Maskenfall von ChiaraAyumi ================================================================================ Kapitel 1: Maskenfall --------------------- Kaum war Anya noch halb verschlafen ins Wohnzimmer geschlichen, als der Schlaf augenblicklich von ihr abfiel, denn ihre Kräfte begannen sofort zu kribbeln und ihre Aufmerksamkeit war mit einem Schlag da. Etwas stimmte ganz und gar nicht mit Mama und Papa. Die beiden konnten einander nicht in die Augen sehen und waren irgendwie nervöser als sonst. Hatten sich die zwei etwa wieder gestritten? Bestand die Möglichkeit, dass sie beschlossen hatten, ihre Missionen aufzugeben und damit auch Anya im Stich zu lassen?! Anyas Augen verengten sich angestrengt, während sie sich auf die Gedanken der beiden konzentrierte. Die beide waren so sehr in diesen versunken, dass sie nicht einmal bemerkt hatte, dass Anya zu spät aufgestanden war. Nur Bond, der wedelnd an ihrer Seite getrottet war, nahm ihre Anwesenheit wahr. Doch so sehr Anya auch versuchte, einen Sinn in den Gedanken der beiden zu erkennen, wirkte für sie alles verworren. Papa las Zeitung und trank schwarzen Kaffee wie immer, doch seine Gedanken waren ganz starr und er schien ein Regelwerk vor sich hinzumurmeln. Papa war wirklich komisch. Hoffentlich hatte er nicht vor, dass sie das alles auswendig lernte, was er da in Gedanken vor sich aufsagte. War es vielleicht ein Code für irgendwas? Eine geheime Botschaft, die er nur mit dem richtigen Schlüsselwort entschlüsseln konnte? Er war gestern Abend auf jeden Fall zu einer Mission aufgebrochen, auch wenn er – Lügner, der er nun war, – vorgeschoben hatte, an einem abendlichen Dinner seines Krankenhauses teilzunehmen und deswegen spät zurückkommen würde. Anya hatte nicht mitbekommen, wann er wieder gekommen war, doch da er munter vor ihr saß und mit leeren Augen auf die Zeitung starrte, schien seine Mission gut gelaufen zu sein. Vielleicht war Papa einfach nur müde? So viele Missionen und nie hatte er Zeit zum Ausruhen. Armer Papa. Da ihr Papa keine weiteren Anhaltspunkte lieferte, die ihr Kribbeln und intuitive Sorge erklären konnte, wand Anya sich den Gedanken von Mama zu. Oh mein Gott. Wie peinlich. Ich kann ihm nie wieder in die Augen sehen. Oh mein Gott. Oh mein Gott. Was mache ich jetzt nur? Wie peinlich! Offensichtlich konnte Mama Papa nicht mehr in die Augen gucken, denn sie schaute überall hin und her, aber nie auch nur in die Richtung von Papa. Und ihre Gedanken wanderten leider in die Richtung, dass ihr – was auch immer – zu peinlich war und sie sich aller Augenzeugen inklusive Papa entledigen musste oder für immer untertauchen musste, da sie es nicht über sich brachte, Papa zu töten, da alles scheinbar ihre Schuld war und sie ihn nicht dafür bestrafen konnte. Anya wurde von Sekunde zu Sekunde unruhiger. Egal, was das Peinliche war, was Mama getan hatte und was Papa gesehen hatte, sie durfte weder Papa töten noch weglaufen. Ihre Familie musste bestehen bleiben. Sonst war der Weltfrieden in Gefahr und ihr Glück mit ihrer Familie war ebenfalls bedroht. Wenn sie nur verstehen würde, was vorgefallen war! Dann könnte Anya irgendetwas tun und mit ihren Fähigkeiten wie immer den Tag retten. Papas Gedanken waren nutzlos. Er schien an alles andere zu denken als an den besagten Vorfall, was wirklich ungewöhnlich für ihn war, denn normalerweise analysierte er alles von vorne bis hinten und überlegte sich Plan A bis Z für seine Missionen, was Anya immer viel zu anstrengend fand, weil sie nie auch nur die Hälfte von dem verstand, was Papa dachte. Sie aß lieber Erdnüsse und schaute Fernsehen, als sich den Kopf über Dinge zu zerbrechen. Mama war aufgrund ihrer Panik ebenfalls nicht hilfreich. Irgendetwas war vorgefallen auf einem Tanz? Mama war in Papa gefallen und hatte ihm die Lippen aufgeschlagen? Hatte Papa etwa ihre Identität durchschaut?! Nein, das war es auch nicht. Dann wäre Papa ganz anders drauf. Anya gab auf. Sie brauchte Hilfe, damit ihre Eltern sich wieder ansahen und sie wieder wahrnahmen. Diese Familie und der Weltfrieden brauchten Hilfe von einer Beziehungsexpertin. Anya beschloss Becky anzurufen, die von diesen romantischen Dingen mehr Ahnung hatte und bestimmt wusste, was man tun konnte, wenn die Eltern zu peinlich berührt war, um einander in die Augen zu sehen. ~~~ Loid war genervt. Der wievielte Auftrag war es diese Woche? Langsam gingen ihm die Ausreden für seine Familie aus. Die Ausrede „Dinner mit der Belegschaft des Krankenhauses“ hatte er erst vor zwei Wochen benutzt und jetzt war ihm schon wieder nichts Besseres eingefallen. Zum Glück war Yor so leichtgläubig und hatte ihm nur viel Spaß gewünscht, während sie sich daran gemacht hatte, das Abendessen für Anya und sich vorzubereiten. Zumindest waren ihre Kochkünste viel besser geworden, sodass Loid wenigstens kein schlechtes Gewissen haben musste, Anya zurückzulassen. An manchen Tagen fand er es wirklich gruselig, wie sehr er sich an sein falsches Familienleben gewöhnt hatte. Manchmal dachte er gar nicht mehr an seine Mission und musste sich zusammenreißen, um nicht das Ziel aus den Augen zu verlieren. Das hier war nicht seine erste längere Mission und er wusste, dass sein Fokus auch über einen längeren Zeitraum scharf bleiben musste. Er konnte keine Müdigkeit vorschützen, wenn es um nichts Geringeres als den Weltfrieden ging. Loid schaltete sich einen Dummkopf, dass seine Gedanken von der augenblicklichen Mission auf der Hand abgewichen war und widmete sich den Details dieser, statt an seine Familie zu denken, die zu Hause auf ihn wartete. Er rückte seine weiße Maske zurecht und strich sich den weißen Anzug glatt. Seine Augen suchten routiniert die Menge nach Fluchtwegen und potentiellen Gefahren ab, bevor er sich wieder ganz der Zielperson des heutigen Abends widmete. Otto Gotewol war ein wichtiger Politiker von Ostania, dem zu Ehren dieser Maskenball gegeben wurde, auf dem sich Loid unter zahlreichen anderen Gästen befand. Aufgrund der Masken und der viel zu laschen Sicherheitsvorkehrungen war es Loid ein Leichtes gewesen, sich unerkannt unter die Gäste zu mischen. Alle schienen sich großartig zu amüsieren und die Masken verliehen dem ganzen Ball ein Hauch von Geheimnis und Aufregung. Aufregung, die sich eine gewisse Gruppierung zu nutzen machen wollte, um einen fingierten Anschlag auf Gotewol zu verüben, um das Attentat Westalis in die Schuhe zu schieben und die laufenden Friedensverhandlungen zu stoppen. Loids Job war simpel. Er würde den Anschlag verhindern und die Gruppierung aufdecken, sodass jeder wusste, dass es sich um Lüge handelte. So weit, so leicht. Er bewegte sich geschickt durch den Raum, forderte hier und da eine Dame zum Tanzen auf, um nicht aufzufallen und sich so quer durch den Saal zu bewegen und alle Eingänge und Ausgänge im Blick zu behalten. Loid war es wirklich manchmal leid, sich jeden Tag in eine neue Rolle einzufinden, andere Missionen neben der Mission Strix zu erledigen. Er wollte sich einfach nur ausruhen. Mit Anya ihre Spionageserie schauen, mit Bond spazieren gehen und mit Yor einen Ausflug machen. Das klang schön und friedvoll. Wieder waren seine Gedanken zu seiner Familie abgeglitten und er hatte seine Konzentration verloren. Das passierte ihm in letzter Zeit viel zu oft. Da waren verdächtige Personen in der Menge, die sich trotz Masken noch einmal extra bedacht hielten und sich etwas kleiner machten, als sie eigentlich waren. Das hier musste die Gruppierung sein, die den Anschlag fingieren wollten. Loid setzte sich gerade in Bewegung, um den verdächtigen Männern zu folgen, als er aus dem Augenwinkel etwas wahrnahm, was seine Aufmerksamkeit sofort auf sich zog. Die Frau in dem schwarzen Kleid mit den goldenen Ornamenten kam ihm so vertraut vor, das er kaum die Augen von ihr nehmen konnte. Plötzlich schoss ihm ein Bild von Yor durch den Kopf und er fühlte sich zweierlei schuldig. Erstens hatte er sich schon wieder ablenken lassen, wie unglaublich unprofessionell von ihm, und zweitens war Yor mit Anya zu Hause und konnte kaum hier sein und ein Anblick höchster Anmut verkörpern. Loid schüttelte den Kopf. Fokus. Er musste sich auf die Mission konzentrieren. ~~~ Der Anruf kam so plötzlich, dass Yor erleichtert war, dass Anya ihr wenige Minuten zuvor gähnend „Gute Nacht“ gewünscht hatte und in ihr Zimmer gestiefelt war. Hoffentlich schlief sie schon tief und fest und würde nicht merken, dass Yor heimlich das Haus verließ. Genauso war sie dankbar, dass sie und Loid in unterschiedlichen Zimmern schliefen. Wenn er nach Hause kam, würde er kein leeres Bett vorfinden und sich fragen, wo seine angebliche Ehefrau sich herumtrieb. Er durfte nie erfahren, dass sie des Öfteren nachts unterwegs war, um ihre Aufträge auszuführen. Niemals durfte Loid die Wahrheit herausfinden. Sonst wäre die ganze Farce hinüber und ihre Tarnung aufgeflogen. Heute führte ihr Weg zu einem Maskenball im Anwesen eines bedeutenden Politikers, den sie nicht töten, sondern im Gegenteil beschützen sollte. Sie fand es immer noch ungewohnt, nicht nur Auftragskillerin zu sein, sondern auch manchmal Bodyguard, doch irgendwie war es ein schönes, befriedigendes Gefühl, ihrem Land auch ohne Blutvergießen zu dienen. Dadurch fühlte sie sich, als würde sie dem friedvollen Leben, das sie sich für Yuri gewünscht hatte und nun sich auch für Anya erhoffte, ein Stück näher kommen. Der Auftrag war einfach. Den Politiker sollte sie vor einem Angriff beschützen, die Angreifer aber nur in die Flucht schlagen. Nicht töten und auch nicht ausknocken. Yor hoffte, dass sie das schaffte, da sie wusste, dass sie ihre eigenen Kräfte manchmal schlecht einschätzen konnte und kein Gefühl für eine „normale“ Stärke hatte. Sie dachte an die unzähligen Male, die sie Yuri verletzt hatte, und seufzte erleichtert, weil ihr mit Anya noch kein Missgeschick dieser Art passiert war. Sie hätte Anya wahrscheinlich keine Selbstverteidigung beibringen sollen. Sie schämte sich immer noch dafür, dass Anya deswegen Ärger mit Damian hatte und fühlte sich als Rabenmutter. Auch jetzt war sie als Mutter furchtbar, da sie ihre Schutzbefohlene ganz alleine zu Hause gelassen hatte. Nicht ganz alleine. Bond war schließlich auch noch da und bestimmt kam Loid auch bald heim. Hoffentlich hatte Anya keine Albträume und entdeckte die leeren Betten ihrer Eltern. Yor merkte, wie sie sich immer weiter in ihre Sorge um Anya hineinsteigerte und versuchte sich wieder zu konzentrieren. Der Politiker schritt durch die Tanzenden, schüttelte hier und da Hände und schien das Bad in der Menge zu genießen. Yor wurde bewusst, dass Herr Gotewol sich völlig offen zeigte und den Angriff auf ihn zu provozieren zu schien. Bei ihren exakten Anweisungen wurde ihr klar, dass dieser Angriff fingiert sein würde. Von ihr wurde nicht wirklich etwas erwartet, außer dass sie den Beteiligten eine Show bot. Dankbar über ihre Maske sah sie sich weiter um und wartete auf ihren Einsatz. Yor fühlte einen Blick plötzlich sanft auf sich ruhen und es rief in ihr sofort eine Erinnerung an ihre erste Begegnung mit Loid beim Schneider wach. Dann entdeckte sie Loid unter den Tanzenden. Sie hätte ihn unter allen Leuten trotz seiner Maske augenblicklich erkannt. Seine fließenden und zielgerichteten Bewegungen hoben ihn so deutlich von den anderen ab. Der aufrechte Gang, der so viel Selbstsicherheit ausstrahlte und doch die Vorsicht, die er jederzeit walten ließ. Yor hatte schon lange Loid nicht mehr aus der Ferne betrachtete und ihr wurde plötzlich bewusst, was für ein toller Mann er schon auf dem ersten Blick war und wie viel mehr Güte und Freundlichkeit sie jeden Tag durch ihn erfahren hatte. Ohne Loids Antrag wäre sie verloren gewesen. Man hätte sie schon längst als Spionin enttarnt und ins Gefängnis geworfen. Er war der perfekte Mann, der perfekte Vater für Anya. Und er sah wirklich gut aus. Yor seufzte. Zu perfekt für sie. Und er tanzte mit einer anderen Frau und nicht mit ihr, wurde ihr schmerzhaft bewusst. Warum war er hier auf diesem Maskenball und nicht auf einem Dinner, wie er ihr vorhin mitgeteilt hatte? Hatte er etwa Angst gehabt, dass sie sich nicht benehmen würde? War sie schon wieder eine schlechte Ehefrau, die man nicht vorzeigen wollte, auf solchen ausgewählten und elitären Partys? Yor fühlte sich verletzt. Noch vor einer Sekunde hatte sie gedacht, dass sie nichts ohne Loids Güte und Freundlichkeit wäre, dass sie dankbar war, seine Ehefrau zu sein, und jetzt war sie wütend und frustriert. Wütend auf Loid und frustriert mit sich selbst. Warum war sie nicht normal? Warum war sie nicht die perfekte Ehefrau? Dann begann um sie herum ein Tumult und für ihre Eifersucht und Selbstzweifel war vorerst keine Zeit mehr. ~~~ Loid hatte den Blick von Yors Lookalike kaum lösen können. War es Yor? Oder täuschte sich sein Gefühl? Sie kam ihm so vertraut vor. Konnte es sein, dass sie im Auftrag des Rathauses hier war? Hatte sie etwas erwähnt? Er konnte sich nicht daran erinnern, aber er war in letzter Zeit so beschäftigt mit seinem Job im Krankenhaus und seinen ganzen zusätzlichen Missionen, das er kaum zum Verschnaufen kam. Aber wenn Yor hier war, wer war dann zu Hause mit Anya? Hoffentlich hatte Anya keine Albträume. Und hoffentlich kam sie nicht wieder auf dumme Ideen und spielte mit seinem Spionagekoffer herum, wie beim letzten Mal, wo sie entführt worden war. Noch mal konnte er den ganzen Stress nicht ertragen. Und dann fielen ihm wieder die verdächtigen Gestalten ein, die sich schon längst in Bewegung gesetzt hatten, während er an seine Frau und Tochter gedacht hatte. Schnell bahnte er sich seinen Weg durch die Menge, um den Angreifern ein Strich durch die Rechnung zu machen. Sein Kommen und Intervenieren schien die fünf Männer in ihren schwarzen Anzügen und ebenso dunklen Masken kein Stück zu überraschen. Wahrscheinlich war mit der Leibwache ein Showkampf abgesprochen, um dem angeblichen Angriff durch Westalis eine Bühne zu bieten und damit wirklich jeder im Saal mitbekam, was vor sich ging. So viel zu seinem Plan, das Ganze ruhig und unbemerkt zu stoppen. Innerhalb eines kurzen Augenblickes war er in einem Kampf mit drei der Männer verwickelt, während die anderen zwei sich ihren Weg zu Otto Gotewol bahnten. Er musste schnell seine Angreifer ausschalten, doch da sprang ihm plötzlich unerwartet Hilfe zur Seite und war er sich vorher nicht zu hundert Prozent sicher gewesen, so verriet ihr starker Kick eindeutig Yor, denn ein Lookalike mit derselben Power wie Yor hielt er für eine Chance von eins zu einer Milliarde. Er hatte keine Zeit, sich zu fragen, warum Yor hier war oder sich Sorgen um sie zu machen, er fühlte aber einen Flash an Bewunderung für diese starke Frau, seine Frau, die ihn noch mehr anpeitschte mit genauso viel Energie seine Gegner auszuschalten. Plötzlich fiel Yor im ganzen Tumult in seine Richtung. Loid wollte sie auffangen, doch brachte ihn einer der Angreifer ins Stolpern, seine Maske fiel zu Boden und dann knallte Yor gegen ihn. Dabei berührten sich ihre Lippen und ihn durchschoss neben dem Adrenalin Endorphine. Sein Kopf schaltete sich aus und inmitten des Tumults küsste er Yor wie in einem schlechten Liebesfilm. Bis zu diesem Augenblick war ihm nicht einmal der Gedanke gekommen, dass er ein Bedürfnis, nein, den Wunsch gehegt hatte, sie überhaupt zu küssen. Klar hatte Yuri sie bereits dazu aufgefordert, sich vor ihm zu küssen, um ihre Liebe zueinander zu beweisen, aber zu diesem Kuss war es nie gekommen. Auch sonst waren sie nie in einer Situation gewesen, wo überhaupt irgendeine Form von Körperlichkeit zwischen ihnen gefordert gewesen wäre. Doch in diesem Moment, mitten in einem Angriff, kam es zu ihrem ersten Kuss, denn Yor war zwar überrascht, aber sie küsste ihn zurück. Überraschte es ihn wirklich, dass er Yor inmitten einer Mission küsste, wenn er ihr auch genauso den Antrag gemacht hatte? Weil sie ihm genauso wieder zur Hilfe geeilt war und keine weiteren Fragen stellte, sich nicht einmal wunderte, was er hier trieb und warum er sich in einen Kampf mit Attentäter verwickeln ließ. Sie war wirklich die perfekte Wahl für die Rolle seiner Frau. Und dieser Kuss passte perfekt zu ihnen. Er war kein bisschen normal. Er war ungeplant, aus dem Moment heraus geboren, wie alles zwischen ihnen, aber es fühlte sich keineswegs wie eine falsche Entscheidung an, sondern genau richtig. Und dann war der kurze Augenblick wieder vorbei, denn Loid musste einem weiteren Angreifer ausweichen. Er hatte immer noch eine Mission zu erledigen, einen Politiker zu beschützen und eine Verschwörung zu enttarnen. Wo war verdammt noch mal sein Fokus heute? Was stimmte nur nicht mit ihm? ~~~ Yor realisierte erst, nachdem der ganze Tumult vorbei war, die Angreifer verhaftet, – was ihr erst noch viel später auffiel, gar nicht der Plan gewesen war -, die Party aufgelöst und sie auf dem Weg nach Hause mit Loid war, dass sie sich erst unfallmäßig und dann richtig geküsst hatten. Ihre Lippen hatte seine im Fall berührt. Er hatte sie aufgefangen, festgehalten und geküsst. Sie hatte ihn zurück geküsst! Sie hatten sich geküsst. Oh mein Gott. Wie peinlich. Ich kann ihm nie wieder in die Augen sehen. Oh mein Gott. Oh mein Gott. Was mache ich jetzt nur? Wie peinlich! Sie hatte nicht mal Zeit, sich Sorgen darüber zu machen, dass es Loid vielleicht komisch gefunden hatte, dass sie auf dem Maskenball gewesen war oder dass er ihre Tarnung durchschaut hätte haben können, denn ihr Kopf spielte ihr nur die drei Sekunden mit dem Kuss wieder und wieder vor ihren Augen ab. Sie konnte förmlich spüren, wie ihr Gesicht über und über rot war, und sie war sich sicher, dass Loid keine Ahnung hatte, wie besonders dieser Moment für sie gewesen war. Wie perfekt er gewesen war und zeitgleich hatte sie sicherlich alles falsch gemacht, was man beim Küssen auch nur falsch machen konnte. Ärgerte er sich darüber, dass er die falsche Frau für seine Scharade ausgewählt hatte? Sie traute sich nicht, den Blick zu heben, um zu sehen, wie Loid gerade dreinblickte, denn sie wusste, dass es jetzt endgültig aus war. Sie hatte sich unprofessionell benommen, denn zwischen ihnen gab es doch gar keine romantischen Gefühle, keine körperliche Anziehung. Alles, was Yor für Loid war, war eine Tarnung und eine Mutter für Anya. Mehr nicht und sie hatte es sich herausgenommen, ihn zurück zu küssen. Vielleicht hatte er sie gar nicht geküsst, sondern vielleicht hatte sie das nur so interpretierte. Ihr wurde ganz schummerig bei dem Gedanken, dass das alles nur in ihrem Kopf passiert war. Denn Loid hatte keine Gefühle für sie. Aber hatte sie Gefühle für ihn? Oh mein Gott. Das konnte nicht sein. Ich kann ihm nie wieder in die Augen sehen! Warum sagte er denn nichts? Warum schwieg er nur? Yor wagte einen verstohlenen Blick auf Loid, der wie mechanisch gerade aus starrte und „Fokus, Fokus“ vor sich hinmurmelte. Oh mein Gott. Er war sauer. Es war vorbei. Yor schluckte schwer und fühlte ein Stein auf ihrem Herzen. Eben war alles noch perfekt und jetzt war alles vorbei, weil sie sich Dinge eingebildet hatte. Je länger sie darüber nachdachte, desto sicherer war sie, dass Loid sie gar nicht geküsst hatte, sondern dass sie sich an ihn ran geschmissen hatte. Dass sie eine Grenze überschritten hatte. Selbst als sie schon im Bett lag, war ihr einziger Gedanke, dass sie zu unnormal war, dass sie nie etwas richtig machen konnte und dass sie sich das Schönste und Beste in ihrem Leben durch ihre dummen Gefühle verdorben hatte. ~~~ Becky war in ihren Anweisungen klar gewesen. Papa musste sich bei Mama entschuldigen, denn in solchen Situationen war immer der Papa Schuld und dann musste sich dieser lächerlich machen, damit Mama vergaß, was auch immer ihr so peinlich gewesen war. Becky hatte nur allwissend getan, als Anya ihr die Situation am Telefon geschildert hatte und gekichert, als Anya den Unfall mit den Lippen erwähnt hatte. Irgendwas von den kitschigsten und schönsten Klischees ihrer Lieblingssendung. Anya interessierte dieser ganze Kram nicht. Hauptsache Mama und Papa entschieden sich nicht dafür, den Plan mit der Familie aufzugeben und sie zurück ins Waisenhaus zu geben. Becky hatte gesagt, Papa müsse eine große Geste machen, um Mama wieder für sich zu gewinnen. Und Anya wusste schon genau, wie sie das anstellen würde. „Papa, Papa“, nervte Anya ihn. Er hatte inzwischen die Zeitung beiseite gelegt, schien aber immer noch zutiefst auf etwas in seinem Inneren fokussiert zu sein. Erst beim dritten, vierten Rufen erwachte er aus seiner Starre und nahm sie wieder wahr. Papa war definitiv krank, wenn er nichts mehr um sich herum wahrnahm. „Lass uns Hampelmänner machen, ja Papa?“ Hampelmänner waren die größte Geste, die Anya einfiel und waren, wenn man alle seine Glieder durch die Luft wirbelten, sicherlich peinlich genug, damit Mama in ihre Richtung schaute und darüber herzlich lachte. Und dann war alles wieder in Ordnung. Papa ließ sich ohne Murren in die Mitte des Wohnzimmers ziehen. Mama war immer noch in der Küche am Vorbereiten des Frühstücks – genau genommen in ihrem zweiten Versuch, das Frühstück zuzubereiten, das erste war in ihrer Unaufmerksamkeit in Flammen aufgegangen. „Komm Papa, Hampelmänner, um wach zu werden!“ Anya hüpfte aufgeregt auf und ab und Bond sprang an ihre Seite. Auch er spürte, dass der Familiensegen schief hing und teilte Anyas Sorgen. Papa begann mechanisch Hampelmänner zu machen. Völlig perfekt. Überhaupt nicht komisch, sondern viel zu rund und genau. So hatte Anya sich das nicht vorgestellt. „Mama, guck mal. Papa hüpft auf und ab. Ist das nicht urkomisch?“ Mama gab nur ein erstickten Laut von sich, weil der Toast schon wieder verbrannt war. So wurde das nichts. Große Gesten brachten nichts. Was hatte Becky noch vorgeschlagen? Papa musste etwas singen. Am besten vor einer Menschenmenge. Anya holte die Karaokemaschine raus, denn sie traute Papa keinen Musikgeschmack zu und suchte nach dem Lieblingssong von Mama, in dem es um viel Blut, Mord und Messer ging, drückte Papa das Mikro in der Hand und drückte Play. Die Musik ertönte, doch Papa verstand einfach nicht, was er tun sollte. Wollte er sich nicht mit Mama wieder versöhnen? „Papa, du musst singen“, flüsterte sie ihm zu. „Das ist Mamas Lieblingssong. Dann vergibt sie dir bestimmt alles.“ Papa sah nur irritiert auf das Mikrofon und schien den Ernst der Lage einfach nicht zu verstehen. Anya seufzte. Alles musste sie immer selbst erledigen. Sie schnappte sich das zweite Mikro und legte los. Sie hatte den Song schon dutzende Male mit Mama gesungen. Während sie voller Leidenschaft die ihr zum Teil unverständlichen Lyrics sang, drückte sie Mama das dritte Mikro in die Hand, zog sie zu Papa ins Wohnzimmer und hüpfte so lange auf und ab, bis die beiden zumindest leise in ihre Mikros sangen. „Jetzt Papas Lieblingssong“, erklärte Anya nach dem Ende des ersten Songs. „Kommt! Danach darf ich den Song aussuchen!“ Langsam schien die Anspannung von den beiden abzufallen und sie ließen ihre Gefühle raus. Mama sang dunkle und düstere Lieder und Papa hatte wirklich keinen Musikgeschmack, aber immerhin fingen die beiden irgendwann zu lachen, und während sie sich erst nur auf sich selbst konzentrierten, dann nur einzeln mit Anya sangen, merkten sie irgendwann gar nicht mehr, dass sie sich wieder ansahen, miteinander lachten und unbeschwert miteinander umgingen. Papa forderte Mama sogar zum Tanzen auf, als Anya ein schnulziges, langsames Lied sang. Mitten im ganzen Spaß sah Anya einen verstohlenen Blick zwischen Mama und Papa, ein Lächeln auf den Lippen der beiden und wusste, sie hatte wieder einmal den Tag gerettet. Bond schien es genauso sehen, denn er übermittelt ihr ein Bild von der nahen Zukunft, wo sie alle auf einem Outing im Park waren. Mama und Papa wirkten sehr glücklich und eng miteinander. Alles war wieder in Ordnung. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)