Reverti von Coronet (Zurück auf Anfang) ================================================================================ Kapitel 1: Ein Ende ... ----------------------- 01. September 1982   Ungeduldig tappte Minerva mit den Fingern auf das Notizbüchlein vor sich. Aus dem Augenwinkel schielte sie immer wieder zur Standuhr in der Ecke des Lehrerzimmers hinüber, deren kleiner Zeiger der Zwölf entgegen schlich wie eine müde Schnecke. Nicht ganz eine halbe Stunde, dann würde das Schloss von einer Heerschar Kinder und Jugendlicher überfallen. Am liebsten wäre sie bereits unten, um sich auf die Ankunft der Erstklässler vorzubereiten, anstatt der Litanei Argus Filchs zu lauschen, der seine Liste der verbotenen Gegenstände über den Sommer deutlich erweitert hatte. Aber der guten Ordnung halber zwang Albus sie alle, sich die Aneinanderreihung sämtlicher magischer Spielzeuge und Süßigkeiten anzuhören. »... und diese knallenden Scherzmäuse – meine Mrs Norris denkt immer, das wären echte Mäuse und ist dann enttäuscht, wenn sie sich in Luft auflösen ...« Mit einem innerlichen Seufzen ließ Minerva den Blick durch die Runde schweifen. Pomona neben ihr starrte mit glasigen Augen aus dem Fenster, ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen längst wieder bei ihren Gewächshäusern, und zur anderen Seite faltete Filius aus dem Einwickelpapier eines Zitronenbonbons einen Origamiphönix. Eine Person am Tisch war allerdings noch wach – gleichwohl man daran zweifeln konnte, ob sie auch im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte war. Ausgerechnet Sybill Trelawney hatte ihre untertassengroßen Augen auf Minerva gerichtet und musterte sie, als stünde ihr die Speisenfolge für das abendliche Festessen auf die Stirn geschrieben. Röntgenaugen. Anders konnte Minerva es nicht beschreiben. Es gab keinen adäquaten magischen Begriff für die Intensität, mit der Sybill zu starren pflegte. Und genauso wie Ärzte oft mit unangenehmen Neuigkeiten aufwarteten, verkündete Sybill einem stets irgendein großes Leid, das angeblich in der Zukunft lauerte, sobald sie diesen Blick aufgesetzt hatte. »Meine Liebe«, raunte Sybill da auch schon mit tiefer Stimme und lehnte sich über Filius hinweg zu Minerva, »deine Aura ... hat sich gewandelt.« Minerva hob eine Augenbraue. »Das liegt wohl daran, dass ich diesen Sommer am Amazonas war und zum ersten Mal seit Jahren Urlaub gemacht habe, anstatt Aufsätze zu korrigieren. Sehr entspannend, danke der Nachfrage.« Sybills Armreifen klimperten, als sie eine Hand auf ihre Brust – verborgen unter unzähligen Schals – presste. »Aber nein, daran liegt es nicht, Werteste. Es hat sich etwas tief innen drin verändert, so etwas spüre ich ... da ist etwas in dir erwacht ...« Ein paar Plätze weiter biss Septima Vektor sich auf die Unterlippe, um nicht in lautes Gelächter auszubrechen. Auch Pomona schien in die Gegenwart zurückgekehrt. Zumindest galt ihr versonnener Blick nicht länger den Schäfchenwolken, sondern Sybill. »Nun, ich bin immer noch etwas erkältet seit meiner Rückkehr – der Unterschied im Klima, du verstehst –, also hältst du vielleicht lieber etwas Abstand, Sybill«, entgegnete Minerva. Sybill ignorierte ihre Worte allerdings geflissentlich und beugte sich zu Filius’ Unmut weiter vor, eine Hand auf Minervas Unterarm gelegt. »Nein ... ich sehe mehr – einen großen Umbruch in deinem Leben, einen Mann, der dein Leben durcheinander bringt –« Jetzt konnte Septima nicht länger an sich halten. »Oh, dafür muss man nun wirklich keine Wahrsagerin sein, um das zu wissen.« Die Professorin kicherte. »Immerhin trägt Minerva den Ehering für uns alle gut sichtbar.« Während eine verlegene Röte in Minervas Wangen schlich, blieb Sybill von diesem Einwurf vollkommen unberührt. Sie rückte ihre Schals zurecht und verkündete schließlich: »Hüte dich vor scharfen Zähnen, meine Liebste, das ist es, was ich sehe. Und natürlich meine Glückwünsche zur Hochzeit ... auch wenn ich das längst vorausgesehen habe.« Mit warmem Kopf sah Minerva auf ihre Hände hinab. Auf den schlichten Ring, den sie seit dem Sommerbeginn trug. Sie hatte sich noch nicht wirklich daran gewöhnt. Normalerweise war es nicht so leicht, sie in Verlegenheit zu bringen, doch die Erinnerung an ihren Ehemann, der in ihrem Cottage in Hogsmeade auf sie wartete, brachte sie jedes Mal aufs Neue aus dem Konzept. So ungern sie es auch zugab, Sybill hatte vielleicht doch ein kleines bisschen recht. Die Dinge hatten sich verändert; sie hatte sich verändert. Dabei war der Gedanke, eines Tages eine verheiratete Frau zu sein, vor vielen Jahren von Minerva begraben worden. Nicht jeder fand das Glück in der Ehe und sie hatte das Schicksal eben für anderes vorgesehen. So zumindest ihr Glaube. Als große Schwester war sie Zeugin des Liebesglücks ihrer Brüder geworden, hatte zugesehen wie diese eine Familie gründeten, und versucht, sich für die beiden zu freuen. Ihr eigenes Bedauern tief in sich vergraben, war sie zur Lieblingstante ihrer Nichten und Neffen erwachsen, anstatt dem nachzuhängen, was nicht sein sollte. Und das hätte ihrem Glauben nach reichen müssen. Aber jetzt saß sie hier, hatte die 40 überschritten und doch »Ja« gesagt. Obwohl sie sich geschworen hatte, diesen Fehler nicht zu machen. Nicht erneut.   ☽•••☾   »Minerva ... W-was – was habe ich falsch gemacht? Bitte ... sag es mir doch! Ich – das kann doch nicht ...« »Es tut mir so leid, Dougal.« Der schottische Wind riss Minerva die Worte von den Lippen. Ein früher Sturm, der den Herbst ankündigte, jagte über die goldenen Felder von Caithness und passte damit erschreckend gut zu ihrer Gemütslage. Der Sommer war verschwunden, ebenso wie ihre Leichtigkeit. »Lass uns darüber reden, ich flehe dich an! So darf es nicht enden, einfach so ...« Dougal streckte zögerlich die Hand aus, als wolle er wie so oft über ihre Wange streichen, ließ sie dann aber wieder sinken. »Wir stehen doch gerade erst am Anfang, das kann nicht das Ende sein. Darf es nicht!« Minerva wickelte ihre Strickjacke enger um sich und presste die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen, obwohl sie wusste, dass sie so entsetzlich streng und unleidlich aussah. Doch anders konnte sie das Schluchzen nicht zurückhalten. Und sie hatte sich geschworen, nicht in Tränen auszubrechen. Das hier war eine vernünftige, wohldurchdachte Entscheidung, allein zu ihrem Wohl. Ein Beschluss, der sich anfühlte, als hätte sie ihr Herz aus der Brust gerissen und es Dougal statt des Brillantringes in die Hand gelegt. Was zurückblieb, war tiefe Leere, die einem permanenten Seufzen gleich ihre Gedanken erfüllte – Bedauern um etwas, das sie viel zu kurz besessen hatte, als dass sie es wirklich vermissen dürfte. Aber lang genug, damit es sie zerriss. Dougals Augen glitzerten mit dem Edelstein an ihrem Verlobungsring um die Wette, erfüllt von den Tränen, die sie bereits in der vergangenen Nacht vergossen hatte. Immer wieder sah er von dem Schmuckstück in seiner Handfläche zu ihr. Seine Lippen formten weitere, lautlose Worte, angesichts derer Minerva die Finger tiefer in ihre Oberarme grub, die Arme vor der Brust verschränkt. Wenn sie jetzt nachgäbe, würde sie nie wieder die Stärke aufbringen, zu gehen. Dann wäre sie gefangen in Caithness – und es gäbe Schlechteres, als an Dougals Seite zu leben; ja sie wäre bestimmt glücklich. Für eine Weile zumindest. Bis die Realität sie einholen würde. Ihre Träume waren lebhaft genug gewesen. Erst ein Kind, dann sicher ein zweites; eventuell ein drittes. Eine Familie wie aus dem Bilderbuch. Die Kleinen würden ihr schwarzes Haar und Dougals dunkleren Teint erben – und wahrscheinlich auch ihre Kurzsichtigkeit. Aber dabei würde es nicht bleiben. Eines Tages würde sich die Magie dieser Kinder offenbaren. Vielleicht würden Stofftiere das Fliegen erlernen oder ungeliebte Pullover schrumpfen. Egal wie – Dougal würde es nicht verstehen, denn er war ein Muggel und das Geheimhaltungsabkommen verbat es ihr, ihm die Wahrheit zu sagen. Minerva müsste all das Unerklärliche vor ihm verstecken, bis er eines Tages unweigerlich über ihren Zauberstab stolpern würde. Dougal würde Fragen stellen. Auf die Fragen würden Vorwürfe folgen, bis sie doch ihr wahres Gesicht zeigen würde. Natürlich würde er sich verraten, betrogen fühlen. Weil seine Frau nicht war, was sie vorgab zu sein. Mit Sicherheit gäbe es Streit. Tränen. Möglicherweise würde er gehen, vielleicht auch nicht. Aber das, was sie jetzt hatten, wäre zerstört. Unwiederbringlich. Minerva brauchte sich diese Bilder nicht ausdenken. Das war die Geschichte ihrer Eltern, eins zu eins. Wenn sie die Folgen einer solchen Ehe sehen wollte, musste sie nur nach Hause gehen. So wie gestern Abend. Ihre Mutter hatte einmal mehr mit rotgeäderten Augen am Küchentisch gesessen, den ersten Hogwartsbrief Robbies, dem jüngsten ihrer drei Kinder, vor sich. Minervas Vater dagegen war in seinem Arbeitszimmer gewesen, vorgeblich mit der Predigt für die nächste Sonntagsmesse beschäftigt. Sein leises Weinen hatte trotzdem den Weg bis in Minervas Zimmer gefunden. Doch damit nicht genug. Minerva hatte die Sehnsucht in den bebenden Händen ihrer Mutter gesehen, mit denen sie ihr einen Brief aus dem Zaubereiministerium überreicht hatte. Die Unzufriedenheit in ihrer Stimme war offenkundig gewesen, als sie gefragt hatte, warum sie sich auf das Stellenangebot der Strafverfolgungsbehörde noch nicht gemeldet hatte. Und schlussendlich hatte Minerva die Trauer in der Umarmung gespürt, mit der ihre Mutter ihr versichert hatte, dass sie stolz auf sie war, egal welchen Weg sie einschlagen würde. Es wäre der perfekte Moment gewesen, um ihr zu sagen, dass sie sich mit Dougal verlobt hatte. Dass dies der Weg war, den sie wählen wollte. Vermutlich hätte ihre Mutter sich sogar gefreut. Immerhin hatte sie selbst Minervas Vater in jungen Jahren geheiratet, gegen den Widerstand ihrer Familie. Und sie liebte ihn, trotz allem, daran zweifelte Minerva nicht. Aber all das änderte nicht, dass ihre Mutter jedes Jahr am Gleis 9 ¾ weinte, voller Unglück in ihrem Glück. Und diese Liebe änderte ebenfalls nichts an dem Schmerz im Blick ihres Vaters, wenn er seine Frau in die Arme schloss und hilflos über ihren Rücken strich. Nein, Minerva konnte Dougal nicht das Gleiche antun – genauso wenig wie sich. Die Erkenntnis hatte sie beim Abendessen getroffen wie ein Schockzauber in den Rücken, wie es jetzt auch Dougals Worte taten. »Warum, Minerva?« Ihr – nun ehemaliger – Verlobter schüttelte den Kopf wie ein nasser Hund. »Warum hast du gestern nichts gesagt? Ich dachte, das mit uns ... Ich dachte, es wäre dir ernst!« Oh, wie ernst es ihr war. Wie sehr sie ihn liebte. Genug, um diese Trennung ebenso ernst zu meinen. »Ich glaube nicht, dass Heiraten das Richtige für uns ist, auch wenn ich Zeit brauchte, um es zu erkennen. Ich hätte deinen Antrag nie annehmen dürfen und das tut mir sehr leid, Dougal.« Vor ihrem geistigen Auge sah sie das Pergament, das sie im Laufe der Nacht beschrieben hatte. Sie musste es nur vorlesen. Die für ihn nachvollziehbaren Gründe, warum ihre Verlobung nach nicht einmal 24 Stunden der Geschichte angehörte. »Wir sind noch so jung und haben noch so viel zu entdecken, zu erleben –« »Was spricht dagegen, es gemeinsam zu tun?« Dougal griff nach Minervas linker Hand. Er zog sie bestimmt von ihrem Oberarm und umfasste sie sanft mit seinen rauen, warmen Fingern. Das silberne Ringband drückte sich kalt in ihre Haut. Es kostete Minerva jede Anstrengung, nicht automatisch wieder die Faust um den Ring zu schließen. »Wir hatten doch so viel vor ... ich würde sogar mit dir nach London gehen, wenn es das ist, was du willst. Ich muss nicht den Hof meiner Eltern übernehmen!« »Nein, Dougal, das wäre nicht richtig. Das hier ist dein Leben. Welches Recht hätte ich, dir das zu nehmen? In London würdest du nicht glücklich werden –« »Du klingst wie meine Großmutter, wenn du so etwas sagst. Und überhaupt, wer behauptet denn, dass ich nicht in der Stadt leben könnte? Nur weil ich ein dämlicher Farmersohn bin?« Verbitterung mischte sich in Dougals Worte, doch der flehentliche Ausdruck in seinen Augen blieb. »Minerva, wo ist deine Risikobereitschaft geblieben? So bist du sonst nicht!« Fast hätte Minerva laut aufgelacht. Vielleicht kannte Dougal sie schlechter, als sie angenommen hatte. Was kein Wunder wäre, nach nur einem gemeinsamen Sommer. Niemand von ihren ehemaligen Klassenkameraden hätte sie als risikofreudig beschrieben – höchstens auf dem Quidditchfeld. Aber abseits davon war sie als Vertrauensschülerin und später Schulsprecherin für ihre strikte Haltung bekannt gewesen (Nicht, dass es keine Ausnahmefälle gegeben hätte. Hin und wieder musste eine Regel gebrochen werden – aber niemals leichtfertig!). Die Schulleiterin in spe, so hatte es ihre Freundin Pomona gerne ausgedrückt. Minerva presste die Lippen so fest zusammen, dass kein Laut herausdrang, nicht einmal ein kleines Schnauben. Sie atmete tief ein, ehe sie wieder den Mut fand, in Dougals dunkle Augen zu sehen. »Das Risiko hört für mich da auf, wo es anderen schadet. Und ich werde nicht zulassen, dass du den Preis bezahlst, weil ich deinen Antrag leichtfertig angenommen habe. Glaub mir, diese Entscheidung habe ich nicht leichtfertig getroffen. Immerhin ... liebe ich dich trotz allem.« Dougal senkte die Lider und biss sich auf die Unterlippe. »Du liebst mich, aber nicht genug, um mich zu heiraten?« »Ich liebe dich – genug, um dich nicht zu heiraten.« Minerva drehte ihre Hand und der Verlobungsring glitt zurück in Dougals Handfläche. Sie schloss seine Finger darüber und konnte sich nur wundern, wie ruhig ihre Bewegungen waren. Nie zuvor hatten ihr Herz und Kopf zwei so unterschiedliche Dinge gewollt. Und trotzdem rang sie sich ein Lächeln ab. »Du wirst die Eine finden, die dich glücklich macht. Glücklicher, als ich es je könnte. Das verspreche ich dir, auch wenn du es jetzt nicht verstehst. Bewahr dir den Ring für sie auf.« »Du lässt dich nicht umstimmen, oder?« Hundert kleine Nadeln stachen in Minervas Brust, als sie Luft holte und den Kopf schüttelte. »Es tut mir so leid, Dougal. Unendlich leid. Ich wäre wirklich gerne deine Frau geworden. Aber es geht einfach nicht.« Ich will meine Magie nicht aufgeben. »Ich werde dich nicht heiraten.« Aber immer nur dich lieben.   Der Weg zurück fiel Minerva schon leichter als der Hinweg. Sie hatte es geschafft und ihre Verlobung aufgelöst – ohne in Tränen auszubrechen. Selbst jetzt, alleine auf dem Feldweg, wollten sie nicht kommen. Es war ihr nur recht. Von hier aus konnte es nur besser werden. Man sagte schließlich, dass die Zeit alle Wunden heilte. Und Zeit, davon hatte sie ab sofort genug für sich. Sobald sie zuhause war, würde sie eine Eule an das Ministerium schicken, mit ihrer Zusage für die Stelle in der magischen Strafverfolgung, die man ihr nach einem Schulabschluss ohnegleichen angeboten hatte. Dann könnte sie bereits am ersten September ihrem Heimatdorf – und damit Dougal McGregor – den Rücken kehren. Wenn sie ihm nicht mehr tagtäglich begegnete, würde sie ihn hoffentlich verdrängen können. Vergessen, das sicher nicht. Hätte es in Minervas Macht gestanden, sie wäre drauf und dran gewesen, alles umzukehren; zurück auf Anfang. Wie schön wäre es, wenn sie den Zauberstab schwingen, »Reverti« sagen und den Lauf der Dinge ändern könnte. Denn beim zweiten Mal würde sie von vornherein die richtigen Entscheidungen treffen. Sie würde bei dem Scheunenfest im Juni nicht Dougals Einladung zum Tanz annehmen. Ihn nicht nach der Sonntagsmesse wiedersehen. Keine ausgedehnten Spaziergänge über die Felder mit ihm unternehmen. Sich nicht in seinen sanften braunen Augen verlieren. Und vor allem nicht ihr Herz an ihn verschenken. Doch diese Kluft konnte nicht einmal Magie überbrücken. Selbst wenn Dougal sie mit einem Obliviate vergessen würde, der Schaden bliebe angerichtet, tief in ihr. Dagegen war kein Kraut gewachsen, nicht mal ein magisches. Ihre beste Chance auf neues Glück lag in London. Weit, weit weg von den schottischen Highlands.   Der erste September 1957 war schließlich ein strahlend schöner Tag. Perfekt für einen Neuanfang, wenn man denn auf derartige Vorzeichen vertraute (was Minerva nicht tat). In London waren watteweiche Schäfchenwolken an den blauen Himmel gemalt und die Stadt zeigte sich in der goldenen Morgensonne von ihrer besten Seite – ganz wie Minerva selber. Die Nervosität hatte sie schon um fünf aus dem Bett gescheucht und somit war mehr als genug Zeit geblieben, ihre Haare hochzustecken und ein dezentes Make-Up aufzulegen. Für den ersten Arbeitstag sollte alles stimmig sein. Auf keinen Fall wollte sie einen schlechten Eindruck machen oder gar als ‚das Mädchen vom Lande‘ abgestempelt werden. Bei dem letzten Blick in den Flurspiegel ihres Elternhauses hatte sie dann wirklich geglaubt, dass ihr eine rundum glückliche, neue Minerva entgegensah. Ihre Augen waren nicht länger rotgeweint gewesen und die Spuren des Schlafmangels vom Puder verborgen. Davon bestärkt hatte sie sich zugelächelt und war voller Zuversicht mit ihren Brüdern disappariert. Doch hier, bei ihrem Zwischenstopp auf Gleis 9 ¾, wurde ihr bewusst, dass ihr die größte Veränderung erst noch bevorstand. Sie trug zwar keine Schuluniform mehr, fühlte sich aber trotzdem nicht wie die Erwachsene, die sie in ihrem brandneuen Ministeriumsumhang darstellte. Am liebsten wäre sie ein weiteres Mal in den Zug gestiegen, dessen Ziel Sicherheit versprach. Voller Wehmut sah sie zu, wie Robbie seinen Schulumhang zum ersten Mal vor der Brust verschloss. Noch fehlte ihm das Hausabzeichen, aber Minerva hatte keine Zweifel, dass er es Malcolm gleichtun und nach Ravenclaw kommen würde. »Sieht gut aus, Bruderherz. Richtig erwachsen.« Das Kinn hocherhoben, stemmte Robbie die Arme in die Seiten und streckte sich. »Ich bin ja auch schon groß!« Malcolm kicherte, dabei war es nicht unbedingt eine Lüge – für einen Elfjährigen war Robbie erstaunlich groß. Als Minerva ihn in die Arme zog, stellte sie mit Bedauern fest, dass sie sich kaum noch zu ihm herunterbeugen musste. Nicht mehr lange und ihr kleiner Bruder würde sie überragen. »Mina ... du schreibst mir doch, oder?« »Na klar. Jede Woche, wenn du willst.« »Super! Ich will alles wissen von den Verbrechern, die du hinter Gitter bringst!« Minerva schmunzelte und stupste Robbies Brille, die mal wieder schief hing, zurück auf seine Nase. »Stell dir da bloß nicht zu viel vor. Ich werde schließlich keine Aurorin. Aber ich kann dir bestimmt schreiben, wie die Aussicht von meinem Schreibtisch ist.« Hinter ihnen erwachte die rote Dampflokomotive mit einem Zischen zum Leben. Die verbliebenen Kinder drängten in die Waggons und überall wurden Abschiedsrufe laut. Malcolm winkte Minerva rasch, ehe er in Begleitung seiner Freunde ebenfalls auf den Zug zuhielt. »Bis Weihnachten!« Eine dicke Kröte blockierte Minervas Hals. Sie konnte nicht widerstehen, Robbie erneut fest an sich zu drücken, wobei sie sich ihrer Mutter unangenehm ähnlich vorkam mit den Tränen, die in ihren Augenwinkeln brannten. Sie wusste schon, warum ihre Mutter die Gelegenheit ergriffen hatte, den Abschied in diesem Jahr nach Hause zu verlegen und nur Minerva die Jungs zum Zug bringen zu lassen. Robbie zog die Nase kraus und rieb sich die Augen hinter der Brille, sodass diese wieder schief saß. »Ich wünschte, du könntest mitkommen«, murmelte er. »Das wird schon. Malcolm ist ja noch da.« Minerva zerstrubbelte Robbie das Haar und lächelte. »Und wenn er mal wieder vergisst, wie es für ihn war, ein Erstklässler zu sein, dann schreibst du mir.« Das entlockte ihrem Bruder ein kleines Grinsen. Ehe sie sich versah, hüpfte er in einen der Wagen, gerade rechtzeitig, bevor die Tür hinter ihm zuschlug. Minerva sah noch, wie er winkte, dann setzte sich der Hogwartsexpress in Bewegung. Mit einem lauten Pfeifen verließ der Zug den Bahnhof und ließ sie alleine mit ihrem Neuanfang zurück. Um sie her knallte es, als die Eltern der anderen Kinder disapparierten oder aber sich auf den Rückweg durch die magische Barriere machten. Alle hatten ein Ziel, wussten etwas mit sich anzufangen, nur Minerva hatte das Gefühl, Herbstlaub auf einem windgepeitschten See zu sein; ohne festen Halt. Bevor der Eindruck sie überwältigen konnte, drehte sie sich ebenfalls auf der Stelle, den Eingang zum Ministerium vor Augen. Kapitel 2: ... und ein Anfang ----------------------------- Das Zaubereiministerium war ein summender Bienenstock in Minervas Augen. Kannte man den Weg nicht, überwältigte einen die Hektik schier. Hexen und Zauberer mit Kaffee- oder Teetassen drängten sich in alle Richtungen, unter der Decke flogen kleine Käuze Memos durch die Gegend und dazwischen mischten sich Hauselfen, vor denen meterhohe Aktenberge schwebten. Minerva war froh, dass sie es bis zum Besucherschalter gebracht hatte, bei dem ihr Zauberstab registriert worden war, ehe sie Arbeitsausweis nebst Dienstmarke erhalten hatte, zusammen mit der Anweisung, sich bei ihrem Vorgesetzten Elphinstone Urquart im zweiten Stock zu melden. Nur, dass sie keine Ahnung hatte, wo genau. Die Wegbeschreibung, die ihr der Angestellte im Atrium gegeben hatte, erwies sich als äußerst unzuverlässig. Mit verschwitzten Händen stand Minerva in einem langen Flur, der von unzähligen – größtenteils verwaisten – Aurorenbüros gesäumt war, und suchte verzweifelt nach der Abzweigung, die ihr der Zauberer beschrieben hatte. Hoffnungssuchend fixierte sie eine ältere Hexe. »Entschuldigung, können Sie mir –« Ohne sie eines Blickes zu würdigen, rauschte die Frau an ihr vorbei. »Los, los, Hintern hoch, Jungs«, rief sie ein paar Männern weiter hinten zu, »wir haben einen Einsatz in Newcastle!« Frustriert ballte Minerva die Hand fester um das kalte Metall ihrer Dienstmarke. Doch bevor sie sich nach jemand anderem umsehen konnte, sprach sie bereits ein Mann in dem gleichen blauen Umhang wie sie an. »Wenn ich Verzweiflung in einem Bild beschreiben müsste, dann wäre das hier eines meiner Favoriten.« Der Fremde hatte die Hände in den Hosentaschen versenkt und einen Mundwinkel hochgezogen. »Lassen Sie mich raten – Sie sind die Neue und finden den Weg nicht.« Minerva starrte ihn mit offenem Mund an. War das etwa ...? Zusehends drückte sich die Dienstmarke fester in ihre Handfläche. »Nun, wenn Ihnen meine Verzweiflung so ein Dorn im Auge ist, könnten Sie ja etwas dafür tun, um sie aus der Welt zu schaffen.« Sie reckte das Kinn vor. Da sie ihr Leben schon nicht der Ehe mit Dougal opferte, würde sie sich im Ministerium erst recht nicht herumschubsen lassen. Ihr Gegenüber lachte auf, ein tiefer, samtiger Ton, der zu seinem kantigen Gesicht und dunklen Haar passte. »Ausnahmsweise«, sagte er mit einem amüsierten Funkeln in den Augen, »weil Sie so freundlich nachgefragt haben, das weiß ich stets zu schätzen.« Die Hände immer noch in den Hosentaschen, ging er ihr zwischen den kleinen Bürozellen der Auroren voraus. »Keine Sorge im Übrigen, ich bin nicht Urquart. Nur sein erster Sekretär. Alston Mulciber.« Er sah über die Schulter und lachte erneut, als er Minervas Blick auffing. Sie konnte einfach nicht verhindern, dass ihre Augenbrauen einen wütenden Strich bildeten. So hatte sie sich diesen Neustart nicht vorgestellt. »Minerva McGonagall.« Sie zwang sich zu ihrem höflichsten Lächeln. »Die Neue.« »Das sehe ich. Na dann ... viel Erfolg mit Urquart.« Mulciber deutete mit einer spöttischen Verbeugung auf eine Tür, vor der sie gehalten hatten. »Es war hoffentlich nicht umsonst, Sie kennengelernt zu haben, Miss McGonagall.« Mit diesen Worten verschwand er den Flur hinab, ohne einmal die Hände aus den Hosentaschen genommen zu haben. Am liebsten wäre Minerva vom Fleck weg zurück nach Schottland disappariert. Was hatte sie sich nur hierbei gedacht? War diese Anstellung wirklich besser, als ihren Zauberstab Dougal zugunsten aufzugeben? Es würde sie jedenfalls nicht glücklicher machen, Tag für Tag Alston Mulciber ausgesetzt zu sein. Sie nahm einen tiefen Atemzug und starrte die geschlossene Tür vor sich an. Elphinstone Urquart, Vorsitzender Strafverfolger 3. Gamotskammer – Zuständigkeiten: Schwarzmagische Fluchschäden & Gebrauch indizierter Zaubersprüche. Bisher hatte sie ihren künftigen Vorgesetzten nicht kennengelernt, eingestellt hatte sie der Abteilungsleiter. Alles, was sie über Urquart wusste, basierte auf der Einschätzung ihres ehemaligen Verwandlungslehrers Albus Dumbledore, den sie bezüglich ihrer Stellenauswahl um Rat gebeten hatte. Demnach war Urquart zweimaliger Schachchampion des Hogwartsturniers, Vertrauensschüler und später Schulsprecher gewesen; ausgezeichnet mit dem Nachwuchspreis für seine Abschlussarbeiten in Kräuterkunde und Verteidigung dunkler Künste. Ein glatter Ohnegleichen-UTZ. Der jüngste Leiter einer Strafverfolgungskammer am Zaubergamot. Das Musterbeispiel eines überaus ehrgeizigen Slytherins. Und laut Albus ein anständiger Mensch. Wie schlimm konnte es schon werden? Entschlossen hob Minerva die Hand, um anzuklopfen – da wurde die Tür von innen aufgerissen. Sie sah in die Leere, bis ihr Blick einige Etagen tiefer rutschte. Vor ihr stand eine grimmig dreinblickende Elfe, die in ein graues Tuch mit goldenen Verzierungen gekleidet war, das sie wie eine Toga um sich gewickelt trug. »Ihre neue Angestellte ist gerade aufgetaucht, Sir«, brummte sie, den Kopf nach hinten ins Zimmer gewandt. »Wunderbar Tilly, schick sie bitte herein.« Die Hauselfe schenkte Minerva einen langen Blick und wies mit dem Daumen in das Büro hinter sich, ehe sie den Gang hinuntereilte, als sei ein Drache auf ihren Fersen. Verdutzt sah Minerva ihr hinterher, bevor sie über die Türschwelle trat. Sie empfing nicht, womit sie gerechnet hatte. ‚Grüne Hölle‘ war das Erste, was ihr in den Sinn kam, als sie die Tür hinter sich schloss. Und selbst das war ein schwacher Ausdruck für das Innere des Büros. Wo Minervas Blick auch hinfiel – er traf eine Pflanze. »Ähm ...« Von so viel magischen Gewächsen auf dem falschen Fuß erwischt, vergaß Minerva glatt, was sie sagen wollte. Ihre Sprachlosigkeit besserte sich nicht gerade, als sie bemerkte, dass eine dicke Ranke lautlos an sie heranschlich und sich um ihren Unterarm wickelte. Sie wischte das Ding hastig fort, doch weitere Tentakel zupften bereits an ihrem Haar, ihren Ohrringen – sogar in ihre Handtasche langte einer ... »Geben Sie der Teufelsschlinge einfach einen ordentlichen Klaps, wenn sie zu aufdringlich wird. Sie ist sehr neugierig – zu neugierig bei Unbekannten.« Erschrocken hob Minerva den Blick von den Tentakeln. Sie hatte beinahe vergessen, dass sie nicht alleine war. Doch inmitten all des Pflanzengrüns befand sich tatsächlich ein Schreibtisch und dahinter saß ein blonder Zauberer im Muggelanzug. Er hatte eine lange Rolle Pergament vor sich ausgebreitet, auf der er mit gerunzelter Stirn Korrekturen vornahm. Ohne aufzusehen, fuhr er fort: »Keine Sorge, Miss Cuddles würgt nicht. Sie ist gut erzogen. Versetzen Sie ihr einfach einen Schlag mit der flachen Hand, das tut ihr nicht weh. Nur zu, trauen Sie sich.« Minerva starrte auf die kräftige Teufelsschlingenranke hinab, die sich inzwischen erneut um ihr Handgelenk geschlungen hatte. Dank Pomona konnte sie das Kräuterkundelehrbuch im Schlaf herunterbeten und wusste trotz ihrer Abneigung gegenüber dem Fach genau, dass Teufelsschlingen mit Vorsicht zu genießen waren. Äußerster Vorsicht. Auf jeden Fall war das keine Pflanze, die man sich in einem Topf aufs Fensterbrett stellte. Oder zähmen konnte. Ein Ruck ging durch Minervas Unterarm, als die Teufelsschlinge sich enger zog und rasch versetzte sie dem dicksten Tentakel einen Schlag. Für ein paar Sekunden hielten die Ranken inne, dann ließen sie tatsächlich von ihr ab. Nur ein leises Schlürfen war zu hören, als die Schlinge sich in ihren Übertopf zurückzog, der zwischen Tür und Schreibtisch stand. Wie ein Kätzchen rollten die Tentakel sich auf der Erde zusammen. »Ich hoffe, Sie können den Überfall entschuldigen?« Endlich sah der Zauberer hinter dem Tisch von seinen Pergamenten auf. Er musterte Minerva aus stechend grauen Augen. »Es hat Sie wohl niemand vor Miss Cuddles gewarnt, nehme ich an. Das ist mal wieder typisch ...« Ein kleines Seufzen entkam ihm, bevor sich ein Lächeln auf seinen Zügen ausbreitete und den strengen Eindruck vertrieb. »Haben Sie wenigstens gut hergefunden?« »Ihr erster Sekretär war so gnädig, mir den Weg zu zeigen.« »Hach, wunderbar, Sie haben Mulciber also schon kennengelernt. Und das so früh am Morgen, mein aufrichtiges Beleid.« »Oh ähm ... ich wollte damit nicht sagen –« »Bitte, Sie brauchen sich nicht dafür entschuldigen, dass Sie ihn nicht absolut reizend finden.« Schmunzelnd winkte Minervas neuer Vorgesetzter ab, wobei sein rechter Mundwinkel höher wanderte als sein linker. Im Gegensatz zu seinem Sekretär wirkte es bei ihm freundlich. »Mulciber reizt einen vielleicht, aber sicher nicht auf die gute Art.« Überrascht von dieser Ehrlichkeit sah Minerva betreten auf die Schreibtischkante. So hatte sie sich ihren Einstand hier wahrlich nicht vorgestellt. Immerhin schienen sich in dem Mann vor ihr nicht sämtliche Vorurteile gegenüber Slytherins zu bewahrheiten, das war auch etwas wert. »Falls es Sie tröstet – mit der Begüßung durch Mulciber und Miss Cuddles haben Sie das Schlimmste bereits überstanden«, ergänzte Urquart. »Und Sie halten sich jetzt schon besser als Ihr Vorgänger.« Minervas Nervosität brach sich in einem kleinen Lachen Bahn. Das würde sie erst glauben, wenn sie diese Woche – ach was, den ganzen Monat – hinter sich hatte. Wer wusste schließlich, welche Überraschungen dieser Mann und seine Abteilung noch für sie bereithielten ... »Nun, ich freue mich jedenfalls, dass Sie hier sind, Miss McGonagall. Ich bin Elphinstone Urquart und ab heute für sie verantwortlich, aber das wissen Sie sicherlich.« Er stand auf und wies auf die zusammengerollte Teufelsschlinge in ihrem Übertopf. »Und der Vollständigkeit halber – das ist Miss Cuddles. Meine treue Assistentin.« Urquart zwinkerte, bevor vor Minerva trat und ihr die Hand reichte. »Auf gute Zusammenarbeit, möchte ich hoffen.« »Danke, Sir. Das hoffe ich auch.« »Oh, bitte, kein ‚Sir‘. Wir sind hier ja nicht in Hogwarts –« Ein schrilles Klingeln unterbrach ihn. Auf dem Schreibtisch hinter Urquart schüttelte sich ein Silberglöckchen unter einer Art Käsehaube, die abwechselnd rot und weiß aufleuchtete. »Ah, na großartig, ist es denn schon so weit ...« Mit einem Schnippen brachte Urquart den Alarm zum Schweigen. »Miss McGonagall, ich wünschte, wir hätten die Zeit für eine gemütliche Einarbeitung, aber ich fürchte, Sie haben sich für ihren ersten Tag ausgerechnet den ausgesucht, der Action vespricht. Das ist unser Signal, dass wir losmüssen. Hausbesuch. Ich erkläre Ihnen den Fall unterwegs.«   Nur eine Stunde nach ihrer Disapparation vom Bahnhof Kings Cross fand Minerva sich so erneut in dessen unmittelbarer Nähe wieder, in einem schmuddeligen Mehrfamilienhaus, das von Muggeln und magisch Begabten gleichermaßen bewohnt wurde. Die Tapete schälte sich im Flur von den Wänden und die Ecken waren schwarz vor Schimmel. Alles in allem ein ziemliches Klischee, dass sie ausgerechnet hier eine Wohnung durchsuchen sollten. Der Bewohner von Appartement Nr. 3b stand im Verdacht, in eine Reihe Raubüberfälle in der Winkelgasse verwickelt zu sein, bei denen unter Verwendung verbotener Flüche wertvolle Artefakte erbeutet worden waren, die in ein Verlies in Gringotts überführt werden sollten. Offiziere der magischen Strafpatrouille hatten den Mann in Urquarts Auftrag die letzten Tage beobachtet, bis das Gamot den Durchsuchungsbeschluss durchgewunken hatte, mit dem Minervas Vorgesetzter jetzt gegen die Tür hämmerte. Flankiert wurde er von Mulciber und Margarete Jansson, Aurorin dritter Klasse – oder »der Dame für’s Handfeste«, wie die junge Hexe sich Minerva vorgestellt hatte. Hintendrein wartete Minerva selber, neben den zwei Beamten der Patrouille, die mit Geheimnisaufspürsonden ausgestattet waren. »Mr Langley?« Urquart hielt inne, ehe er heftiger auf das Holz schlug. »Bitte öffnen Sie die Tür!« An Langleys Stelle hätte Minerva längst Reißaus durchs Fenster genommen (wo genau deshalb zwei weitere Patrouillenbeamte warteten), doch der mutmaßliche Straftäter stellte sich als nicht besonders hinterlistig heraus. Er öffnete im Morgenmantel die Tür, in der freien Hand nicht etwa seinen Zauberstab, sondern eine Tasse Kaffee. Bevor der Verdächtige etwas sagen konnte, schob Urquart den Fuß über die Türschwelle. »Guten Morgen, Mr Langley.« Er hob den besiegelten Beschluss des Gamots in die Höhe. »Magische Strafverfolgung, wir sind hier für eine Hausdurchsuchung. Bitte treten Sie beiseite und rühren nichts an, solange wir uns umsehen.« In geradezu komödiantischer Langsamkeit rutschte Langley seine Tasse aus dem Griff und die Schwerkraft übernahm. Das gepunktete Porzellan fiel gen Boden, gefolgt von einem Schwall Kaffee. »Arresto Momentum«, murmelte Minerva, den Zauberstab in ihrer Umhangtasche umfasst. Kaffee und Tasse erstarrten in der Luft, ehe sie sich wieder zusammenfügten und sanft hinter der Türschwelle landeten. Mit einem großen Schritt trat Urquart darüber hinweg, wobei er dem reichlich verwirrten Langley den Durchsuchungsbeschluss vor die Brust drückte. »Besten Dank, Miss McGonagall.« Mulciber kicherte. Er schob die Tasse mit der Spitze seines glänzenden Lackschuhs beiseite, als wäre sie giftig, und warf Minerva einen provokanten Blick zu. »Süß.« Minerva umklammerte ihre Dienstmarke fester in der freien Hand. Sie würde sich das hier nicht kaputt machen lassen. Nicht nach dem Preis, den sie dafür gezahlt hatte. »Das nächste Mal achte ich darauf, dass der Kaffee auf Ihrem Umhang landet.« Mit diesen Worten drängte sie sich an Mulciber vorbei in die Wohnung. Langley wohnte nicht sonderlich aufregend – die Einzimmerwohnung wies eine Küchenzeile auf, in der Zaubertrankzutaten neben Gewürzen im Regal standen, ein chaotisches Bücherregal, in dem sich magische Schundliteratur stapelte, und natürlich das ungemachte Bett, dem der Mann eben erst entstiegen war. »Übersichtlich«, kommentierte Margarete Jansson hinter Minerva. Die zierliche Aurorin wippte auf den Zehenspitzen vor und zurück, während sie alles einer wachsamen Musterung unterzog. »Hm ... ich finde, das Bücherregal sieht vielversprechend aus. Dem sollten wir uns als Erstes widmen.« Sie zwinkerte Minerva zu. »Du willst Alston schließlich nicht den Vortritt lassen, oder? Komm!« Anstatt Minervas Antwort abzuwarten, zog Margarete sie mit sich. Doch das Regal entpuppte sich nicht als der Goldschatz, den die Aurorin in ihm gesehen hatte. Zwischen den Buchdeckeln warteten nur hohle Worte, kein verstecktes Diebesgut. Auch die Geheimnissonden der Patrouillenbeamten blieben stumm, ebenso wie diverse Aufrufezauber ergebnislos waren. Es sah ganz danach aus, dass Minervas erste Hausdurchsuchung doch nicht so aufregend werden würde. Das schien Langley ebenso zu wissen, denn er hatte sich inzwischen wieder entspannt und nippte an dem Kaffee, den sie gerettet hatte. »War’s das dann?«, fragte er, die Augen auf Mulciber geheftet, der mit einem Grinsen ein paar Schmuddelhefte unter dem Bett hervorzog. »Ich hab heut nämlich noch anderes vor.« »Kommt drauf an«, erwiderte Urquart, »wenn Sie uns sagen, wo wir finden, was wir suchen, dann ist das hier gleich vorbei. Wenn nicht, dann sehen wir uns noch gründlicher um. Sie haben die Wahl, ob Sie Ihrem Vermieter erklären wollen, warum es hier aussieht wie in einem Gnomenhort.« Langley kniff die Lippen zusammen. »Wenn es Ihnen Spaß macht ...« »Oh ja, das tut es.« Mulciber blätterte durch eines der Magazine, auf dessen Cover eine leicht bekleidete Hexe immer wieder ihr Gesäß entblößte und dabei zwinkerte. Urquart warf ihm einen abschätzigen Blick zu. »Wenn es dir Spaß macht, hast du wohl noch nicht die richtige Aufgabe.« Er zog Mulciber das Erotikheft aus den Händen. »Hopp, hopp, du kümmerst dich jetzt um die Erstellung eines Magiespurenprofils. Das volle Programm, ich will eine komplette Analyse von jeder Ecke dieser Wohnung. Wenn wir auch nur den Hauch einer Spur finden, wird das untersucht.« Mulciber, der Urquart ein gutes Stück überragte, verschränkte die Arme und schien ein Augenrollen mit aller Macht – oder Würde – zu unterdrücken. »Aber sicher. Sonst noch Extrawünsche?« »Du hältst den Mund dabei.« Wie schon im Ministerium deutete Mulciber eine Verbeugung an, bevor er seinen Zauberstab zückte und mit einem Winken einen der Patrouillenbeamten zu sich zitierte. Minerva hörte ihn leise Zaubersprüche murmeln, die auf vergangene Magie anschlagen würden – und gleichwohl sie fand, dass er ruhig schuften sollte, formte sich eine Idee in ihrem Kopf. Sie löste sich vom Bücherregal und trat, gefolgt von einer neugierigen Margarete, zu ihrem Vorgesetzten. »Ähm, Mr Urquart ...« – Das »Sir« schluckte sie gerade noch herunter – »Nicht, dass ich Mitleid mit Mr Mulciber habe, aber ich hätte da vielleicht einen Vorschlag, wie ich das Ganze beschleunigen könnte.« »Warum nur vielleicht?« »Ah ...« Minerva straffte die Schultern; spürte wieder das kalte Metall ihrer Dienstmarke zwischen den Fingern ihrer linken Hand. Dachte an Dougal, der sie nie so herausgefordert hatte. Sie wollte das hier. Sich beweisen; ihre Fähigkeiten als Hexe demonstrieren. »Ich habe einen Vorschlag, der vielleicht funktioniert«, korrigierte sie sich. »Ich bin eine registrierte Animagi. Um genau zu sein, nehme ich nach der Verwandlung eine Katzengestalt an. Und Katzen sehen zwar schlecht, können dafür allerdings gewisse magische Auren erkennen. Von Menschen, aber auch von manchen Zauberbannen.« Mulciber, der offensichtlich gelauscht hatte, stöhnte, während Margarete in die Hände klatschte. »Oh, das ist ja wundervoll! Eine waschechte Animagi, das ist noch besser als deine Erwiderungen an Alston! Und die sind schon allererste Sahne.« Auch Urquart sah begeistert drein, zumindest war da ein Funkeln in seinen Augen, das vorher nicht dagewesen war. »Das könnte wirklich verflucht nützlich sein. Also schön, legen Sie los! Ich bin gespannt.« Minervas Herz schlug unnötig schnell, als sie sich unter den Blicken ihrer Kollegen das erste Mal verwandelte. Natürlich lief die Transformation reibungslos ab, schließlich hatte sie diese oft genug geübt, doch auf Beobachtung konnte sie trotzdem verzichten. Genauso wie auf Margaretes verzücktes »Oh, wie süß!«, als sie auf vier Pfoten dastand. Es dauerte einen Moment, bis Minervas veränderte Sicht sich richtig eingestellt hatte. Vor sich erkannte sie einen zarten, blauen Flimmer, der Urquart umgab. Daneben schimmerte Margarete in fröhlichem Violett. Neugierig wandte Minerva den Kopf, um den Rest der Anwesenden in Augenschein zu nehmen. Mulcibers Aura erstrahlte in einem rostigen Orange-rot, die Patrouillenbeamten waren beide gelb. Und Langley umgab ein Grün, das so verschmutzt war, dass es fast schon braun wirkte. Viel war über die Bedeutung von Auren nicht bekannt – die Forschung daran galt gemeinhin als Schwachsinn (oder wurde eher dafür genutzt, solchen zu begründen) –, aber Minerva wusste zumindest, dass Auren sich durch den exzessiven Gebrauch dunkler Magie trübten. Misstrauisch kräuselte sie die Nase, sodass ihre Schnurrhaare zuckten. Besonders gut roch es hier in der geschärften Wahrnehmung einer Katze auch nicht. Langley stank nicht nur im übertragenen Sinne bis zum Himmel. Dass seine Atmung plötzlich abflachte und er seine Zähne so fest aufeinanderpresste, dass es knirschte, stärkte Minervas Eindruck nur. Sie war sich der Blicke in ihrem Rücken wohl bewusst, also trat sie ein paar Schritte in den Raum hinein und sah sich witternd um. Zunächst fiel ihr nichts Besonderes ins Auge, doch dann – das Bücherregal! Zielstrebig hielt sie darauf zu. Da, unter dem letzten Regalbrett, schimmerte es verdächtig an der Rückwand. Minerva neigte den Kopf und sah den Lichtstrahlen dabei zu, wie sie auf das Holz trafen ... und kleine Kreise auslösten, einem Stein gleich, den man in einen See warf. Eine silberne Schicht bedeckte die Regalwand. Sie hatte keine Ahnung, was für ein Zauber das war, aber dass er da war – dafür würde sie ihre Pfote ins Feuer legen. Neben dem Bücherregal kniend, verwandelte sie sich zurück. »Mulciber, das hier sollten Sie überprüfen.« Mit dem Zauberstab schubste sie einige Bücher beiseite und deutete auf die – für menschliche Augen gänzlich unspektakuläre – Holzwand. Grummelnd rückte der ältere Zauberer mit dem Patrouillenbeamten im Schlepptau an und Minerva räumte ihren Platz. Mulciber machte eine ziemliche Show daraus, die Rückwand zu betasteten. »Was soll hier sein, die Sonde schlägt nicht aus –« Er hielt inne und der Ausdruck in seinen Augen wandelte sich. »Oh verflucht ...« Es klirrte. Minerva wirbelte herum – und rutschte beinahe auf einer Lache aus Kaffee aus. Langley war zurückgewichen, mit einem Mal doch einen Zauberstab in der Hand. »Tun Sie das nicht, Mr Langley«, sagte Urquart ruhig. »Das wird Ihre Strafe nur schlimmer machen. Und denken Sie doch nur an Ihre arme Mutter, die dann ganz alleine sein wird ...« »Tsss!« Langley richtete den Zauberstab auf ihn. »Was wissen Sie schon von meiner Mum –« Urquart streckte sich und hob einen Bilderrahmen von der Fensterbank neben dem Bett. »Nun, das ist Sie doch oder nicht? Sie sieht nicht aus, als wenn Sie wüsste, was Sie in Ihrer Freizeit machen, Mr Langley. Wollen Sie ihr das Herz brechen? Wir haben eine ausgebildete Aurorin dabei. Sie wissen, was das bedeutet. Wenn Sie sich wehren, ist sie befugt, Sie um jeden Preis festzusetzen.« Langleys Blick zuckte zu Minerva. Dann senkte er den Zauberstab und eine seltsame Entschlossenheit blitzte in seine Augen auf. »Das kannste vergessen!« Er trat einen Schritt vorwärts, eine kleine Drehung – Minerva wusste nicht, was Besitz von ihr ergriff, aber als Langley drohte, sich in Luft aufzulösen, da warf sie sich vor, packte seinen Unterarm und klammerte sich fest. Es riss sie in einem Wirbel aus Farbe von ihren Füßen. Die Wohnung um sie löste sich auf, genauso wie ihr Einsatzteam. Langley versuchte noch, ihren Griff von sich zu lösen, aber sie ließ nicht locker, obwohl die Disapparation so grauenvoll stümperhaft war, dass sie ihr das Frühstück die Speiseröhre emportrieb. Keine zehn Sekunden später schlugen Minervas Knie unsanft auf Gras. Knapp zwei Meter vor ihr rollte derweil ihre unfreiwillige Mitreisegelegenheit über die Rasenfläche. Minerva hatte den Zauberstab schon in der Hand, da bemerkte sie erst die Muggel, die sie umgaben. Die sie anstarrten wie das siebte Weltwunder. Sie waren mitten in den Hyde Park appariert. Langley vor ihr lachte dreckig. »Tja, dann brech mal das Geheimhaltungsabkommen, Schätzchen!« Betont lässig stand er auf und klopfte sich das Gras vom Morgenmantel. Sein Blick glitt über die Muggel, die sie mit offenen Mündern musterten. »Ich bin schließlich nur ein unbewaffneter Mann, der von einer Verrückten angegriffen wird ...« »Dafür gibt es Vergissmichs!«, schnappte Minerva, auch wenn sich in ihrem Magen ein harter Knoten gebildet hatte. Er durfte ihr jetzt nicht entwischen – und sie nicht an die Konsequenzen ihres Handelns denken ... Ihren Zauberstab vom Ärmel verborgen, richtete sie die Spitze langsam auf Langley. Rotes Licht brach daraus hervor – und hinterließ ein Brandloch im Rasen, als Langley sich mit einem Hechtsprung zur Seite warf. Anstatt ihr einen Gegenfluch entgegenzuwerfen, rannte er auf den Gehweg zu, lauthals um Hilfe schreiend. Lange warten musste er nicht und schon lief ihm der erste mutige Muggel entgegen. »Du verfluchter Bastard!«, knurrte Minerva. Sie schleuderte ihm einen zweiten Schockzauber hinterher, den Langley über seine Schulter abwehrte. Die umstehenden Muggel schrien. Der Mann, der Langley eben erst zur Hilfe hatte eilen wollen, verharrte unschlüssig auf halbem Weg und Minerva nutzte das freie Feld, um einen weiteren Zauber auf ihren Gegner zu schleudern. Wieder wehrte Langley ab. Ein drittes Brandloch fraß sich in den Rasen. Den Rasen ... Minerva senkte den Zauberstab. Langley grinste und drehte sich um. Zumindest wollte er das. Seine Füße allerdings verweigerten ihm den Dienst. Panisch sah der Mann nach unten – und fand seine Beine von dicken, fleischigen Ranken umschlungen. »Du Schlampe!«, schrie er, den Zauberstab erhoben. Etwas Helles zischte auf Minerva zu, doch sie riss einen Schutzschild hoch. Noch bevor sie einen Gegenzauber geformt hatte, knallte es in der Nähe und unter einem Baum tauchte ihr Einsatzteam auf. Margarete feuerte einen Fluch auf Langley, der ihn keuchend vornüberkrümmen ließ, und Mulciber sowie die Patrouillenzauberer schwärmten in Richtung der lärmenden Muggel aus, ihre Hände beschwichtigend erhoben. Nur Elphinstone Urquart blieb stehen und besah sich einen Moment das Chaos. Dann glitt sein Blick langsam zu Minerva. Sein Umhang bauschte sich unheilverkündend hinter ihm auf, als er über die Rasenfläche auf sie zuhielt. »Es tut mir wirklich leid«, verkündete sie, kaum dass er in Reichweite war. »Ich –« Langley brüllte. »Bombarda!« Minerva sprang auf ihren Vorgesetzten zu. Er starrte sie mit großen Augen an, bevor schon ihre flachen Hände auf seine Brust schlugen und sie beide zu Boden stürzten. Hitze raste über Minervas Rücken. Sie verbarg das Gesicht in ihren Armen, einen spitzen Schrei in der Kehle. Der Geruch angesengter Haare erfüllte die Luft und sie nahm dunkel wahr, dass Urquart etwas rief. Als sie den Kopf hochriss, sah sie gerade noch, wie Margarete Langley mit einem Schockzauber außer Gefecht setzte. Die Ranken umschlangen ihn inzwischen bis zur Brust und so blieb er stehen wie eine groteske Statue. Atemlos betastete Minerva ihren Hinterkopf. Noch alles dran ... »Cac naomh!«, entfuhr es Urquart neben ihr auf Gälisch. »Nàile«, pflichtete sie ihm bei und unterdrückte ein zittriges Lachen. Lustig war hier immerhin gar nichts, doch für den Moment war da einfach nur Erleichterung. Heilige Scheiße, da hatte er recht. Um ein Haar wäre das hier ihr letzter Arbeitstag geworden. Zittrig stemmte Minerva sich zurück auf die Beine. Das Gras um sie her war von Langleys Feuerball plattgedrückt und die Muggel in der Ferne waren weiß wie Geister im Gesicht. Sie schlang die Arme um ihre Mitte. So hatte sie sich das wirklich nicht vorgestellt. »Es tut mir so leid«, murmelte sie an Urquart gewandt, der sich Gras vom Umhang strich. »Ich hätte das nicht tun dürfen –« »Später.« Er klopfte ihr auf die Schulter. »Erstmal müssen wir uns um dieses Chaos kümmern ...« Ein kleines Seufzen auf den Lippen, trat er auf das Gras, das knackte und schließlich brach. »Nun, das kann schon mal nicht so bleiben. Reverti!« Er zog einen großen Kreis mit dem Zauberstab und direkt unter Minervas Sohlen färbte sich das Gras wieder grün, richtete sich langsam auf und streckte sich erneut der Sonne entgegen. »Schon besser«, meinte Urquart mit einem Zwinkern. »Dann kriegen wir den Rest auch wieder hin.«   Miss Cuddles, die Teufelsschlinge, regte sich nicht, als Minerva Urquarts Büro zum zweiten Mal an diesem Tag betrat. Aber das war nur ein schwacher Trost für das, was ihr unweigerlich bevorstand. Wenn sie nur daran dachte, wie breit Margarete Jansson gegrinst hatte, als sie ins Ministerium zurückgekehrt waren, wie spöttisch sie »Glückwunsch, du hast Mulciber heute seeehr glücklich gemacht; er liebt Gedächtniszauber, die sind seine Spezialität«, gesagt hatte ... Sie war fällig. Es brannte in ihren Augenwinkeln und Minerva schluckte gegen die aufsteigenden Tränen an. Warum nur lief alles schief? Erst die Sache mit Dougal und jetzt das. Noch viel mehr als am Morgen wünschte sie sich nach Hogwarts zurück. Hinter ihr knarrte die Tür und Urquart trat ein. »Bitte, nehmen Sie Platz«, wies er sie an. Mit gesenktem Kopf zog Minerva den rechten Stuhl zurück – »Ah, nicht den.« Verwundert sah sie auf. »Der hat eine kaputte Feder. Da hält man es nicht länger als fünf Minuten drauf aus, bevor es wirklich ungemütlich wird.« »Oh, ich könnte das reparieren, mit dem Reparo –« »Nein, nein.« Urquart gluckste leise. »Das könnte ich natürlich auch, aber der Stuhl gehört so. Manche Leute will man eben nicht länger als fünf Minuten dahaben.« Er wies auf den linken Sessel, der genauso aussah wie der Rechte. »Bitte.« Stumm nahm Minerva Platz. Wenn sie länger als fünf Minuten hier sitzen sollte, war die Situation schlimmer als angenommen. Sie hatte damit gerechnet, dass Urquart kurzen Prozess machen würde, ihr die Dienstmarke abnehmen und gegen die Kündigung austauschen, doch offenbar plante er vorher eine längere Rede ein. Sie sah auf die goldene Marke in ihrer Hand hinab, in deren Oberfläche ein Zauberstab geprägt war, an dessen Spitze eine Waage hing. M. McGonagall, magische Strafverfolgung. Was war es doch für ein schöner Traum gewesen, sich hier einen Namen zu machen. Zusehends verschwamm die Prägung vor ihren Augen. Was sollte sie nur ihren Eltern – und Robbie! – in ihren Briefen schreiben? »Also, Miss McGonagall – das war mal ein erster Arbeitstag. Sowas hatten wir auch noch nicht.« Minerva ballte die Faust um ihre Dienstmarke. »Ich weiß, dass es ein Fehler war«, würgte sie hervor. »Es tut mir wirklich leid, dass ich Sie derart enttäuscht habe und ich kann natürlich verstehen, dass ich unter diesen Umständen nicht bleiben kann.« Ihre Stimme klang selbst für sie ganz fern, als würde sie von einer anderen Person kommen. Sie wagte es nicht, ihrem Vorgesetzten in die Augen zu sehen. Er war der Letzte, der ihre Tränen bemerken sollte. Doch Urquart schüttelte den Kopf. »Gòraiche«, sagte er mit sanfter Bestimmtheit. »Das ist nun wirklich Unsinn. Sie haben heute zwar Ihr Glück sehr herausgefordert, aber wir alle machen Fehler. Das Wichtige ist doch, dass wir aus ihnen lernen. Und Sie haben ja schon begriffen, dass diese Aktion ein bisschen zu mutig war. Warum sollte ich Sie also loswerden wollen?« Die Kanten der Dienstmarke bohrten sich in Minervas Haut. »... Nicht?« »Nein. Ich versichere Ihnen, dass ich Sie nicht loswerden möchte. Ich bin doch nicht verrückt!« Er warf einen Seitenblick auf die eingetopfte Teufelsschlinge und zuckte mit den Schultern. »Zumindest nicht auf diese Art verrückt. Sie sind die Erste, mit der ich vernünftig auf Gälisch lästern kann, das ist doch wunderbar!« Das entlockte Minerva ein Schmunzeln, ehe der Ernst der Situation sie wieder einholte. »Miss McGonagall, ist Ihnen eigentlich klar, dass Sie mir heute das Leben gerettet haben? Und nicht nur das – Sie haben dafür gesorgt, dass wir das Diebesgut gefunden und Mr Langley festgenommen haben. Das war gute Arbeit.« »Aber zu welchem Preis? Die ganzen Muggel ...« »Die Muggel sind allesamt obliviert und glücklich wie eh und je.« Urquart schubste mit seinem Zauberstab eine Kekstüte über den Tisch und nickte auffordernd. Der Geruch frischen Ingwers stieg Minerva in die Nase, aber es brauchte eine zweite Geste, damit sie sich einen Keks nahm. Beschämt knabberte sie am Rand, obwohl es durchaus gut schmeckte. »Miss McGonagall, nehmen Sie sich das bitte nicht so zu Herzen. Sie konnten nicht wissen, dass wir eine Liste von Mr Langleys üblichen Fluchtorten haben und ihm so oder so auf die Schliche gekommen wären. Wenn etwas Schuld ist, dann die schlechten Vorbereitung dieser Mission. Ich hätte Sie vernünftig einweihen sollen oder aber nicht mitnehmen. Das nächste Mal wird besser laufen, das verspreche ich Ihnen. Und bis dahin gibt es genug Schreibtischarbeit für uns.« Minerva starrte Urquart an, dann die Marke in ihrer Hand. Inzwischen hatte das Muster darauf seinen Abdruck in ihrer Handfläche hinterlassen. M. McGonagall. Magische Strafverfolgung. Sie lächelte und schlussendlich gewann das Brennen in ihren Augen doch. Eine einsame Träne lief über ihre Wange, als sie aufsah. »Ich ... Danke.« »Dafür nicht. Willkommen im Team, Minerva.«   ☽•••☾   Der erste September 1982 neigte sich dem Ende entgegen. Die vielen Fenster von Hogwarts waren noch hell erleuchtet, doch eins nach dem anderen erloschen die Lichter dahinter. Es war eine eigenartige Ansicht – niemals sonst hatte Minerva diesen Tag außerhalb des Schlosses verbracht, seit sie Lehrerin geworden war. Die leise Wehmut, die in ihr hinaufkroch, passte zu den Erinnerungen, in denen sie geschwelgt hatte. Und dennoch freute sie sich, dieses Mal Hogwarts zu verlassen. Manchmal waren Trauer und Freude, Ende und Anfang, einfach zu nahe beieinander. Noch heute fragte sie sich gelegentlich, was aus ihr und Dougal hätte werden können. Ob sie nicht doch glücklich gewesen wären. Mindestens genauso oft, wie sie sich wunderte, was geschehen wäre, wenn sie dem Ministerium nicht nach zwei Jahren den Rücken gekehrt hätte, um in ihre Heimat zurückzukehren. So viele Möglichkeiten, so viele offene Fragen. Aber dann sah sie das kleine Cottage vor sich, in dem sie seit wenigen Wochen mit ihrem echten Ehemann lebte, nicht dem, der fast gewesen wäre. Die Hand auf der Gartenpforte hielt sie einen Moment inne. Sog die kalte Luft in sich auf, die vom Herbstanfang kündete. Sie roch Kaminfeuer und lächelte, als sie einen Schatten hinter den Vorhängen erkannte. In Augenblicken wie diesen wusste sie, dass sie die Zeit keinesfalls zurückdrehen würde. Kaum, dass sie in den Flur trat, kam Elphinstone aus dem Wohnzimmer, von wo es herrlich nach heißer Schokolade, Keksen und Kamin duftete. »Willkommen daheim.« Er grinste, als hätte er den ganzen Tag nur darauf gewartet, diese zwei Worte loszuwerden (und so wie Minerva ihn kannte, hatte er das wirklich). »Komm her.« Mit einem glücklichen Seufzen ließ sie sich in seine Arme ziehen. »Na, wie war dein ...« Elphinstone zählte lautlos. »Dein 30. erster Schultag?« Sie lachte leise. »Wie immer. Na ja, fast. Es herrscht kein Krieg mehr, das merkt man. Es ist viel zu lange her, dass es so war. Dass die Kinder so unbeschwert waren. Es hat sich sogar ein Schüler gewagt, ein Furzkissen auf Albus’ Platz zu schmuggeln.« »Oho, ein wahrlich raffinierter Streich.« »Noch machst du Witze, aber in ein paar Jahren habe ich es sicher wieder mit einer ausgewachsenen Streichepidemie zu tun.« Minerva schnitt eine Grimasse. »Warum sind es auch immer meine Schüler, die Unheil anrichten?« »Haben das Gryffindors nicht so an sich? Du bist schließlich genauso gut darin.« Elphinstone fing grinsend ihr Handgelenk auf, als sie ihn in die Seite piksen wollte. »Frech«, sagte Minerva, bevor sie ihn in einen Kuss zog. »Unerhört frech.« »Ach, gib’s doch zu – ein bisschen hast du das vermisst.« Anstatt zu antworten, sah sie ihn mit ihrem strengsten Lehrerinnenblick an, bis er lachen musste. Zufrieden lehnte sie sich wieder gegen ihn und genoss das Gefühl seiner Umarmung. Das Schicksal trieb schon ein interessantes Spiel. Manchmal überraschte einen das Leben genau dann mit einem neuen Anfang, wenn man es am wenigsten erwartete. Oft genug war Minerva davon ausgegangen, dass etwas endgültig sein würde, nur damit sich herausstellte, dass mit einem Mal alles anders sein konnte. Plötzlich brach Krieg aus und ebenso überraschend ging er zu Ende. Doch mitunter waren solche Änderungen auch beruhigend – wie das Wissen darum, dass es immer wieder die Chance gab, aus Fehlern zu lernen. Etwas zu ändern. Sich zu verändern. Vielleicht brauchte es gar keinen Reverti-Zauber für das Leben, der alles auf null setzte. Denn wie hatte Elphinstone einst, als aus jahrelanger Freundschaft mehr geworden war, zu ihr gesagt? »Jede neue Chance ist die Gelegenheit, etwas Wunderbares zu erschaffen. Nicht schöner, nicht besser, sondern anders.« Und an diesem Punkt konnte Minerva sagen, dass jenes ‚anders‘ ihr sehr gut gefiel. Sie genoss es, für jede Sekunde, die es anhielt. Wer wusste schon, wie viele Enden und Neuanfänge das Leben noch bereithalten würde. Sie war jedenfalls gewappnet.   ☽• E N D E•☾ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)