DestROYed von Platan (Side Stories: Roy) ================================================================================ Kapitel 2: [Jahr 3] Champ zu sein ist wohl kein Zuckerschlecken --------------------------------------------------------------- Hey. Sorry, wegen vorhin. Ich war idiotisch und kindisch. Manchmal hat man das schon mal … Im Ernst, vergiss, was ich gesagt habe. Das ist ein Sumpf, den du nicht erleben willst. Lass uns ein Eis essen gehen und wieder Spaß haben. Ist doch schließlich sowas wie dein Motto, oder? Das mit dem Spaß? Okay, schreib mir einfach, wann du Zeit hast. Bis dann! Oh, und: Du warst heute auch verdammt gut. Kleine Kampfmaschine! >:3 So lautete die Textnachricht, die von Roy an Raelene verschickt worden war. Am Abend des Tages, als er es mächtig verbockt hatte. Zu seiner Erleichterung kam die Einwilligung ihrerseits überraschend schnell, weshalb er sich bereits drei Tage später am äußeren Rand von Claw City am vereinbarten Treffpunkt aufhielt. Roy stand vor den Toren der Schatzkammer, wo er nun schon lange auf seine Verabredung wartete. Natürlich war er viel zu früh vor Ort gewesen, inzwischen verspätete Raelene sich aber mehr und mehr. Er hatte ihr vorgeschlagen, dass er ihr seinen Lieblingsladen in Sachen Eis zeigen könnte. In Claw City, deshalb hatte er den kürzeren Weg. Bei dem Champ sah es anders aus, womöglich war sie aus dem Grund spät dran. Leider fand gerade kein Pokémon-Kampf auf dem Platz gegenüber statt, dem er solange beiwohnen könnte. In diesem Moment wurde ihm wieder bewusst, wie froh er war, stets einen Zugang zu Social Media bei sich zu haben. Während Roy geduldig auf Raelene wartete, tippte er daher auf seinem Smart-Rotom herum. Für die meisten Leute in Claw City war er nämlich schon ein vertrauter Anblick, also musste er sich größtenteils anderweitig beschäftigen. Kamen doch mal einige Fans begeistert auf ihn zu, kaum dass sie ihn entdeckten, schenkte er ihnen natürlich sofort seine ganze Aufmerksamkeit. Da er oft in demselben Outfit herumlief, war es für seine Anhänger nie sonderlich schwer, ihn zu erkennen. Warum sollte er sich, so wie Kate, die Mühe machen und etwas komplett anderes als sonst anziehen, nur um in der Öffentlichkeit untertauchen zu können? Roy wollte erkannt werden – sofern er nicht gerade einen schwachen Moment durchlebte. Gerade ahmte ein kleiner Junge seine Kampfpose nach, während Roy hinter ihm mitmachte und sie ein Foto davon schossen. Dafür nutzten sie natürlich das Handy des Kindes, doch Rotom machte jedes Mal auch einige Aufnahmen. Zum einen als Erinnerung für Roy, zum anderen falls das Foto auf den Geräten seiner Fans nichts geworden war. In dem Fall ließ er ihnen hinterher über Social Media nochmal eine anständige Version zukommen. „Das ist so cool~“, hauchte der Kleine, voller Bewunderung für Roy. Anscheinend war das Foto auf seinem Handy gelungen. „Vielen, vielen, vielen, Dank, Mister Roy!“ „Nenn mich einfach nur Roy.“ Sanft tätschelte er den Kopf des Jungen, wobei er breit grinste. „Schließlich sind wir doch jetzt Freunde~.“ Unzählige Sterne schienen in den großen Augen aufzuleuchten. „Echt? Ganz wirklich?“ „Echt-wirklich! Und ich freunde mich nur mit Leuten an, in denen eine Menge Potenzial steckt.“ „... Was steckt in mir?“ Lachend zwinkerte Roy ihm zu. „Das heißt, du hast es drauf. Also streng dich an, damit wir beim nächsten Mal unsere Pokémon gegeneinander kämpfen lassen können.“ „Ja!“, rief der Junge glücklich und hüpfte auf der Stelle. „Ja, ja, ja! Ich werde mir ganz doll Mühe geben, Roy! Danke!“ Mit diesen Worten verabschiedete das Kind sich und rannte freudestrahlend zu seinen Eltern zurück, die beinahe genauso zufrieden wirkten. Dankbar nickten sie Roy zu, bevor sie ihren Sohn jeweils an eine Hand nahmen und weitergingen. Lächelnd folgte er ihnen mit seinem Blick, konzentrierte sich bald aber wieder auf sein Smart-Rotom. Jedes Mal, wenn er Kindern eine solche Freude machen konnte, musste er an die Zeit zurückdenken, als er noch so klein gewesen war. Was hätte er damals dafür gegeben, nur ein bisschen Aufmerksamkeit von einem beliebten Idol zu bekommen? Nur eine kleine Unterhaltung wie gerade eben konnte schon das Leben einer Person verändern und in eine positive Richtung lenken. So etwas hätte Roy auch gerne erlebt. Dadurch wäre einiges leichter und vor allem erträglicher geworden … Das Surren von Rotom lenkte ihn ab, bevor er zu tief in die Vergangenheit abdriften konnte, wofür Roy ihm dankte. Eigentlich dachte er nicht gerne an seine Kindheit zurück, denn das spielte alles keine Rolle mehr. Inzwischen war er jemand, der anderen das geben konnte, was er niemals erlebt hatte. Deswegen nahm er sich stets Zeit für seine Fans, besonders für die jungen. Selbst wenn sie am Ende nicht als Challenger bei ihm ankämen, konnte Roy hoffentlich dafür Sorgen, dass sie etwas mehr an sich selbst glaubten. „Na, wo bleibt denn unser Champ?“, murmelte Roy vor sich hin und hob den Kopf. „Will sie mich als Strafe in der Sonne verbrutzeln lassen?“ Es war einer dieser Herbsttage, die sich noch an den Sommer klammerten. Eigentlich war es viel zu warm, um mit einer Jacke draußen herumzulaufen, doch Roy würde sein Schutzschild garantiert nicht ablegen. Wer sich mehrmals erbitterte Kämpfe mit Delion geliefert hatte, dem machte Hitze hinterher sowieso nicht mehr allzu viel aus. Im Schein der Sonne wirkten die dunklen Fassaden der Gebäude in Claw City noch majestätischer und somit geheimnisvoller. Leider hatten die meisten Leute keinen Blick dafür, weil sie beschäftigt waren, sei es mit Arbeit oder anderen Dingen. Daher zogen sie wie ein rauschender Fluss an der Schönheit vorbei, von der sie umgeben waren. Wirklich schade. „Ich glaube nicht, dass Drachen sich so leicht verbrutzeln lassen“, ertönte plötzlich eine Mädchenstimme neben ihm. Ohne den Blick vom Himmel zu lösen, wusste Roy, wer endlich eingetroffen war. „Wäre das etwa sonst eine Option, die du in Erwägung ziehst?“ „Weiß nicht“, erwiderte sie, verdächtig monoton. „Würde vermutlich zu dem Bild passen, das einige von mir haben.“ Stirnrunzelnd senkte Roy den Kopf wieder, um sie anzuschauen. „Was soll das denn hei-“ Die Worte blieben ihm Hals stecken. Auch Rotom erstarrte. Vom Gesicht her war es zwar Raelene, die neben ihm stand, doch der gesamte Rest hatte sich verändert. Bei ihrem letzten Treffen waren ihre Haare noch lang gewesen, nun waren sie kurz, reichten ihr nicht mal mehr bis zur Schulter. Und ihr Kleidungsstil war so … rebellisch. Irgendwie sah sie ein wenig wie eine kleiner Punkerin aus. Sicher, Raelene war von Natur aus eher der sportliche Typ. Abgesehen von einigen speziellen Werbepostern hatte Roy sie noch nie in mädchenhafter Kleidung gesehen. Trotzdem war die Richtung, die sie auf einmal eingeschlagen hatte, etwas erschreckend. Ein deutlicher Stilbruch, verglichen mit ihrem bisherigen Auftreten. Als wäre das nicht schon genug, trug sie diese Stiefel mit unverschämt hohen Plateausohlen, mit denen sie ein gutes Stück größer war als vorher. Noch dazu dieser auffallend ernste und kämpferische Gesichtsausdruck … Scheiße, was ist in den letzten paar Tagen mit dir passiert? Überfordert griff Roy nach seinem Bandana und starrte sie nur schweigend an, was ihr eindeutig nicht gefiel. Ihre Augenbrauen zogen sich zusammen. „Was?“, sagte sie trotzig, und verschränkte die Arme vor der Brust. „Gibt es ein Problem?“ „Tja ...“ Mehr konnte Roy darauf nicht sagen. Wahrscheinlich wäre ohnehin alles falsch, was er von sich geben würde, bezogen auf ihre optische Veränderung. Also blieb er lieber zurückhaltend. Vielmehr bereitete ihm etwas anderes Magenschmerzen. Das Wissen, wer für Raelenes Imagewechsel verantwortlich war – oder zumindest den Anstoß dazu gegeben hatte. Ich habe es wirklich richtig hart verbockt. Hatte seine Nachricht Raelene zu spät erreicht? Oder war sie zu dem Zeitpunkt bereits verloren gewesen? Bestimmt hatte sie im Internet einige Foren besucht und viele schreckliche Dinge über sich gelesen. Soweit er wusste filterte die Liga ihre Fanpost, jedenfalls meinte Delion so etwas mal während einer Unterhaltung in einem Nebensatz. All diese Negativität musste Raelene daher regelrecht überrollt haben. Mehr, als jemand, der bislang nichts mit Hatern oder Trollen zu tun hatte, ertragen konnte. „Eins sag ich dir, mir ist scheißegal, ob dir mein Stil nicht gefällt“, betonte Raelene genervt. „Also leb damit, sonst kann ich auch wieder gehen.“ Scheißegal. Solche Worte aus ihrem Mund zu hören, war … falsch. Mühsam unterdrückte Roy ein Seufzen, weil er sie nicht unnötig reizen wollte. Stattdessen setzte er ein Lächeln auf und winkte ab. „Alles cool, keine Panik! Warum sollte mich irgendwas an dir stören?“ „Ich könnte die Liste jetzt runterrattern“, meinte sie trocken. „Wenigstens hast du mit anderen Kindern keine Probleme.“ Moment, war sie etwa doch schon länger in der Nähe gewesen und hatte Roy beobachtet? Zwischen seinem Verhalten ihr und dem Jungen von eben gegenüber lagen tatsächlich Welten. Erst recht wenn man ihr letztes Gespräch im Stadion bedachte. Falls sie das zufällig mitbekommen hatte, dann gute Nacht. Das konnte er sicher nicht mehr kitten. Nicht ohne … Nein, das geht schon noch. Ich muss dafür nicht mit offenen Karten spielen. Nur eine Sache verwunderte ihn. War Raelene in diesem Aufzug etwa noch nicht in der Öffentlichkeit unterwegs gewesen? Eigentlich hätte das Internet längst mit Fotos von ihr explodieren müssen, es sei denn, sie hatte erst vor wenigen Stunden angefangen sich ein neues Image zuzulegen. Eventuell könnte er also noch etwas retten, bevor zu viele Wind davon bekämen. Lässig klopfte Roy ihr auf die Schulter. „Ich habe auch mit dir kein Problem! Sonst hätte ich dich nicht eingeladen. Komm schon, lass uns heute einen schönen Tag haben~.“ „Mal sehen ...“ Zweifelnd schob sie seine Hand von ihrer Schulter. „Also, wo ist diese bombastische Eisdiele?“ „Nicht weit von hier, wir kommen über ein paar Hintergassen schnell dorthin.“ Schmunzelnd griff er nach seinem Smart-Rotom. „Keine Sorge, ich werde dich auch nicht heimlich umlegen oder so.“ „Ha ha ...“ Einen Erfolg konnte Raelene mit diesem Imagewechsel bereits verbuchen: Vorher war sie Roy wirklich sympathischer gewesen. Diese Offenbarung traf ihn leider zu spät. Dennoch ließ er sich nicht abschrecken und winkte sie mit sich, um ihr den Weg zu zeigen. Mit großen Schritten ging er voran. „Warte! Nicht so schn-“ Mitten im Satz stockte sie und stieß einen Schmerzensschrei aus, der dafür sorgte, dass Roy direkt herumfuhr und fragte, ob alles in Ordnung sei. Offenbar war Raelene gestolpert und lag nun, mit dem Gesicht voraus, auf dem Boden. Zwar sagte Roy es nicht laut, doch in den Stiefeln, die Raelene gerade trug, würde auch er sich sofort den Hals brechen. Anscheinend war sie es noch nicht gewohnt, in ihrem neuen Schuhwerk zu laufen. Roy ging neben ihr in die Hocke und zögerte kurz. „Als ich klein war, bin ich auch ständig hingefallen. Einmal hab ich es geschafft, mir die Nase zu brechen, weil ich gestolpert bin, einfach so. Es lag nicht mal was im Weg. Weißt du, welchen Rat man mir gegeben hat?“ Langsam richtete Raelene sich auf, sichtlich beschämt. „Nein ...“ „Ich soll die Füße richtig hochheben.“ „Das … ist nicht hilfreich.“ „Eben.“ Ihre Augen waren etwas glasig, als sie ihn ratlos ansah. Also steckte Raelene noch irgendwo in ihr, das beruhigte Roy etwas. Im Verlauf des Tages könnte er vielleicht doch ein bisschen was erreichen. Vorerst mussten sie aber zur Eisdiele kommen, möglichst ohne weitere Unfälle. Da es nicht so aussah, als hätte sie sich ernsthaft bei dem Sturz verletzt, könnten sie direkt weitergehen. Also drehte er sich mit dem Rücken zu ihr. „Steig auf~.“ „Was?!“ Empört stieß sie Luft zwischen ihren Lippen aus. „Kommt nicht in Frage!“ „Warum? Was ist bitteschön cooler und epischer, als auf einem waschechten Drachen zu reiten?“ „Ich bin kein kleines Kind mehr!“ „Hey, das hat Delion auch manchmal gesagt, als er in deinem Alter war.“ Nachsichtig lächelte Roy ihr über die Schulter hinweg zu. „Damit hat das aber nichts zu tun.“ „Du … du bist ...“ Krampfhaft suchte Raelene nach Worten, fand jedoch keine, was sie sauer machte. „Du bist blöd! Ich hasse dich!“   ***   Aurora war eine extrem beliebte Kette in Galar, die damit warb, königlich köstliche Eiscreme anzubieten. Auf jeden Fall bei dem Laden, den Roy mit Raelene aufsuchen wollte, hielten sie dieses Versprechen. Obendrein boten sie ihren Kunden regelmäßig gute Unterhaltung, indem sie das Eis vor den Augen der Kunden von Pokémon zubereiten ließen. Wenn ein Snibunna mit seinen scharfen Krallen flink alles auf die richtige Größe brachte, war das schon ein riesiges Highlight. Hin und wieder kamen auch Galar-Flampivians zu den einzelnen Tischen und boten den Gästen an, sich aus dem Schneeball auf ihrem Kopf kostenlos eine zusätzliche Leckerei zu suchen. Ein Pantifrost führte zusammen mit einigen Galar-Pantimos nebenbei kleine Kunststücke auf oder tanzten einfach nur. Langweilig wurde einem bei Aurora also so schnell nicht. Das allerbeste an dem bunten Angebot des Ladens war ein ganz bestimmtes, bei dem viele schwach wurden: Eiscreme in Form eines Seemops, wahlweise auch Galar-Flampion oder Quiekel. Wie sollte man da nicht schwach werden? Sogar Roy hatte öffentlich schon mehrmals zugegeben, wie niedlich diese Eis-Sorten einfach waren. Noch dazu schmeckten sie wirklich gut und die Preise waren unerwartet günstig. Roy hatte Raelene bis zur Eisdiele getragen. Das Argument, dass sie in den versteckten Gassen kaum auf Menschen treffen würden, war am Ende überzeugend genug gewesen. Nun saßen sie an einem der Tische im Laden, in der hintersten Ecke, um in Ruhe für sich sein zu können. Schließlich wollte Roy sich mit Raelene versöhnen und dafür musste er ausnahmsweise auf ständige Unterbrechungen von Fans verzichten. Soeben lieferte ein Galar-Flampivian ihnen ihre Bestellungen, die Roy übernommen hatte, um Raelene zu überraschen. Als ihr Seemops-Eisbecher vor ihr stand, mit all den liebevollen Details, fingen ihre Augen an zu leuchten. Sie musste sich sichtlich zusammenreißen, nicht vor Begeisterung aus ihrer neuen Rolle zu fallen, was traurig anzusehen war. Und ich bin schuld daran … Für sich selbst hatte Roy einen Arktip-Eiskaffe bestellt, der entsprechend schneeweiß und blau verfärbt war. Die Sahneschicht formte das Pokémon. Ein Gefühl sagte ihm, dass er etwas Koffein noch brauchen könnte. Wenn er schon mal in der Eisdiele war, wollte er sich aber auch etwas in der Richtung gönnen und nicht nur stumpf stinknormalen Kaffee trinken. Da war er sehr eigen. „Wenn du es nur die ganze Zeit anstarrst, schmilzt dir das Seemops noch weg“, kommentierte Roy schmunzelnd. Nervös zuckte Raelene zusammen und räusperte sich, ehe sie den Löffel in die Hand nahm. „D-das weiß ich selbst! Du brauchst mich auf so etwas nicht hinzuweisen.“ „HALT!“ „Was?!“, erschrak sie. „ Mann, soll ich jetzt essen oder nicht?! Entscheide dich mal!“ „Du“, sagte Roy ernst, „hast noch kein Foto von dem Eis gemacht.“ Fassungslos starrte Raelene ihn an. „Dein Ernst?!“ Nickend deutete er zu Rotom, der ihr ohne Kommentar das – perfekte – Foto von seinem Eiskaffee präsentierte. Das hatten sie geschossen, als Raelene noch darin vertieft gewesen war ihr essbares Seemops zu bewundern. Daraufhin gerieten sie in eine kleine Diskussion darüber, ob es sinnvoll oder schwachsinnig war, sein Essen zu fotografieren, was für Roy eher witzig war. Erst recht weil Raelene sich viel zu sehr in dieses Thema hineinsteigerte, bis sie beschloss, das Gespräch für beendet zu erklären. Hastig fing sie danach an ihr Eis zu essen, mit diesem gespielt trotzigen Blick. Roy widmete sich derweil seinem Eiskaffee, beobachtete Raelene jedoch nachdenklich. Eigentlich hatte er keine Ahnung, was er ihr sagen sollte, bezüglich ihres anderen Gesprächs vor drei Tagen. Bei Kindern genügte es oft, wenn man mit ihnen etwas Schönes unternahm, so wie er es gerade mit Raelene tat. Ob das in diesem Fall genügte, blieb abzuwarten. Darum beschloss er, zunächst über triviale Dinge zu quatschten. Vorrangig über Pokémon und natürlich Kämpfe. Egal, wie desinteressiert Raelene die ganze Zeit wirkte, er sprach einfach weiter und zeigte ihr auf dem Smart-Rotom sogar einige Aufnahmen, auf die er ziemlich stolz war. Wirklich viel hatte sie dazu nicht zu sagen, wovon er sich aber nicht kränken ließ. „Sag mal“, unterbrach Raelene ihn irgendwann angespannt, „warum hast du mich zum Eis essen eingeladen, wenn du mich gar nicht leiden kannst?“ Roy blinzelte irritiert. „Wie kommst du darauf, dass ich dich nicht leiden kann?“ „Weil du schon immer etwas … komisch warst, zu mir, seit ich Champ geworden bin“, erklärte sie, den Blick auf den fast leeren Eisbecher fixiert. „Ich hab das nie verstanden. Durch unser Gespräch verstehe ich aber jetzt, warum du immer so bist. Deshalb begreife ich nicht, warum du mich dann eingeladen hast.“ Als sie den Blick hob und ihn ansah, wirkte sie viel zu erwachsen. „Eine einfache Entschuldigung hätte doch gereicht. Warum machst du dir jetzt die Mühe? Weil du ein schlechtes Gewissen hast?“ Hoffentlich war Roy nicht anzusehen, wie sich Panik in ihm ausbreitete. Auf ihre letzte Frage konnte er unmöglich einfach mit einem Ja antworten, in vielerlei Hinsicht. Ehrlich konnte er auch nicht sein, weil er sich sonst verraten würde. Sobald sie nur ansatzweise erahnte, wie es in seinem Inneren aussah … daran wollte er nicht mal denken. Ich kann sie aber auch nicht in dem Zustand lassen. Sein Schweigen machte das Ganze nicht besser. Nach einer Weile nickte Raelene verstehend und konzentrierte sich wieder darauf, die Reste von ihrem Eis zu essen. „Du hast also echt nur ein schlechtes Gewissen.“ Zerknirscht schob sie das Eis in ihrem Becher hin und her. „Das kannst du dir sparen. Du hast nur die Wahrheit gesagt. Ich bin ein Fake-Champ. Aber nicht mehr lange, ich wer-“ „Das stimmt nicht!“, rief Roy dazwischen – was nicht nur ihn selbst, sondern vor allem Raelene zusammenzucken ließ vor Schreck. Leise grummelnd zog Roy sein Bandana ein Stück tiefer ins Gesicht, denn die Kapuze aufzuziehen wäre zu auffällig gewesen. Statt darüber nachzudenken, beschloss er, einfach frei zu reden. „Ich lasse nur sehr wenig Challenger durch, wenn sie bei mir ankommen. Rose hat mich damals deswegen immer getadelt und es dauert sicher nicht mehr lange, bis Delion das auch mal auffällt. Ich sehe eben nicht ein, warum ich blutige Anfänger in den Cup schicken soll, wo alle Arena-Leiter dann plötzlich richtig ernst machen und ihre starken Pokémon einsetzen. Davon hat doch niemand etwas.“ Im Augenwinkel bemerkte Roy, dass Raelene auf ihrem Sitz ein Stück tiefer rutschte. „Soll ich dir verraten, warum ich dich damals als eine der wenigen Ausnahmen trotzdem durchgelassen habe?“, fuhr er fort. „Bestimmt nicht, weil ich unbedingt sehen wollte, wie du im Cup kläglich versagst. Ich habe gemerkt, dass du das gewisse Etwas hast.“ Genau das, was Roy offenbar fehlte. In diesem Moment war das aber zweitrangig. Es ging gerade darum, Raelene etwas klarzumachen – und sich selbst auch, wie ihm bewusst wurde. „Du hast Talent, Rae. Und du hast gewonnen. Fair und ehrlich. Gegen mich und Delion. Dass du würdig bist, habe ich schon in dem Moment entschieden, als ich dir den Drachen-Orden gegeben habe.“ Richtig, sie war kein Fake-Champ. Raelene arbeitete nicht mit irgendwelchen Tricks, wegen denen er es so schwer hatte, gegen sie zu gewinnen. Gerade Roy hätte das wissen müssen, weil er derjenige war, der sie durchgelassen hatte. Egal, woran es genau lag, sie war gut in dem, was sie tat. Daran gab es nichts zu rütteln. Als Roy sein Bandana wieder anhob, um ihr in die Augen zu schauen, liefen ihr bereits Tränen über die Wangen. Da wusste Roy, dass das, was auch immer Raelene gebrochen hatte, an diesem Tag nicht mehr zu kitten war, wenn überhaupt. Denn sie war längst von Zweifeln zerfressen, vermutlich schon lange vor ihrem unglücklichen Gespräch. Roy murmelte eine leise Entschuldigung, woraufhin Raelene noch mehr in Tränen ausbrach. Er beneidete sie darum, dass sie vor ihm derart Schwäche zeigen konnte. Allerdings wuchs gleichzeitig die Angst davor, selbst eines Tages vor den Augen eines anderen derart auszubrechen. Es gab zu viele Leute, die das ausnutzen würden. Leider sprach er da aus Erfahrung. Umso besser, dass er derjenige war, der Raelene gegenüber saß. Nachdem sie eine gefühlte Ewigkeit geweint hatte, aß sie danach schweigend weiter und er trank seinen Eiskaffee, bis nichts mehr übrig war. Danach verabschiedeten sie sich vor der Eisdiele und gingen wieder getrennte Wege, mit der stummen Vereinbarung, das, was zwischen ihnen vorgefallen war, für sich zu behalten. Und das war gut so, für beide Seiten. Würde Raelene sich fangen und wieder zu sich selbst finden? Wahrscheinlich nicht. Nicht in nächster Zeit. Trotzdem hoffte Roy, dass seine Worte dazu beigetragen hatten, sie von der Kante zurückziehen und vor dem endgültigen Absturz zu bewahren. Aus eigener Kraft war das nämlich kaum zu schaffen. „Champ zu sein ist wohl kein Zuckerschlecken“, sagte Roy zu sich selbst, während er langsam durch die Stadt lief. Rotom gab einen zustimmenden Laut von sich. „Es wäre ja auch zu leicht, wenn es einfach ist, was?“   ***   Wie Roy vorhergesehen hatte, blieb Raelene das folgende Jahr über schwierig. Oft überlegte er, nochmal mit ihr zu sprechen, aber er verwarf den Gedanken jedes Mal. Er war davon überzeugt, nur wieder Öl ins Feuer zu gießen, sobald sie ihn sah. Damit hätte er also alles schlimmer gemacht. Manchmal dachte er darüber nach, zumindest Delion zu erklären, was mit ihr los war, weil er als Präsident durch den massiven Imagewechsel des Champs ziemlich gestresst wirkte. Auch diese Idee verwarf Roy, jedoch vielmehr aus egoistischen Gründen. Dafür beschloss er, lieber mehr an sich zu arbeiten. Seine eigene Schwäche noch effektiver wegzuschließen – denn so etwas wie mit Raelene durfte ihm niemals wieder passieren. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)