine Treppe daneben gelangt man in die oberen Stockwerke, genauso wie mit dem Aufzug auf der anderen Seite der Rezeption. Hier im Erdgeschoss ist lediglich die Anmeldung und ein Warteraum zu finden. In den oberen Stockwerken befinden sich die einzelnen Räume für die Gäste. Das Restaurant ist im Groben wie ein Hotel aufgebaut, nur dass man hier eben mit mehr Privatsphäre als in gewöhnlichen Restaurants etwas essen kann. Das ist äußerst praktisch, wenn man potentielle Kunden mit möglichen neuen Aufträgen trifft. „Hallo und herzlich willkommen im Restaurant Universe", grüßt die Dame am Empfang freundlich, gleichzeitig hat sie einen strengen Blick. „Wie kann ich helfen?" Während Eren und Ajax auf halber Strecke stehenbleiben, tritt Benedikt an den Tresen heran. „Guten Tag. Ich hab eine Reservierung auf Turano." Die Frau sieht auf ihren Bildschirm, tippt etwas auf der Tastatur herum und nimmt dann eine laminierte Karte mit der Raumnummer von der Pinnwand hinter sich. Diese reicht sie lächelnd an den Herrn. „Der Raum 202 wurde für Sie für vier Personen reserviert." „Dankeschön." Mit der Karte in der Hand kehrt er zu seinen Söhnen zurück. „Ajax, du kommst mit mir. Eren, du ..." „Ja, ich weiß. Ich gehe in den Warteraum, warte bis ihr fertig seid, tue nichts dummes, merkwürdiges oder sonderbares und tue überhaupt so als sei ich gar nicht da bis ihr mich abholt. Schon klar, Vater. Es ist ja nicht mein erstes Mal", rattert Eren die Regeln für solche Treffen ab, die er jedes mal zuhören bekommt und daher schon längst auswendig kann. „Eren." Etwas entsetzt mit halb offenem Mund starrt Turano seinen jüngsten Sohn an. Ajax dagegen fixiert denJungen warnend mit seinen dunklen Augen. „Entschuldigt. Das ist mir herausgerutscht." Beschämt senkt Eren den Kopf. Eine Hand auf der Schulter lässt ihn wieder aufsehen. „Schon okay, mein Junge. Es sollte nur nicht noch einmal vorkommen", betont Turano streng, dabei verstärkt er den Griff. „Selbstverständlich", willigt er sofort ein, auch wenn er wie so oft keine Ahnung hat, was er falsch gemacht hat. Turano lächelt sanft. „Geh jetzt. Wir holen dich, sobald wir fertig sind." „Ja, Vater." „Komm, Ajax. Wir wollen unsere Kunden doch nicht warten lassen." Ein letzter Blick zu Eren, dann dreht sich der Mann um und geht zum Aufzug in der Ecke. Ajax ist noch nicht ganz zufrieden. Er legt Eren beide Hände auf die Schultern und beugt sich etwas vor. Bedrohlich blickt er ihm direkt in die Augen, seine Stimme ist furchteinflößend sanft. „Das war dein letztes Vergehen heute. Noch so ein ... Ausrutscher und ich werde dich bestrafen müssen. Du weißt, wie ungern ich das tue." Eren schluckt schwer, bemüht sich nicht den Blick zusenken während er langsam nickt, unfähig zu sprechen. „Guter Junge." Ajax erhebt sich und geht zu seinem Vater, der bereits in der Kabine auf ihn wartet. Sobald sich der Fahrstuhl in Bewegung setzt, sind nur noch Eren, die Frau an der Rezeption und ein Security-Mann in der Ecke, den er erst jetzt bemerkt, im Eingangsbereich. Eren marschiert direkt auf den Warteraum zu, um vor den bohrenden Blicken der Beiden zu fliehen. Das Wartezimmer ist im Vergleich zum restlichen Gebäude eher spärlich eingerichtet. Es gibt keine Tische, nur einfache Holzstühle an den Wänden und ein paar Pflanzen in regelmäßigen Abständen dazwischen. Eine kleine Lampe in der Mitte der Decke sorgt für Licht und komplette Stromverschwendung. Die Fenster lassen mehr als genug Sonnenlicht herein. „Endlich kann ich das Ding loswerden", murrt Eren als er den Knoten seiner Krawatte weitet und das Sakko auszieht, um es über eine der Stuhllehnen zu hängen. Er muss nur aufpassen beides wieder ordentlich anzuziehen bevor er abgeholt wird. Aber das kann noch eine Weile dauern. Bestimmt sind sie gerade erst bei der Begrüßung. Er lässt sich seitlich auf einem Stuhl in Fensternähe nieder, legt den Arm auf die Lehne und beobachtet durch die Scheibe die vorbeifahrenden Autos, Busse und Taxen. Wie immer. Genervt seufzend lässt er den Kopf auf den Arm sinken. Das ist alles so langweilig. Viel lieber wäre er jetzt Zuhause, um das erste Mal tun zu können, wozu er Lust hat. Er würde sogar lieber trainieren oder einen dieser dämlichen Test machen. Alles ist besser als hier zusitzen und die Sekunden zu zählen. Leider bleibt ihm nichts anderes übrig. Er darf nicht allein bleiben. Hier in diesem Raum allein zuwarten ist schon eine große Überwindung für seine Familie. Sie sind so überfürsorglich und übervorsichtig, behandeln ihn wie einrohes Ei. Dabei kann er sich sehr gut selbst beschützen. Er hat es mit Entführern aufgenommen, mit Serienkillern, sogar mit Monstern in der anderen Welt und doch ist es ihm nicht gestattet ein paar Stunden allein Zuhause zu bleiben, wo eh eine Menge Sicherheitsmänner und Hightech-Alarmanlagen jeden Zentimeter des Anwesens genauestens bewachen. Frustriert schnaubt Eren in seine Armbeuge. Ob sich sein Leben irgendwann ändern wird? Es fällt ihm schwer darauf zuhoffen. Er schafft es ja noch nicht einmal seinem Bruder zuwidersprechen, wie soll er da erreichen mehr Freizeit zu bekommen und weniger kontrolliert zu werden? Gedankenverloren starrt er hinaus, ohne etwas wahrzunehmen. Erst nach mehreren Minuten realisiert er, was er da die ganze Zeit beobachtet. Auf der anderen Straßenseite befindetsich ein Park mit ordentlich gestutzten Laubbäumen, sauberen Gehwegen, Parkbänken und etlichen fröhlichen Besuchern. Manche joggen, manche gehen gemütlich die Wege entlang, schieben Kinderwägen, führen ihren Hund aus oder sitzen auf den Bänken und füttern die Parkvögel. Doch es gibt auch ein paar Menschen, die laut lachend über Kies laufen, Leitern erklimmen, sich Bälle hin und her schmeißen und durch Tunnel kriechen. Kinder auf einem Spielplatz. Interessiert hebt er den Kopf, um besser sehen zu können. Eren war noch nie auf einem Spielplatz. Eine Rutsche kennt er nur aus der Ferne, eine Schaukel nur von Weitem und die Kletterwand ... Okay, die kennt er in wesentlich größeren Maßstäben und nicht so ungefährlich. Je länger er den Kindern zusieht, wie sie Spaß haben, wie sie lachen, desto größer wird der Wunsch in ihm, dorthin zu gehen. Hm. Warum eigentlich nicht? Er hat jetzt bestimmt eine Stunde Zeit ehe er abgeholt wird. Wieso in der Zwischenzeit nicht etwas Neues ausprobieren? Etwas, was vielleicht ... lustig sein könnte? Er hat es sich doch verdient, oder nicht? Außerdem werden Ajax und sein Vater es nie erfahren. Bevor er weiter darüber nachdenken kann und sich Gründe in sein Bewusstsein schleichen, weshalb das eine ganz, ganz blöde Idee ist, setzt er diese lieber in die Tat um. Eren steigt auf den Stuhl, öffnet das Fenster und klettert hinaus. Durch die Tür wäre es zwar einfacher, aber eben auch auffälliger. Der Junge landet inmitten der Zierbuschreihe, die das Restaurant vom Gehweg trennt. Zunächst sieht er sich um, ob er von irgendwoher beobachtet wird, doch weder die vorbeifahrenden Fahrzeuge noch die Passanten schenken ihm irgendeine Art von Aufmerksamkeit. Sicherheitshalber zieht er noch einmal die Ärmel über die Handgelenke, dann wagt er sich hinaus, wartet bis er die Straße überqueren kann und betritt dann das erste Mal in seinem Leben einen Park, ohne dem Vorwand dort eine Mission erledigen zumüssen. „Wow", haucht er voller Begeisterung. Überwältigt von all den neuen Eindrücken wandert der Zwölfjährige wie in Trance umher. Noch bevor er begreift was er tut, haben ihn seine Beine bereits zur nächstgelegenen Bank in der Nähe des Kieses, der den Spielplatzbereich kennzeichnet, getragen. Von dort aus sieht er sich um, die blauen Augen soweit aufgerissenwie möglich, um jede noch so kleine Kleinigkeit in sich aufzusaugen. Alles ist so neu und spannend und frei, dass er gar nicht weiß, wo er zuerst hinsehen soll. Die Sonnenstrahlen, die durch das lichte Blätterdach fallen, sprenkeln den Boden und den Teich, auf dem ein paar Enten und Schwäne gemütlich umher schwimmen und nach Futtergebern Ausschau halten. Der kühle Wind lässt eine raschelnde und knarzende Melodie in den Baumkronen erklingen, die Vögel sind die Sänger dieses Konzertes. Ab und zu unterbricht ein bellender Hund die friedliche Musik oder die Kinder, die lachend einem schwarz-weißen Ball auf einer Wiese hinterherjagen. Manche der Parkbesucher werfen Eren einen seltsamen, fragenden Seitenblick zu. Es ist schließlich nicht üblich in einem feinen Anzug in den Park zu gehen. Erst recht nicht für ein Kind. Doch Eren ist es völlig egal was andere von ihm halten. Er möchte ihnen ja schließlich nicht gefallen oder Freunde finden oder ähnliches. Trotz der warmen, sehnsüchtigen Gefühle, die jede Sekunde in diesem Park stärker und stärker werden, nistet sich gleichzeitig ein kalter, unangenehmer Kloß voller Schuldgefühle in seinem Magen ein. Er fängt an zu glauben, dass es ein Fehler war sich davonzuschleichen. Was wenn er erwischt wird? Wenn Ajax das erfährt? Dann würde er mit großer Sicherheit bestraft und noch strenger bewacht werden. Ein eisiger Schauer kriecht langsam seine Wirbelsäule entlang, stellt die Haare auf und hinterlässt eine Gänsehaut. Ein letzter neidvoller Blick, dann seufzt er schwer. Es wird wohl ein Traum bleiben. Dieser kurze Ausflug war vermutlich das einzige Mal, wo er eine einigermaßen normale Kindheit kosten durfte. „Hey, bist du neu in der Gegend? Ich hab dich noch nie hier gesehen." Eren steht auf. Eren will aufstehen. Er schafft es einfach nicht sich jetzt schon von all dem hier zu trennen. Doch er muss. Der Junge hat nicht auf die Zeit geachtet. Er weiß nicht wie lange er schon so in sich versunken auf der Bank hockt. Ob sie schon bemerkt haben, dass er fehlt? „Hallo? Alles okay bei dir?" Jetzt beim zweiten Versuch reagiert Eren auf die Worte in seiner Nähe. Er hebt den Kopf und erblickt einen Jungen, der zwei Schritte vor ihm steht und in seine Richtung sieht. Verwirrt dreht er den Kopf herum, auf der Suche nach der Person, mit der der Fremde spricht. Dass jemand tatsächlich ihn anspricht, diese Idee kommt ihm viel, viel zu unwahrscheinlich, gar unmöglich vor, um auch nur eine Sekunde zu glauben, es sei tatsächlich so. Aber es ist sonst niemand in seiner Nähe. Noch irritierter als zuvor wendet sich derZwölfjährige dem anderen Jungen zu, der ihn immer noch freundlich, aber besorgt ansieht. „Ähm ... Redest du mit mir?" Einen Moment zieht der Fremde die Stirn kraus. „Ja, klar", bestätigt er nicht ganz sicher, ob die Frage ernst gemeint war. „Du siehst irgendwie allein und verloren aus. Geht's dir gut?" Er redet tatsächlich mit ihm. Also gut. Zeit die Lektionen von Ajax umzusetzen. Das Gesicht des Jungen verfinstert sich als er die offenherzigen grünen Augen fixiert. „Wüsste nicht, was dich das angeht. Verzieh dich", schnauzt Eren verstimmt. Er hat von seinem Bruder gelernt, dass er Fremden nichts über sich preisgeben soll. Gar nichts. Egal ob es sich um Kinder oder Erwachsene handelt. Schließlich können auch Kinder, mögen sie noch so unschuldig wirken, zu Schandtaten angestiftet werden. Er selbst ist das beste Beispiel. Tragischerweise. Unhöflich und abweisend zu sein ist eine sichere Methode, um schnüffelnde Leute loszuwerden. Sich bereits sicher, dass das Kind nach den Worten Leine ziehen wird, macht er Anstalt aufzustehen, um ins Restaurant zurückzukehren. Allerdings denkt der Fremde nicht daran ihn in Frieden zu lassen. Anstatt wegzugehen, setzt er sich doch ernsthaft mit einem entschlossenem „Nö" neben ihm auf die Bank. Perplex und ungläubig blinzelt Eren ihn an, vergisst dabei für einen Moment seine Fassade aufrechtzuerhalten. „Du siehst aus, als könntest du etwas Aufmunterung vertragen." Der Fremde, der ungefähr in Erens Alter zu sein scheint, schenkt ihm ein aufrichtiges Lächeln. „Also, was ist los? Bist du aus einer Kirche abgehauen, oder so?" Irritiert hebt Eren eine Augenbraue. Die Worte fehlen ihm immer noch, auf Grund des merkwürdigen Verhaltens des Jungen. „Na, weil du doch einen Anzug trägst. Und sag mir jetzt nicht, dass du immer im Smoking auf den Spielplatz gehst."Das Grinsen bekommt etwas Neckendes. Schon in der nächsten Sekunde allerdings verschwindet das fröhliche Gesicht und ein mitfühlender, besorgter Blick taucht auf. „Vermutlich hattest du gar nicht vor herzukommen. Dafür wirkst du zu deprimiert. Willst du mir sagen, was dich bedrückt? Ich kann dir vielleicht helfen." „Äh ... Nein, danke. Ich muss jetzt eh los", lehnt Eren sofort ab. Bevor der seltsame Fremde etwas erwidern kann, steht Eren auf und entfernt sich in zügigen Schritten von der Bank. Zurück bleibt ein mehr als nur verwirrter Junge, der Eren hinterhersieht, bis dieser den Park verlassen hat. Der Zwölfjährige überquert die Straße und bleibt erst unter dem noch immer offenstehenden Fenster im Gebüsch stehen. Überfordert von dem Geschehen kauert er sich erst einmal nieder und atmet ein paar Mal tief durch, um seine Gedanken zu ordnen. Erst dann wagt er einen vorsichtigen Blick hinüber in den Park. Der andere Junge ist nicht mehr zu sehen. Gut. Erleichtert atmet er aus, sieht kurz nach links und rechts, um zu prüfen ob die Luft rein ist, und klettert dann geschickt durch das Fenster zurück in den Warteraum. Er scheint Glück zu haben. Niemand erwartet ihn mit strafendem Blick, verschränkten Armen und zornigtrommelnden Fingern. „Das war ... seltsam", murmelt er vor sich hin. Noch immer durcheinander schließt er das Fenster und lässt sich schwer auf einen der Stühle plumpsen. Wie von selbst wandert sein Blick zurück zum Park auf der Suche nach einem blonden Haarschopf, kann jedoch keinen entdecken. Eren kann es nicht genau erklären, aber irgendetwas an dem Jungen war merkwürdig, auf eine vertraute Weise. Er war viel zu freundlich und hilfsbereit. Kein Mensch ist so. Oder? Ach, Eren ist verwirrt und weiß nicht einmal wieso. Es war schließlich nur ein Kind, das dachte er bräuchte Hilfe und müsse aufgemuntert werden. Am besten ist, er denkt nicht weiter darüber nach und erwähnt seinen kleinen Ausflug auch nicht seiner Familie gegenüber. Er wird den anderen Jungen doch eh nie wiedersehen. Also, warum sich deswegen unnötig Sorgen machen? Das lenkt ihn nur ab und das ist unprofessionell. Ajax würde das sofort durchschauen und sein Geheimnis aus ihm herausquetschen. Und dann wird er bestraft. Das will Eren auf alle Fälle vermeiden. Zum Glück hat er Übung darin etwas vor seiner Familie zu verbergen. Von seinen Träumen oder Stimmen im Kopf haben sie auch keinen blassen Schimmer. ~~~ Noch fast eine dreiviertel Stunde muss Eren im Wartezimmer bleiben, ehe er Schritte vernimmt und die Tür geöffnet wird. Es ist Ajax, der den Kopf hereinstreckt. „Komm, Vater will dich vorstellen", berichtet er in seiner typisch monotonen Stimme, dabei schweifen seine Augen einmal komplett über seinen kleinen Bruder. Die braunen Augen werden dunkel, ein missbilligender Schatten legt sich über sein Gesicht. Bevor der junge Mann anfangen kann zu meckert, schlüpft Eren schnell ins Sakko, zieht die Krawatte enger, streift die Hose glatt, zieht die Ärmel über die Handgelenke und klopft den nicht vorhandenen Staub ab. Zum Abschluss legt er die kleineHaarsträhne hinters Ohr, die dem Haargel und -spray bereits entkommen ist. Zufrieden schließt Ajax seinen Mund und winkt Eren hinter sich her. Zusammen betreten die Brüder die Empfangshalle des Restaurants, wo sie schon von drei Personen erwartet werden. Eine etwas fülligere Frau in einem engen rosa Kleid, das ihr bis zu den Knöcheln reicht, damit man ihre schwarzen Riemchensandalen bewundern kann, steht neben Benedikt Turano am Treppenabsatz. Ihr Gesicht hat sie halb hinter einem schwarz-weißen Fächer mit Glitzersteinchen verborgen, doch ihre extravagante Frisur kann er nicht verbergen. Auffällig mustert sie die beiden Brüder. Neben ihr steht eine Frau, die wie ein typischer Bodyguard aussieht. Dunkler Anzug, streng zurückgebundene Haare, eine Sonnenbrille im Gebäude auf der Nase und eine Art Kommunikationsgerät im Ohr. „Ah, da seid ihr ja." Mit diesen Worten empfängt Turano seine Söhne, einen Arm einladend nach ihnen ausgestreckt. In der anderen Hand hält er einen Aktenkoffer, den er beim Betreten des Restaurants sicher noch nicht hatte. Das heißt dann wohl, dass die Verhandlungen erfolgreich verlaufen sind. „Das ist also Ihr jüngster Sohn, Herr Turano?" Es ist eher eine Feststellung als eine Frage als die Frau Eren mit einem merkwürdigen Ausdruck in den hinter Schminke verschwindenden Augen von Kopf bis Fuß gründlichst beäugt. Unter ihrem Blick steigt das Unbehagen in Erens Bauch an, doch er zwingt sich das Verkrampfen seiner Finger zu unterdrücken und aufrecht stehen zu bleiben. Als er eine Hand am Rücken spürt sieht er kurz hoch zu seinem Vater. „Genau. Frau Russo, das ist Eren. Eren, das ist Frau Russo", macht Turano die Beiden miteinander bekannt und fügt an Eren gewandt hinzu: „Sie ist eine unserer treuesten Stammkundinnen." „Freut mich sehr Sie kennenzulernen, Frau Russo", heuchelt der Zwölfjährige höflich lächelnd. Stammkundin bedeutet in diesem Fall, dass sie eine der Klientinnen ist, die die meisten Anfragen an die geheime Tochterfirma von Turano Industries stellt. Sie ist vermutlich ein Mitglied irgendeiner Mafia oder ähnliches. „Er ist niedlich", kommentiert sie. „Aber auch noch sehr jung." Frau Russo klappt geräuschvoll den Fächer zu und sieht mit forschendem Blick zu Benedikt. „Er wird doch nicht schon beim ... Familiengeschäft mithelfen. Oder?" „Wir nehmen ihren Auftrag an, Frau Russo." Turano schiebt Eren sacht ein Stückchen zurück zu Ajax. „Das Wer und Wie ist unsere Sache, kümmern Sie sich nicht darum. Wir melden uns, wenn die Aufgabe erfüllt ist." „Hm." Etwas Misstrauisches erscheint in ihren Augen als sie den Jungen fixiert. Das verschwindet jedoch vollständig als sie in der nächsten Sekunde ein breites Lächeln aufsetzt und den Vater unschuldig anblinzelt. „Ich will nur sicher gehen, dass meine Bitte auch zufriedenstellend erfüllt wird, Herr Turano." „Machen Sie sich darum keine Sorgen, Frau Russo. Haben wir Sie je enttäuscht?", erinnert Turano die Kundin mit einem charmanten Lächeln. „Hoffentlich bleibt das auch so." Die Frau klappt den Fächer mit einer flinken Bewegung auf und hält ihn sich vor die Nase. „Ich erwarte ihre Nachricht, Herr Turano." Frau Russo verabschiedet sich von den Turanos, um anschließend zusammen mit der Leibwächterin das Restaurant zuverlassen. Eren sieht der davonstöckelnden Frau hinterher, bis diese durch die Tür verschwunden ist. Irgendetwas an der Frau bereitet dem Zwölfjährigen eine Gänsehaut. Sie ist gefährlich. Was sie wohl für eine Art Auftrag gestellt hat? Lange grübelt der Junge nicht darüber nach, denn er wird es sowieso bald erfahren. Kurz darauf sitzen sie auch schon in der Limousine auf dem Weg nach Hause. Wie schon auf der Herfahrt sieht Eren aus dem Fenster, dabei gleitet sein Blick über den Spielplatz im Park. Automatisch denkt er wieder an den fremden Jungen. Allein und verloren, hat der Fremde gesagt. Ach, Quatsch. Eren fühlt sich weder allein noch verloren. Energisch verwirft er den Gedankengang schnell wieder. „Eren." Mit diesem Wort zieht Benedikt Erens Aufmerksamkeit auf sich, der den Kopf herumdreht, um seinen Vater anzusehen. „Ajax sagte mir, dass du dich bei deinem letzten Auftrag sehr gut geschlagen hast." Überrascht blinzelt der Junge kurz seinen Bruder an. Es kommt so gut wie nie vor, dass er gelobt wird. Ajax zeigt keinerlei Regung, als würde er gar nicht zuhören. Er starrt stur aus dem Fenster. „Den Auftrag von Frau Russo wird Ajax übernehmen", fährt Benedikt fort. Na bitte. Wie er vermutet hat. Früher oder später bekommt er immer die Informationen. „Was für eine Mission ist es?" Der Mann schüttelt den Kopf. „Diese Mission wirst du aussetzen, Eren." „Was?!" Entsetzt beugt sich der Junge vor. Er war bisher auf jeder einzelnen von Ajax' Missionen dabei. Noch nie musste er einen Auftrag aussetzen, egal wie gefährlich dieser war. Niemals! Was ist an diesem anders? „Wieso?" Nun meldet sich doch Ajax zu Wort: „Eren! Was habe ich vorher über Ausrutscher gesagt?" Der mahnende Ton und die Erinnerung an die Bestrafung lassen den Zwölfjährigen seine Beherrschung wiederfinden. Er setzt sich aufrecht hin, sieht seinen Vater an und wartet so auf eine Erklärung. „Der Grund, weshalb du nicht mitgehst, ist, dass ich eine andere Aufgabe für dich habe", erklärt Turano. „Ach ja?" Fragend blinzelt Eren ihn an. „Heißt das, ich darf allein auf eine Mission?" Vor Begeisterung bahnt sich ein breites Grinsen an. Das ist eine große Ehre für das Kind. „Nein." Eine vernichtende Antwort. „Du wirst in einer Vierergruppe nach Flaurana aufbrechen und uns etwas Materialnachschub besorgen." „Oh." Enttäuscht wandern seine Mundwinkel nach unten. „Was genau?" „Neue Eierschalen des Dagono. Genauere Informationen erhältst du von deinem Teamleiter", antwortet der Mann, ohne den deutlichen Missfallen zu beachten. „Dagono-Eierschalen, ja?" Diese Mission hatte er schon ein paar Mal. Das erste Mal hat er Ajax dabei im Alter von sieben Jahren begleitet. Es ist also eine Mission auf Anfängerniveau. Super. Da stellt sich automatisch die Frage, auf welche Mission Ajax geschickt wird. „Und wer ist der Teamleiter?" „Igor wird die Leitung übernehmen. Er ist spezialisiert auf Materialbeschaffungen aus Flaurana." Turano beugt sich etwas vor, um mit Eren auf Augenhöhe zu sein. „Ich erwarte vorbildliches Verhalten von meinem Sohn. Hab ich mich klar ausgedrückt?" „Ja, Vater", antwortet der Junge automatisch, ist in Gedanken allerdings schon längst woanders. Also Igor, ja? Na super. Den Kerl kann Eren nicht ausstehen. Der ist viel zu faul, um eine Mission anzuführen. Wie kommt sein Vater nur auf die Idee, dass es eine gute Idee sei? Außerdem ... Wenn Igor der Teamleiter ist, dann heißt das, dass Viktor auch dabei sein wird. Und den kann Eren noch weniger leiden als Igor. Stumm seufzend stützt er den Ellbogen an der Tür ab und sieht wieder nach draußen. Das kann ja heiter werden. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)