Wie Tanzen auf dem Vulkan von lady_j (Ein Advents-Zweiteiler für den Adventskalender des YuKa-Zirkels) ================================================================================ Kapitel 1: 6. Dezember ---------------------- „Ich friere mir den Arsch ab.” Kai verdrehte die Augen. Er hatte, unter größter Vorsicht, mit vielen Blicken über die Schulter, damit auch ja niemand es merkte, sein Handy aus der Tasche gezogen. Die Mission hatte ihn mehrere Minuten beschäftigt, in denen er eigentlich hätte arbeiten sollen. Und wofür? Dafür, dass Yuriy sich mal wieder über die Minusgrade in Moskau beschwerte. „Du hast keinen Arsch, den du dir abfrieren kannst”, schrieb Kai zurück, ließ dann schnell das Telefon verschwinden und beugte sich erneut über seine Tastatur. Er hasste die Praktika bei Hiwatari Enterprises. Doch leider erlaubte Soichiro ihm nichts, aber auch gar nichts, wenn er nicht zu ihnen antrat. Misaki pflichtete dem Alten sogar noch bei. Sie hatte Kai in ihrer sanften, aber bestimmten Art klargemacht, dass er sich in den letzten Jahren zu viel herausgenommen hatte. Nun, das mochte stimmen. Spontan ein Flugticket nach Moskau zu buchen und noch am selben Abend zu fliegen, wie er es im Sommer getan hatte, weil er es verdammt noch mal nicht mehr ausgehalten hatte in Japan, war seine bisherige Glanzleistung gewesen. Es war zwar keine schlechte Idee gewesen (er bereute nichts!), aber seine mangelnde Kommunikation an diesem Tag hatte für Aufruhr gesorgt. Er hörte noch immer Misakis Stimme durch ein imaginäres Telefon – „Du bist nach Russland geflogen?!” – Misaki schrie sonst nie. Kai musste schmunzeln, als er daran zurückdachte. Er hatte zwei herrlich sorglose Wochen mit Yuriy und den anderen verbracht. Und danach den Rest der Ferien im Hausarrest. Totally fucking worth it. Schon vorher hatte Soichiro ihn für das, was er wollte, arbeiten lassen. Doch nun war alles noch schwieriger geworden. Längere Tage bei Hiwatari Enterprises. Eine strengere Überwachung. Handyverbot während der Arbeitszeit. Die Excel-Tabelle vor ihm wartete noch immer darauf, mit Daten bestückt zu werden. Hoffentlich blieben diesmal alle Makros heil. Letzte Woche hatte er es dreimal nacheinander geschafft, eine Datei zu zerschießen. Was eventuell daran gelegen hatte, dass er nicht ganz bei der Sache gewesen war. Nicht nach den Fotos, die er beim Aufwachen in seinem Chat gefunden hatte… Kai räusperte sich laut, als müsse er sich selbst zur Disziplin ermahnen. So etwas war ihm früher nie passiert. Wenn er wollte, konnte er sich eine halbe Ewigkeit an einer Sache festbeißen, ohne gedanklich abzudriften. Deswegen war er ja auch so gut im Beybladen. Doch seit er sich ständig fragte, ob nicht vielleicht doch eine neue Nachricht auf seinem Telefon eingegangen war, war seine Konzentration dahin. Nichts, aber auch gar nichts im Büroturm von Hiwatari Enterprises war auch nur annähernd so verführerisch, wie die Ungewissheit in der Sekunde vor dem Blick auf den Bildschirm. Meistens wurde sein Warten belohnt. Eine halbe Stunde später konnte er eine Kaffeepause machen, ohne dass jemand Verdacht schöpfen würde. Er zog sich in eine Sitzecke zurück, die halb hinter ein paar ausladenden Pflanzen verborgen war. Zu seiner Rechten befand sich ein bodentiefes Fenster, von dem aus er über Tokio blicken konnte. Der Himmel über der Stadt war grau. Es schneite nicht, aber es war auch hier deutlich kühler geworden. Pärchen fingen an, weihnachtliche Dates zu organisieren, sie tranken Gingerbread Lattes oder Cinnamon Frappuccinos, und in den Fotoautomaten gab es jetzt überall Weihnachtsmotive. Neulich hatte Max das ganze Team gezwungen, ebenfalls Fotos zu machen. Eines dieser Bilder steckte jetzt hinten in Kais Handyhülle. Es zeigte die Bladebreakers – Takao, Max, Rei, Kyoujyu, Hiromi, Daichi und ihn selbst – in eine winzige Kabine gezwängt, mit nachträglich hinzugefügten Weihnachtsmann-Mützen auf den Köpfen. Das Foto war so klein, dass kaum etwas zu erkennen war. Er hatte sich nie besonders für die Weihnachtszeit interessiert, aber in diesem Jahr erinnerte sie ihn daran, wie viel Zeit seit dem Sommer schon vergangen war. Kai sah sich noch einmal kurz um, dann entsperrte er den Bildschirm. „Ich habe vielleicht einen flachen Arsch, aber du findest mich trotzdem sexy.” Fuck, ja. Ein jüngerer Kai – einer, der nur ans Beybladen dachte und zu cool war für jegliche menschliche Interaktion, die über ein Brummen hinausging – hätte die Nase gerümpft, wenn er gewusst hätte, zu was er einmal verkommen würde: Zu einem hibbeligen Nervenbündel, das allein wegen einer winzigen Nachricht zu explodieren drohte. Und auch jetzt würde er vor Scham im Boden versinken, wenn irgendjemand wüsste, wie es in ihm aussah. Er spielte noch immer den Coolen, Abgeklärten, Erwachsenen. Den, der über den Dingen stand, besonders über Liebesdingen. Aber sich selbst konnte er nicht belügen. Yuriy Ivanov hatte ihn in die Knie gezwungen, und das war das beste Gefühl der Welt. „Ich glaube, das beruht auf Gegenseitigkeit”, antwortete er schließlich auf Yuriys Nachricht. Das zweitschönste Gefühl der Welt war, sich vorzustellen, dass Yuriy gerade genauso aufgekratzt war wie er. Dass er irgendwo in der Kälte stand und womöglich an ihn dachte, damit ihm etwas wärmer wurde. Immerhin hatten sie im Sommer genug gemeinsame Erinnerungen für genau solche Notsituationen geschaffen. Sie hatten gewusst, dass Kai nicht ewig in Moskau bleiben konnte, und jede freie Minute genutzt. Wirklich jede. Die Ausdauer vom Beyblade-Training brachte einige Vorteile mit sich. „Sollen wir heute Abend skypen?”, lautete Yuriys nächste Nachricht. Als ob er überhaupt fragen müsste. Natürlich würden sie skypen. Nichts, nicht einmal die sechs Stunden Zeitunterschied, würden Kai davon abhalten. Er ging gegen zehn Uhr abends ins Bett, schlief bis zwei und setzte sich dann an den Laptop. Inzwischen hatte er sich sogar an die unterbrochenen Nächte gewöhnt. „Wie immer :*”, tippte er. Hinter den Pflanzen rief jemand nach ihm. Kai schreckte hoch und ließ das Handy verschwinden. Er griff nach seiner Tasse, als hätte er sich eben erst hingesetzt. Der Kaffee war kalt, aber das sah man zum Glück ja nicht. „Woran denkst du, Kai?“, fragte Hiromi. „Du wirkst so abwesend.” An die Sommersprossen auf Yuriys Brust. An den Leberfleck auf seiner Hüfte. An den dünnen Streifen aus hellen Härchen, der den Weg zwischen seine Beine wies. Aber das konnte er Hiromi so natürlich nicht sagen. Erst recht nicht, während sie mit den anderen im Nudelrestaurant von Kyouyjus Eltern saßen und Ramen aßen. Immerhin hatte niemand Hiromis Frage mitgehört. Max, Takao und Daichi unterhielten sich über etwas, das sie bei ihrer letzten Reise in die Staaten erlebt hatten, und Rei war ganz auf seine Nudeln fokussiert. „Ich bin nur müde”, antwortete er. Er ließ den Blick über die Girlande aus künstlichen Tannenzweigen gleiten, die Max vor zwei Wochen abgeschleppt und mit dem Segen von Kyouyjus Eltern quer durch den Raum gespannt hatte. Max würde über Weihnachten mit seinem Vater wieder in die USA fliegen, um Judy zu besuchen. Rei würde demnächst zurück nach China gehen (was mit Weihnachten nichts zu tun hatte, er teilte seine Zeit zwischen beiden Ländern auf). Kais eigenes Leben würde einfach so weitergehen, er würde vielleicht mit Hiromi und Takao Essen gehen und sich von ihnen ein paar Becher der übersüßten Weihnachtskaffees andrehen lassen. Ansonsten würde er arbeiten. In Japan wurde der Jahreswechsel gefeiert, genauso wie in Russland. Doch leider hatte auch Yuriy keinen Urlaub nehmen können. Deswegen würde es noch eine ganze Weile dauern, bis sie sich wiedersehen würden. Er spürte, wie Hiromi ein Stück zu ihm heranrückte. „Muss ich mir Sorgen machen?”, fragte sie. „Arbeitest du wieder zu viel?” Beinahe hätte er süffisant gelacht. Dass er zu viel arbeitete, konnte man nun wirklich nicht behaupten. Aber Hiromi wusste auch nicht, dass er die Hälfte seiner Nächte auf Skype verbrachte. Niemand wusste das. Seltsamerweise hatten die anderen keinen Verdacht geschöpft, als er im Sommer nach Russland abgehauen war. Sie schienen davon auszugehen, dass seine Freundschaft mit den Borgs eng genug für so etwas war. Außerdem wussten sie von seinen immerwährenden Konflikten mit Soichiro. Womöglich, dachte Kai jetzt, passte es ganz gut zu ihm, sich eine Auszeit zu gönnen, ohne irgendjemandem Bescheid zu sagen. „Ich bin okay, Hiromi”, sagte er. „Mir geht es gut. Sehr gut sogar.” Sie hob die Augenbrauen. „Oh? Das freut mich zu hören.” Nun wandte Kai sich doch um und sah sie an. Der Blick aus ihren braunen Augen hielt ihn fest, aber nicht auf unangenehme Weise. Über die Jahre hatte Kai angefangen, ihr zu vertrauen und meinte, dass dieses Vertrauen auf Gegenseitigkeit beruhte. Hiromi hatte ihm über die Zeit einige sehr persönliche Dinge über sich erzählt. Kai wusste das zu schätzen. Er hatte begonnen, sich ihr ebenfalls zu öffnen. Aber über Yuriy konnte er trotzdem nicht mit ihr reden. Es wussten überhaupt nur wenige Personen von ihnen. Eigentlich nur die anderen Mitglieder von Borg. Es war unmöglich, so etwas vor ihnen geheim zu halten. Yuriy hatte sein Team in seiner unvergleichlichen Art vor vollendete Tatsachen gestellt, was Kai gleichzeitig beeindruckte und beängstigte. Zum Glück hatten sich Boris, Sergeij und Ivan schnell wieder gefasst. Ihr größtes Problem schien zu sein, dass sie Kai nun erstmal nicht mehr loswerden würden. Aber inzwischen hatten auch ihre Sticheleien ihre Schärfe verloren und waren zu so etwas wie Running Gags geworden. Am meisten störte seine Anwesenheit wahrscheinlich Boris, der eiskalt gegen die Wand oder Tür klopfte, wenn Yuriy und Kai mal wieder zu laut waren (Kai hatte nicht gewusst, dass er überhaupt laut werden konnte, aber was auch immer Yuriy mit ihm machte, schaltete seine Scham komplett aus. Er hatte nicht einmal ein schlechtes Gewissen, wenn andere sie hören konnten). Hiromi legte den Kopf schief, ohne den Blick von ihm zu lösen. „Hat es einen bestimmten Grund, warum es dir so gut geht?”, wollte sie wissen. Kai lauschte in den Raum hinein. Alle anderen waren noch immer mit sich selbst beschäftigt. „Ja”, antwortete er leise. „Geht es um eine Person in deinem Leben?” „Vielleicht.” Kai war sicher, dass Hiromi diesen Befragungsstil allein für ihn entwickelt hatte. Wenn sie sich Stück für Stück vortastete, fiel es ihm leichter, zu kontrollieren, was er sagen wollte und was nicht. Sie griff nach ihrem Glas. „Willst du mir irgendwann mal mehr erzählen? Wir könnten uns auf einen Kaffee treffen. Ohne die anderen.” Kai dachte kurz nach. Ja, er wollte ihr von Yuriy erzählen. Er wollte überhaupt jemandem von Yuriy erzählen. Es war an der Zeit. „Das können wir”, sagte er. Fünf Minuten vor zwei Uhr klingelte sein Wecker. Kai hatte keine Sorge, dass irgendjemand sonst davon wach wurde. Soichiros und Misakis Schlafzimmer befanden sich zwei Etagen unter ihm. Nicht einmal tagsüber verirrte sich jemand in diese Ecke des familieneigenen Herrenhauses. Er schaltete die Nachttischlampe an und zog seinen Laptop zu sich heran, der wie fast immer neben ihm auf der Matratze gelegen hatte. Kai hatte sich zwar ein vergleichsweise kleines Zimmer ausgesucht, doch beim Bett machte er keine Abstriche. Und da er bisher keine Übernachtungsgäste hatte, belegten Bücher, Notizblöcke, Dranzer und eben sein Laptop den Platz neben ihm. Es dauerte wie immer ein wenig, bis die Verbindung zu Yuriy stabil war. Seitdem das Borg Team den Internetanschluss in ihrer Wohnung erneuert hatte, riss sie jedoch nicht mehr mitten im Gespräch ab. Und die Bildqualität war auch besser. In Yuriys Zimmer war es ebenfalls dunkel. Es schien, als würde es neben dem Computerbildschirm dort keine andere Lichtquelle mehr geben. Yuriy saß am Schreibtisch, ein Bein angewinkelt. Er trug ein T-Shirt und Sweatpants. Sein Anblick allein reichte, um Kais Puls zu beschleunigen. Er hoffte inständig, dass es Yuriy ähnlich ging. Alles andere wäre unfair. „Hey”, sagte er leise und lehnte sich gegen das Kopfende seines Bettes. Yuriy legte das Kinn auf sein angewinkeltes Knie. „Du siehst aus, als könntest du eine Umarmung gebrauchen”, stellte er fest. „Oh, glaub mir, ich könnte noch viel mehr gebrauchen als das”, meinte Kai. An dem verschmitzten Glitzern in Yuriys Augen erkannte er, dass der andere sehr wohl wusste, was er damit meinte. „Wie wäre es erstmal mit Hallo, wie war dein Tag, hast du etwas Schönes erlebt, bevor du mir zweideutige Angebote machst?!“, sagte er. Kai verdrehte die Augen. „Hallo, Snegurochka”, sagte er. „Mein Tag war ereignislos. Ich habe Excel-Tabellen befüllt.” „Mmmh, wie reizend.” „Was du gemacht hast, weiß ich schon”, fuhr Kai fort. „Du hast dir den Arsch abgefroren. Aber ich könnte dafür sorgen, dass dir jetzt etwas wärmer wird.“ Er war komplett verloren. Bei Yuriy setzte sein Hirn aus. Er konnte nur noch halbwegs artikulierte Anmachsprüche von sich geben und hoffen, dass der andere irgendwann anbiss. Aber Yuriy war grausam. Er tat nichts, als ihn mit seinen blauen Augen anzusehen und zu schmunzeln. Er ließ Kai zappeln wie einen Fisch an der Angel, und Kai hatte nicht einmal etwas dagegen. Ob Yuriy wusste, was er da tat? Vielleicht ahnte er es und betrachtete es als kleines Machtspiel zwischen ihnen. Vielleicht machte es ihn an. Kai konnte nicht aus seiner Haut, er hatte selten wirklich losgelassen und Yuriy gezeigt, wie schwach er ihn machte. Aber wenn es passiert war, hatte auch Yuriy ein wenig die Kontrolle verloren, hatte sich von ihm mitreißen lassen. Es waren ihre ehrlichsten Momente. Yuriy bewegte sich ein wenig. „Es ist tatsächlich etwas kühl hier”, gab er zu. Sein Gesichtsausdruck wurde ernster, als könnte er das Grinsen nicht länger aufrechterhalten. Es war der Moment, in dem Kai wie so oft realisierte, dass auch ein Videocall nicht dazu imstande war, eine Person zu ersetzen. Das Wollen in ihm wurde schmerzhaft. Er hätte sagen können: Ich vermisse dich. Aber das fiel ihm nicht leicht, und es würde nichts daran ändern, dass sie tausende von Kilometern voneinander getrennt waren. Manchmal verfluchte er sich dafür, überhaupt nach Russland geflogen zu sein. Denn nur deswegen musste er nun mit der Erinnerung an Yuriys Lippen, seinen Händen, seiner nackten Haut leben. Hätten sie sich im Sommer nicht gesehen, wären die zögerlichen Gefühle zwischen ihnen längst eingeschlafen und Kai hätte einfach weitermachen können, wie bisher. Ohne diese Sehnsucht nach etwas, das er nur einmal alle paar Monate haben konnte. „Du siehst müde aus”, stellte er fest. Es mochte an dem kalten Licht liegen, aber ihm war, als hätte Yuriy tiefe Augenringe. „Ich schlafe gerade nicht so gut”, sagte Yuriy leise, und, nach einer Pause: „Es wäre leichter, wenn du hier wärst.” Kai stieß die Luft aus. Hinter seinem Bauchnabel bildete sich ein heißer Knoten. „Du könntest herkommen”, sagte er, ehe er sich davon abhalten konnte. „Wir können uns den Preis für das Flugticket teilen.” „Das Geld ist nicht das Problem”, entgegnete Yuriy. „Ich kann nicht einfach freinehmen. Ich würde den Job verlieren, und ich brauche ihn, um die Uni zu bezahlen.” „Ich weiß”, seufzte Kai. „Verdammt, ich weiß.” Er rieb sich über das Gesicht. Gott, er war müde. Und einsam. Er ließ die Hand sinken und sah Yuriy an, der seinen Blick erwiderte. Es sah aus, als würde er sich auf die Innenseite seiner Wange beißen, aber Kai konnte nicht sicher sein. Inzwischen war sein ganzer Körper heiß. Er wollte aufspringen und durch den Raum laufen, um sich irgendwie Erlösung zu verschaffen. Jetzt seufzte Yuriy. „Verdammt, Kai”, sagte er. „Du fehlst mir.” Irgendetwas, das gleichzeitig gut und schmerzhaft war, übermannte Kai. Er wollte den Laptop von sich schleudern und Yuriy verfluchen. „So etwas darfst du nicht sagen”, stieß er hervor. „Ich explodiere hier.” Und endlich lachte Yuriy wieder. „Ich mag es, wenn du das tust”, sagte er. „Wenn ich das Gefühl habe, dass ich dich nur berühren muss, und du zerspringst.” Das war es. Das war der Grund, aus dem Kai nach Russland geflogen war, ohne Sinn und Verstand. Er wollte immer genau das, was am schwierigsten zu bekommen war. Yuriys Stimme, seinen Anblick, seine Gedanken konnte er haben. Aber was er am meisten wollte, war, ihn zu berühren. „Ich halt das nicht aus”, sagte er. „Ich auch nicht”, entgegnete Yuriy. „Ich kann mir vorstellen, dass du da bist, aber es reicht nicht.” Kai lachte kurz. „Oh, glaub mir, das tue ich auch! Jedes Mal, wenn ich…” Er räusperte sich. „Ich weiß, was du meinst”, sagte Yuriy lächelnd. Kais Wangen wurden heiß. Er hatte das nicht so offen zugeben wollen. Schließlich musste Yuriy wissen, dass es so war. „Wie wäre es…” Yuriy unterbrach sich. Vielleicht suchte er nach Worten. „Also, du könntest es dir jetzt vorstellen. Dass ich bei dir bin. Und ich stelle mir vor, dass du bei mir bist.” Jetzt war Kais ganzes Gesicht heiß. Er konnte das nicht, oder? Natürlich hatten Yuriy und er kommuniziert, wenn sie miteinander im Bett waren. Doch es waren eher kurze Fragen: Ist das in Ordnung? Hast du darauf Lust? Soll ich etwas anders machen? Aber darüber, was genau in ihren Köpfen vor sich ging, wenn sie alleine waren, hatten sie nie gesprochen. Vielleicht war genau das aber die Lösung. Vielleicht würde das den übermächtigen Druck in ihm etwas lindern. „Wir könnten es probieren”, meinte Kai. „Okay.“ Yuriy stand von seinem Stuhl auf. „Lass mich zum Bett rübergehen. Ist gemütlicher.“ Er schaffte es schon wieder, zu grinsen. Kai setzte sich auf. „Dann lass es uns richtig machen. Zieh dich aus“, sagte er und zog sich schon das Shirt über den Kopf. Wenn sie das hier taten, dann wollte er mehr von Yuriy sehen. Als das Bild auf dem Monitor des Laptops aufhörte zu wackeln, blickte Kai auf Yuriys Kopfkissen. Sofort erinnerte er sich daran, wie er sein Gesicht darin vergraben hatte. Wie es nach Waschmittel und Yuriy gerochen hatte. Das allein reichte, um seinem Körper eine erste Regung zu entlocken. Dann kletterte Yuriy ins Bett und zog die Decke halb über sich. Kai sah sein Gesicht und seine nackten Schultern. Leider konnte er die Sommersprossen auf ihnen nicht erkennen. Yuriy stützte den Kopf in die Hand. „Und jetzt?“ „Es war deine Idee!“, konterte Kai belustigt. Yuriy brummte. Sein Blick glitt über den Bildschirmrand hinweg. „Du könntest mir erzählen, was du am aufregendsten fandst, als ich bei dir war“, schlug Kai vor. „Oh!“ Yuriys Blick wanderte zurück zu ihm. „Das eine Mal in der Küche, glaube ich.“ Kai schluckte. Er wusste ganz genau, was Yuriy meinte. Dieses eine Mal, als sie allein in der Wohnung gewesen waren. Es hatte ganz unschuldig mit einem Kuss begonnen, doch irgendwann waren Kais Hände ganz von selbst in Yuriys Hose gewandert, und ehe er sich's versah, fand er sich auf den Knien wieder. Danach hatte Yuriy ihn auf die Anrichte gehoben und sich revanchiert. Sie hatten es gerade so geschafft, sich wieder anzuziehen, bevor Boris nach Hause gekommen war. „Das findest du doch nur so geil, weil Boris uns fast erwischt hätte!“, sagte Kai. „Möglich.“ Yuriy hob die Schultern. „Jedenfalls hätte ich jetzt gerade nichts gegen deinen Kopf zwischen meinen Beinen.“ Kai schnalzte mit der Zunge. Seine Körperwärme konzentrierte sich auf einen Punkt in seinem Unterbauch. Er rutschte etwas hin und her und verschob schließlich den Laptop, damit der nicht mehr direkt auf seinem Schoß lag. „Sag bitte“, verlangte er. Es war nur halb im Scherz gemeint. Yuriy verdrehte die Augen, dann rückte er näher an die Kamera heran. „Bitte“, sagte er in einem Tonfall, bei dem sich alle Härchen an Kais Körper aufstellten. Wie von allein wanderte seine Hand unter die Bettdecke, hin zu der schwelenden Hitze. Yuriys Augen verengten sich. „Ich würde dich auch unglaublich gerne küssen“, sagte er. „Am Hals“, ergänzte Kai und legte automatisch den Kopf etwas schief. „Genau. Ich könnte dir nochmal einen Knutschfleck machen.“ Kai lachte kurz. Der letzte Knutschfleck hatte mehrere Tage gebraucht, um abzuheilen, und war erst kurz vor seiner Rückkehr nach Japan ganz verblasst. Seine Hand hatte inzwischen ihr Ziel gefunden. Kai hatte befürchtet, dass es seltsam sein würde, sich vor Yuriy anzufassen. Aber der Bildausschnitt zeigte nicht alles. Und wenn sie dabei miteinander sprachen, konnte er sich beinahe vorstellen, dass es Yuriys Finger waren, die über seine Haut strichen. Kalt genug dafür waren sie. „Was willst du, Kai?“ Er schloss die Augen. „Ich will dich küssen und den schwarzen Tee auf deiner Zunge schmecken“, sagte er. „Und das Salz auf deiner Haut. Ich will dein Haar riechen, wenn du auf mir liegst. Und das Duschgel, das wir benutzt haben, als wir das Gleitgel nicht gefunden haben. Verdammt, ich werde das Zeug nie wieder riechen können, ohne an Sex zu denken.“ Er hörte, wie Yuriy lachte. Dann wurde das Lachen zu einem Seufzen, das einen Schauer durch seinen Körper jagte. Ein leises Stöhnen entwich ihm, das er instinktiv unterdrückte. Seine Hand bewegte sich dennoch weiter. „Du musst nicht leise sein“, sagte Yuriy. „Ich höre dich gerne. Das zeigt mir, dass ich etwas richtig mache.“ Kai fluchte leise. Er hielt immer noch die Augen geschlossen und war froh, schon zu liegen, denn bei Yuriys letzten Worten waren seine Knie weich geworden. Er rutschte ein Stück nach unten, um mehr Bewegungsfreiheit zu haben. Die Bettdecke lag nur noch schief auf ihm. Die kühle Luft im Raum machte ihm eine Gänsehaut. „Weißt du, was ich am besten fand?”, fragte er. „Na?” Kai lächelte. „Unter der Dusche”, sagte er. „Als du mich gegen die Fliesen gedrückt hast. Die Wand war so kalt…” „Und du warst so heiß”, sagte Yuriy. „Dein Körper war wärmer als das Wasser. Und deine Haut war so weich. Ich glaube, das war das erste Mal, dass ich das realisiert habe.” Kai konnte Yuriys Hände noch immer auf sich spüren. Wieder und wieder strichen sie über seine Glieder, warm und fest und etwas rau, sodass es sich anfühlte, als würden sie Schicht um Schicht von ihm abschmirgeln, bis er ganz bloßlag. Yuriys Hände ertasteten jede Wölbung, jede Senke, glitten über ihn hinweg, in ihn hinein. Sein Orgasmus traf ihn unvorbereitet. Er stieß einen überraschten Laut aus, etwas Warmes explodierte hinter seinen Augen, dann übernahm sein Körper für ein paar lange Sekunden die Führung. Es dauerte eine ganze Weile, bis sich seine Sicht wieder klärte. Schwer atmend blinzelte er gegen die Dunkelheit in seinem Zimmer an. „Verdammt, Kai”, drang Yuriys Stimme an sein Ohr. „Mir ist nie aufgefallen, wie heiß du klingst, wenn du kommst.“ Er war etwas heiser. Ein schwacher Laut entwich Kai. Er hatte keine Erinnerungen daran, ob er eben gestöhnt hatte oder nicht. „Bist du auch gekommen?“, fragte er. „... Jepp.“ Yuriy stieß die Luft aus. „Ich habe Selbstkontrolle, aber so viel nun auch nicht.“ Endlich drehte Kai den Kopf zur Seite, in Richtung des Bildschirmes. Sein Blick traf sich mit Yuriys. Er musste die Decke von sich geworfen haben, denn Kai konnte nun mehr von seiner nackten Brust sehen. Sie mussten beide lachen. „Ich glaube, ich muss mir ein Taschentuch holen“, stellte Kai fest. „Ich auch.“ Yuriy blickte an sich hinunter. „Meine Güte…“ „Hast du wieder zu weit geschossen?“ „So, wie du es sagst, klingt es wirklich schlimm.“ Immer noch lachend stand Kai auf. Er stakste zum Schrank, denn natürlich waren ihm die Taschentücher im Nachttisch just ausgegangen. Als er sich notdürftig gesäubert hatte, schlüpfte er endlich auch aus seinen Shorts und legte sich komplett nackt ins Bett. Er knautschte die Decke zusammen und schlang beide Arme um sie. Kurz darauf tauchte auch Yuriy wieder auf. Für einen Moment konnte er ihn vom Kinn bis zur Hüfte betrachten. Seine Augen suchten automatisch nach dem vertrauten Leberfleck, nach dem Schatten unter seinem Bauchnabel. Dann legte Yuriy sich auf den Bauch. Sein Gesicht füllte den Bildschirm aus. „Hey”, sagte er. „Hi”, sagte Kai betont lässig, doch irgendetwas flatterte aufgeregt in seiner Brust. Er war jetzt hellwach. „Ich finde, wir sollten das öfter machen”, fügte er hinzu. Yuriys Blick wurde nachdenklich. Kai sah, wie er sich kurz auf die Lippe biss. „Weißt du, Kai”, sagte er. „Scheiß drauf. Ich geh morgen zu meinem Chef und frage ihn, ob ich Ende Dezember ein paar Tage Urlaub nehmen kann. Das hier ist schön, aber… Aber das hält doch keiner aus. Ich will dich sehen. Richtig, meine ich.” Das Flattern in Kais Brust wurde stärker. Was würde das bedeuten, wenn Yuriy nach Japan kam? Musste er Hiromi und den anderen davon erzählen, was zwischen ihnen lief? Musste er ihn seiner Mutter vorstellen? Aber ja, scheiß drauf. Vielleicht war es langsam an der Zeit. Irgendwann würde er das eh tun müssen. „Okay”, sagte er. „Ende Dezember?” Das waren maximal noch zwei Wochen. Nur noch zwei Wochen, die er warten musste. „Ja”, sagte Yuriy. „Ende Dezember.” Kapitel 2: 23. Dezember ----------------------- 23. Dezember Er hatte Oleg Vitaljewitsch erzählt, dass er ein Mädchen in Wladiwostok habe. Damit lag er – immerhin! – nur ca. 1000km und ein paar Pronomina daneben. Yuriy war pragmatisch, er passte seine Wortwahl an, wenn es ihn schneller ans Ziel brachte. Sein Chef hatte vollstes Verständnis gezeigt und ihm eine Woche frei gegeben, damit er Neujahr bei seinem „Mädchen in Wladiwostok” verbringen konnte. „Ich kann es nicht glauben“, sagte Boris zum wiederholten Male. „Ich kann nicht glauben, dass du für einen Stich um die halbe Welt reist!“ Yuriy packte unbeirrt weiter seinen Koffer. Dabei musste er sich wohl oder übel immer wieder an Boris vorbeidrängen, der sich auf seinem Bett breit gemacht hatte. Seine Beine ragten weit in den Raum hinein. „Kai hat im Sommer das gleiche für mich gemacht“, erinnerte er ihn. „Ja, und das verstehe ich auch!“, entgegnete Boris. „Natürlich kommen die Leute über tausende Kilometer zu dir gekrochen. Anders will ich es auch gar nicht für dich! Aber du musst dir das doch nicht antun. Warum zur Hölle gibst du so viel Geld aus, nur um Hiwatari zu knallen?“ „Du würdest keine Fragen mehr stellen, wenn du wüsstest, wie es ist, Kai zu knallen“, murmelte Yuriy. Dabei war das bei weitem nicht der einzige Grund. Wenn es bei Kai und ihm nur um Sex ginge, dann hätten sie niemals so lange durchgehalten. Nicht mit dieser Entfernung zwischen ihnen. Sie würden beide leicht neue Bettgefährten finden, also warum sich die Mühe machen? Aber da war eben noch mehr. Bei Kai bekam Yuriy all die verrückten Gefühle, die er vorher immer abgetan hatte. Sie brachten seinen gesamten Alltag durcheinander. Er hing nicht mehr jeden Abend mit Boris und den anderen ab, denn alle paar Tage war seine Zeit für Kai reserviert. Außerdem war sein Handy, das er früher nie benutzt hatte, zu einem der wichtigsten Gegenstände in seinem Besitz geworden. Sein Team war natürlich mäßig begeistert von dieser Entwicklung, aber inzwischen hatten sich die Gemüter so weit abgekühlt, dass aus den scharfen Sprüchen derbe Witze geworden waren. Es hatte sie, so glaubte Yuriy, beeindruckt, dass Kai nach Russland gekommen war, weil er ihn vermisst hatte. Wie immer hatte Kai versucht, sich bedeckt zu halten, aber nach spätestens einem Tag war klar gewesen, dass er gefühlsmäßig komplett neben sich stand. Und Yuriy war es nicht anders gegangen. Was als Flirt während der Beyblade-Turniere begonnen hatte, war erschreckend plötzlich erschreckend intensiv geworden. Nicht, dass Yuriy sich beschweren würde. Er war verrückt nach Kai. „Wann habt ihr eigentlich damit angefangen?“, fragte Boris. „Es miteinander zu treiben, meine ich. War das im Sommer, oder schon vorher?“ Yuriy runzelte die Stirn. Wollte Boris das wirklich so genau wissen? Nun, vielleicht war das seine Art, ihm zu zeigen, dass er versuchte, sich mit der Sache zu arrangieren. „Vorher“, sagte er knapp, und Boris' Mimik nach zu urteilen hatte er nicht mit so einer Antwort gerechnet. „Will ich wissen, wie ihr das geschafft habt?“ „Lass es mich so sagen…“ Yuriy stopfte die letzten Kleidungsstücke in den Koffer und zog den Reißverschluss zu. „Es gibt während der Turniere sehr viele Möglichkeiten, für ein paar Minuten zu verschwinden. Und viele Ecken, in denen man ungestört ist.“ Hotelzimmer am Nachmittag beispielsweise, wenn alle anderen beim Training waren. Oder Umkleiden, spät am Abend, wenn die anderen längst nicht mehr trainierten. Und zu guter Letzt… Whirlpools in der Nacht. Kai hatte Whirlpools für immer für ihn ruiniert. Er würde nie wieder in einem sitzen können, ohne automatisch an Sex zu denken. „Heilige Scheiße“, murmelte Boris. „Ihr seid echt komplett verloren.“ „Warst du nicht immer derjenige, der nicht müde wurde, mir zu sagen, ich solle mir endlich, ich zitiere, die Hörner abstoßen?“, fragte Yuriy spitz. Boris fuhr sich durch die Haare und ließ sich neben dem Koffer auf das Bett sinken. „Ja“, sagte er zur Decke. „Ich hab mir Sorgen gemacht, Yura! Du hast dich nie für sowas interessiert! Ich meine, wer weiß, am Ende wäre irgendeines von Volkovs Experimenten daran schuld gewesen. Davor hatte ich Angst! Ich wollte nicht, dass du leidest. Deswegen dachte ich, ich schiebe dich in die richtige Richtung. Hätte ja niemand ahnen können, dass du einfach nur ein Spätzünder bist. Ausgerechnet du! Und ausgerechnet bei Hiwatari gehst du steil!“ Yuriy verdrehte die Augen. Boris mochte recht haben, er hatte selten Interesse an anderen Menschen gezeigt. Aber das lag eher an den Menschen, nicht an seiner Libido. Er war keineswegs ein Spätzünder, er hatte sein Liebesleben nur nie mit den anderen auswerten wollen. Auch mit Boris nicht. Was der nicht wusste, sich aber langsam denken sollte, war, dass Kai bei weitem nicht der Erste für Yuriy war. Wohl aber der erste, mit dem es ihm ernst war. Kai machte etwas mit ihm, etwas, das nicht damit zu erklären war, dass sie sich seit der Kindheit kannten und es Yuriy nicht schwerfiel, an diese Komplizenschaft aus jungen Jahren anzuknüpfen. Wenn es nur das wäre, könnten sie nichts als Freunde und Teampartner sein. Doch Kai löste in ihm noch ganz andere Gefühle aus. Solche, die deutlich körperlicher waren. Kai musste ihn nur einmal ansehen – aus diesen dunklen Augen, mit dieser leichten Arroganz – und Yuriys Haut begann zu prickeln. Dass Kai ansonsten so abwehrend auf andere reagierte, machte es umso aufregender. Wann immer Kai sich an ihn presste, mehr Kontakt zwischen ihnen forderte, fühlte es sich an, als hätte Yuriy etwas Wildes gezähmt. Und wenn Kai in seinen Händen zerfloss, wenn sich seine Muskeln unter Yuriys Lippen anspannten und wieder geschmeidig wurden, dann vergaß er alles. Wirklich alles. Er schaffte es sonst selten, seinen Kopf komplett abzuschalten. „Also schön.“ Ächzend setzte Boris sich auf. „Ich kann dich ja doch nicht davon abhalten, nach Japan zu fliegen. Hast du genug Kondome dabei?“ „Es gibt auch in Japan Kondome…“, antwortete Yuriy und dachte kurz an die Packung, die er vorhin eingesteckt hatte. „Ja, aber die haben doch bestimmt nicht die richtige Größe! Nachher quetschst du dir was ab!“ Yuriy schnaubte. „Es ehrt mich, dass du mich für so gut bestückt hältst“, sagte er. „Aber was auch immer du für Vorstellungen von japanischen Männern hast, meiner Erfahrung nach bestätigen sie sich nicht.“ „Oha. Dann hat Hiwatari doch was vorzuweisen? Ich meine, ich habe ihn nackt gesehen, es war nicht sonderlich beeindruckend…“ „Boris.“ Yuriy lächelte ihn liebenswürdig an. „Halt einfach mal deine Fresse, ja?!“ Yuriy flog über Nacht. Direkt nach der Arbeit fuhr er zum Flughafen, um dann neun Stunden später, am Morgen des dreiundzwanzigsten Dezembers, in Tokio zu landen. Er war so müde, dass er Kai erst bemerkte, als der in der Empfangshalle auf einmal direkt vor ihm stand. Und selbst dann kam er ihm vor wie eine Halluzination. Doch Kai schien es genauso zu gehen, denn für einen Moment blieb er stumm und sah ihn nur an. „Du bist hier”, stellte er dann fest. Diese Worte ließen auch Yuriy realisieren, wo er sich befand. Am anderen Ende der Welt, ja, aber weniger als dreißig Zentimeter von Kai entfernt. „Kaum zu glauben, oder?“, scherzte er, und endlich lächelte Kai. Er griff nach Yuriys Koffer und nickte in Richtung des Ausgangs. „Das Auto wartet.“ Das Auto hatte getönte Scheiben und wurde von einem eigenen Fahrer gelenkt, der, laut Kai, kein Wort Russisch verstand. Das machte die Situation wesentlich leichter. Sie waren noch nicht lange unterwegs, als Yuriy spürte, wie Kai die Hand über die mit Leder bezogenen Sitzpolster gleiten ließ und nach seiner griff. Er drückte sie kurz und drehte den Kopf, um Kai anzusehen. Am liebsten hätte er sich zu ihm gebeugt und ihn geküsst, aber er ahnte, dass das in Anwesenheit anderer Leute gerade nicht drin war. Er war sich nicht einmal sicher, wer in Kais Umfeld überhaupt von ihnen wusste. „Ich werde also ernsthaft deine Mutter kennenlernen?“, fragte er. „Ja, aber nicht heute“, sagte Kai. „Sie hat ein Date und bleibt über Nacht in Tokio. Soichiro ist auch nicht da, wenn das deine nächste Frage ist.“ Yuriy atmete auf. Er wusste nicht, wie er auf Kais Großvater reagieren würde. Die alte Angst vor ihm war nie ganz verschwunden. Andererseits bereitete es ihm Genugtuung, dass Kai und er trotz allem zusammengefunden hatten. „Ich habe aber noch eine schlechte Nachricht“, fuhr Kai fort. „Ich – also, wir – sind zu einem Weihnachtsessen eingeladen. Mit Takao und Hiromi. Das hat sich irgendwie in den letzten Jahren so ergeben. Also, ich meine, wir machen das jedes Jahr.“ „Ich sehe daran nichts Schlechtes“, stellte Yuriy fest. „Wissen sie denn Bescheid?“ „Über uns?“ Kai lachte. „Nein.“ „Oh.“ Na, das würde noch spannend werden. Der Fahrer ließ sie vor dem Eingang eines großen Herrenhauses aussteigen. Yuriy war auf diesen Anblick vorbereitet. Kai hatte ihm über die Zeit viele Einblicke in seinen Alltag gegeben. Hätte er vorher nicht gewusst, was ihn hier erwartete, wäre er genau jetzt umgekehrt und auf direktem Weg zurück nach Moskau geflogen. So aber betrat Yuriy das Haus und sah sich neugierig um. Es war still. Ihre Schritte halten nur deswegen nicht, weil der Marmorboden mit Teppichen belegt war. „Ist sonst noch jemand hier?“, fragte er. „Nein“, sagte Kai hinter ihm. „Wir sind allein.“ Yuriy drehte sich zu ihm um, und ihre Blicke begegneten sich. Mit einem Mal wurde ihm bewusst, wie viele Details er in Kais Gesicht ausmachen konnte, die er während ihrer Telefonate nicht sah. Seine Augen sahen auf dem Computerbildschirm immer schwarz aus, waren aber eigentlich dunkelbraun. Und sein Mund… Yuriy brachte den Gedanken über Kais Mund nicht zu Ende, denn in diesem Moment lösten sie sich gleichzeitig aus ihrer Starre und stürzten aufeinander zu. Yuriy zog Kais Kopf zu sich heran, damit er ihn küssen konnte und spürte schon Sekunden später, wie Kais Hände unter sein Shirt wanderten. Er wurde nach hinten gedrängt, machte einige blinde Schritte, dann zog Kai ihn hinter sich her, ohne ihren Kuss länger als eine Sekunde zu unterbrechen. Das Licht hinter seinen geschlossenen Lidern veränderte sich, und auf einmal fand er sich auf einem weichen Polster sitzend wieder, Kai über ihm, die Beine halb um ihn geschlungen, sein Hals auf genau der richtigen Höhe. Yuriy vergrub das Gesicht in seinem Kragen und hielt ihn an der Hüfte fest, damit er ja nicht auf die Idee kam, wieder von ihm abzurücken. Kai seufzte sehr nah an seinem Ohr, und der Laut schoss direkt in Yuriys Unterleib. Es tat gut, ihn wieder ungefiltert zu hören, ohne die unvermeidliche Verzerrung durch die Technik, seinen warmen Atem auf der Haut zu spüren. Yuriys Hände wanderten auf Kais Hintern, dann seinen Rücken hinauf, streiften dabei sein Shirt ab. Dann war da nur noch das Gefühl von seiner warmen Haut, von den sich anspannenden Muskeln. Er biss ihm in die Halsbeuge, nur, um ihm noch ein paar halb erstickte Geräusche zu entlocken. Kais Hände nestelten an seinem Gürtel und Yuriy reckte sich ihnen entgegen. Er sog scharf die Luft ein, als Kai seinem stummen Wunsch nachkam und fest über seinen Schritt strich. Kais Mund presste sich wieder auf seinen, weich und warm und bestimmt. Es war ein chaotischer, wilder Kuss, in den sie beide hineinstöhnten. Dann sprang Kai plötzlich auf, jedoch nur, um seine Jeans auszuziehen. Yuriy schnappte nach Luft, sein Blick hing kurz an Kais Oberkörper, an den Konturen, die sich unter seinen engen Shorts abzeichneten, und wanderte weiter durch den Raum, den er zum ersten Mal bewusst wahrnahm. Sie befanden sich in einem Wohnzimmer, auf einer ausladenden Sofalandschaft. Es gab keinen Fernseher, wohl aber einen Kamin. Gemusterte Tapete, Stuck an der Decke, Gemälde an den Wänden. Massivholz, Marmor, schwere Stoffe, goldene Details. Fuck, war das geil. Viel besser als Yuriys knarzendes Bettgestell. „Alles okay?“, fragte Kai, der wohl seinen Blick bemerkt hatte. Seine Wangen waren gerötet, sein Haar komplett zerwühlt. Yuriy konnte den Duft seiner Kleidung und seiner Haut immer noch an sich riechen. Nach so langer Zeit, in denen er nur auf das Sehen und Hören angewiesen war, überwältigten diese Eindrücke ihn fast. „Ja“, sagte er und hob das Becken an, um seine eigene Hose abzustreifen. „Komm her!“ Kai tat, wie ihm geheißen, und für die nächsten Minuten verschwamm Yuriys Wahrnehmung zu bunten Schlieren. Alles war unglaublich weich, die teuren Polster, Kais Haut, seine Lippen. Seine Hand zwängte sich zwischen ihre Körper, griff zu, und Yuriy stöhnte laut auf, warf den Kopf in den Nacken, kurz wurde die Zimmerdecke scharf, dann rollte er sich herum, zwängte Kai unter sich ein, der sich nur noch stärker gegen ihn bewegte und Geräusche von sich gab, die alle Gedanken in Yuriys Kopf auslöschen. Da waren nur noch Kais kürzer werdende, gepresste Atemzüge und das Brennen in seinem Körper, das immer mehr und mehr verlangte. Und dann, endlich – Erlösung, in einer Intensität, die er nicht erreichte, wenn er allein war. Die er vor Kai überhaupt nur sehr selten gespürt hatte. Yuriy schloss die Augen und ließ sich davontragen, bis die letzten Wellen in ihm verebbten. Erst dann konnte er wieder klar denken. Kai wand sich ein wenig unter ihm, und seine Berührungen schickten versprengte Vibrationen durch seinen Körper. Alles an ihm fühlte sich um ein Vielfaches sensibler an als sonst. „Yuriy…“, bat Kai leise, und er verstand. Er küsste ihn, schob die Hand zwischen seine Beine, und nur wenig später spannten sich Kais Muskeln ein letztes Mal an. Seine Hände krallten sich fast schmerzhaft in Yuriys Arme. Er konnte spüren, wie ein Schauer durch den Körper unter ihm lief, bevor Kai sich gegen ihn stemmte, damit er sich von ihm herunterrollte. Dann lagen sie schwer atmend nebeneinander, Taubheit im Kopf. „Willkommen in Japan“, sagte Kai. Yuriy lachte heiser. „Wie viele Zimmer hat dieses Haus?”, fragte er. „Zehn oder fünfzehn, glaube ich. Die Bäder nicht mitgerechnet.” „Das ist vielleicht zu schaffen.” „Was ist zu schaffen?” Er grinste. „Es in jedem Zimmer mindestens einmal zu treiben.” Kai lachte ungläubig, aber er wirkte nicht so, als wäre er komplett gegen diese Idee. „Das fängt schon wieder so an wie im Sommer“, stellte er fest. Yuriy brummte bestätigend. Er hob den Arm, um nachlässig Kais Schulter zu streicheln. Kai wandte ihm den Kopf zu. Für eine ganze Weile sahen sie sich in die Augen, und Yuriy wusste nicht, ob das Brodeln in seinem Bauch seine erneut aufflammende Libido war oder doch etwas tiefgründigeres. Es war eine verdammt gute Entscheidung gewesen, hierher zu kommen. Am nächsten Morgen fühlte Yuriys Körper sich komplett zerschunden an. Er war sich nicht ganz sicher, ob es am Flug lag (denn Flugzeugsitze waren nicht für Personen mit seiner Größe gemacht) oder an der Tatsache, dass Kai und er quasi zwanzig Stunden lang die Hände (und sämtliche andere Glieder) nicht voneinander hatten lassen können. Jetzt lag er in Kais Bett im zweiten Stock des Herrenhauses. Kaltes Licht fiel durch das Fenster, schaffte es aber nicht, den Raum vollständig zu erhellen. Es war vollkommen still. Keine Nachbarn, deren Schritte er durch die Decke hörte. Kein Straßenlärm. Nicht einmal Kai gab ein Geräusch von sich, sondern lag regungslos neben ihm und schlief. Yuriy drehte sich auf die Seite, um ihn anzusehen. Er wunderte sich über die Leere in seinem Kopf. Normalerweise war sein Gehirn damit beschäftigt, immer mindestens drei Schritte vorauszudenken. Doch das war hier nicht nötig. Kai hatte die Führung übernommen. Yuriy musste sich nur an ihn halten. Und sich an seiner Anwesenheit erfreuen. Wenn Kai bei ihm war, konnte er besser schlafen. Auch Boris hatte diese beruhigende Wirkung auf ihn, aber ihre Beziehung hatte sich verändert, je älter sie geworden waren. Boris war eine stetige Präsenz in seinem Leben, die ihn erdete, ihm Halt gab. Die Berührungen zwischen ihnen waren flüchtig, bestätigend. Es kam jetzt seltener vor, dass Yuriy eine von Boris' bärenhaften Umarmungen bekam. Diese waren durch Kais ersetzt worden, die zwar nicht bärenhaft, aber deswegen nicht weniger fest waren. Die Borgs waren wie ein Rudel Wölfe, sie beschützen sich gegenseitig, aber Kai befand sich außerhalb dieser Dynamik. Kai brauchte nur Yuriy, die anderen nahm er hin. Er gab ihm das Gefühl, dass er ihn mit niemandem teilen musste. Es war ein egoistisches Gefühl, aber nach einem Leben als Wolf unter Wölfen war es schön, etwas zu haben, das nur ihm gehörte. Yuriy wartete eine Weile, beobachtete, wie Kai atmete, doch weder wachte Kai auf noch wurde er selbst wieder schläfrig. Womöglich hatte er einen Jetlag. Irgendwann schlüpfte er aus dem Bett. Die Küche würde er sicher wiederfinden, sie befand sich im Erdgeschoss des weitläufigen Hauses und war sicher nicht zu verfehlen. Und so groß, wie sie war, fand er dort bestimmt auch Tee. Er warf noch einen Blick zurück aufs Bett, doch Kai hatte von der Bewegung neben sich nichts gemerkt. Auf dem Nachttisch neben ihm lag eine eilig aufgerissene Packung Kondome und eine Tube Gleitgel. Yuriy konnte nicht verhindern, dass sich ein selbstgefälliges Lächeln auf seine Lippen schlich. Wenn Kai so fest schlief, hatte er wohl gute Arbeit geleistet. Er zog sich eine Hose und ein Shirt über, dann verließ er leise das Zimmer. Wie schon am Vortag lagen die Flure des Hauses verlassen vor ihm. Hier und da blieb er stehen, um Gemälde zu betrachten. Er kam sich beinahe vor, wie in einem Museum, und war auf einmal froh darüber, dass Kais Zimmer weit weniger protzig war als der Rest des Hauses. Es musste einfach einen Raum geben, in dem er sich von dem Reichtum erholen konnte. Wahrscheinlich war das auch Kais Gedanke gewesen. Schließlich fand er die Küche, allerdings nur, weil die Tür offenstand und er einen Blick auf die Arbeitsfläche aus Granit und die hellen Schrankfronten erhaschte. Die Schubladen und Türen öffneten und schlossen sich lautlos, als er sie nach Tassen durchsuchte. In der Ecke stand ein chromfarbenes Ungetüm von Maschine, das wohl ein Kaffeeautomat war. Er blickte sich langsam um, fragte sich, wo er hier wohl Teebeutel finden würde. „Guten Morgen“, sagte jemand hinter ihm auf Englisch. Yuriy fuhr herum. Im Türrahmen stand eine Frau, klein, modisch kurzes, dunkles Haar. Kais Augen. „Guten Morgen“, sagte er. „Miss Hiwatari?“ „Du kannst mich Misaki nennen.“ Sie hielt ihm die Hand hin, damit er sie schüttelte. Wie europäisch. „Yuriy“, sagte er. „Ich weiß. Als Kai in der Abtei war, durfte ich ihn ein-, zweimal besuchen. Da habe ich dich und die anderen gesehen. Du wirst dich nicht erinnern.“ „Nein“, sagte Yuriy ehrlich. Er wusste nicht recht, was er darauf erwidern sollte. Außerdem war das hier eine neue Situation für ihn: Er stand in Schlabberklamotten und übernächtigt vor der Mutter des Mannes, den er die halbe Nacht… Er musste sich räuspern. Misaki schienen Gedanken dieser Art nicht zu plagen. Sie deutete auf seine Tasse. „Kaffee oder Tee?“ „Tee, bitte.“ Sie nickte, nahm ihm die Tasse ab und machte sich an der Maschine zu schaffen. Mit wachsendem Unglauben sah Yuriy zu, wie sie den Chromrohren heißes Wasser für schwarzen Tee entlockte und danach einen Espresso für sich selbst. Hinter einer der weißen Fronten kam ein Kühlschrank zum Vorschein, aus dem sie Milch und einen Teller mit Zitronenscheiben nahm. Dann wies sie einladend auf die Kücheninsel, damit er sich auf einen der Barhocker setzte. Sie hielten Smalltalk auf Englisch, während sie tranken. Yuriy fand, dass Misaki weit weniger in das Herrenhaus hineinpasste als Kai. Sie war eher der Typ Stadtwohnung: jung (auffallend jung für ein Kind in Kais Alter, aber das war Yuriys eigene Mutter auch), stilsicher (sie trug einen weit geschnittenen Hausanzug aus Leinen, mit dem sie wahrscheinlich auch in einer Boutique nicht aus dem Rahmen gefallen wäre), selbstbewusst. Und unterhaltsam. Yuriy fand es erstaunlich leicht, mit ihr zu reden, auch wenn es ihn jedes Mal verwirrte, wenn er etwas an ihr bemerkte, dass er genauso von Kai kannte: ein Lächeln, eine Kopfbewegung, ein Blick. Er fragte sich, warum Kai so wenig von seiner Mutter sprach, wenn es doch offensichtlich war, welchen Einfluss sie auf ihn hatte. Vielleicht hatten sie beide, Misaki und Kai, seine Jahre in der Abtei noch nicht überwunden. Es war eine Sache, die Abtei im Gespräch zu erwähnen, als wäre nichts dabei. Eine andere, sich wirklich auszusöhnen. Kai, so viel wusste Yuriy, war noch immer tief verletzt von dem, was seine Familie ihm angetan hatte. Misaki musste es ähnlich gehen. Auch sie hatte das alles nicht gewollt. Sie konnte es nur jetzt besser machen. Yuriy respektierte das. Er war nicht in einer Position, den Hiwataris Vorwürfe zu machen. Die Beziehung zu seiner eigenen Mutter war noch immer mehr als holprig. „Also“, sagte Misaki auf einmal und fixierte ihn mit einem Blick, der gleichzeitig freundlich und intensiv war. „Wie lange läuft das mit Kai und dir denn schon?“ Oh Gott. Kai hatte ihm eingeschärft, dass er ihm das Reden überlassen sollte, wenn jemand solche Fragen stellte, aber jetzt war Kai nicht da. Und Misaki sollte doch noch gar nichts von ihnen wissen! „Ich glaube, das verstehst du falsch“, versuchte er es. „Kai und ich, wir sind nicht…“ „Yuriy.“ Ihr Ton war zum ersten Mal wirklich mütterlich. Es passte irgendwie gar nicht zu ihr. „Ich kenne meinen Sohn. Ich weiß, wann er verliebt ist, auch wenn er nie etwas sagt, geschweige denn mir jemals jemanden vorgestellt hat.“ Sie lächelte. „Denkst du, ich habe mir nichts dabei gedacht, als er auf einmal nach Russland durchgebrannt ist? Seitdem ist er immer müde, als wäre er die halbe Nacht wach. Hängt ständig an seinem Handy. Und dann lädt er dich hierher ein. Hierher! Kai hat noch nie jemanden hier übernachten lassen, nicht einmal Takao.“ Sie zog vielsagend die Augenbrauen hoch und trank einen Schluck aus ihrer Tasse. Yuriy seufzte. Dann war ja alles klar. Es war Kais eigene Schuld, wenn er den Mund nicht aufbekam. Da Misaki sowieso schon alles wusste, musste er jetzt zumindest keine Lügen mehr auftischen. „Es hat eigentlich schon beim letzten Turnier angefangen”, sagte er. Jedenfalls war das der Zeitpunkt gewesen, an dem er sich getraut hatte, selbst etwas zu initiieren. „Kai hätte niemals den ersten Schritt gemacht. Nicht bei mir.” „Sag bloß?!” Misaki lachte. „Mein Sohn? Schüchtern?” „So klein mit Hut”, sagte Yuriy grinsend und deutete die Größe zwischen Daumen und Zeigefinger an. „Es hat mich auch ein wenig gewundert. Er wusste, dass ich auch auf Männer stehe. Aber vielleicht dachte er, dass ich nur freundschaftliche Gefühle für ihn habe.” Kais Talent, die Wahrheit nicht einmal dann zu erkennen, wenn sie ihm ins Gesicht sprang, nur, weil er sie selbst nicht akzeptieren wollte, war wirklich unglaublich. Yuriy war richtiggehend die Wände hochgegangen, bevor er seinen Move gewagt hatte. Er hatte quasi nichts mehr von dem gehört, was Kai zu ihm gesagt hatte, weil er zu beschäftigt damit gewesen war, ihm auf den Mund zu starren. Und Boris hatte ihn mehr als einmal daran erinnern müssen, dass er Kais Hintern nicht allzu offensichtlich auschecken sollte, wenn er wollte, dass ihn die Leute weiterhin ernst nahmen. Kai mit seinen Gefühlen zu konfrontieren war zwangsläufig der einzige Ausweg gewesen. Ansonsten hätten sie das Turnier und Yuriy seinen Verstand verloren. Er war nicht gut darin, seinen Emotionen Ausdruck zu verleihen, und Kai war weiß Gott nicht gut darin, angemessen auf ein Liebesgeständnis zu reagieren. Yuriy hatte ernsthaft mit einer Faust in seinem Gesicht gerechnet. Doch die Hände hatten an seinem Kragen Halt gemacht, hatten ihn heruntergezogen, und alles, was in seinem Gesicht gelandet war, waren Kais Lippen gewesen. „Lästert ihr über mich?” Yuriy hob den Kopf. Kai war in der Küche aufgetaucht. Er hatte sich nicht die Mühe gemacht, seine Haare zu richten, und trug ebenfalls nur Sweatpants und einen weiten Pullover. Er schlurfte zu Misaki, um ihr einen Wangenkuss zu geben, und dann weiter zur Kaffeemaschine. Während diese zu zischen begann, grinsten Misaki und Yuriy sich noch einmal verschwörerisch an. „Sollen wir heute Abend zusammen essen?”, sagte Misaki laut. „Ich könnte Sushi mitbringen.” Kai blickte über die Schulter zurück zu ihnen. Sein Blick wanderte von Yuriy zu seiner Mutter, dann nickte er. „Okay, meinetwegen.” Eine Woche war viel zu wenig Zeit. Das wurde Yuriy schmerzlich bewusst, als er bemerkte, wie schön es war, neben Kai aufzuwachen. Auch das war vorher nicht so gewesen. In Anwesenheit seines Teams hatte es sich komisch angefühlt, mit Kai allein zu sein. Weil Kai in seiner Welt ein Fremdkörper gewesen war. Hier aber sahen sie, abgesehen von Misaki, für zwei, drei Tage keine andere Menschenseele. „Verbringst du eigentlich viel Zeit allein?”, fragte Yuriy. Er stand vor dem goldgerahmten Spiegel im Badezimmer und knöpfte sein Hemd zu, während Kai sich noch die Zähne putzte. Sie würden gleich Takao und Hiromi für das Weihnachtsessen treffen. Kai beugte sich vor und spülte den Mund aus, bevor er antwortete. „Ich brauche viel Zeit für mich, vor allem nach der Arbeit bei Hiwatari Enterprises”, sagte er. „Aber normalerweise treffe ich die anderen fast jeden zweiten Tag.” „Heißt das, ich nehme dich ihnen weg?” Kai schmunzelte. „Sie haben tatsächlich schon gefragt, was wir die ganze Zeit machen”, antwortete er. „Aber wenn ich ihnen das mit uns heute erkläre, werden sie es verstehen.” Sie sagten immer: Das mit uns. Nie: Wir sind zusammen. Oder: Er ist mein Freund. Dabei benutzten sie sogar schon Kosenamen, manchmal jedenfalls, und eigentlich immer halb im Scherz. Aber sie benutzten sie. Dennoch wusste Yuriy nicht, ob er Kai als seinen Freund bezeichnen wollte. Das Wort kam mit so vielen Erwartungen und Verpflichtungen, die nur schwer einzuhalten waren, wenn sie tausende Kilometer voneinander getrennt waren. Er dachte öfter daran, dass Kai jemand anderes finden könnte. Nie umgekehrt. „Sollen wir los?”, fragte Kai in diesem Moment. Er sah ihn aufmerksam an, in der Frage steckte mehr als er sagte. „Ja”, antwortete Yuriy. „Ja, lass uns gehen.” Yuriy hatte Takao noch nie ohne sein Cappi gesehen. Das fiel ihm erst auf, als der andere mit unbedecktem Kopf erschien. Andererseits waren sie sich auch noch nie außerhalb der Turniere begegnet. Wahrscheinlich war er in seinem blauen Hemd ein genauso ungewohnter Anblick. Wenn dem so war, so ließen weder Takao noch Hiromi es sich anmerken. Beide strahlten ihn an, als hätten sie sich nicht vor mehr als einem Jahr, sondern erst gestern gesehen. „So schön, dich zu sehen, Mann!”, sagte Takao, der dabei sehr nach Max klang, und legte ihm kurz die Hand auf den Arm. Hiromi schien nicht erpicht auf Berührungen, also wahrten sie Abstand, was aber die Herzlichkeit, die Yuriy entgegenschlug, nicht abmilderte. Anschließend drängte Kai sie, das Restaurant zu betreten. Es war eines von denen, in denen Grillplatten in die Tische eingelassen waren. Der Raum war voll, beinahe alle Plätze waren belegt. Rauchschwaden hingen in der Luft, bevor sie von großen Lüftungstrichtern eingesogen wurden. Es roch nach gebratenem Fleisch. Sie wurden an einen kleinen Tisch im hinteren Teil des Restaurants geführt. Hiromi warf einen kurzen Blick auf die Karte und schlug dann vor, einfach eine Auswahl zu bestellen, damit sie nicht lange überlegen mussten. Dazu orderten sie Bier und Sake. Erst nach dem Anstoßen, als sich die erste Aufregung legte und Yuriy seine Umgebung genauer betrachtete, bemerkte er die Weihnachtsdekoration. Hier und da waren Girlanden um die Möbel gewickelt. An den Fenstern hingen kleine Abziehbildchen von kugelrunden Weihnachtsmännern. Und im Hintergrund dudelte Weihnachtsmusik. „Ich wusste nicht, dass Weihnachten hier so eine große Sache ist”, stellte er fest. „Viele finden es total romantisch”, erklärte Hiromi. „Es ist hier weniger ein Familienfest, sondern ein guter Grund, auf Dates zu gehen.” Ihre Augen wanderten kurz von Yuriy zu Kai, doch dieser verzog keine Miene. Yuriy konnte nicht verhindern, dass seine Augenbrauen nach oben zuckten. Was für ein Spiel trieb Kai hier? Es wäre alles einfacher, wenn er einfach die Fakten auf den Tisch legen würde. Aber wie immer schien es, als hätte er seine Zunge verschluckt. Yuriy war erstaunt darüber, wie Hiromi, Takao und Kai miteinander umgingen. Takao riss das Gespräch an sich, doch er sorgte regelmäßig dafür, dass Kai sich beteiligte und nicht die ganze Zeit schweigend in seiner Ecke saß. Hiromi stand Takao in Sachen Redseligkeit in nichts nach, aber sie hatte zusätzlich das Talent, die Menschen aus der Reserve zu locken. Yuriy erwischte sich dabei, wie er ihr, ohne groß darüber nachzudenken, von seinem Job, dem Studium und dem Zusammenleben mit seinem Team erzählte. Er fühlte sich wohl in dieser Gesellschaft. Und es war schön, zu sehen, dass auch Kai Menschen um sich hatte, die ein bisschen auf ihn Acht gaben. Nach dem ersten Bier und zwei Gläsern Sake lockerte sich die Stimmung merklich. Yuriy spürte, wie Kai sich zumindest körperlich entspannte. Da sie zu zweit auf der schmalen Bank saßen, berührten sich ihre Arme. Haltversprechend. Ab und an warf er ihm kurze Blicke zu, und manchmal erwiderte Kai sie. Mit der Zeit wurde das Lächeln, das er ihm schenkte, weniger verkrampft. Als Takao zur Toilette ging und Hiromi sich kurz entschuldigte, weil sie ein paar anscheinend sehr wichtige Nachrichten in irgendwelchen Chats schreiben musste, lehnte Kai sich zurück und seufzte. „Ich brauche viel mehr Sake, um dieses Essen zu überstehen”, murmelte er auf Russisch. In diesem Moment begriff Yuriy, was los war. Kai war nervös. Er wollte Takao und Hiromi von ihrer Beziehung erzählen, aber er wusste nicht, wie. Natürlich wusste er das nicht. Er war Kai, er konnte nicht aus seiner Haut. Yuriy sah kurz zu Hiromi, doch diese schien noch immer vertieft in ihren Chat zu sein. Unauffällig ließ er seine Hand über das Sitzpolster wandern und drückte kurz Kais Oberschenkel. Kai hob den Blick und sah ihn dankbar an, dann setzte er sich wieder gerade hin. „Ich werde auch mal kurz auf die Toilette gehen”, verkündete er und erhob sich. Yuriy blickte ihm nach, beobachtete, wie er verhalten seine Hände an der Hose abwischte. Sobald Kai verschwunden war, legte Hiromi das Handy zur Seite. „Okay, Yuriy, raus mit der Sprache”, sagte sie, und ihr Ton war weit weniger hell als noch vor ein paar Minuten. Das hier war keine höfliche Konversation, das hier war eine knallharte Befragung. Yuriy verschränkte die Hände auf dem Tisch. „Du weißt, dass Kai furchtbar verknallt in dich ist, oder?”, sagte Hiromi. Für eine Sekunde rührte Yuriy sich nicht, dann musste er lachen. „Hat er das so gesagt?”, fragte er. „Nein, aber come on, das sieht jeder, der ihn auch nur ein bisschen kennt.” Hiromi musterte ihn. „Und dich scheint es ja auch nicht zu überraschen.” Yuriy ließ den Blick über ihren Kopf hinweg wandern. Von Kai und Takao fehlte noch immer jede Spur. „Das überrascht mich nicht”, sagte er. „Und zwar, weil ich auch furchtbar verknallt in Kai bin. Und das weiß er längst.” Hiromi warf beide Hände in die Luft. „Danke für dieses Weihnachtswunder!”, sagte sie sehr theatralisch zum Lüfter über ihrem Tisch. „Takao und ich dachten schon, dass wir hier noch eine Verkupplungsaktion starten müssen!” „Wie hätte die denn ausgesehen?” „Oh, keine Ahnung! Takao war dafür, euch so lange einzusperren, bis Kai den Mund aufmacht. Meine Ideen waren etwas, hm, komplexer.” Sie griff nach ihrem Sakebecher, prostete ihm kurz zu und stürzte den Alkohol herunter. „Ich meine, wir wussten ja noch nicht, ob du Kais Gefühle überhaupt erwiderst, aber da du schon mal hier aufgetaucht bist, gab es eine reelle Chance… Naja, das hat sich ja jetzt geklärt.” Yuriy grinste. „Und gehe ich richtig in der Annahme, dass Kai und Takao gerade eine ähnliche Konversation auf der Toilette führen?”, fragte er. „Ja, aber natürlich viel männlicher”, sagte Hiromi. „Ich habe Takao eingeschärft, dass er Kai bloß nicht in die Ecke drängen soll, aber naja… Du kennst ihn.” Yuriy wusste nicht so genau, ob Hiromi Kai oder Takao mit dem letzten Satz meinte, aber beides funktionierte irgendwie. Nun war er aber gespannt, in welcher Stimmung Kai sein würde, wenn er wieder zurückkam. Er musste nicht lange warten. Takao und Kai tauchten gemeinsam wieder auf, und so, wie Takao ihn angrinste, wusste Yuriy, dass er Kai ein Geständnis hatte entlocken können. Kai hingegen wirkte, als wäre er gerade einen Marathon gelaufen. Er ließ sich neben ihn auf die Bank fallen und atmete tief aus. „Tut mir leid, dass ihr so lange warten musstet”, sagte er. Hiromi hob nur die Schultern und mimte Takaos Grinsen, und Yuriy legte wie beiläufig den Arm um Kai, damit er ihn ein wenig an sich drücken konnte. Erst jetzt fiel ihm auf, wie schön das war. Und wie viel Kraft es kostete, auf die Berührungen, die schon so normal zwischen ihnen geworden waren, zu verzichten. „Kai, was hab ich gesagt?” Takao blickte ihn tadelnd an. „Entspannen, das hab ich gesagt. Ich bestell noch mehr Sake, dann klappt das heute vielleicht noch…” Er sah sich nach dem Kellner um. Yuriy spürte, wie kleine Zuckungen durch Kais Körper liefen. Verwundert sah er ihn an, doch dieses Mal erwiderte Kai seinen Blick nicht. Stattdessen vergrub er ganz leicht das Gesicht an seiner Schulter, um sein Lachen zu ersticken. BeyBaes 12:33 Mao: Ich erbitte Updates. Rei sagt, er glaubt es erst, wenn er es sieht. Hiromi: Ich mache ein Foto, wenn sie sich küssen. Emily: Und ich denke immer noch, dass das nur eine Männerfreundschaft ist, die einfach ein paar komische Ausmaße hat. Hiromi: Ja, aber auch nur, weil du nicht jeden Tag siehst, was für ein Hot Mess™ Kai ist! 19:30 Hiromi: Alles klar, Mädels, Mission „Vollpfosten” startet jetzt! Mao: !!!!! Julia: Ich habe Popcorn. 19:45 Hiromi: Yuriy steht auf Kai. Definitiv. Die Blicke!! Mao: !!!!!!!! 19:55 Julia: Ich versuche hier, einen Weihnachtsfilm zu gucken, aber ich muss immer wieder aufs Handy gucken, weil ich Updates will! Wie läuft es?? Mao: Rei chattet mit Max. Max sagt, Kai steht auf Yuriy. Rei ist sehr verwirrt. Julia: Der Arme Mathilda: Was hab ich verpasst???? Mao: Kai und Yuriy! Mathilda: Oooh, gibt’s was Neues? 20:10 Hiromi: Omg! Mao: Was? Mathilda: Was? Julia: Was? Emily: Was? 20:15 Hiromi: Yuriy hat ohne Scheiß gerade die Hand auf Kais Bein gelegt. Sie denken, ich merke nichts, weil ich so tue, als würde ich mit euch chatten. Mao: xDDDDD Mathilda: Ich würd so gern zusammen mit dir Mäuschen spielen. Julia: Yuriy kann auch gern die Hand auf mein Bein legen, wenn ihr versteht, was ich meine. Er kann Kai mitbringen. The more the merrier. Emily: Julia! 20:20 Hiromi: Okay, Kai und Takao sind auf dem Klo, ich frage Yuriy jetzt einfach. Er wird mich nicht umbringen, oder? Julia: Glaube, der beißt nur, wenn du lieb fragst :3 Mathilda: Geh weg, Julia! xD 20:30 Hiromi: CONFIRMED! Mathilda: AAAAAAAAAAAYYYYYYYYYYYYYY!!!!!!! Mao: Ich hab somit die Wette gegen Rei gewonnen! Einen Monat Eis umsonst!!! Emily: I stand corrected. Hut ab vor unserer Undercover-Agentin Hiromi! Hiromi: Danke, danke, das wäre doch nicht nötig gewesen… Ich trinke jetzt einen Sake auf meinen Erfolg. Bis später! Hiromi out! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)