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Adarach

Der Anfang vom Ende
von

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1. Festvorbereitungen

Adarach spürte die Furcht seiner Mutter bevor er sie an ihrem kalkweiß gewordenen Gesicht ablesen konnte. Sie hatte innegehalten mit dem Schmücken des Schreins, ließ die verbliebenen Birkenzweige in den Händen sinken. "Er wird sterben", hauchte sie, schwankte leicht.
 

Von wem hatte sie gesprochen? Das zu fragen wagte Adarach allerdings nicht. "Soll ich dich nach Hause begleiten, Mutter?" fragte er statt dessen und stützte sie am Ellbogen, denn er hatte das Gefühl, sie müßte gleich in Ohnmacht sinken.
 

Aber Peribil, die Erste Prophetin von Garam, schüttelte den Kopf, so daß die Enden ihres symbolbestickten Kopftuchs flogen, zusammen mit einigen darunter heraushängenden Strähnen ihrer auffällig roten Locken, die sie auch Adarach und seiner Schwester Avilah vererbt hatte. Sie entzog ihrem Sohn nach ein paar tiefen Atemzügen ihren Arm, platzierte die letzten Zweige in der Empfangshalle des Palastes. "Die Priesterinnen und Prophetinnen sind des Festes wegen schon im Tempel versammelt. Ich werde mit ihnen auch für den König beten", sagte sie dann und ging sehr aufrecht in Richtung des Seiteneinganges der Halle. Dort wartete ihr Bruder Buhachan. "Die Zeit des Umbruchs beginnt", flüsterte sie ihm zu, aber Adarach hörte es trotzdem. "Achte auf dich und sorge für meine Kinder." Als habe sie auch ihren eigenen Tod gesehen.
 

Wieso sah sie ihren Bruder, der gerade einmal zwei Jahre älter war als Adarach, als Erwachsenen an, ihren Sohn dagegen immer noch als unmündiges Kind, für das gesorgt werden mußte? Seit einem Jahr war er schon deutlich größer als seine Mutter und seit einigen Monaten so groß wie Buhachan. Schon lange fühlte er sich nicht mehr wie ein Kind, und spätestens seit dem vergangenen Rauschfest vor etwa einem halben Jahr, bei dem er mit Tawaram die Göttin gefeiert hatte, war er das auch vor den Göttern nicht mehr. Nach dem Fest des Jägers jedoch mußte auch sie es akzeptieren, da Tawaram bereits ein Wissender war und ihn eingeladen hatte, mit ihm das Geheimnis zu besuchen.
 

Der Gedanke an Tawaram, an die überwältigende Lust, die er mit dem blonden Sohn des Waffenschmieds aus der Roten Gasse geteilt hatte, machte es noch schwerer, die Rolle als Kind zu akzeptieren und so folgte er seinem Onkel eher mürrisch, hinaus aus dem Palast, vorbei an den Wachen, die erst vor seiner vorauseilenden Mutter und dann vor ihm salutierten, hinunter von der Burg und zu dem Stadthaus, das der Prophetin und ihrer Familie zur Verfügung stand.
 

"Die Thronanwärter werden bald ihr blutiges Ränkespiel beginnen", sagte Buhachan plötzlich leise.
 

Fürchtete seine Mutter etwa den Tod des Königs? Sicher würde des Königs ältester Sohn Upatach versuchen, die anderen Prinzen zu töten um den Thron an sich zu reißen. Doch Adarach war als Sohn einer ehemaligen Geisel doch gar kein Kandidat für den Thron. Und die siebenjährige Avilah war ein Kind des Rauschfestes. In fünf Jahren würde sie ihre Zeit als Tempelschülerin beginnen. Warum also sollte irgendjemand die Hand gegen sie erheben?
 

"Denk nicht, daß dir keine Gefahr droht", begann Buhachan wieder, als könne er die Gedanken seines Neffen mit ebensolcher Leichtigkeit lesen, wie es der Prophetin gelang. "Peribil hat Recht, um dich zu fürchten. Auch wenn sie eine Geisel war, als sie dich vom König empfing und nun als Prophetin an den Tempel hier in Garam gebunden ist, sie ist immer noch König Achawams Tochter und du sein legitimer Erbe. Selbst wenn Upatach in dir keine Gefahr für seinen Herrschaftsanspruch über die Garamar sähe, so kann er doch die Gefolgschaft der Verrar nicht mehr beanspruchen, sobald du erwachsen bist und dein Erbe einforderst."
 

Adarach blieb stehen. "Und wenn er meinen Tod will, was meint sie, was du dagegen tun kannst?" fragte er provozierend.
 

"Du solltest dich außerhalb seiner unmittelbaren Reichweite befinden, wenn eintritt was Peribil sah", sagte Buhachan ernst. "Du bist fünfzehn, alt genug, mehr von der Welt kennenzulernen. Sag deinem Lehrer, daß du reisen willst, in den Westen, nach Berresh oder Ma'ouwat vielleicht, daß du dort studieren willst. Sag es ihm noch heute, dann bist du morgen vielleicht schon unterwegs. Und komm erst zurück, wenn Upatach seine Herrschaft gesichert und keinen Grund mehr hat, dir die wenigen verbliebenen Verrar zu neiden."
 

"Und was ist mit Avilah? Es kann doch wohl nicht sein, daß ihr ernsthaft Gefahr droht."
 

"Sie ist ein Geschenk der Götter, das wird selbst Upatach respektieren. Aber erst in fünf Jahren wird der Tempel ihr Zuhause sein. Wenn du nicht hier bist, um für sie zu sorgen, muß ich das wohl tun."
 

"Sie hat dir gesagt, daß auch sie sterben wird, nicht wahr?" fragte Adarach leise. Obwohl Buhachan nicht die selbe Mutter wie Peribil hatte, verband sie doch viel mehr, als Peribil mit ihrem Sohn verband. Das weckte Neid in Adarach. Doch dann flog ihn eine Ahnung der Mißachtung an, die man Buhachan überall im Palast entgegen brachte, dem Prinzen der Verrar, der als Kind nach Garam verschleppt worden war, während sein Vater und sein erwachsener Bruder gegen die Garamar auf dem Schlachtfeld kämpften und getötet wurden; der seinem eigenen Erbe entsagte, damit die Kinder und Alten der Verrar nicht ebenfalls getötet wurden. Doch es schien nicht wenige Momente gegeben zu haben, in denen Buhachan den eigenen Tod dieser Mißachtung vorgezogen, ihn gesucht und vielleicht auch gefunden hätte, wäre da nicht seine Schwester Peribil gewesen, die ihn beschützt und wie eine Mutter aufgezogen hatte.
 

Buhachan beantwortete Adarachs Frage nicht, aber Adarach fühlte den Knoten im Bauch seines Onkels, als erzeugten ihn seine eigenen Befürchtungen in seinem eigenen Leib.
 

*
 

Avilah erwartete sie bereits vor der Tür zum Innenhof. "Warum darf ich Mutter nicht von der Reinigungszeremonie aus dem Tempel abholen?" beschwerte sie sich mit in die Seiten gestemmten Armen, kaum daß sie den Vorhof des Hauses betreten hatten.
 

"Deine Mutter wird ihre Gründe gehabt haben, es dir zu verbieten", antwortete Buhachan nur.
 

Natürlich wußte Avilah, daß es ihr bisher nie gestattet gewesen war, die Mutter von einer Zeremonie im Tempel abzuholen, aber vielleicht spürte auch sie das Unheil, das ihre Mutter gesehen hatte. Trotz ihrer Jugend hatte sie schon häufiger Gesichte von kommenden Ereignissen gehabt. Ihre Mutter hatte es der Tatsache zugeschrieben, daß sie während eines Rauschfestes mit dem Segen der Göttin empfangen worden war, ebenso wie ihre Großmutter, die Gattin des letzten Königs der Verrar, deren Kinder Peribil und Jochawam als Erwachsene einige der Fähigkeiten entwickelt hatten, die man gewöhnlich den Göttlichen Gesandten zuschrieb. Selbst Adarach hatte durch seine Mutter noch etwas davon geerbt, wie sich inzwischen zeigte. Bei Avilah jedoch waren die Fähigkeiten schon als Kind so stark, wie ansonsten nur bei den erwachsenen Prophetinnen der Göttin. Es stand außer Frage, daß sie zur Prophetin ausgebildet würde, wenn sie in den Dienst der Großen Mutter trat.
 

Buhachan rief den Verwalter zu sich und begann mit ihm die Verlegung des Haushaltes in das Landhaus am Ostmeer zu planen, lange vor der üblichen Zeit während der Sommermonate, sicher um mit Avilah die Hauptstadt rechtzeitig vor der mit dem Tod eines Königs einhergehenden Unruhe zu verlassen. Und Adarach erkannte nach einigem Nachdenken, daß Buhachans Vorschlag für ihn tatsächlich gut war, auch wenn er das Geheimnis dann vielleicht nicht dieses Jahr besuchen konnte. Also erklärte er seinem Lehrer Chafaran, er wolle nicht mit in das Landhaus, sondern eine Bildungsreise in den Westen, nach Berresh unternehmen. Schon lange hatte der Lehrer von der dortigen großen Bibliothek geschwärmt, ihrem Bestand an Schriften der taribischen Philosophen, also würde er es seinen eigenen Überredungskünsten zurechnen, daß Adarach nun genau dorthin wollte, und es sicher auch dem Finanzverwalter im Palast gegenüber so begründen. So konnte nicht der Verdacht aufkommen, daß Adarach sich absetzte.
 

Um sich und die noch immer verstimmte Avilah abzulenken, versprach er seiner Schwester dann, ihr eine Überraschung mitzubringen und machte sich auf dem Weg, eine Kleinigkeit vom Markt für sie zu besorgen.
 

Er fand recht schnell einen hübschen Armreif für seine Schwester, mit eingelegten Steinen, die so grün waren, wie ihre Augen und überlegte dann, ob er noch weiter über den Markt schlendern sollte, um auch ein Geschenk für Tawaram zu suchen oder besser gleich nach Hause zurückkehrte. Plötzlich jedoch bezog sich der Himmel. Immer dunkler werdende Wolken türmten sich zu riesigen Gebirgen über dem Meer und zogen in Richtung Garam. In der Ferne regnete es schon heftig und um Adarach packten die Händler ihre empfindlichen Waren zusammen, um sie vor dem zu erwartenden Unwetter zu schützen. Also machte er sich auf den Rückweg und erreichte das Haus gerade noch trockenen Fußes, bevor das Gewitter sich über der Burg und den um den Fuß der Anhöhe liegenden Häusern entlud und Unmengen an Regen und Hagel niederprasselten, begleitet von einzelnen Blitzen und Donnerschlägen.
 

Adarachs Geschenk erfreute Avilah, doch als das Gewitter sich bereits von Garam nach Norden entfernte, fuhr sie plötzlich zusammen, und nach einem Moment des Innehaltens rief sie aus: "Etwas ist mit Mutter passiert!"
 

Hatte ein Blitz den Tempel getroffen und das Dach in Brand gesteckt? Bevor Adarach seine Frage formulieren konnte, war Avilah schon aus dem Haus gerannt, und er mußte sich beeilen, ihr zu folgen. An den Rändern der halb überschwemmten Straßen lagen aufgetürmt die Hagelkörner, und der Weg hinauf zur Burg wurde zu einer rutschigen Angelegenheit. Doch dort oben auf dem Hügel war kein Feuer zu sehen. Was konnte mit Mutter passiert sein?
 

Avilah hatte sich nicht damit aufgehalten, einen Blick auf die Gebäude der Burg zu erhaschen, sondern war weitergeeilt, der Kleidersaum schon dunkel vom Wasser aus den Sturzbächen, die von der Anhöhe durch die Straßen hinunter zum Hafen flossen. Und Adarach lief ihr mit durchweichten Sandalen um die nassen Füße hinterher, die Straßen, die Treppe hinauf und endlich bis vor den unter dem Vordach mit Frühlingsblumen, Birkenzweigen und Rehfellen prächtig geschmückten Tempel der Großen Mutter, in dem sich die Priesterinnen und Prophetinnen versammelt hatten, um sich für das Fest des Jägers vorzubereiten.
 

Natürlich war die zweiflüglige Holztür verschlossen, doch auf Avilahs Hämmern mit den Fäusten reagierte endlich eine der Tempeldienerinnen und öffnete die kleine Klappe im rechten Torflügel, wohl um den Störenfried zu ermahnen, hielt jedoch inne, als sie die Tochter der Ersten Prophetin erkannte.
 

"Was ist mit meiner Mutter?" fragte Avilah mit Panik in der Stimme, doch die Antwort war nur ein verständnisloses Starren. "Was soll mit ihr sein? Sie alle reinigen sich für die Vorbereitung des Jägerfestes."
 

"Ich muß mit ihr sprechen", beharrte Avilah, als die Dienerin die Klappe wieder schließen wollte. "Irgendetwas ist passiert", fügte sie noch hinzu.
 

Die Dienerin verdrehte kopfschüttelnd die Augen, seufzte und sagte dann: "Also gut, ich werde schauen, ob deine Mutter vielleicht ein paar Augenblicke für dich erübrigen kann, die Reinigungszeremonie sollte gleich beendet sein." Und die Klappe wurde wieder geschlossen.
 

Avilah wurde immer zappeliger, während die Zeit ohne Antwort von der Dienerin oder eine Nachricht von ihrer Mutter verging. Ungeduldig ging sie vor dem Tempeleingang hin und her und zog mit ihrem halbdurchnässten Gewand neugierige Blicke der Passanten auf sich. Adarach lehnte sich an die Mauer, um sich seiner glitschigen Sandalen zu entledigen und versuchte dann wenig erfolgreich, seine Schwester zu beruhigen. "Was soll ihr im Tempel schon passiert sein? Du weißt selbst, daß niemand die Zeremonialkammer von außen einfach öffnen kann, wenn sie von innen verschlossen wurde."
 

"Aber ich spüre doch, daß etwas nicht stimmt", beharrte Avilah indessen und fuhr sich nervös durch die langen, roten Locken, die sie zu einem kindlichen Ebenbild ihrer Mutter machten. Es gab keinen Grund, an ihren Vorahnungen zu zweifeln, auch wenn Adarach selber das Unheil nicht spürte. Aber dunkle Befürchtungen krochen nun auch durch seine Gedanken. Wenn sich doch herumgesprochen hatte, daß der König sterben würde und nun einer der Prinzen meinte, die Erste Prophetin würde ihren Einfluß geltend machen, um ihren eigenen Sohn auf den Thron der Garamar zu bringen und sie auf dem Weg in die Zeremonialkammer vergiftet hatte? Wenn einer eine Spionin in den Tempel eingeschleust hatte, um in der verschlossenen Kammer dafür zu sorgen, daß die Erste Prophetin für immer verstummte?
 

Adarach rief sich zur Ordnung um seine Schwester durch seine Gedanken nicht noch weiter zu beunruhigen - und außerdem war es völlig abwegig. Die Erste Prophetin wurde trotz ihrer Abstammung von den Bewohnern Garams geliebt, so daß sich schwerlich ein Attentäter finden ließ, der ihr Leben beendete. Er schüttelte den Kopf, um die finsteren Gedanken zu vertreiben, aber ein Blick in das besorgte Gesicht seiner Schwester reichte, um sie zurückzubringen.
 

"Wieso dauert das so lange?" jammerte Avilah unglücklich.
 

Befanden sich etwa wirklich Attentäter im Tempel und hatten inzwischen auch die Dienerin getötet, mit der sie eben noch gesprochen hatten? Adarach ließ die aufgeweichten Sandalen fallen, um seine Schwester notfalls mit bloßen Händen zu verteidigen, doch er wünschte, er hätte wenigstens sein Übungsschwert dabei. Als sich der rechte Torflügel öffnete, war er jedoch bereit, auch einen gepanzerten, bewaffneten Angreifer zu Boden zu zwingen.
 

Aber es war nur die Tempeldienerin, die durch das Tor trat und Avilah und ihren Bruder hereinwinkte. "Ich weiß nicht genau, was geschehen ist. Die Schülerin spricht von einem Wunder", sagte sie leise, aber ihre hängenden Schultern und ihre Bestürzung ließ Adarach das Schlimmste fürchten.
 

Bevor er jedoch irgend etwas sagen konnte, kam Avilah ihm zuvor. Grob griff sie mit ihren kleinen Händen in die Ärmel der Tempeldienerin und schüttelte sie. "Nun sag endlich, was mit meiner Mutter ist! Ich will sie sehen!" schrie sie, bevor die gute Frau auch nur den Torflügel wieder schließen konnte.
 

Es sammelte sich schon eine Traube Neugieriger auf dem Tempelvorplatz, so daß Adarach die Tür schloß. Sie sollten wohl besser schnell herausfinden, was mit ihrer Mutter geschehen war, bevor ganz Garam von Gerüchten und Vermutungen schwirrte wie ein Bienenstock kurz vor dem Prinzenflug. Aber die Tempeldienerin war wie erstarrt und antwortete nicht, also eilte Avilah an ihr vorbei in die Halle, vorbei an dem steinernen Bild der Großen Mutter, ohne für einen ehrerbietigen Gruß innezuhalten, weiter in den Gang zur Zeremonialkammer. Adarach dagegen hielt vor der mit einem nachtblauen Umhang verhüllten Statue einen Moment inne, um seinen Respekt zu erweisen, dann erst folgte er seiner Schwester.
 

Die große Tür war aufgebrochen, anscheinend von den davor stehenden zwei Dienerinnen und der Tempelschülerin, die noch Äxte in den Händen hielten. Und Adarach konnte einen Blick in die den Priesterinnen vorbehaltene Kammer werfen. Durch einige schmale Fenster direkt unter der Decke drangen die Strahlen der Abendsonne, in denen kleine Staubpartikel tanzten. Die Felle und frisch belaubten Birkenzweige an den Wänden waren ebenso staubbedeckt wie der Boden, aber der Raum war leer.
 

"Sie... sie sind alle verschwunden", flüsterte die Tempelschülerin, die vielleicht so alt war wie Adarach. "Die Große Mutter muß sie zu sich gerufen haben."
 

Die in Avilah aufsteigende Verzweiflung war so übermächtig, daß auch Adarach davon überschwemmt wurde und sie fest in die Arme schloß, um sie zu trösten. Er fühlte sich plötzlich so allein gelassen, daß es schmerzte. Wieso hatte die Göttin ihre Mutter ausgerechnet jetzt zu sich holen müssen? Aber dies war wohl, was Mutter außer dem Tod des Königs gesehen hatte, ihre eigene Nichtexistenz, denn wie sollte man es anderes nennen, da nicht einmal ein toter Körper von ihr oder einer der anderen Priesterinnen übrig geblieben war, dessen Haar man noch hätte streicheln können, dessen kalt gewordene Finger man hätte umfassen können. Da war selbst Grom gnädiger, wenn er die Krieger an seine Tafel rief.
 

Avilah begann leise zu weinen, so daß Adarach sie hochhob und aus dem Tempel trug, vorbei an den gaffenden Menschen auf dem Tempelvorplatz, über die Treppe von der Burg hinunter, durch die Straßen, an deren Rändern inzwischen nur noch Reste des Hagels lagen. Und als er um die Ecke zu ihrem Haus wollte, lief er Buhachan in die Arme.
 

"Wieso...", fing sein Onkel tadelnd an, doch erfasste dann schnell die Lage. "Ist sie schon fort?" fragte er leise und meinte damit natürlich seine Schwester. Er hatte also genau Bescheid gewußt!
 

Adarach konnte sich nicht dazu durchringen, das zu bestätigen und ging schnell an Buhachan vorbei. "Laß uns ins Haus gehen", quetschte er durch seine zugeschnürte Kehle.
 

Als er Avilah durch den Innenhof bis in ihr Zimmer getragen und auf ihr Bett gelegt hatte, konnte er den Anblick dieses kleinen verlorenen Mädchens nicht ertragen. Er legte sich also zu ihr und nahm sie wieder in den Arm, versuchte, ihr durch seine Nähe Trost zu geben, wenn ihm schon keine Worte einfielen, die das vermochten.
 

"Bitte", schniefte Avilah da plötzlich, "kannst du mir Mamas Geschichte vom Rauschfest erzählen?"
 

Das war die Geschichte ihrer eigenen Zeugung, die sie meinte, das Märchen, das ihre Mutter zunächst dem großen Bruder und später auch Avilah erzählt hatte, so oft, daß beide es auswendig kannten. Adarach mußte etwa so alt gewesen sein wie seine Schwester jetzt, als ihre Mutter sie das erste Mal erzählt hatte, am Tag von Avilahs Geburt.
 

"Es war während des Rauschfestes, in einer schönen warmen Nacht, und der dunkle Oinos war so süß", begann er leise, und ein kleines Lächeln zeigte sich auf Avilahs Lippen.
 

"Und sie sah den nackten Mann mit den langen, hellblonden Haaren im Mondlicht tanzen", ergänzte Avilah dann ebenso leise. "Nur das es gar kein Mann war."
 

Adarach küßte seine kleine Schwester auf die Stirn, wie es ihre Mutter zu tun pflegte. "Es war nämlich einer der Gesandten der Göttin. Und er sagte: 'Die Große Mutter liebt dich, Peribil, so wie sie deinen Großvater liebte. Und sie hat mich geschickt, dir ihre Liebe zu zeigen.'"
 

Avilah seufzte sehnsüchtig, und fuhr dann fort: "'Und mir bist du das Liebste ihrer Kinder. Wenn es die Göttin erlaubt, werde ich dich zu mir holen. Bis dahin laß mich dir ein Kind schenken, das dich immer an meine Liebe erinnert.'"
 

"Und der Gesandte der Göttin schenkte Mama die kleine Avilah, die nun sieben Jahre alt ist." Den Schauder der Erkenntnis, der Adarach plötzlich überlief, schien die Große Mutter selbst geschickt zu haben. Seine Mutter hatte die Geschichte nie als Märchen gemeint, sondern hatte gewußt, daß die Göttin oder der Göttliche Gesandte sie eines Tages zu sich holen würde. Hatte sie nicht bedacht, daß sie dadurch ihre Familie verließ? Oder war es ihr bewußt gewesen, hatte sie nur der Zeitpunkt, angesichts der Jugend ihrer Kinder und des baldigen Todes des Königs, erschüttert, oder die Tatsache, daß auch alle anderen Priesterinnen entrückt würden?
 

"Sie hatte keine Schmerzen", sagte Avilah plötzlich. "Sie war nur einfach weg. Das hat mir Angst gemacht, obwohl ich doch wußte, daß der Göttliche Gesandte sie eines Tages zu sich holt." Die Trauer in ihr war ruhiger geworden, die Verzweiflung war verschwunden.
 

* * *
 

2. Aufbruch

Ein Rütteln an der Schulter weckte Adarach. Es dämmerte gerade erst, die ersten Vogelstimmen waren zu hören. Wieso wurde er schon geweckt? Und dann fiel ihm wieder ein, daß die Erste Prophetin von Garam von der Göttin zu sich gerufen worden war. Sie war für immer fort. Und er fühlte in sich das Loch, das ihr Verschwinden gerissen hatte. Buhachan hatte ihn geweckt, und vorsichtig zog Adarach seinen Arm unter der Schulter seiner schlafenden Schwester hervor, um sich von ihrem Bett zu erheben.
 

"Chafaran wartet und eine Leibwache von zehn Mann, die ein guter Freund von mir zusammengestellt hat", erklärte Buhachan flüsternd, um Avilah nicht zu wecken. "Mit der Flut wird das Schiff nach Berresh auslaufen, dein Gepäck ist schon an Bord."
 

Entspannt und mit einem sanften Lächeln auf den Lippen lag Avilah in die Kissen gekuschelt auf ihrem Bett. Adarach ließ sie nicht gerne allein, aber sie war hier bei Buhachan besser aufgehoben, während er sich vorerst nur außerhalb des Einflußbereiches der Garamar in Sicherheit fühlen konnte. Und seine Mutter hatte gewußt, daß es so kommen würde. Deswegen hatte sie ihren Bruder gebeten, für ihre Kinder zu sorgen - nicht weil sie dachte, Adarach wäre dazu nicht in der Lage, sondern weil sie auch seine Verzweiflung und die damit einhergehende Lähmung unmittelbar nach ihrem Verschwinden gesehen hatte.
 

Buhachan zog seinen Neffen aus Avilahs Schlafzimmer und schloß die Tür von außen. "Wir brechen heute mittag in das Landhaus auf, es ist alles dafür vorbereitet. Laß uns wissen, wenn du in Berresh angekommen bist."
 

"Ich werde euch schreiben", versprach Adarach. "Aber wir sehen uns sicher alle gesund wieder." Und er fühlte, wie dieser Satz düstere Erinnerungen in seinem Onkel weckte. Auch er hatte gedacht, die Trennung sei nur zeitweilig, als er vor etwa fünf Jahren aus Verr fort mußte, zu seiner erwachsenen Schwester nach Garam, in die feindliche Königsstadt. Doch nie hatte er seine Eltern oder seinen großen Bruder wiedergesehen. Verr war in dem Krieg dem Erdboden gleich gemacht worden, die Königsfamilie und die Bewohner der Stadt getötet oder versklavt, die anderen Verrar in alle Winde verstreut worden. Die Garamar hatten die Verrar verschlungen und behauptet, durch die Heirat Anaskans von den Garamar mit Peribil von den Verrar seien diese beiden Stämme zu einem neuen verschmolzen. "Du solltest nicht zurückkommen, bevor Upatach nicht gekrönt ist und einen Erben hat", sagte Buhachan schließlich mit finsterem Gesicht.
 

Ja, darauf lief es hinaus. "Bitte gib Avilah einen Abschiedskuss von mir", sagte Adarach, auch wenn er ihn ihr am liebsten selbst gegeben hätte, er nahm den Mantel und den breitkrempigen Reisehut entgegen, dann zog er neue Sandalen an. Die durch den Schlamm und das Wasser halb aufgelösten Sandalen lagen wahrscheinlich noch immer auf dem Tempelvorplatz auf der Burg.
 

Plötzlich umarmte Buhachan seinen Neffen ungewohnt herzlich. "Benutze auf dem Schiff deinen Vatersnamen nicht. Es muß nicht jeder wissen, daß du ein Sohn des Königs bist. Und hör auf Kaharach, wenn du doch in Schwierigkeiten gerätst. Er befehligt deine Leibwache und ist ein guter Mann, ein guter Verrar, auch wenn er eher Grom anhängt als der Großen Mutter. Er wird auch in Berresh bei dir bleiben."
 

Adarach nickte. Aber außerhalb der awranischen Städte war wohl kaum mit Schwierigkeiten zu rechnen, mit denen er nicht selbst zurecht kam.
 

"Kaharach hat auch dein Geld. Wenn du mehr brauchst, wird er dafür sorgen, daß du es erhältst."
 

Natürlich, er war nur ein kleines, dummes Kind, das nicht einmal den Wert von Münzen verstand. "Ja, Onkel", quetschte er also zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, um Buhachan durch eine unbedachte Äußerung nicht auch noch einen Beweis für diese Ansicht zu geben. Und so fiel der Abschied gleich viel leichter.
 

*
 

Chafaran empfing sie am Eingang zum Hafen und erklärte, daß sie mit der 'Königin der Wellen' reisen würden, einem Passagierschiff, das für die Nacht im jeweils nächsten Hafen anlegen und den Reisenden so Übernachtungen in Gasthäusern an Land ermöglichen würde. Für die auf diese Weise überaus bequeme Reise um das halbe Kreismeer brauchte das Schiff knapp vier Tage. Soweit Adarach wußte, legte ein berittener Bote die selbe Strecke auf der Taribischen Handelsstraße in etwas mehr als einem Tag zurück.
 

Adarachs Leibwächter standen an der Pier. Der Befehlshaber, Kaharach, war fast einen Kopf kleiner als Adarach, eher drahtig als muskulös und schätzungsweise dreißig Jahre alt. Sein wacher Blick und die selbstverständliche Art, mit der er sich in seiner Panzerung und mit dem Schwert an der Seite bewegte, zeigten, daß er diesen Aufzug offensichtlich gewohnt war. Als Adarach mit Onkel und Lehrer näher kamen, grüßte er militärisch. "Mawek", bellte er, um zu zeigen daß er bereit war, Befehle von seinem Herrn entgegen zu nehmen. Und seine zehn Männer reagierten ebenfalls mit sofortiger Habacht-Haltung. Das eine oder andere Gesicht kam Adarach von der Palastwache bekannt vor, aber die Öffentlichkeit war wohl nicht der geeignete Ort danach zu fragen, ob es sich bei allen Männer um Verrar handelte.
 

Adarach war nicht der einzige junge Adlige, der an diesem Morgen mit der 'Königin der Wellen' zwecks Studien nach Berresh reiste. Tatsächlich waren sie zu sechst, alle in vergleichbarem Alter, jeder mit seinem Hauslehrer, einer Handvoll Dienern und einer mehr oder weniger zahlreichen Leibwache, denn schließlich ging es in den gefährlichen Westen, wo hinter jedem Busch einer der kriegerischen Oshey hervorspringen mochte.
 

Nachdem alle an Bord des Zweiruderers gegangen waren und je nach Rang bessere oder schlechtere Plätze unter dem aufgespannten Sonnensegel zugewiesen und erfrischende Getränke und Frühstück serviert bekommen hatten, legte die 'Königin' endlich ab und nahm bald Fahrt auf.
 

Adarach war nicht in der Stimmung, mit irgendjemandem über seine angeblich beabsichtigten Studien oder über Seereisen im Allgemeinen zu sprechen, also nutzte er seinen Platz nahe der Reling und sah den Bugwellen zu, die der Kiel des Schiffes in das Meer pflügte. Sie waren noch nicht lange gefahren, als die ersten Delphine aus dem Wasser sprangen und mit dem Schiff um die Wette schwammen. Schließlich konnte er auf seiner Seite zehn verschiedene Tiere ausmachen, die immer wieder aus dem Wasser auftauchten und anscheinend mühelos mit dem Schiff mithielten. Daß die Lieblingstiere der Großen Mutter seine Reise begleiteten, war sicher ein gutes Zeichen, und ein bißchen war es auch wie ein Abschiedsgruß.
 

"Hast du Heimweh?" sprach ihn einer der anderen Bildungsreisenden so plötzlich an, daß Adarach unwillkürlich zusammenzuckte.
 

Dann schüttelte er schnell den Kopf. "Nein, aber ich war zum Geheimnis eingeladen, und nun..." Nun würde er wohl noch mindestens ein weiteres Jahr warten müssen, bis jedermann ihn als Erwachsenen ansehen mußte. Denn es war wohl eher unwahrscheinlich, daß ihn in den kommenden drei Tagen irgend ein Wissender einlud, in Berresh das Geheimnis zu besuchen.
 

"Oh", antwortete der dunkelhaarige Junge, und Adarach konnte das Mitleid in diesem kurzen Laut mitschwingen hören. "Wenn mich ein Wissender eingeladen hätte, wäre ich sicher nicht vor dem Fest abgereist."
 

"Ich hatte keine Wahl." Mochte der andere daraus machen, was er wollte. Angesichts seiner zarten Gesichtshaut war er noch deutlich jünger als Adarach und wußte daher sicher, wie es war, nicht dem eigenen, sondern fremdem Willen folgen zu müssen.
 

"Naja, aber vielleicht wird in Garam das Geheimnis diesmal ohnehin nicht begangen. Hast du nicht die Neuigkeiten von der Burg gehört? Der Hafen schwirrte davon, kurz bevor wir aufbrachen. Es müssen Priesterinnen aus dem Umland anreisen, weil die Große Mutter die Erste Prophetin und alle Priesterinnen der Stadt gestern abend vergöttlicht hat und niemand das Fest ausrichten kann. Mein Lehrer sagte, so etwas wäre das letzte Mal in taribischen Zeit vorgekommen, vor über fünfhundert Jahren."
 

Dieses neue Wissen war Adarach kein Trost.
 

*
 

Natürlich hatte Kaharach nicht vor Adarach, sondern von Buhachan salutiert. In Adarachs Schlafzimmer im Gasthaus nannte der Soldat seinen Schützling 'Junge', nur wenn fremde Ohren in der Nähe waren, ließ er sich zu einem 'Herr' herab. Adarach hätte zu gerne gewußt, wieso er dem gerade siebzehnjährigen Buhachan so viel mehr Respekt entgegenbrachte. Lag es daran, daß dieser in Verr von der Königin und nicht in Garam von einer unfreien Geisel geboren worden war? Aber Kaharach wirkte nicht so, als ob allein der Rang eines Mannes ihn beeindrucken konnte.
 

Auch am nächsten Tag war die Fahrt an der Küste des Kreismeeres entlang angenehm ereignislos. Der dunkelhaarige, braunäugige Junge, dreizehnjähriger Sohn eines Landadligen, hatte offenbar einen Narren an Adarach gefressen, denn er erzählte und erzählte, so daß ihm anscheinend gar nicht auffiel, daß Adarach sich mit eigenen Bemerkungen zurückhielt. Buhachan hieß er, wie Adarachs Onkel, ebenso wie dieser nach dem großen Helden der Sage benannt, der den Weltenverschlinger besiegte, indem er ihn betrunken machte und dann erschlug. Doch dieser Buhachan war sehr unglücklich mit seinem Namen, er fühlte sich nicht im Geringsten zum Helden berufen, er freute sich wirklich auf die jahrhundertealten, verstaubten Schriften, die in der Bibliothek von Berresh gesammelt wurden, seit diese Stadt das zweite Zentrum des Taribischen Reiches gewesen war, die Verbindung zwischen Ost und West, zwischen den awranischen Königsstädten und den Territorien der taribischen Stämme.
 

Es wurden Speisen und Erfrischungen gereicht, und Buhachan erzählte noch immer, von den Sagen der Tarib und wie sie den Sagen der Awrani glichen oder sich von ihnen unterschieden, und daß die Tarib erst durch ihre Herrschaft über die Awrani begonnen hatten, um ihre Heiligtümer herum Städte zu errichten, wie es die Awrani schon lange vor ihnen getan hatten. Es war nichts, was Adarach nicht auch schon von Chafaran gehört hatte, so daß er irgendwann die gar nicht unangenehme Stimme des Jungen wie das Rauschen der Wellen oder des Windes an sich vorbeiziehen ließ. Da Buhachan das anscheinend nicht störte, verbrachten sie auf diese Weise einen angenehmen Tag.
 

Abends liefen sie wieder eine kleine Siedlung an, und erstaunlicherweise freute Adarach sich darauf, diese Nacht in einem anderen fremden Zimmer, in einem anderen fremden Bett zu schlafen, wo es nichts gab, was ihn an Zuhause, an Avilah oder seine Mutter erinnerte. Und wie in der vorangegangenen Nacht war das Zimmer sauber und sogar recht vornehm eingerichtet.
 

Als er es beim Abendessen Chafaran gegenüber erwähnte, lachte der. "Gewöhne dich nicht zu sehr daran. Du siehst hier die letzten Außenposten der Zivilisation. Die Unterkunft, in der ich in Berresh mehrere Monate zubrachte als ich so alt war wie du, war ein besserer Stall."
 

Bevor er vielleicht ein ganzes Jahr in einem Stall wohnte, sollte er wohl besser Kaharach bitten, den Kauf eines eigenen Hauses ins Werk zu setzen. Aber Berresh war noch weit, und ein paar Tage würde Adarach es auch in einem Stall aushalten.
 

Als die Reisegesellschaft am nächsten Morgen das Frühstück auf einer dem Meer zugewandten Terrasse einnahm, wurde Adarach durch eine Ladung Birkenzweige, die von einem gerade eingelaufenen Schiff abgeladen wurde, an das anstehende Fest des Jägers erinnert – und an die Tatsache, daß er sich bei Tawaram nicht einmal verabschiedet hatte. Auf Nachfrage versicherte ihm der Gastwirt, daß eine Nachricht nach Garam bereits am Nachmittag dort eintreffen würde, und Chafaran stellte Adarach Schreibzeug zur Verfügung.
 

Es wurde ein kurzer und nicht sehr persönlicher Brief, da er seine Gefühle gar nicht in Worte pressen konnte. Aber so erfuhr Tawaram immerhin, daß Adarach aus Garam abreisen mußte und die nächste Zeit in Berresh wohnen würde. Als er den Brief zusammengefaltet und adressiert hatte, stand Buhachan plötzlich neben ihm. "Du heißt ja genau so wie der Sohn, den der König mit der Priesterin in Garam hat. Was für ein Zufall."
 

Adarach versiegelte das Schreiben. "Ja, was für ein Zufall", bestätigte er.
 

*
 

Die Erinnerung an Tawaram und an das vergangene Rauschfest, die göttlichen Freuden des Oinos und der Liebe machten Adarach wehmütig. Und im Laufe des Tages tat die unerfüllbare Sehnsucht nach Tawaram dann so weh, daß er die amüsanten Geschichten, die die Lehrer nun zur allgemeinen Erheiterung über ihre eigenen, zum Teil lange zurückliegenden Aufenthalte in Berresh und anderen Orten der Tarib erzählten, kaum noch ertragen konnte. Ungewollt hatte er dadurch erfahren, daß es in Berresh in der Nacht ihrer Ankunft keine Prozession zum Fest des Jägers und kein Geheimnis geben würde. Das Rauschfest wurde dort ebenfalls nicht gefeiert, auch wenn Chafaran zu berichten wußte, daß es überall auf der Welt für genügend Geld auch den besten Oinos zu kaufen gab. Was die Erzählungen der Lehrer über die sonstigen Sitten in Berresh betraf, wurde Adarach klar, daß es ihm auch schwer fallen würde, einen neuen Geliebten zu finden, ganz zu schweigen von einem, der ihn ebenso berauschte, wie das Tawaram ganz ohne Oinos vermocht hatte. Und als er zur Ablenkung über die Reling schaute und die Delphine zählen wollte, die das Schiff gewöhnlich begleiteten, stellte er fest, daß sie die 'Königin der Wellen' heute alleine fahren ließen, als habe die Große Mutter ihr Gesicht von ihnen abgewandt.
 

*
 

Endlich war es Abend und das Schiff erreichte den letzten Hafen vor der Ankunft in Berresh. Auch dieses Gasthaus war sehr ansprechend, aber angesichts der recht dunklen Hautfarbe der Bewohner des kleinen Ortes konnte man fast annehmen, daß sie bereits die taribischen Territorien erreicht hätten. Doch offensichtlich befanden sie sich noch im Gebiet der Garamar, denn das erste, was sie am Hafen sahen, waren die Klageweiber, die den Tod des Anaskan um-Buhachu, des Königs der Garamar und der Verrar und Herr über Garam, beklagten. Adarach sah, wie Kaharach die Kiefer aufeinander presste, als er das hörte. Für ihn war er sicher nie König der Verrar gewesen.
 

Während des Abendessens erfuhren sie, daß der König in der vorangegangenen Nacht verstorben war. Und gemeinsam gedachte die Reisegesellschaft des nun an der Tafel Groms liegenden Königs.
 

Die Nachricht vom Tod seines königlichen Vaters riß das Loch, das das Verschwinden seiner Mutter in Adarach hinterlassen hatte, nicht viel größer, vielleicht weil er seit den dunklen Worten seiner Mutter nur darauf gewartet hatte. Aber egal wie sein Onkel, Kaharach und andere Verrar zu ihm stehen mochten, Adarach gegenüber war der König immer ein freundlicher und gerechter, wenn auch oft zu beschäftigter und daher abwesender Vater gewesen.
 

Als Adarach sich in sein Schlafgemach zurückzog, fand er dort einen kleinen Krug Oinos vor. Vielleicht war er hier doch schon fast bei den Tarib, wenn der Oinos ganz profan als Abendtrunk, wie ein Becher Bier gereicht wurde. Adarach genoß den fruchtigen Geruch des roten Göttertrankes, er wagte jedoch nicht, davon zu trinken, da es ihn zu sehr an Tawaram erinnert hätte. Und dann wurde er wieder wehmütig, denn dadurch dachte er natürlich doch an das vergangene Rauschfest, das ihn zum Mann gemacht hatte, an den festen, muskulösen, sonnengebräunten Körper Tawarams, an seine Hände, Lippen und sein wunderbares Hinterteil, die er danach noch so oft genossen hatte und die er niemals vergessen würde.
 

Und anstatt sich mit Einbruch der Dunkelheit ins Bett zu begeben, sah er hinaus aus dem Fenster in den noch mondlosen Sternenhimmel über dem weiten Meer und träumte mit offenen Augen von dem blonden Sohn eines Waffenschmieds. Gedankenverloren begann er während dessen, sich mit den Händen weiter zu erregen und fühlte, wie das Blut schneller durch seine Adern floß und ihn erhitzte. Doch da war irgendetwas falsch!
 

Bevor sich die Tür seines Zimmers fast lautlos auf sehr gut geschmierten Angeln öffnete, wußte er schon, daß ein Bewaffneter davor stand. Adarach hielt mit der Beschäftigung seiner Finger inne und sah sich nach etwas um, was er zur Verteidigung nutzen konnte. Doch außer dem kleinen Metalltablett auf dem der Tonkrug mit dem Oinos stand, waren da nur die Möbel und der abgelegte Teil seiner Kleidungsstücke. Warum sollte er auch eine Waffe tragen, er hatte doch seine Leibwächter.
 

Der Bewaffnete rechnete damit, daß Adarach schlief, das konnte er deutlich sehen. Anscheinend plante er sogar, gar nicht seine Waffe, sondern einfach ein Kissen zu nehmen, um ihn zu ersticken. Allein daß er wach war und stand brachte Adarach also einen Vorteil, mit dem der andere nicht rechnete. Außerdem war er recht hochgewachsen und damit sogar vielen erwachsenen Männern an Größe überlegen. Zusammen mit dem Überraschungseffekt konnte das reichen, den Angriff des anderen zumindest so lange abzuwehren, bis Kaharach und seine Männer kamen, um ihn zu retten.
 

Wenn er die Tür ganz geöffnet hatte und herein kam, würde der Mann Adarach vor dem geöffneten Fenster stehen sehen, dazu reichte das Licht der Sterne und des gerade aufgehenden, fast vollen Mondes, das von der Meeresoberfläche noch einmal gespiegelt wurde. Wenn er jetzt jedoch einen Schritt beiseite trat, würde der Mann es hören und damit war der Überraschungseffekt auch dahin. Also wartete Adarach, sah, wie die Tür sehr langsam aufgeschoben wurde, und endlich der Bewaffnete einen Schritt in das Zimmer machte. Genau in dem Moment sprang Adarach ihm entgegen und schlug ihm etwas bedauernd den Krug mit dem edlen Oinos über den Kopf.
 

Schmerzerfüllt und auch überrascht schrie der Mann auf, griff nach seinem Schwert, doch Adarach gelang es, seinen Schwertarm zu umklammern. Er erinnerte sich an die Lektionen seines Ringlehrers, an die vielen Verbote, und rammte dem Mann kraftvoll das Knie in die Genitalien, so daß er zu Boden ging und Adarach den Unterarm auf seine Kehle drücken konnte und sich mit vollem Gewicht darauf stützte.
 

Natürlich wehrte sich der Mann und es gelang ihm auch, Adarach für einen Moment abzuschütteln, sogar aufzustehen. Aber Adarach ließ nicht locker, hängte sich mit seinem ganzen Gewicht wieder an den Waffenarm des Angreifers, trat und biss den Mann, und schwor sich, es ihm sehr schwer zu machen, ihn umzubringen.
 

Plötzlich erhellte eine Lampe das Zimmer, und der Mann sackte mit erstauntem Gesicht in sich zusammen. In der Tür stand Kaharach, mit einem blutigen Schwert.
 

Erst jetzt, als er sich bedanken wollte, merkte Adarach, wie atemlos er war, also nickte er dem Befehlshaber seiner Leibwache nur zu.
 

Und Kaharach salutierte. "Du hast wohl einen Fürsprecher an Groms Tafel, Mawek", sagte er und reinigte seine Schwertspitze an der Tunika des toten Meuchlers. "Ich werd' den Dreck gleich wegräumen."
 

Adarach schloß die Tür hinter Kaharach, der den Toten forttrug. Erschöpft ließ er sich auf das Bett fallen. Was hatte er für Optionen, wenn ihm wirklich sein Bruder nach dem Leben trachtete? Seine Mutter konnte ihn nun nicht mehr vor der unbarmherzigen Wirklichkeit schützen.
 

Vielleicht sollte er wie Buhachan ebenfalls seinem Erbe entsagen, für einen Frieden mit Upatach. Doch der war viel aufbrausender als ihr gemeinsamer verstorbener Vater, dem Buhachan sich unterworfen hatte, und er bediente sich wo es nur ging dreckiger Tricks, und sei es nur um Spiele oder Wetten zu gewinnen. Er hatte selbst gesehen, daß Upatach sogar beim traditionellen Ringkampf, der in Garam heilig war, da der Stadtgründer auch diese Tradition begründet hatte, versteckte Stacheln an seinen Händen anbrachte, um sich einen unerlaubten Vorteil zu verschaffen. Natürlich konnte Adarach seinem Erbe entsagen, aber einen geruhsamen Lebensabend konnte er sich damit bei Upatach sicher nicht erkaufen. Allenfalls aus einer Machtposition heraus war eine erfolgreiche Verhandlung mit Upatach möglich. Doch dafür mußte er erst einmal als erwachsen gelten und das würde noch mindestens bis zum nächstjährigen Fest des Hirten dauern.
 

* * *
 

3. Aufnahme

Adarach schreckte aus seinen Gedanken auf, als Kaharach die Tür von innen ins Schloß drückte und begann, mit einem feuchten Lappen die Wein- und Blutflecken vom Boden wegzuputzen. "Meinst du, mein Bruder hat den...", begann Adarach zögernd und gleich nickte Kaharach, ohne den Blick von seiner Arbeit zu heben. "Und den für deinen Vater auch", erwiderte er dann nach einem Augenblick.
 

"Wie kommst du darauf, daß der König ermordet wurde?" wollte Adarach wissen. Wenn es entsprechende Gerüchte gäbe, hätten sie doch mit der Nachricht vom Tode des Königs auch die äußersten Bezirke seines Herrschaftsgebietes erreicht.
 

"Vielleicht hast Du es nicht gehört, aber am Schiffsanleger heißt es, man habe den König tot über seinem Nachtmahl gefunden. Die Gesichte der Prophetin hätten ihn sicher vor vergifteten Speisen gewarnt, doch nun..." Kaharach verstummte, musterte den sauber geputzten Boden und schien zufrieden. Er stand auf, den eingedreckten Lappen noch in der Hand, und sah Adarach mit einer seltsamen Mischung aus Zuneigung und Mitleid direkt in die Augen. Die Distanz, die er Adarach gegenüber bisher an den Tag gelegt hatte, schien verflogen. Hatte Adarach sich ihm bewiesen, weil es ihm gelungen war, nicht ermordet zu werden?
 

"Deine Mutter und ihr Bruder Jochawam waren... wir sind zusammen aufgewachsen", begann er. "Erst wurde Per... Prinzessin Peribil als Kriegsbeute nach Garam verschleppt, dann wurden der König und sein Geliebter in der Schlacht vor Verr getötet und schließlich verschwand der Kronprinz aus den Ketten, in die die Garamar ihn gelegt hatten. Nicht einmal die überlebenden Prophetinnen der Verrar konnten sagen, ob er entkommen oder getötet worden ist. Doch eines ist sicher, überall hatte Upatach seine Finger im Spiel. Vielleicht hatte er seinem Vater sogar eingeflüstert, trotz des klaren Sieges auf den Goldenen Feldern noch einmal gegen die Verrar zu ziehen um sie zu vernichten. Und ohne den Einfluß deiner Mutter auf Anaskan hätte es Prinz Buhachan in Garam trotz seiner Unterwerfung sicher nie ins Erwachsenenalter geschafft." Kaharach atmete tief durch. "Mein Vater und ich waren stets dem Königshaus von Verr verpflichtet. Mein Vater ist vor Verr gefallen, aber solange Atem in mir ist, werde ich dieser Verpflichtung weiter nachkommen. Als legitimer Enkel des letzten Königs der Verrar und einziger Prinz, der seinem Erbe nicht abgeschworen hast, bist du König der Verrar und Herr von Verr. Bei Grom, du bist mein Mawek!" und er schlug sich mit der leeren Faust vor die Brust.
 

"Aber ich bin doch nur ein dummes Kind", erwiderte Adarach bitter, "nur gerade wichtig genug, daß mich Upatach aus dem Weg haben will."
 

"Jetzt bist du noch ein Kind, aber morgen abend, wenn ich dich den nach Berresh geflohenen Verrar vorgestellt habe und wir das Fest feiern, nehme ich dich mit zum Geheimnis."
 

*
 

Als Adarach am Morgen von einem wie üblich eher mürrisch guckenden Kaharach geweckt wurde, dachte er, die Ereignisse der letzten Nacht seien doch nur ein Traum gewesen. Doch dann begann der Krieger, Adarachs Sachen zusammenzupacken, als sei er sein Leibdiener. "Beeil dich, Mawek", sagte er. "Heute erwartet uns beide die Freiheit."
 

Tatsächlich lag der Segen der Göttin auf diesem Tag. Die Klageweiber besangen bei der Abfahrt des Schiffes nicht des Königs Tod sondern bereiteten sich auf das Freudenfest am Abend vor, die Delphine begleiteten wieder das Schiff, der Himmel war wolkenlos und der junge Buhachan erzählte mit seiner angenehmen Stimme ebenso angenehm banale Geschichten.
 

Am Nachmittag tauchten vermehrt Felsen an der Küste auf, hinter denen sich landeinwärts immer höhere Berge erhoben. Fischerboote begleiteten nun ihren Weg, die Delphine waren fast alle verschwunden. Und dann zeigte einer der Lehrer zur Küste, in die Richtung, in die sie fuhren: "Dort kann man Berresh schon sehen", rief er über das Schiff. "Die Burg auf dem Felsen, von der die dünne Rauchsäule aufsteigt. Das ist der Rauch des Ewigen Feuers vor dem berühmten Tempel des Ungenannten."
 

Tatsächlich liefen daraufhin einige zur Reling, um ebenfalls einen ersten Blick auf das Ziel der Reise zu werfen. Selbst Adarach reckte den Hals ein bißchen, um die Burg der Stadt zu sehen, die nicht nur eine Bibliothek und einen anscheinend berühmten Tempel beherbergte, sondern auch eine den anwesenden Lehrern unbekannte awranische Gemeinde, die das Fest des Hirten beging. So weit wie man sehen konnte war der dunkelblaue Himmel noch immer völlig klar. Wenn der volle Mond beim Fest heute Nacht nicht von den Wolken verdeckt werden würde, so war das überaus glücksverheißend.
 

*
 

Bis die 'Königin der Wellen' den Hafen von Berresh erreichte, dauerte es allerdings noch eine Weile, und auf diesem Weg wurde das Schiff nun nicht mehr hauptsächlich von Fischerbooten sondern von riesigen Handelsschiffen begleitet, die Waren nach Berresh brachten. Männer mit tiefschwarzer Haut waren an Deck dieser Handelsschiffen tätig, mit roten Turbanen und in den bunten Tuniken des Südens. Sie kamen von der anderen Seite des Kreismeeres. Etwas befremdet stellte Adarach nach ein paar Blickwechseln mit den Besatzungen der anderen Schiffe fest, daß die an Bord der 'Königin' befindlichen Männer ebenso von den Südlern angestarrt wurden.
 

Der junge Buhachan winkte der Besatzung des nächsten Schiffes zu und rief: "Seid gegrüßt, ihr Ma'ouwati!", doch der Gruß wurde von den anderen nicht erwidert. Vielleicht hatten sie ihn nicht verstanden.
 

"Wenn es wirklich Ma'ouwati sind, sprechen sie Sa'atit, nicht Taribit", gab Adarach spontan zu bedenken, aber biß sich dann auf die Lippen, um nicht 'Sie nennen sich nicht Ma'ouwati sondern 'Sa'atik' und sie grüßen sich 'a nane'Hawat'' zu soufflieren. Was wußte er schon davon, wie die Erziehung eines normalen Adligen aussah. Vielleicht hatte nicht jeder der Jünglinge sämtliche Sprachen, die um das Kreismeer gesprochen wurden, lernen müssen.
 

Buhachan nickte. "Natürlich, du hast recht... nane'Hawat Ma'ouwati", rief er also. Einige der Männer grinsten darauf und ließen ihre strahlend weißen Zähne sehen, einer von ihnen winkte sogar zurück. "Sei du gegrrüßt, Ostmann."
 

*
 

Ein Lotse wurde in Sichtweite des Hafens von einem kleinen Ruderboot gebracht und dirigierte den Steuermann der 'Königin' zwischen zwei steinernden Pfeilern hindurch, die genau so aussahen, wie die anderen zwanzig Pfeiler, die aufgereiht wie auf einer Schnur eine lange Reihe vor der Hafenbucht bildeten. Adarach erinnerte sich, daß Chafaran von einer langen Kette, die zwei mal um die ganze Burg von Garam gelegt werden könne, erzählt hatte, mit der die Zufahrt in die Bucht versperrt werden konnte. Wahrscheinlich war es gar nicht eine lange Kette, sondern Kettenstücke zwischen den einzelnen Pfeilern - aber das klang in einer Erzählung natürlich nicht so beeindruckend.
 

Der Lotse wies dem Steuermann einen Liegeplatz an einem Anleger auf der Burgseite der Bucht zu und kassierte dann die Hafensteuer vom Kapitän. Und noch bevor alle Ruder eingezogen worden waren, sprang er von Bord auf den Anleger und verschwand in der bunten Menschenmenge, die auf der um die Hafenbucht laufenden Straße unterwegs war.
 

Die fünf anderen Lehrer winkten nahe des Anlegers herumlungernde Lastenträger heran, wiesen ihnen Gepäckstücke zu, sammelten dann ihre jeweiligen Leibwachen und ihre Schützlinge ein, verließen das Schiff und bewegten sich so zielgerichtet wie zuvor der Lotse in die Menge. Nur Chafaran diskutierte mit Kaharach und ereiferte sich schließlich, daß seine Planung wohldurchdacht sei und seinem Schüler einen seiner Stellung angemessenen Komfort bieten würde.
 

"Ich habe Anweisung vom Bruder seiner Mutter, mich in Berresh um seine Unterbringung zu kümmern", entgegnete Kaharach darauf entschieden. "Da ich hier Verwandte habe, bestehe ich darauf, deren Gastfreundschaft in Anspruch zu nehmen."
 

"Aber...", begann der Lehrer noch, aber Kaharach schnitt seinen Einwurf mit einem "Ihr seid meiner Familie selbstverständlich ebenfalls willkommen" ab. Dann befahl er seinen Männern, das Gepäck der Gruppe aufzunehmen und winkte Adarach an seine Seite. "Willkommen im Exil, Mawek", flüsterte er mit einem angedeuteten Grinsen, dann führte er die Gruppe an, weg von der Burg, nach Norden.
 

Berresh' Straßen und Häuser unterschieden sich nicht sehr von denen Garams, einmal davon abgesehen, daß der Stein, der hier verbaut worden war, einen eher rötlichen Farbton hatte, während in Garam der dortige Fels eher gelb-grau war. Auf ihrem Marsch passierten sie ein mächtiges Stadttor, aber dahinter ging die Stadt weiter, mit ebenso großen, wohlhabend wirkenden Häusern, mit Plätzen und Brunnen und Marktständen - und noch mehr Leuten, die jetzt in der beginnenden Dämmerung noch geschäftig unterwegs waren. Die meisten davon hatten die helle Haut der Awrani, nur vereinzelt sah man auch den etwas dunkleren Ton der Tarib. Praktisch alle Hauseingänge waren wie in Garam mit Tierfellen und Birkenzweigen festlich geschmückt, dies war ein ganzes Stadtviertel voller Awrani. Und der Dialekt, den sie sprachen, erinnerte an den in Garam immer etwas deplazierten Singsang Buhachans - oder den seiner Schwester, wenn sie ihren Kindern Geschichten erzählte... erzählt hatte.
 

Kaharach wurde von vielen Männern und auch von einigen Frauen gegrüßt, ebenso wie die anderen Leibwächter, von denen der eine oder andere sogar stehen blieb, um ein paar Worte mit jemandem zu wechseln, und dann im Laufschritt wieder zur Gruppe aufzuholen. Dies waren also die überlebenden Verrar, die sich dem Zugriff der siegreichen Garamar hatten entziehen können.
 

Der Hauseingang, vor dem sie schließlich stehen blieben, war nicht nur geschmückt mit den Symbolen des Festes, sondern war von mit Kreide geschriebenen Segenssprüchen umgeben, die man ansonsten nur innerhalb des Tempels der Großen Mutter sah.
 

"Das ist das Haus eurer Verwandten?" fragte Chafaran skeptisch, als Kaharach gerade die Hand erhob, um an die Tür zu klopfen.
 

"Nein, hier wird heute Nacht das Fest des Jägers gefeiert. Ihr seid herzlich eingeladen. Das Haus meiner Verwandten ist eine Tür weiter", und Kaharach zeigte auf die ebenfalls mit Zweigen und Fellen geschmückte benachbarte Holztür.
 

"Also, wenn es nicht zu viel verlangt ist, würde ich mich vor der Feier gerne erst einmal etwas frisch machen. Und mein Schützling sicher auch", sagte Chafaran mit bemüht fester Stimme. Adarach sah regelrecht sein Unbehagen darüber, daß ihm die Führung der Expedition in 'seine' Stadt aus den Händen genommen worden war.
 

"Und wenn es Euch nicht zu viel abverlangt, möchte ich den Mawek eben ein paar Leuten vorstellen, dann schicke ich ihn zu Euch, damit auch er frisch gewaschen zum Fest erscheinen kann." Er winkte einen seiner Männer heran, der Chafaran bei den Verwandten einführen und mit den anderen Männern das Gepäck verstauen sollte, dann klopfte er endlich an die Tür.
 

Während die meisten der Leibwächter mit dem grummelnden Chafaran zum Nebenhaus gingen, warteten Kaharach und Adarach darauf, daß die Tür dieses... privaten Tempels für sie geöffnet wurde. Adarach kannte im privaten Bereich nur die Schreine der Großen Mutter, den großen in der Empfangshalle des Palastes, einen kleineren im Schlafzimmer des Königs und einen ebenso kleinen im Haus seiner Mutter. Und seit er denken konnte, war er auch unzählige Male im großen Tempel auf der Burg gewesen, bis auf das letzte Mal stets in Begleitung seiner Mutter, doch nie zu einem der Feste. Die hatte er, wie alle anderen Männer, zuhause oder in den heiligen Hainen, nur mit der Familie oder mit der halben Stadt gefeiert, wie es sich für einen Jungen geziemte. Nie hatte er die Grotte des Geheimnisses betreten, von der er nur flüstern gehört hatte, daß es sie gab, jedoch nie, was darin zu finden war, denn das war das größte Mysterium der Großen Mutter und darüber durften sich nur die Wissenden austauschen. War dies hier die Grotte des Geheimnisses in Berresh, in Ermangelung eines altehrwürdigen Ortes eben ganz profan ein Haus? Oder war dies eher ein Tempel, von dem aus dann in der Nacht der Festzug aus Wissenden und denen, die geladen worden waren, aufbrach zum Ort des Geheimnisses?
 

Obwohl Adarach nicht wirklich etwas Konkretes erwartet hatte, war er, als die Tür nach innen aufgezogen wurde und er einen Blick hinein werfen konnte, zugleich beeindruckt und enttäuscht. Es war ein ganz normaler Vorhof, so wie der des Hauses in Garam, in dem er aufgewachsen war, eher noch ein bißchen kleiner, doch die Wände hier waren mit so großer Kunstfertigkeit bemalt, daß sie die Illusion eines Hains der Göttin hervorriefen. Da waren Bäume und kleine Tiere, gemalte Bögen bewachsen mit Weinreben und Hopfenranken, an einigen Stellen auch geschmückt mit Birkenzweigen, außerdem ein kleiner Brunnen und das etwa menschengroße Abbild einer Statue der Großen Mutter, deren traditioneller Mantel jedoch nicht aufgemalt, sondern mit mehreren Haken an der Wand befestigt war.
 

Eine uralte Frau hatte ihnen geöffnet, die das Gewand einer Priesterin trug. Ihr Kopftuch hatte ähnlich wie das Kopftuch seiner Mutter lange blaue Troddeln, aber weder den feinen Spitzenrand, den die Kopftücher der Priesterinnen im großen Tempel in Garam hatten, noch war es bestickt wie das Kopftuch einer Prophetin.
 

"Sei gegrüßt, Großmama", sagte Kaharach in einem so liebevollen Ton, daß Adarach keinen Zweifel hatte, daß diese alte Frau tatsächlich seine Großmutter war. "Ich habe den jungen Mawek aus Garam gerettet."
 

Kaharachs Großmutter musterte Adarach einen Moment. "Ach, und er hat auch so schönes rotes Haar wie Jochawam. Sag, Kaharach, hatte Jochawam damals nicht deine Schwester mit zum Geheimnis genommen?"
 

Kaharach nickte. "Ja, Großmama, das hat er. Und das ist jetzt fast zwanzig Jahre her."
 

"Ich denke, es sind auf den Tag siebzehn Jahre, wenn ich mich recht erinnere", korrigierte die Frau ihren Enkel und tätschelte liebevoll seine Wange. Dann wandte sie sich wieder Adarach zu. "Deine Schwester ist natürlich noch etwas jung für das Geheimnis, aber du hast das rechte Alter."

"Avilah?" fragte Adarach alarmiert. "Was... wie...?"
 

"Sei ganz beruhigt. Prinz Buhachan hat sie gestern mitgebracht. Ihr könnt beim Festmahl euer Wiedersehen feiern. Sie erinnert mich übrigens an Mesanna als Kind. Deine Großmutter war das Lächeln der Göttin, Adarach. Wie gut, daß dein Großvater später als König fast immer auf ihren Rat gehört hat. Aber so ein Jammer, daß sie dann bei der Schlacht..."
 

"Das war ihr Bruder Fawach, der den König beriet, Großmama. Da war Mesanna längst gestorben. Und Fawach ist in der Schlacht gefallen."
 

"Unfug, ich weiß doch was ich weiß", beharrte die Großmutter und lächelte Adarach verschmitzt an. "Die Krieger sehen nur mit den Augen, nicht mit dem Herzen, nicht wahr? Seh' zu, daß es dir später nicht so ergeht."
 

* * *
 

4. Einweihung

Nachdem Adarach sich in dem Zimmer, das Kaharachs Onkel, der praktischerweise auch Gastwirt war, für ihn zurecht gemacht hatte, gewaschen und dem Fest angemessen gekleidet hatte, eilte er hinunter in den festlich geschmückten Innenhof, in dem die mit so vielen Leckereien voll beladenen Festtafeln standen. Hier hatten sich schon einige der in Berresh ansässigen Verrar eingefunden, manche schienen auch gerade erst aus größerer Entfernung eingetroffen zu sein, denn es gab viele herzliche Begrüßungen, die auf das Auffrischen tiefer Freundschaften oder familiärer Bande schließen ließen. Und auch Buhachan und Avilah waren da. Das Mädchen flog ihrem Bruder in die Arme und drückte sich fest an ihn. "Ich hab dich sooo vermißt", flüsterte sie. Dabei waren sie doch schon häufiger für ein paar Tage getrennt gewesen.
 

"Du bist ja gar nicht besonders überrascht, uns hier zu sehen", bemerkte Buhachan und schien etwas enttäuscht.
 

"Die Großmutter von Kaharach hat mir gesagt, daß ihr hier seid", erklärte Adarach.
 

"Sie war die erste Prophetin von Verr", erinnerte Buhachan sich. "Ich glaube, außer Kaharach hat sie ihre ganze Familie damals bei der Schlacht und der Schleifung der Stadt verloren." Sein Blick wanderte zu Boden und er versank in seinen eigenen düsteren Gedanken, aber da stand die ehemalige erste Prophetin hinter ihm und klopfte ihm aufmunternd auf den Rücken.
 

"Gestern und vorgestern waren die Tage, Unglücke zu betrauern," erinnerte sie ihn, "heute ist der Festtag. Heute macht die Große Mutter alles wieder heil."
 

Sie strahlte so viel Zuversicht aus, daß Adarach spontan ebenfalls zutiefst überzeugt war, daß die Göttin alles heil machen würde. Alles, was für die Anwesenden im vergangenen Jahr zu betrauern gewesen war, alles, was in den vergangenen sechs Jahren für die überlebenden Verrar zu betrauern gewesen war. Und auch Buhachan schien neue Zuversicht gewonnen zu haben.
 

Die Prophetin lächelte, dann streckte sie Avilah ihre faltige Hand hin. "Komm einmal mit, mein Kind. Laß uns über deine Ausbildung und meine Nachfolge sprechen."
 

Avilah löste sich so spontan von Adarach, daß er sich fast mißachtet fühlte, ergriff die dargebotene Hand und zog sich mit Kaharachs Großmutter in eine entfernte Ecke des Innenhofes zurück.
 

"Hier wird ihr nichts Böses widerfahren", versprach Buhachan. "Avilah hat geträumt, daß Upatach selbst Hand an seinen Vater legen wird und uns ebenfalls Gefahr droht. Deswegen sind wir dann doch nicht ins Landhaus gereist, sondern in Verkleidung nach Berresh geritten. Wie gut, daß Kaharach dich sicher hergebracht hat."
 

Adarach nickte. "Und er hat mich zum Geheimnis eingeladen", konnte er sich nicht verkneifen, aber das mit dem Überfall des Meuchlers sollte ruhig Kaharach erzählen, wenn er es denn für notwendig hielt.
 

Buhachan riß die Augen auf. "Kaharach hat dich... das... erstaunt mich tatsächlich. Aber ich vertraue seinem Urteil. Und dir sei es von ganzem Herzen gegönnt. Und wenn du jemals die Last des Erwachsenseins zu schwer auf deinen Schultern spürst, werde ich auch weiterhin für dich da sein."
 

"Du bist gerade einmal zwei Jahre älter als ich", entgegnete Adarach frech, aber insgeheim dankte er seinem Onkel für das Angebot. Kaharachs Worte nach dem Attentatversuch hatten ihm schon einen kleinen Vorgeschmack auf diese Last gegeben. Was war, wenn er das, was Männer unter seiner Führung von ihm erwarteten, nicht erfüllte? Was, wenn er das Gegenteil dessen, was sie wünschten, für richtig hielt? Wie lange war er dann noch ihr 'Mawek'? Aber heute war der Festtag, diese Gedanken mußten ruhen und durften sich erst nach dem Geheimnis wieder melden.
 

"Ah, da bist du ja, Adarach", begrüßte ihn plötzlich Chafaran, dann stellte er fest, daß neben seinem Schüler Buhachan stand. "Und ihr auch hier, Herr? Ich dachte, ihr wolltet in das Landhaus reisen."
 

Buhachan riss das Gespräch gleich an sich. "Ja, das war unser Plan, doch noch bevor wir alles zusammengepackt hatten, erreichte uns eine Einladung aus Berresh, hier das Fest zu feiern. Wir haben dann einfach den schnelleren Landweg genommen."
 

Chafaran nickte zustimmend. "Ja, die Taribische Straße ist von vorzüglicher Qualität. Ich denke, auch die nächsten fünfhundert Jahre können ihr nichts anhaben... hier müsste es doch auch irgendwo etwas Oinos geben, nicht wahr?"
 

"Wir werden schon etwas für euch auftreiben, da bin ich mir sicher", versprach Buhachan und geleitete den Lehrer zu den Tischen, die von den übrigen Gästen bisher ignoriert worden waren.
 

Adarach nutzte die Gelegenheit, sich umzusehen. Dieser Hof wirkte mit seinem festlichen Schmuck wie der Innenhof eines reichen Privathauses, in dem der Hausherr zum Fest geladen hatte. Ob sie nach der Feier einen Umzug durch die Stadt, hinaus in ein Wäldchen und zu einer Grotte, die das Geheimnis barg machten, wie das in den Städten der Awrani üblich war? Oder verließen sie nur das Gasthaus um in dem nebengelegenen... ja was eigentlich... vielleicht Tempelhaus? einzukehren, und dort das Geheimnis zu entdecken? Er hatte nicht alle Wände des Vorhofes gesehen. Vielleicht war eine ja bemalt wie ein Felsen mit einem Höhleneingang, durch den dann eine Tür in eine gemalte Grotte führte.
 

"Seid willkommen, meine lieben Freunde, Brüder und Schwestern der Verrar. Laßt uns heute die Gnade der Großen Mutter feiern, die sich dieses Jahr in ganz besonderer Weise zeigt. Mawek Adarach um-Anasku umar-Achawu beehrt uns heute mit seiner Anwesenheit, der König der Verrar und Herr von Verr."
 

Adarach wußte nicht, ob ihm diese öffentliche Zurschaustellung durch den Gastwirt oder die unübliche Verbindung seines Namens mit dem seines Großvater, den er nie kennengelernt hatte, mehr mißfiel. Das kurz nach dieser Vorstellung aufbrandende, ohrenbetäubende "Aiaiaiaiai" der jubelnden Gäste erschreckte ihn jedoch zutiefst. Aber je länger der Jubel anhielt, desto klarer wurde ihm, daß er es einfach über sich ergehen lassen mußte. Das war wohl der Preis dafür, entgegen seinen Befürchtungen noch in dieser Nacht das Geheimnis besuchen zu können.
 

*
 

Trotz der leichten Kopfschmerzen vom reichlichen Oinosgenuß in der Festnacht wurde Adarach mit dem Wachwerden zugleich bewußt, daß er nun vor Göttern und Menschen als erwachsen galt. Keiner hatte ihm mehr zu sagen, was er zu tun und zu lassen hatte, keiner durfte mehr die Hand auf sein Geld halten, und wenn Upatach ihn beiseitebringen ließ, so war es ein Mord, der selbst von den Gerichten in Garam geahndet werden würde.
 

Und er konnte Einladungen von freundlichen älteren Damen ohne Nachfragen annehmen. Wie hatte die Frau noch gleich geheißen? Ochesa, nein Ochasa Kasiterim, eine adlige Berreshi mit einer Mutter aus Verr, die seit fast dreißig Jahren, also schon vor der Schlacht auf den Goldenen Feldern, mit der das Unglück der Verrar begann, mit einem der hiesigen Ratsherren verheiratet war. Die fünf Ratsherren von Berresh waren so etwas wie Teilkönige, wenn er das bei Chafaran richtig verstanden hatte. Alle zusammen hatten die Macht, die bei den Awrani der König als Herr der Stadt hatte, aber jeder einzelne war damit auch eine der fünf wichtigsten Personen in Berresh.
 

Ochasa hatte gesagt, daß er sie an ihren vor zwei Jahren verstorbenen, jüngsten Sohn erinnere, und daß sie es für ein Geschenk der Großen Mutter halte, ihn nun gerade am Festabend kennengelernt zu haben. Da sie den beweglichen Geist der Jugend in ihrem Hause seit dem Tode des Sohnes... Oseram vermisse, hatte sie ihn zu einem informellen Abendessen eingeladen, am... heute abend, richtig, zu dem auch ein paar Freunde und Verwandte kommen würden. Daran konnte doch nicht einmal Kaharach etwas Bedrohliches finden.
 

Die Wachen vor Adarachs Tür salutierten stramm, als er aus seinem Zimmer trat, und das Personal des Gasthauses, das er um ein Frühstück bat, verneigte sich tief vor ihm und dankte, daß er ihnen seine Aufmerksamkeit schenkte. Er war durch den vergangenen Abend also wirklich zu einem anderen geworden, oder vielleicht eher zu einer besseren Version seines vorherigen ichs. Vielleicht lag das auch an der Ansprache des Gastwirtes am Vorabend, aber Adarach selbst wollte es lieber der Erkenntnis des Geheimnisses zuschreiben, die er nun endlich auch gewonnen hatte. Er bekam an einem eigenen Tisch im Innenhof ein reichliches Frühstück serviert und genoß für den Moment die ihm entgegengebrachte Dienstbeflissenheit. Vielleicht war es doch ganz praktisch, im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses zu stehen.
 

Ein Räuspern sorgte dafür, daß er seine Aufmerkamkeit von Brot, Käse und exotischen Früchen dem Störenfried zuwandte. Da stand Chafaran. "Herr, natürlich solltet ihr euch als König der Verrar und Herr von Verr auch wieder der kriegerischen Ertüchtigung und dem Studium der Schriften der Kriegsphilosophen widtmen, aber wie wäre es zum Auftakt mit einer kleinen Stadtbesichtigung sobald ihr euer Frühstück beendet habt?"
 

Hatte Chafaran ihn jemals zuvor als 'Herr' angesprochen? Seine plötzliche Ehrerbietigkeit verdiente wohl eine Belohnung, außerdem hatte Adarach bis zum Abend ohnehin nichts Besseres vor. "Gerne, Chafaran. Eine Stadtbesichtigung klingt interessant. Möchtest du vorher vielleicht noch eine Kleinigkeit zu dir nehmen?" und er lud seinen Lehrer mit einer Handbewegung ein, das Frühstück mit ihm zu teilen.
 

Sie aßen und Chafaran erzählte von seinem ersten Studienaufenthalt in Berresh vor fünfzehn Jahren, der beeindruckenden Bibliothek, in der sich alle Schriften der taribischen Philosophen fanden, der berühmten Schule der Kriegskunst, der mit Murhan Darashy - auch genannt 'der Städtezerstörer' - damals ein legendärer Schwertkämpfer und Taktiker vorstand, ein Söldnerführer aus den taribischen Stämmen, der bei einem seiner Kriegszüge dann selbst einer Übermacht und vielleicht Verrat aus den eigenen Reihen zum Opfer gefallen war. Chafaran hatte Adarach schon so oft von ihm erzählt, das dieser meinte, Murhan Darashy schon fast wie einen Nachbarn zu kennen. "Laßt uns als erstes das Haus besuchen in dem er seine Schule unterhielt. Vielleicht wird dort immer noch unterrichtet. Ihr profitiert sicherlich davon, euch auch mit der Kampfkunst des Westens zu beschäftigen, denn sie unterscheidet sich in einigen Dingen erheblich von der unsrigen."
 

Das klang in der Tat so interessant, daß Adarach sich sogar auf den Besuch dieser Schule der Kriegskunst freute. Als Sohn des Königs der Garamar hatte er natürlich den Kampf in der Phalanx und den Zweikampf mit Schwert und Schild gelernt, doch einige Passagen in den Schriften der taribischen Kriegsphilosophen ließen auf einen grundsätzlich anderen Ansatz im Kriegshandwerk der Tarib schließen, als die Awrani ihn hatten.
 

*
 

Letztlich war die Stadtbesichtigung bezüglich der Schule der Kriegskunst enttäuschend, denn diese Schule existierte nicht mehr. Das Haus in der Unterstadt, das der Söldnerführer Murhan Darashy bewohnt hatte, während er in Diensten des Rates von Berresh stand, fanden sie rasch, gerade außerhalb der Inneren Stadtmauer um die Oberstadt. Chafaran beteuerte auch, daß es noch immer genau so aussah, wie bei seinem Besuch vor fünfzehn Jahren, doch nun wohnte dort ein adliger Berreshi namens Manord Havatim, der laut den Auskünften auf dem Markt nahe dem Stadttor in die Oberstadt einen Ruf als in seinen Methoden gewissenloser aber stets siegreicher Gerichtsredner hatte. Man sagte ihm auch nach, daß er es schon seit langem auf ein Ratsamt abgesehen habe, aber bisher nie die erforderlichen Mehrheiten auf sich vereinigen konnte, eben weil er mit seiner Skrupellosigkeit auch immer wieder einmal wichtige Leute verärgerte. Auf dem Markt riet man ihnen auch, den Tempel des Ungenannten auf der Burg der Stadt zu besuchen und empfahl bestimmte Tageszeiten, zu denen dort Opfer geschlachtet wurden und preiswertes Opferfleisch zu kaufen war.
 

Da Kaharachs Onkel es als seine Ehrenaufgabe ansah, Adarachs Reisegruppe frei von Kosten zu halten, war das preiswerte Opferfleisch natürlich nicht so interessant, aber den Tempel wollten beide sich anschauen. Adarach hatte eine Art fremdartiges Grom-Heiligtum erwartet, davor einem Altar, auf dem für die Gunst des Gottes Ziegen oder Schafe geopfert wurden, aber der tatsächliche Anblick beeindruckte ihn mehr als erwartet. Auf dem Schiff war ja schon die Schale mit dem Ewigen Feuer erwähnt worden, aber Adarach hatte nicht erwartet, daß die flache steinerne Schale für dieses Ewige Feuer so groß war, daß ihr ganzes Haus in Garam hinein gepaßt hätte. Bei Nacht waren die Flammen dieses Feuers sicher von weit her sichtbar, doch auch im hellen Tageslicht war der Anblick dieser gezähmten Feuersbrunst, in der ganze Baumstämme in Flammen standen und aus der ein eigentümlich harziger Geruch aufstieg, sehr eindrucksvoll. Es gab auch einen Altar, jedoch ebenso überdimensioniert wie die Feuerschale, fast wie ein steinernes Schiff, zu dem eine Rampe hinaufführte. Es zeigte sich, daß er dieses Ausmaß hatte, damit ein Pferd von mehreren Männern hinaufgeführt werden konnte, dem dann dort oben von einem Priester in weißer Kleidung die Adern aufgeschnitten wurden, so daß es ausblutete. Das Blut lief vom Altar auf den ungepflasterten Boden um die Schale, wo es langsam versickerte, während Haut und Knochen des Tieres ins Feuer gegeben wurden, damit ihr Rauch zum Gott aufsteigen konnte. Doch der Geruch des Harzes war so dominant, daß man von dem frischen Blut und dem brennenden Fell so gut wie nichts roch.
 

Tatsächlich wurde dann kurz nach der Opferung auch das Fleisch des Tieres zum Kauf angeboten - und nach dem Interesse der Kundschaft zu urteilen galt das Fleisch durch das Opfer wohl als gesegnet. Einige der Leute, die den kleinen Stand nahe der Schale, in der das Ewige Feuer brannte, aufsuchten, kauften zwar von dem Pferdefleisch, fühlten sich aber offensichtlich unwohl an diesem Ort. Gerade der harzige Geruch schien bei einigen düstere Erinnerungen zu wecken an menschliche Opfer, deren Blut hier geflossen war. Und diese Berreshi wirkten nicht besonders betagt, sie waren vielleicht so alt wie Kaharach oder der Wirt. Adarach hatte Grom ja schon bisweilen für einen grausamen Gott gehalten, aber Menschen hatte man ihm seit Jahrhunderten nicht mehr dargebracht, abgesehen von denen, die während einer Schlacht im Namen Groms, der Ehre und einer Stadt gefallen waren.
 

"Der Gott erschien hier auf diesem Berg seinem ersten Priester", erklärte ein Mann, der ebenfalls das priesterliche Weiß trug, einer Gruppe von Jünglingen, die ebenso wie Adarach das Feuer bestaunten. "Es war eine Vollmondnacht und der Gott hatte sich in eine menschliche Gestalt verhüllt, aber er konnte doch das Feuer in sich nicht so weit verdecken, daß es nicht einen Stapel Bergfichtenholz entfacht hätte. So erkannte der spätere Priester ihn als Gott und versprach ihm seine Gefolgschaft. Als Dank für diesen Treueschwur lehrte der Gott ihn die Künste der Heilung, die Mittel, seine dämonischen Feinde zu erkennen und zur Strecke zu bringen und nicht zuletzt die Kunst der Argumentation. Der Gott sagte dem Mann auch seinen Namen, doch verbot er ihm, diesen Namen jemals auszusprechen.
 

Aus Ehrfurcht vor der Begegnung unterhielt der Priester nicht nur das Feuer, das von der wahrhaftigen Gestalt des Gottes entzündet worden war, sondern nahm auch Schüler bei sich auf, um das Gelernte weiterzugeben und nach ihm auch das Feuer weiter zu unterhalten. Ihr seht also, dieses Feuer hier ist noch immer jenes, daß der Gott selbst entfachte. Im Laufe der Zeit wurde anstelle der Hütte des ersten Priesters ein Tempel gebaut und das Feuer wurde in eine Schale umgesetzt, da sie ein angemessenerer Ort schien als der blanke Boden. Und da der Tempel ein Ort großer Gelehrsamkeit wurde, der bald weithin bekannt war, wuchs er durch den Anbau von Gebäuden und Hallen, und je mehr der Tempel wuchs, desto größer mußte auch die Feuerschale sein, um die Bedeutung dieses Feuers für unseren Tempel zu verdeutlichen."
 

* * *
 

5. Einführung

Nach den zum Teil seltsamen und fremdartigen Anblicken und Begegnungen Chafarans und Adarachs bei ihrer Stadtbesichtigung, wirkte der Innenhof des Hauses von Asatam Kasiterim, dem Gatten von Ochasa, als hätte man ein adliges Haus in Garam betreten. In den Ecken des Innenhofes waren bereits Öllampen an hohen Messingständern entzündet worden, und im Kreis um das aufwendige Mosaikmuster im Zentrum des Fußbodens, unter dem freien Himmel, der sich inzwischen vom Sonnenuntergang rötlich zu verfärben begann, standen acht Speisesofas für die Gastgeber und die Gäste des Abends. Die Kissen der Sofas schienen sogar aus einem ähnlichen Stoff gefertigt zu sein wie dem, der im Haus seiner Mutter verwendet worden war.
 

"Seid willkommen", ertönte da die Stimme eines dunkelhäutigen älteren Mannes, der aus einer der Türen zum Wohntrakt in den Innenhof trat. Tatsächlich wäre er in einer Gesellschaft in Garam nur durch seine Hautfarbe, nicht aber durch seine Kleidung aufgefallen. Der locker umgeschlagene Mantel aus schimmerndem Stoff über seiner hellen Tunika hätte bei inoffiziellen Anlässen auch einen König der Awrani würdig bekleidet. "Schön, daß ihr der Einladung meiner Gattin gefolgt seid, Prinz Adarach."
 

Die Beruhigung darüber, der Einladung der Ratsmitgliedsgattin mit Tunika und Mantel nicht unangemessen gekleidet nachgekommen zu sein, entspannte Adarach. "Ich danke für die Einladung, die eure Gattin auch in eurem Namen aussprach, Ratsherr Kasiterim."
 

"Ach, ich bitte euch, nennt mich einfach Asatam, wir legen bei unseren Abendgesellschaften keinen Wert auf Rang und Titel, sondern reden ganz frei miteinander. Das macht doch auch den Reiz bei der Begegnung mit einer neuen Bekanntschaft aus."
 

"Dann müßt ihr mich Adarach nennen", entgegnete Adarach sofort. Mal sehen, wie ungezwungen der Umgang miteinander dann wirklich war, Herrscher einer Stadt vergaßen ja auch gelegentlich, daß sie nicht auf ihre herrschaftliche Autorität pochen konnten.
 

Inzwischen war auch die Dame des Hauses in den Hof gekommen, in einem ähnlichen bodenlangen Kleid wie am Abend zuvor, die Enden eines schmalen Mantels, der wohl eher der Zierde als tatsächlichem Schutz vor Kälte diente, in ihren Ellbeugen. Im Gegensatz zum Vorabend glänzte in ihrem hochgesteckten, braunen Haar, an ihrem Hals und ihren Handgelenken goldener Schmuck, aber sie wirkte nicht extra zurecht gemacht, es wäre zum Fest des Jägers jedoch unangemessen gewesen, mehr Schmuck zu tragen, als die Göttin. Und es erschien noch eine wesentlich jüngere Frau, ähnlich gekleidet wie die Hausherrin, aber mit weniger Goldschmuck, die wohl eine Tochter Ochasas und Asatams war, das Haar schwarz wie das ihres Vaters, aber der Hautton fast so hell wie der ihrer Mutter.
 

"Seid gegrüßt, Adarach", begrüßte nun auch Ochasa ihren Gast. "Darf ich euch meine Tochter Damila vorstellen? Sie ist etwa in eurem Alter." Und Damila senkte schüchtern den Blick ihrer dunklen Augen und murmelte etwas, das eine Begrüßung gewesen sein mochte. Ihre Gedanken waren lauter, als ihre Stimme, sie hielt Adarach für erfreulich attraktiv.
 

Ochasa bestand darauf, daß Adarach sich auf dem Speisesofa neben der Tochter niederließ, während sich auf ihrer anderen Seite der Vater platzierte. So hatte Ochasa wie geplant einen guten Blick auf ihre Tochter und den hausfremden Gast. Adarach war sich nicht ganz sicher, ob er sich nur einbildete, daß dies der Beginn einer Verkupplung werden sollte.
 

Inzwischen waren drei andere Gäste eingetroffen, zwei Männer und eine Frau, so dunkelhäutig wie Asatam und ähnlich gekleidet wie die Gastgeber, die sich beim Betreten des Hofes angeregt unterhielten, aber innehielten, als sie Adarachs ansichtig wurden. Der Hausherr sprang regelrecht auf von seinem Sofa und eilte zu dem Grüppchen, umarmte zunächst den weißhaarigen Mann, dann den etwas jüngeren und schließlich die Frau, die wohl auch im Alter wie seine Gattin war. "Lieber Sorfan, liebe Schwester, lieber Schwager", sagte er dann, "dies ist der junge Mann, von dem ich dir erzählt hatte, Prinz Adarach aus Garam. Und ihr, lieber Acharam, seht hier den Hohepriester unseres prächtigen Tempels des Ungenannten, Sorfan Golateram, den Ratsherren Sarmal Golateram, Sohn des Hohepriesters, sowie seine Gattin Matala Golateram, die zugleich meine Schwester ist."
 

Adarach begrüßte alle artig und sah zu, wie Matala sich auf das Sofa neben ihrer Schwägerin niederließ, daneben wiederum saß ihr Mann und noch ein Sofa weiter der Hohepriester. Nur das Sofa zwischen dem Priester und Adarach war noch frei. "Hast du noch eine Überraschung heute abend, lieber Schwager", fragte der Ratsherr Golateram.
 

Ratsherr Kasiterim lächelte verschmitzt. "Ihr werdet es gleich wissen", versprach er. Tatsächlich kam fast gleichzeitig zu diesen diesen Worten ein älterer Mann in den Hof geeilt, dessen einfache Tunika jedoch darauf schließen ließ, daß es sich um einen der Hausdiener handelte. Er flüsterte seinem Herrn etwas zu, das diesen für einen Moment die Augenbrauen zusammenziehen ließ, aber dann lächelte er schon wieder. "Wir werden eine ungerade Zahl bleiben, der letzter Gast ist verhindert. Aber wo bleiben meine Manieren." Asatam klatschte in die Hände, "bringt den Willkommenstrunk."
 

Diener des Hauses brachten prachtvolle Trinkschalen aus feinem Ton, die es von der Machart und der Bemalung mit der Opferschale des Königs der Garamar für das Rauschfest aufnehmen konnten. Und hier bekam jeder Anwesende eine dieser großen Schalen, und weitere Diener brachten große Kannen, denen der Duft bestem Oinos entströmte. Obwohl Adarach hin- und hergerissen war zwischen der religiösen Ehrfurcht vor dem Göttergetränk und dem Wunsch, diesen außergewöhnlichen Oinos zu probieren, verwehrte er dem Diener nicht, seine Schale zu füllen und bewunderte die tiefrote Farbe der Flüssigkeit, die im Licht der Lampen zu leuchten schien. Als seine Schale schließlich bis zur Neige gefüllt war, konnte er das Bild an ihrem Grund noch erkennen, also war der Oinos wohl mit Wasser verdünnt, das senkte seine Hemmschwelle so weit, daß er, als der Gastgeber alle dazu aufforderte, tatsächlich probierte. So süß auf der Zunge, so warm in der Kehle und der betörende Duft, der ihn an das vergangene Rauschfest erinnerte. Verspätet schnippte er ein paar Tropfen zu Ehren Buhachan des Helden über den Rand, dann nahm er noch einen Schluck, mit einem stillen Gruß an Tawaram.
 

"Schmeckt euch der Oinos denn so gut wie der, den ihr von der Tafel eurer Familie gewohnt seid?" fragte Damila mit leiser Stimme.
 

Obwohl er nicht hinschaute merkte Adarach, daß sie ihn nun offen musterte. Er lächelte. "Der Oinos schmeckt sehr gut, fast, als wäre er gar nicht verdünnt. Woher stammt er?"
 

Anscheinend hatte Damila gar nicht erwartet, daß er ihre Frage direkt beantworten würde, denn auf seinen Blick senkte sie fast sofort die Augen und eine leichte Röte überflog ihre Wangen. Aber auch ihr Vater hatte die Frage gehört. "Er stammt aus Tormar, einem Dorf..."
 

"... östlich von Karn", ergänzte Adarach, als er den Ortsnamen hörte. Sein Vater hatte fast ausschließlich Oinos aus Tormar getrunken - und für ihn war jeder Tag Rauschfest gewesen. "Bis heute hatte ich von dem guten Oinos, der dort gekeltert wird, nur gehört. Und er wird seinem Ruf gerecht, ich habe bisher nie einen besseren getrunken." Nicht, das er bisher so viele verschiedene probiert hätte. Aber den Gastgeber freute diese Antwort. Und mit einer kleinen Freude konnte so manches Bündnis beginnen, hatte sein Vater stets gesagt. Es war sicher nicht verkehrt, sich die mächtigen Männer von Berresh zu Freunden zu machen. Um seinen Worten Gewicht zu verleihen und um seinen Gastgeber noch mehr zu erfreuen, aber auch weil dieser Oinos so außerordentlich wohlschmeckend war, trank er noch zwei weitere Schuck aus der mächtigen Schale, der man danach kaum ansah, daß schon etwas von ihrem Inhalt fehlte.
 

"Nun sag schon, Asatam, wen hast Du außer diesem jungen Prinzen aus dem Osten noch eingeladen?" wollte der Hohepriester wissen, nachdem er seine Schale schon fast zur Hälfte geleert hatte.
 

"Ich hatte mir erlaubt, auch Manord Havatim einzuladen", sagte er und nickte zufrieden, als seine Gäste "Oh, wirklich?", "Wie vermessen von dir!", "Wundert mich nicht, daß er abgesagt hat." in die Runde warfen. "Ist das nicht der Mann, der nun das ehemalige Haus von Murhan Darashy am Tor zur Oberstadt bewohnt?" meldete sich auch Adarach zu Wort.
 

"Ihr seid gut informiert, mein Lieber." Der Hohepriester nickte anerkennend. Für einen Moment hatte Adarach das Gefühl, von Freunden seines Lehrers in dessen Auftrag über die Inhalte der Stadtbesichtigung geprüft zu werden. Kamen als nächstes Fragen zu den Opferritualen auf dem Tempelvorplatz oder zur Geschichte des Tempels des Ungenannten?
 

"Ich hatte es für passend gehalten, denn er ist ein unterhaltsamer Redner, wenn er in der richtigen Stimmung ist", erklärte der Gastgeber seine Gastauswahl.
 

"Wenn er betrunken ist", warf sein Schwager ein. "Auf jeden Fall ist er auch bei Abwesenheit als Gesprächsstoff gut."
 

"Meines Erachtens hängt er seine Begeisterung für die Oshey zu hoch", warf Matala, die Schwester des Gastgebers ein, und sah zu ihrer Schwägerin. "Wir wissen, daß man diesen Wilden nicht trauen kann. Sie beißen die Hand, die man ihnen reicht."
 

Ochasa sah plötzlich sehr unwohl aus und stellte mit zitternden Händen die kaum berührte Schale neben sich auf das Sofa. Ein Diener eilte herbei, um ein Tischchen zu bringen, auf das er die sicher sehr teure Schale stellte.
 

"Mutter, soll ich dich in deine Gemächer bringen?" fragte Damila besorgt und winkte einem Diener, auch für sie ein Tischchen für die Schale zu bringen.
 

Aber Ochasa schüttelte den Kopf. "Nein, es ist schon gut. Es war Oserams eigene Entscheidung gewesen, nun gerade diesen Mann als Klienten zu akzeptieren, der ihn umbrachte. Und der Mörder hat für seine Tat gesühnt. Letztlich ist es wohl meine Schuld gewesen, das Interesse meines Sohnes für andere Sitten und Gebräuche zu wecken, so daß er den Pfad als Patron eingeschlagen hat.
 

Sagt, Adarach, würdet ihr hier in Berresh ganz die Sitten der Berreshi annehmen oder würdet ihr auschließlich bei euren awranischen Gebräuchen bleiben? Würdet ihr vielleicht versuchen, ein Gleichgewicht zwischen dem einen und dem anderen zu erreichen, oder wäre das für euch bereits eine Verleugnung der eigenen Herkunft als Verrar?"
 

Adarach wußte nicht recht, wie er darauf antworten sollte. "Wenn ich voraussetze, daß ich nicht durch Verpflichtungen als Verrar an das Festhalten an bestimmten Sitten und ihrer Befolgung gebunden bin, würde ich in einem ersten Schritt versuchen, die Sitten und Gebräuche meiner Umgebung kennenzulernen", begann er langsam. "Ich bin aufgewachsen in der Gewißheit, daß ein Zugewinn an Wissen immer auch ein Zugewinn für mich als Mensch ist. Da Wissen der Weg zum Verstehen ist, wie es in 'Sprüche der taribischen Philosophen' heißt, würde ich in jedem Falle den Sitten meines Gastlandes so weit folgen, daß ich meine Gastgeber nicht brüskiere, indem ich ihre Rituale und heiligen Handlungen in unbedachter Weise störe."
 

Der Hohepriester hob eine Augenbraue. "Das war eine sehr durchdachte und überaus diplomatische Antwort, junger Mann. Eure Antwort auf die Frage unserer Gastgeberin wäre dann also der Versuch, ein Gleichgewicht zu erreichen?"
 

"Ja", Adarach nickte, "ich würde versuchen ein Gleichgewicht zu erreichen." Mit einem angedeuteten Verbeugung zeigte er dem Hohepriester seinen Dank für diesen Ausweg.
 

"Da wir gerade bei fremden Sitten sind", begann nun Damila, deren stärkere Gesichtsrötung wohl im direkten Zusammenhang mit dem stark gesunkenen Pegel ihrer Trinkschale stand und ihren Mut gehoben hatte, "meine Mutter sagte mir, daß ihr beim gestrigen Fest als 'Mawek' bezeichnet wurde, aber meinte, das 'Prinz' der passende Titel ist. Bedeutet 'Mawek' wirklich einfach Prinz? Die Awrani und wir sprechen doch die selbe Sprache."
 

Adarach stellte fest, daß er ohne es recht zu merken inzwischen auch fast die gesamte Schale geleert hatte. "Seit der Herrschaft der Tarib sprechen wir die Sprache unserer früheren Herrscher, wir schreiben sie und wir lesen sie. Wir haben, was unseren Wissensgewinn betrifft, sehr davon profitiert, einem großen Reich angegliedert zu werden. In alter Zeit sprachen die Awrani je nach Stamm ihre eigenen Sprachen, bis sich, lange vor den Eroberungszügen der Tarib, eine gemeinsame Sprache für den Handel der Awrani entwickelte, das Awral. Aus dieser Zeit stammt der Begriff 'Mawek', der sich bis heute gehalten hat. Als reine Funktionsbezeichnung wird es nicht verwendet. Es bedeutet so etwas wie 'Mein Herr', wird aber nur benutzt, wenn der Sprecher den anderen tatsächlich als seinen Herrn oder Befehlshaber oder meinetwegen als seinen Fürsten ansieht."
 

"Das meinte ich, als ich dir sagte, er sei Oseram so ähnlich", warf Ochasa an ihre Tochter gerichtet ein. "In allen Themen bewandert und so durchdacht und strukturiert in seiner Rede." Adarach war über diese Einschätzung seiner Redekünste sehr erstaunt, aber Damila lächelte ihn mit großer Freundlichkeit an.
 

*
 

Das Speisesofa war auch im Liegen sehr bequem, der weitere Abend wurde erfreulich und sogar witzig, als der Hohepriester sich ausließ über Eigenarten einiger Provinzialen, die in Berresh um Ratschlag in theologischen Grundsatzfragen baten. Natürlich wurden geleerte Schalen umgehend wieder gefüllt und zum Schluß gab es noch einen Abschiedstrunk.
 

* * *
 

6. Einrichten

Adarach hatte keine Erinnerung daran, wie er in der Nacht zuvor zurück ins Gasthaus und in sein Bett gekommen war. Und ihm wurde klar, daß er nie zuvor so viel Oinos an einem einzigen Tag zu sich genommen hatte. Aber erstaunlicherweise hatte er nicht einmal einen Hauch von Kopfschmerzen. Vielleicht war der Oinos aus Tormar gerade deswegen so beliebt. Aber er war auch zu lecker gewesen. Und es stand Adarach doch auch zu, die Erkenntnis des Geheimnisses angemessen zu feiern, nicht nur einen, sondern zwei oder besser drei Tage. Also bat er die Götter nicht um Verzeihung für sein Übermaß.
 

Hatte er es sich nur eingebildet, oder hatte Ochasa wirklich versucht, ein Band zwischen ihm und ihrer Tochter zu knüpfen? Oder war es ihm nur so vorgekommen, als der Oinos schon begonnen hatte, seine Sinne zu vernebeln? Wenn es stimmte, konnte er auf eine weitere Einladung hoffen und wieder diesen köstlichen Oinos trinken.
 

Vielleicht war Ochasa ja nicht mit dem aktuellen Stand der Verrar als vertriebenem Stamm vertraut und meinte, sie würde ihrer Tochter mit einer solchen Verbindung einen Dienst erweisen. Er mochte als Erbe seines mütterlichen Großvaters vielleicht wirklich "König der Verrar und Herr über Verr" sein, aber Verr war verwüstet, und alle Verrar, die es noch gab, hatten am Festtag im Hof des Gasthauses gefeiert. Nein, es war besser, sich mit erfreulichen Gedanken zu beschäftigen. Eine weitere Einladung zu einer abendlichen Lustbarkeit im Hause der Kasiterim, konnte er darauf hoffen? Vielleicht sollte er selbst den Anstoß geben und einen Dankesbrief schicken. Vielleicht noch ein paar Komplimente über die doch wirklich recht nett anzuschauende Tochter hineinflechten, den Brief an Ochasa und Asatam adressieren, dann würde die Dame des Hauses, die ihr Täubchen verheiraten wollte, schon für eine weitere prompte Einladung sorgen. Eine verabredete Hochzeit mit Damila konnte natürlich Tawaram in seinen Armen kaum ersetzen, aber der Oinos war es schon wert, ganz abgesehen von weiteren Vorteilen, die er als Schwiegersohn eines Ratsherren von Berresh, einer der reichsten Städte der Welt, genoß. Adarach streckte sich genüßlich in dem großzügigen Bett. Hach, es war herrlich, erwachsen zu sein.
 

Wenig später saß er an dem kleinen Tisch vor dem Fenster zum Innenhof, sah unten die geschäftigen Bediensteten, die anderen Bewohnern des Gasthauses Frühstück servierten, über dem gegenüberliegenden Dach in der Ferne die Rauchsäule des Ewigen Feuers auf der Burg und schrieb seinen Brief.
 

Nach der Übergabe des Briefes an einen verläßlichen Boten und einem kleinen Frühstück im Innenhof, entschloß Adarach sich, die nähere Umgebung dieses Awrani-Viertels zu erkunden, das Chafaran gestern so gar nicht interessiert hatte. Da der Lehrer bisher nicht aufgetaucht war, beeilte Adarach sich mit den letzten Bissen und verließ das Gasthaus.
 

Er hätte in Garam oder Karn oder einer sonstigen großen Stadt der Awrani sein können, das Aussehen der Menschen, ihre Art des Umgangs miteinander, Schwüre bei der Großen Mutter und Grom, das war so anders als das Treiben auf den Straßen der restlichen Stadt. Die Menschen waren lauter hier, fröhlicher, als läge über den näher an der Oberstadt befindlichen Stadtteilen nicht nur der Schatten der Burg und der harzige Geruch des Ewigen Feuers, sondern noch etwas anderes, düsteres, das ihre Lebensfreude einschränkte. Bei der Abendgesellschaft der Kasiterim hatte alles trotz der zum Teil ernsten Gespräche harmonisch, zuletzt sogar ausgelassen gewirkt, auf den Straßen allerdings waren hauptsächlich die Bediensteten unterwegs gewesen, vielleicht war diese Bedrückung die Kehrseite des fantastischen Reichtums von Leuten wie Asatam Kasiterim, dessen Mittel angesichts der Trinkschalen und der Mengen an exquisitem Wein anscheinend weit über das hinaus gingen, was dem König der Garamar und Herrn über Garam zur Verfügung stand. Vielleicht war es die Furcht vor ihrem blutliebenden, auch Menschenopfern nicht abgeneigten Gott, der eher den Eindruck eines übermäßig strengen Vaters machte, und den Berreshi fehlte einfach eine mütterliche Göttin, die die Herzen der Menschen leichter machte. Sonst hätte die Frau eines Ratsherren ja wohl nicht die Feier einer Göttin, die ihre awranische Mutter verehrt hatte, besucht, sondern wäre wie andere Frauen ihres Standes eher zu einem heimischen Fest gegangen.
 

Während er dem Gedanken nachhing, ob für ihn eine Welt ohne die Große Mutter überhaupt denkbar war, nahm er einen Geruch war, der ihm sehr vertraut war, dazu die Rufe, das rhythmische Stampfen, da war ein Übungshof in der Nähe.
 

Die Übungshöfe mußten direkt in dem Gebäude neben dem er stand sein, denn seine fensterlosen Wände waren mit den Bildern von Ringern und gepanzerten Kämpfern, die gegeneinander antraten, geschmückt. Die Eingangstür stand offen, also trat Adarach ein. Der Sandplatz war geradeaus in einem offenen Hof, der von Säulengängen umgeben war, von denen auf der einen Seite anscheinend ein Bad abging, auf der anderen Seite schien der Wirtschafter zu wohnen. Dahinter war angesichts des Lichteinfalles ein weiterer offener Hof, vermutlich der Hof für die Rüstungskämpfer, denn von dort kam das Stampfen und metallenes Klirren. Von dort mußte auch der Schweißgeruch von den feucht geschwitzten Polstern in den Rüstungen herüberziehen, von denen so manche ja schon Generationen in Benutzung waren. Auf dem Sandplatz maßen aktuell nur eine Handvoll junger Männer ihre Kräfte gegeneinander.
 

"Bei Grom! Was stehst du noch rum, Kerl?" sprach ihn plötzlich ein etwas älterer Mann an. "Zieh dich aus und sieh zu, daß du in Bewegung kommst. Faulpelze werde ich nicht mit nach Ma'ouwat nehmen."
 

Adarach war im ersten Moment so verblüfft über diese unfreundliche Ansprache, daß er gar nicht wußte, was er diesem ihm unbekannten Mann antworten sollte. Aber er wollte ja Ringen. Vielleicht ließ dieser Mann ihn nicht mittrainieren, wenn er erfuhr, daß Adarach nicht dazugehörte, also legte er rasch den Mantel auf eine der Bänke im Säulengang, zog die Tunika über den Kopf und, nur noch mit seinem Lendentuch bekleidet, die Sandalen von den Füßen. Einer der Kämpfer wartete anscheinend nur auf einen neuen Gegner, und Adarach lief zu ihm, um einen Gang gegen ihn zu wagen.
 

Der Griff des anderen war nicht gerade sanft, als er versuchte, Adarach zu Boden zu zwingen. Und Adarach bekam seinen Gegner gar nicht richtig zu fassen, da dieser sich vor dem Kampf eingeölt hatte. Und dann grinste sein Gegner so unverschämt siegessicher, daß Adarach seinem Druck einen Moment scheinbar nachgab, und ihm dann mit beiden Händen ein Bein wegzog und den anderen so zu Boden warf. "Wa...?" rief der Unterlegene überrascht, aber dann grinste er wieder. "Das war ein guter Trick, den werde ich mir merken."
 

Adarach half dem anderen wieder auf die Beine. "Noch einmal?" fragte er, aber der andere schüttelte den Kopf. "Für jetzt bin ich raus und du kriegst einen neuen Gegner. Hast du eben nicht aufgepaßt?" Und wieder grinste er, gab Adarach einen freundlichen Klaps gegen den Kopf. "Kannst dir wohl nur Kampftricks merken, keine Anweisungen, was?" Dann ging er zu einem kleinen Grüppchen unter dem umlaufenden Dach, das waren anscheinend die Männer, die eine Niederlage erlitten hatten.
 

Adarach rang noch einen weiteren Gegner nieder, den dritten Ringkampf verlor er. "Immerhin zweiter geworden", sagte der ältere Mann zu ihm, als Adarach zu den fünf Männern in den Schatten ging. Dort war auch ein kleiner Wandbrunnen, von dem die anderen sich schon mit den Händen bedienten. Er hörte, wie der Ältere den Sieger beglückwünschte, dann kamen auch die beiden in den Schatten, um sich zu erfrischen.
 

Der Ältere sah danach in die Runde. "Wart ihr eben nicht sechs? Wer von euch war nicht von Anfang an dabei?"
 

"Ich, Herr", beeilte Adarach sich zu sagen. Als Faulpelz wollte er sich nicht gelten, aber nach Ma'ouwat zog es ihn auch nicht.
 

"Ach, auch noch zu spät, also wirklich ein Faulpelz."
 

"Herr, er war beim Lauf heute früh nicht dabei", warf einer der jungen Männer ein.
 

"Hast dich gedrückt, was Rotschopf?" sprach der Ältere Adarach nun direkt an.
 

"Ich weiß nicht, wovon ihr sprecht, Herr", gab Adarach zu. "Ich bin vor zwei Tagen zum Studieren nach Berresh gekommen und habe mich heute hier im Viertel umsehen wollen. Als ich dann den Übungshof fand dachte ich, etwas Bewegung würde mir nicht schaden."
 

"Das ist in der Tat eine lobenswerte Haltung, junger Mann. Aber dann bist...", der ältere musterte die Männer mit leicht zusammengekniffenen Augen und zeigte dann mit dem Zeigefinger auf einen von ihnen, "... du der Zweite. Und was dich betrifft, Student, falls dir die Studien irgendwann zu fad werden und du bei mir doch noch als Söldner für Ma'ouwat anheuern willst, bist Du herzlich willkommen. Ich komme alle zwei Monate zum Rekrutieren her."
 

*
 

Nachdem sich Adarach noch einen Besuch in dem kleinen Bad des Übungshofes gegönnt hatte, schlenderte er weiter durch die Straßen und Gässchen, bis er ein Stadttor der Neuen Stadtmauer passierte, die die nicht ummauerte Vorstadt von der Neustadt trennte. In diesem Teil der Neustadt hatten viele Händler ihre Stände und einer davon verkaufte auch Mäntel aus vielfarbig gewebten Stoffen, deren Oberfläche einen leichten Glanz hatte. Zwar wußte Adarach nicht, ob sein Brief schon für diesen Abend zu einer Einladung bei Ratsherr Kasiterim führen würde, aber einer der Mäntel hatte einen rot-orangenen Schimmer in der einen und einen grün-bläulichen Schimmer in der anderen Richtung und harmonierte so mit seiner Haarfarbe und mit seiner Augenfarbe. Den mußte er haben. Er bestellte die Lieferung in das Gasthaus an Kaharach, der ja sein Geld verwaltete und nahm, als sich der Hunger meldete, den Rückweg in die Vorstadt und das Awrani-Viertel auf der Straße neben dem schmalen Flußlauf des Barbesh, der sich, von den Bergen im Norden kommend, in seinem überdimensioniert wirkenden felsigen Bett bis zum Hafenbecken durch die Stadt schlängelte.
 

Der Mantel war schon eingetroffen und von Kaharach bezahlt worden und es lag auch ein Brief als Antwort auf sein Schreiben an Ochasa und Asatam Kasiterim in seinem Zimmer. Ein Wachsiegel, in das so etwas wie eine stilisierte Flamme in einer Schale eingeprägt worden war, verschloß das Schreiben auf feinem Papyrus. Ob das die ersehnte Einladung war? Obwohl Adarach noch nicht einmal ein Essen bestellt hatte und sein Magen zum wiederholten Male vernehmlich knurrte, erbrach er ungeduldig das Siegel, um zunächst Gewissheit zu erlangen. Sie dankten für die freundlichen Worte, freuten sich, daß er sich wohlgefühlt hatte und, ja!, fragten an, ob er an diesem Abend vielleicht auch wieder Zeit für sie hatte.
 

Adarach meinte, den Oinos aus Tormar schon zu schmecken, aber erst einmal brauchte er nun doch etwas zu essen. Er lief die Treppe hinunter in den Innenhof, bestellte beim Gastwirt etwas zu Essen und bat darum, daß Kaharach gesucht werde.
 

Kaharach war bei seiner Großmutter wurde ihm hinterbracht, das Essen war schnell verzehrt und Adarach ging hinüber zu dem Tempelhaus der Großmutter und klopfte an der Tür. Kaharach öffnete ihm. Die Tür zum Wohnbereich der Großmutter stand auf und Stimmen drangen von dort bis in den Vorhof, es klang, als wären Buhachan und Avilah ebenfalls hier. "Ah, das trifft sich ja", begrüßte Kaharach ihn. "Wärst du nicht hierher gekommen, hätte ich dich jetzt gesucht. Komm mit, meine Großmama möchte mit dir auch ein paar Worte wechseln."
 

"Ich wollte eigentlich nur ein bißchen Geld, um..."
 

"Der Mantel ist bezahlt", erinnerte Kaharach ihn. Der Mann wußte ja nicht, daß Adarach auch eine kleine Aufmerksamkeit für die Tochter des Hauses Kasiterim als Gastgeschenk besorgen wollte. "Und ich denke, das hier ist wichtig." Die Großmutter war immerhin die erste Prophetin von Verr gewesen.
 

Also folgte Adarach seinem Leibwächter zu der kleinen Gruppe, die im Schatten eines Sonnensegels um einen Tisch mit Erfrischungen herumsaß. Ja, da waren nicht nur die Großmutter, sondern auch Buhachan und Avilah, die auf ihrer Bank ein wenig zusammenrückten, um ihm Platz zu machen, Kaharach setzte sich neben seine Großmutter.
 

"Sei gegrüßt, König der Verrar und Herr von Verr", sagte die alte Prophetin förmlich und neigte den Kopf ein Stück. "Es gibt eine, nein zwei Angelegenheiten zu besprechen, die dich und deine Familie betreffen. Das eine habe ich schon mit Avilah und Buhachan besprochen, dazu erbitten wir deine Zustimmung. Das andere ist etwas, was vor allem dich betrifft."
 

"Was für eine Angelegenheit erfordert meine Zustimmung?" fragte Adarach überrascht. Er war jetzt erwachsen und sein eigener Herr. Aber das er jetzt auch über irgend etwas, was nicht ihn persönlich betraf, Befehlsgewalt hatte, verwunderte ihn. Sein Königstitel war doch angesichts des Zustands der Verrar und ihrer Stadt inhaltsleer.
 

"Ich möchte Avilah ab sofort zu meiner Schülerin machen. Sie ist wahrhaftig ein Geschenk der Göttin, denn sie hat schon jetzt stärkere Fähigkeiten als ihre Mutter in dem Alter. Ich trage zwar noch immer den Titel der Ersten Prophetin, aber nachdem die Göttin deine Mutter zu sich geholt hat, bin ich die letzte Prophetin, die die Verrar haben. Noch fünf Jahre mit Avilahs Ausbildung zur Prophetin zu warten ist eine Verschwendung, die wir Verrar uns nicht leisten können. Ihre Fähigkeiten kommen schon jetzt an die eurer Großmutter Mesanna heran, die eine Gesandte der Göttin war."
 

"Oh", entfuhr Adarach, der als Wissender nun verstand, was das bedeutete. Und auch Kaharachs Augen wurden groß. Anscheinend hatte er es bisher nicht gewußt.
 

Und die Großmutter fuhr fort: "Da der Brauch aber vorsieht, daß der König bestimmt, wann die rechte Zeit ist, die priesterliche Ausbildung zu beginnen, mußt du mir und Avilah deine Erlaubnis geben."
 

"Bedeuten ihre Fähigkeiten, daß auch Avilah eine Gesandte der Göttin ist?" vergewisserte Adarach sich.
 

"Das kann dir zum jetzigen Zeitpunkt nur die Große Mutter sagen", erwiderte die Großmutter. "Mit der Zeit wird es offenbar werden."
 

"Avilah, was sagst du dazu, jetzt sofort zur Priesterin und Prophetin ausgebildet zu werden?"
 

"Ich sehne mich schon danach, seit ich verstanden hatte, daß unsere Mutter der Großen Mutter diente. Ich bitte um Deine Erlaubnis."
 

"Dann ist es entschieden. Ich bestimme also, als König der Verrar und Herr des zerstörten Verr, daß Avilah das rechte Alter erreicht hat, um von dir ausgebildet zu werden, Erste Prophetin der Verrar."
 

"Ich danke dir, Mawek Adarach. Und erlaubst du auch, daß Avilah hier bei mir wohnt? Das ist für uns beide nämlich viel bequemer, und sie kann ja auch nicht für immer im Gasthaus bleiben."
 

"Wenn Onkel Buhachan nichts dagegen hat, erlaube ich es." Buhachans Blick zeigte Adarach, daß er diese Bemerkung für wenig angemessen hielt. Aber ihre Mutter hatte ja ihrem Bruder die Fürsorge für ihre Kinder übertragen und Avilah unterstand als Kind dieser Fürsorge noch immer.
 

"Da das nun also geregelt ist, würde ich gerne noch ein paar Worte mit dir allein wechseln, Mawek. Und Kaharach wird dir die Münzen, nach denen du gefragt hast, sicher nachher im Gasthaus geben." Und sie schmunzelte wieder.
 

Doch als die anderen drei gegangen waren, wurde ihr Gesicht sehr ernst. "Mawek, du bist in ernster Gefahr. Die Ratsherren haben keine Freunde, nur Verbündete. Und ein Bündnis kann auch einmal ohne Vorwarnung aufgekündigt werden, wenn ein anderes, vielleicht vorteilhafteres Bündnis dem entgegen steht. Wenn du wieder das Haus des Ratsherrn aufsuchen solltest, sei auf der Hut. Der Segen der Großen Mutter liegt auf dir, aber manchmal ist ihre Art der Rettung nichts, was wir uns erhoffen oder mit dem wir gut leben könnten."
 

Adarach nahm zur Kenntnis, daß sie eine düstere Vorahnung zur heutigen Nacht hatte, doch offenbar sah sie nichts Konkretes. Sollte er dieser Vorahnung wegen auf das Vergnügen des wunderbaren Oinos verzichten? Und was konnte ihm hier in Berresh schon passieren? Daß er für den Oinos zahlen mußte? Daß er Damila morgen würde heiraten müssen, weil er in dem Brief an ihre Eltern ihre Schönheit gelobt hatte? Nichts davon war etwas, das er herbeisehnte, aber es war auch nichts, was einem düsteren Schreckensszenario nahe kam. "Ich vertraue auf den Schutz der Göttin", sagte er ernsthaft. "Aber ein Bündnis mit einem Ratsherren ist für alle Verrar hier in der Stadt wertvoll. Ich werde ernsthaft aufpassen, daß nichts was ich tue das gefährdet."
 

Die Prophetin nickte. "Das wirst du, Mawek. Möge die Große Mutter dir zur Seite stehen, wenn du ihre Hilfe brauchst." Und sie verabschiedete Adarach.
 

Im Gasthaus wartete Kaharach auf seinen Schützling. "Wieviel Geld brauchst du, Mawek?" fragte er.
 

"Ich möchte ein kleines Amulett der Großen Mutter kaufen, als Gastgeschenk. Weißt Du, wo ich hier soetwas bekommen kann?"
 

"Ein Stück die Straße runter ist ein Schmuckhändler, der bietet auch Amulette an, sogar welche, die bereits gesegnet wurden." Und er drückte Adarach zwei Silberstücke in die Hand. "Das sollte reichen."
 

Adarach verabschiedete sich also, und suchte den Schmuckhändler auf. Er würde seiner Antwort auf die Einladung als kleine Aufmerksamkeit ein Amulett für Damila beilegen, zumindest ihre Mutter würde es zu würdigen wissen. Und die Mütter waren es doch traditionell, die die Fäden einer Verehelichung spannen... Adarach wurde etwas wehmütig. Wer wohl den Part seiner Mutter übernehmen würde? Kaharach oder etwa Buhachan? Und da wäre noch die alte Prophetin, die ihn allerdings vor dem Besuch bei Kasiterim gewarnt hatte.
 

Der Schmuckhändler hatte tatsächlich eine große Auswahl an Amuletten, größere, auf denen eine Statue der Göttin abgebildet war, kleinere, auf denen mal mehr mal weniger gut so eben ein Delphin zu erkennen war. Es gab welche aus Gold und anderen Metallen, aber auch einige aus geschnitztem Perlmutt. Die Darstellung eines Delphins war vielleicht die beste Wahl, denn er wußte ja nicht, wie der Vater Damilas zu den Bräuchen und dem Glauben der Awrani stand, nur daß es angesichts der Diskussion am Vorabend ja wohl schon mehrfach ein Thema in der Familie gewesen sein mußte. Auf Nachfrage fand der Schmuckhändler tatsächlich ein kleines perlmutternes Amulett an einer dünnen goldenen Kette, die lang genug war, daß Damila es um den Hals tragen konnte. Die Schnitzarbeit des Amuletts war so fein, daß sogar die Seitenzeichnung des Delphins zu erkennen war. Sah er nicht genau so aus, wie der erste dieser Fische, die die 'Königin der Wellen' vom Hafen von Garam nach Westen begleitet hatten? Da es nicht geweiht war, reichten die beiden Silberstücke. Vielleicht hätte Adarach den Mann auch noch etwas herunterhandeln können, aber dieses Amulett traf so genau das, was er sich vorgestellt hatte, daß er den geforderten Preis ungefragt bezahlte.
 

Zurück im Gasthof schrieb Adarach seine Antwort, dankte für die Einladung, er nehme sie gerne an und der beiliegende Halsschmuck sei als kleine Aufmerksamkeit für Damila gedacht. Ein Bote des Gastwirts lief los, um den Brief zu besorgen.
 

* * *
 

7. Einstand

Die Zeit bis zum Abend zog sich, und Adarach gab sich besondere Mühe dabei, sich für seine Gastgeber zurecht zu machen. Der neu erworbene Mantel durfte natürlich dabei nicht fehlen. Und als es endlich an der Zeit war, allmählich aufzubrechen, verabschiedete er sich bei Buhachan, Kaharach und sogar bei Chafaran, der sich eine bewundernde Bemerkung zu der Mantelwahl seines Schülers erlaubte. Dann machte Adarach sich in der beginnenden Dämmerung auf den Weg, in Richtung des roten Feuerglanzes auf der Spitze der Burg. Er hatte das Gefühl, daß mehr Bewaffnete in der Oberstadt unterwegs waren als am Vorabend. Es waren, nach ihren Schildzeichen, die Soldaten der Stadt, aber er konnte keine Anspannung wie vor einem Kampf oder die Erwartung eines Befehls bei ihnen feststellen. Es war wohl eher so, daß zufällig einige der üblichen Patrouillen seinen Weg kreuzten. Vor dem Haus Asatam Kasiterims war es so ruhig und unauffällig wie am Vorabend, die Lampen neben der Tür leuchteten und auf sein Klopfen wurde ihm, wie am Vorabend umgehend geöffnet.
 

Natürlich hatte man ihn erwartet, diesmal war die Familie schon auf den Speisesofas versammelt, von denen heute aber nur vier in einem kleineren Rund auf dem Mosaik standen. Die Atmosphäre in dem wieder durch die Eckleuchter erhellten Hof war allerseits erwartungsvoll und Damila trug um den Hals tatsächlich sein Geschenk. Er verneigte sich artig vor ihrem Vater und ihrer Mutter und dann, nach einem etwas längeren Blick in ihre geheimnisvoll dunklen Augen, vor Damila. Er gefiel ihr, das sah er ganz deutlich, ihre Wangen erröteten, doch heute senkte sie den Blick nicht schüchtern, sondern musterte ihn wohlgefällig. Und sie mochte Delphine.
 

"Nehmt Platz, Adarach", forderte der Gastgeber Adarach auf, natürlich stand das freie Speisesofa neben dem Damilas. Es war ganz klar, daß der Ratsherr wollte, daß er seiner Tochter den Hof machte. Und auch die Herrin des Hauses war damit mehr als einverstanden. Was für eine Gefahr sollte ihm hier auflauern, abgesehen von der Aussicht, mit der Tochter eines der fünf wichtigsten Männer von Berresh vermählt zu werden?
 

Natürlich gab es wieder Oinos aus Tormar zur Begrüßung, wieder in den edlen Schalen, auch wenn ihm diesmal eine mit einem anderen Innenbild gereicht wurde.
 

"Woher stammen diese wunderbaren Trinkschalen?", fragte er den Hausherrn. "Ich habe in Garam nur eine einzige gesehen, die dieser ähnlich war. Sie befand sich im Besitz des Königs und wurde nur einmal im Jahr für den ersten Weihguß des Rauschfestes verwendet."
 

Asatam zuckte mit den Schultern. "Mein geliebtes Weib hat sie in die Ehe gebracht", sagte er. "Woher stammen diese Tonschalen, Ochasa?"
 

Ochasa sah Adarach direkt in die Augen. "Sie stammen aus der Heimat meiner Mutter, aus Verr. Meine Mutter ließ sie für meine Hochzeit bei einem der talentiertesten Töpfer von Verr fertigen. Soweit ich weiß, fand man seine Produkte sogar am Königshof von Verr." Sie wußte, wie es um Verr und die Verrar heutzutage bestellt war, keine Frage. Wieviel war noch an Kunstwerken verloren gegangen durch das Schleifen der Stadt, nachdem ihre Verteidiger fast alle gefallen waren?
 

"Was plant ihr eigentlich, wenn ihr eure Studien hier in Berresh abgeschlossen habt, Adarach? Besucht ihr dann den nächsten Studienort oder kehrt ihr gleich in eure Heimat zurück?" wollte der Ratsherr wissen.
 

War das die entscheidende Frage, an deren Beantwortung hing, ob er als Schwiegersohn in Frage kam? "Ich könnte mir tatsächlich vorstellen, mich hier in Berresh niederzulassen."
 

Ochasa lächelte und Damila senkte plötzlich errötend den Blick.
 

"Ihr müßt wissen", fuhr Asatam fort, "ich investiere ein wenig in den Fernhandel. Für diesen Zweck suche ich natürlich immer verläßliche Männer, die sich mit den Gepflogenheiten meiner Handelspartner jenseits von Berresh, sei es im Osten oder im Süden, so gut auskennen, daß sie vor Ort meine Interessen vertreten können. Aber natürlich brauche ich auch Männer, die meine Gastfreunde aus aller Herren Länder hier in Berresh umsorgen, damit sie sich wie zu Hause fühlen können."
 

Adarach nickte zu diesen Worten, obwohl der Oinos schon verhinderte, die Gedanken hinter Asatam Kasiterims Worten zu sehen. Es klang doch ganz so, als wolle Asatam dafür sorgen, daß er ein auskömmliches Leben hatte, um Damila im Falle einer Vermählung den gewohnten Lebensstandard bieten zu können. Wenn er einem der Ratsherren von Berresh gegenüber zur Loyalität verpflichtet war, konnte das für die Verrar natürlich aussehen, als wende er sich von ihnen ab.
 

Plötzlich klappte eine schwere Holztür, das metallische Klirren von Rüstungen und Waffen und eine herrische Männerstimme war vom Eingangsbereich her zu hören. Ein Diener eilte zu Asatam. "Herr, eine Abteilung der Stadtwache ist hier und Ratsherr Golateram. Sie verlangen, vorgelassen zu werden."
 

"Sie verlangen?" fragte der Hausherr ungläubig. "Was denken die sich denn? Bei so einem schlechten Benehmen war gestern das letzte mal, daß er..."
 

"Ihr beherbergt einen gesuchten Mörder, Ratsherr Kasiterim", wieder die herrische Stimme, die Adarach angesichts des gestrigen Abends nicht mit Ratsherr Golateram in Verbindung gebracht hätte, wenn er ihn nun nicht vor sich gesehen hätte.
 

"Was ist das für ein Unsinn?" ereiferte Asatam sich. "Ihr wißt doch, wer das ist", und zeigte mit beiden Händen, die noch die Trinkschale hielten, auf seinen Gast. "Das ist Prinz Adarach aus Garam, Sohn des dortigen Königs Anaskan."
 

"Vielleicht hättet ihr heute nachmittag der Ratssitzung nicht fern bleiben sollen, dann..."
 

"Was für eine Ratssitzung?" fragte Asatam scharf. "Ich wurde nicht benachrichtig!"
 

"Nun, vielleicht wurde unter Umständen vergessen, euch einzuladen. Der Punkt ist aber doch, wenn ihr dort gewesen wärt, hättet auch Ihr die Nachricht von Prinz Upatach, dem Bruder dieses Mannes dort, erhalten. Unser verehrter Verbündeter, König Anaskan von Garam, wurde vor einigen Tagen vergiftet. Und seit der Tat war dieser Mann, Prinz Adarach aus Garam, von dort unter höchst verdächtigen Umständen verschwunden. Es liegen in Garam Beweise vor, daß Adarach sich mit Banditen und Verschwörern zusammengetan hat, die beabsichtigen, Garam den Feinden zu öffnen, und alles deutet darauf hin, daß er, um den Umsturz zu beginnen, seinen eigenen Vater vergiftete.
 

Als Prinz Upatach erfuhr, daß sein Bruder nach Berresh gereist war, hat er sofort einen Boten an den Rat geschickt, um die Auslieferung des Übeltäters zu verlangen, damit ihm in Garam der Prozess gemacht werden kann."
 

Adarach war sprachlos.
 

"Dieser junge Mann galt den Ostlern vorgestern nachmittag noch als Kind", warf Asatam ein. "Es klingt mir doch ganz so, als hätte der Rat Angst vor einem Übergriff der Garamar auf Berresh, da nun der mäßigende Einfluß von König Anaskan auf den Kriegstreiber Upatach fehlt. Der Rat will sich also ein Bündnis mit dem Leben dieses jungen Prinzen erkaufen, der Upatach wahrscheinlich auf seinem Weg zur Königswürde im Weg steht." Traurig schüttelte Asatam den Kopf. "Kein Wunder, daß der Rat 'vergessen' hat, mich zu dieser Beschlußfassung einzuladen." Dann sah er bedauernd Adarach an. "Es tut mir so leid, daß ich euch nicht helfen kann, aber mir sind die Hände gebunden. Auch wenn ich den Ratsbeschluß nicht mit gefällt habe, bindet er mich. Ich hoffe, ihr werdet in Garam einen fairen Prozess bekommen. Wir werden zu allen uns bekannten Göttern dafür beten."
 

Bevor Adarach richtig begriff, wie ihm geschah, wurden seine Hände und Füße in Ketten gelegt, und die Stadtwachen schubsten ihn unsanft vor sich her, hinaus aus dem Innenhof, durch den Vorhof auf die Straße. In nicht allzu großer Ferne strahlte das rote Licht des Ewigen Feuers auf der Burg, doch er wurde davon weggeführt, den Hügel hinunter, auf dem die Oberstadt lag und als er nach dem Passieren einer der vielen Stadtmauern der Stadt sich leicht wiegenden Doppellichter vor sich sah, erkannte er, daß sie den Hafen erreicht hatten, auf dem die mit jeweils mindestens einer Laterne beleuchteten Schiffe im Wasser dümpelten. Es war ihm bei seinen Erkundungsgängen durch die Stadt entgangen: das Gefängnis der Stadt lag nahe dem Hafenbecken, eine ganze Reihe von Zellen war in den Fels gehauen, die von massiven Holztüren mit kleinen, vergitterten Fenstern verschlossen wurden.
 

Die Wachen schubsten ihn in eine der finsteren Zellen, lachten, als er den Sturz mit seinen gefesselten Gliedern nicht aufhalten konnte und mit dem Gesicht in fauligem Stroh landete. Dann klackte schon dumpf der Riegel des Schlosses.
 

Das dreckige, feuchte Stroh war wenigstens nicht ganz so kalt wie der Steinboden, also setzte Adarach sich darauf, versuchte trotz der Ketten zwischen Handgelenken und Fußknöcheln eine halbwegs bequeme Position zu finden und schüttelte über seine Dummheit den Kopf. Natürlich hatte die Prophetin recht gehabt. Warum hatte er gemeint, es besser zu wissen?
 

Aber Selbstmitleid brachte ihn nicht weiter. Er zerrte an den Ketten, versuchte die verschraubten Fesseln um seine Handgelenke und Knöchel im Dunklen und mit bloßen Händen zu lösen, aber ohne Werkzeug kam er nicht weiter. Da er zumindest nicht an der Wand festgekettet war, erhob er sich und trat so dicht an die Tür, daß er durch das hoch angebrachte Gitter gerade eben hinausschauen konnte. Was für ein Glück, daß er größer als der durchschnittliche Berreshi war, sonst hätte er gar keine Chance gehabt, die vergitterte Öffnung zu erreichen. Aber da draußen gab es, außer der nächtlichen Dunkelheit und den kleinen Lichtern der Schiffe, die sich im Hafenbecken spiegelten, nichts zu sehen.
 

Anscheinend war er viel zu naiv an die ganze Sache herangegangen. Wieso hatte er geglaubt, Upatach würde sich an die Gesetze halten, obwohl er ihren Vater vergiftet hatte. Er würde nie in Garam vor ein Gericht gestellt werden, vermutlich wurde ihm auf dem Schiff, auf das sie ihn morgen brachten, einfach die Kehle durchgeschnitten und sein Leichnam auf dem Kreismeer über Bord geworfen. Wütend und verzweifelt schlug er mit den Fäusten gegen seine Gefängnistür, doch die Tür schien den Schlag einfach zu schlucken, nur seine Ketten rasselten vernehmlich. Was blieb ihm noch? Zur Großen Mutter beten? Würde sie ihn überhaupt anhören, wo er doch die Warnungen ihre Prophetin in den Wind geschlagen hatte?
 

*
 

Ein leises Singen war zu hören, das allmählich lauter wurde. Es war ein altes Trinklied, mehrstimmig und schief gesungen, wie man es vor allem beim Rauschfest in den Gassen von Garam hören konnte, in das aber auch Buhachan und Adarachs Mutter stets mit eingestimmt hatten, wenn die Feiernden an ihrem Haus vorbeikamen. Es wurde wohl bei allen Awrani gesungen. Waren das Freunde oder Feinde? Garamar oder Verrar? Aber kam es drauf an? Verlieren konnte er nicht einmal dann, wenn er die Besatzung eines Schiffes aus Garam oder die Stadtwachen von Berresh auf sich aufmerksam machte.
 

"Heda, Awrani!" rief er. "Helft mir hier raus. Sie haben mir meinen Mantel und meinen Oinos weggenommen!"
 

"Wo bischu, Bruder?" rief einer der Männer zurück.
 

Adarach versuchte, die Hände bis an das Gitter zu bekommen, um zumindest die Finger hinausstrecken zu können, aber so lang war die Kette nicht. Er lehnte sich an die Tür, hob einen Fuß, und schaffte es dann mit einer Hand, verkrallte zwei Finger um eine der Gitterstreben. "Hier in der Zelle bin ich", rief er. "Da wo du zwei Finger am Gitter sehen kannst."
 

"Ich kann ganich sehn, es ist sooo duster", sagte einer, aber dieser schien direkt vor Adarachs Zellentür zu stehen.
 

"Da, schau doch, Patach, du stehsja genau davor. Gib mir domma einer die Lampe", und kurz darauf blendete Adarach das Licht einer kleinen Laterne. "Du kommst mir bekannt vor", überlegte der Laternenträger. "Hamma uns schon mal irgendwo... ach ja, du bisoch der Student, der sich in die Höfe verlaufen hatte. Wie hasse dich denn hierher verlaufen? Sieht mir nach ner interessanten Geschichte aus." Langsam konnte Adarach die Gesichter der Männer erkennen, ja, das war der Rekrutierer aus den Übungshöfen. Adarach ließ Hand und Bein wieder sinken und versuchte den Blickwinkel so zu wählen, daß er auch die Begleiter des Mannes erkennen konnte. Es waren nicht die jungen Männer aus dem Übungshof, die drei oder vier Begleiter hier waren eher so alt wie der Rekrutierer. Alle trugen sie verpackte Schilde, Schwerter und Speere und in den großen Säcken sicher ihre Rüstungen und Helme mit sich, aber alle stellten ihre Last jetzt ab und schauten nun ihrerseits neugierig in Adarachs Zelle. "Ah, der mit den roten Haaren, der die Tricks drauf hatte?" fragte einer. Und ein anderer sagte: "Ich war vorgestern beim Fest, das ist der König der Verrar."
 

"Das ist doch ein Witz, oder?"
 

"Nein, kein Witz. Er ist König der Verrar und Herr von Verr. Und ein Freund der Prophetin. Ich hab sie miteinander sprechen sehen."
 

"Wer hat ihn denn eingesperrt? Möge Grom ihn strafen!"
 

"Sapach, hast du deine Axt zur Hand?"
 

"Dann geht mal ausm Weg. Und du auch, kleiner Mawek. Ein Stück zurück von der Tür, wenns genehm ist."
 

Adarach tat, wie ihm geraten und wußte sein Glück kaum zu fassen. Da mußte doch die Göttin ihre Hand im Spiel gehabt haben. Er dankte ihr stumm und versprach, ihr als Dank ein besonderes Geschenk zu machen.
 

Mit kraftvollen Axthieben, die laut durch die Nacht hallten - und vermutlich konnte man sie ebenso laut auch auf der gegenüberliegenden Seite des Hafenbeckens hören, da das ruhige Wasser den Schall weit trug - schlug... Sapach auf die Tür ein. Er spaltete sie kurzerhand entlang ihrer Maserung von oben nach unten, dicht an dem vergitterten Fensterchen vorbei. Dann zogen die Männer die Reste aus dem Weg und führten Adarach aus seinem Gefängnis.
 

"Deinen Mantel habe ich hier draußen nicht gefunden", sagte nun einer der Männer, "aber deinem Mangel an Oinos können wir abhelfen. Komm mit, kleiner Mawek."
 

Die Ketten an seinen Fußgelenken klirrten mit jedem Schritt, aber er konnte mit den Männern gerade so mithalten, denn schon nach wenigen Schritten bogen sie von der Straße ab auf einen der Anleger, an dem ein kleiner Sa'atik-Segler festgemacht war. Das war anscheinend das Schiff der awranische Söldner im Dienste Ma'ouwats.
 

Je ein Mann nahm einen von Adarachs Armen und gemeinsam trugen sie ihn seitwärts über die schmale Planke an Bord und unter Deck. Bis jetzt hatte weder der Lärm, den das Spalten der massiven Tür verursacht hatte, noch das Klingeln der Kettenglieder jemanden angelockt, aber sie wollten wohl nicht riskieren, doch noch im Freien mit dem befreiten Gefangenen angetroffen zu werden.
 

Der Mann mit der Axt, Sapach, schaute sich die Hand- und Fußfesseln an, hatte auch dafür das richtige Werkzeug und öffnete nacheinander die Metallklammern. Dann drückte ihm jemand einen Holzbecher in die Hand und füllte ihn mit dunklem Oinos. Während Adarach noch mißtrauisch das unverdünnte, streng riechende Getränk betrachtete, prosteten die fünf Männer ihm schon zu und erzählten, warum sie in Berresh waren.
 

Sie stammten aus verschiedenen Stämmen und waren in der Fremde Freunde geworden, die nun regelmäßig gemeinsam die alte Heimat, oder doch zumindest irgend eine awranische Enklave besuchten.
 

Der Rekrutierer, Tachan, warb in den Übungshöfen Nachwuchs für die gut bezahlte Awrani-Söldnerarmee des Königs von Ma'ouwat an. In der Vorstadt von Berresh hatte er seine Auswahl heute getroffen, und wer eine Stunde vor Sonnenaufgang dann auch zum Schiff der Söldner kam, egal ob mit eigener Rüstung oder ohne, war dabei und hatte einen Monatslohn und ein Handgeld sicher - das notfalls eben für eine Rüstung ausgegeben werden mußte. Er leerte seinen Becher mit einem gierigen Schluck. "Was ist, kleiner Mawek? Klingt Ma'ouwat nach deiner Einkerkerung jetzt doch interessant?" fragte Tachan dann.
 

Adarach nickte. "Ja, es klingt sehr interessant. Ich hoffe doch mal, daß der Rat von Berresh und der König der Garamar keine Möglichkeit haben, Einfluß auf den König von Ma'ouwat zu nehmen."
 

"Unser König kann fremden und einheimischen Einflußnahmen nichts abgewinnen", erklärte Tachan lächelnd. "Deswegen hat er ja seine Söldnerarmee. Und trink einen Schluck auf Grom, als Söldner sollte man ihn immer auf seiner Seite haben."
 

Adarach überwand sich also und nahm einen kleinen Schluck aus seinem Becher. Der Oinos brannte in seiner Kehle, aber irgendwie auf gute Weise. "Auf Grom und auf meine Retter!" rief er dann und nahm einen großen Schluck. Jetzt mußte er nur noch einen Weg finden, unauffällig Kaharach und Buhachan zu benachrichtigen.
 

* * *
 

8. Annahme

Vier von den rekrutierten Jünglingen kamen tatsächlich rechtzeitig zum Schiff der Söldner, um mit ihnen nach Ma'ouwat zu fahren. Drei hatten eine Rüstung und Waffen dabei, der vierte bat Tachan, ihn noch einmal nach Hause zu lassen, damit er seine Rüstung holen könne. Für einen Moment hoffte Adarach, daß er dem Jüngling einen Brief für Kaharach mitgeben könnte, aber Tachan sagte: "Wir legen mit der Dämmerung ab, der Lotse ist schon bestellt. Entweder du kommst mit, oder du bleibst hier."
 

"Wenn ich mitkomme, muß ich mir eine neue Rüstung kaufen?"
 

"Ja, von deinem Handgeld. Oder von anderem Geld, das du bei dir hast. Und sei unbesorgt, es gibt awranische Schmiede in Ma'outwat, die ordentliche Rüstungen herstellen."
 

Es begann schon zu dämmern, der Jüngling blieb an Bord und zwei der Söldner machten das Schiff bereit zum Ablegen. Auf dem Anleger wartete bereits ein Lotse, um das Schiff sicher über die Hafenkette zu führen. Noch konnte die Stadtwache nach Adarach suchen und das Schiff aufhalten, aber niemand kam. Hinter der Hafenkette kam ein Ruderboot längsseits, aber nur, um den Lotsen wieder aufzunehmen. Und dann frischte der Wind auf und trieb das Schiff vor sich her nach Süden.
 

Adarach sah zu, wie die vom Ewigen Feuer rot beleuchtete Burg von Berresh im Zwielicht der Dämmerung verschwand und dann von Osten her die Morgenröte rotgolden über den Himmel zog. Jetzt war um sie herum nur Meer, auf der 'Königin' waren sie immer nahe der Küste geblieben. Doch er war zu müde, um sich darüber Gedanken zu machen.
 

"Wo bist du, Bruder?" fragte Avilah. Warum fragte sie? Sie standen einander doch gegenüber.
 

"Ich bin doch genau vor dir", sagte er also.
 

"Nein, wir träumen nur voneinander", antwortete Avilah. "Konzentrier dich. Wo bist du?"
 

Sie träumten voneinander? War das Zauberei? Oder war das ihr Erbe, das sie der Großmutter Mesanna so ähnlich machte? Wo war er? Er mußte doch zuhause sein, wenn er Avilah sah... nein, er war in Ketten gelegt worden. Er schaute an sich herunter, da waren keine Ketten. Sapach hatte sie entfernt, richtig. Und dann, dann... er war auf einem Schiff, ja, und es fuhr und fuhr mitten auf dem Meer, keine Küste, nur das rote Leuchten...
 

"Wohin fährt das Schiff, Adarach?" fragte Avilah ungewohnt streng.
 

Hatte er denn mit ihr gesprochen?
 

"Das mußt du nicht, wir verstehen uns auch ohne Worte. Ich schaue in deine Gedanken und du in meine. Wohin fährt das Schiff. Bei der Großen Mutter, man möchte meinen, du lägst nach dem Rauschfest irgendwo betrunken herum."
 

Richtig, es gab Oinos, unverdünnt, dunkelrot, der hat gebrannt in der Kehle. Und er würde Handgeld bekommen, das er für eine Rüstung ausgeben mußte, da seine noch in Garam lag, in dem verlassenen Haus ihrer Mutter.
 

"Wohin, Adarach? Wohin fährt das Schiff?"
 

"Nach Ma'ouwat natürlich, dorthin kehren die Söldner zurück und sie haben mich in ihre Reihen aufgenommen. Dort bin ich vor den Berreshi in Sicherheit."
 

"Ja, der Göttin sein Dank, das bist du. Buhachan und Kaharach werden dir nachreisen. Für wen arbeiten die Söldner?"
 

"Für den König von Ma'ouwat."
 

"Dann werden die beiden dich finden."
 

"Und was ist mit..."
 

"Was ist mit was?" fragte eine Männerstimme, und dann lachte der Mann. "Ich glaube, du hast geträumt, kleiner Mawek." Tachan sah auf ihn hinunter. "War es denn was Schönes?"
 

"Ich...", begann Adarach, aber hielt dann inne. Er hatte von seiner Schwester geträumt, aber zugleich mit ihr gesprochen. Sie wußte nun, wohin er fuhr, aber sie wußte nicht, was ihm passiert war. Auch sie lief Gefahr, von Upatach verleumdet und von den Berreshi verhaftet zu werden. Warum sollte sein Bruder sich noch Zurückhaltung gegenüber einer angehenden Prophetin auferlegen, wo er schon so weit gegangen war.
 

Tachan sah ihn prüfend an, als warte er noch immer auf eine Antwort. "Ich... ich weiß nicht mehr, was ich geträumt habe", behauptete er also. "Sind wir schon in Ma'ouwat?"
 

Wieder lachte Tachan. "Na, du machst mir Spaß. Wir brauchen noch zwei Tage bis dorthin. Und du mußt mit anpacken, kleiner Mawek. Die Jungs machen mit Machal gerade das Essen. Frag mal, ob sie noch Hilfe brauchen."
 

Vielleicht brauchte Machal gar keine Hilfe, aber da er die 'Jungs' beschäftigen mußte, zu denen anscheinend auch Adarach gehörte, fand sich natürlich ein Teig, der für das Brot geknetet werden mußte und dann ein Suppentopf, in dem gerührt werden mußte. Es war Ewigkeiten her, daß Adarach eine Küche aufgesucht hatte, aber der bereits grau gewordene Söldner rechnete anscheinend bei keinem der Jungs mit irgendwelchen Vorkenntnissen, sondern führte sie geduldig Schritt für Schritt an ihre Aufgaben.
 

Der Suppentopf hing an einem Dreibein über einer Feuerschale, die wiederum auf einer Steinplatte stand. Die Bewegung der Gemüse- und Fleischstücke in der Suppe - durch die Hitze und durch Adarachs Umrühren mit einem langen Holzlöffel, hatte etwas Hypnotisierendes, er versank ganz in seine Arbeit, folgte dem Auf- und Abtauchen der Wurzelstücke, dem eines besonders großen und daher wiedererkennbaren Stückes dunkelbraunen Fleisches und der Bildung einer zarten Dampfschicht knapp über der Oberfläche der Suppe. Kleine Bläschen stiegen auf und zerplatzten, und Adarach rührte wieder etwas energischer, damit sich die Hitze gleichmäßig in der Flüssigkeit verteilen konnte.
 

Endlich war das Brot gebacken und die Suppe gekocht und Adarach meinte, noch nie eine so wohlschmeckende Mahlzeit genossen zu haben. Vielleicht lag es auch daran, daß noch nie in seinem Leben die vorherige Mahlzeit so lange her war.
 

Den Rest des Tages vertrieben sie sich mit Würfelspielen und Adarach wartete darauf, daß sie sich doch einer Küste näherten, um dort die Nacht zu verbringen, aber die Sonne näherte sich dem Horizont und ging schließlich unter, ohne daß Sapach den Kurs änderte. Adarach ging zu ihm ans Heck des Schiffes und fragte neugierig: "Wie findet ihr bei Dunkelheit den Weg?"
 

"Die Sterne und mein Kompass zeigen mir den Weg", erklärte er. "Kennst du die Sternbilder, kleiner Mawek?"
 

Ja, die wichtigsten Sternbilder hatte Chafaran ihm beigebracht, auch die Namen der Sterne in diesen Sternbildern, aber die Erklärungen Sapachs, wie er anhand der Sterne sicher navigieren konnte, enthielten so viele neue Informationen, daß Adarach nach kurzer Zeit der Kopf schwirrte. Auch den Kompass, eine wassergefüllte Tonschale, die unter einer kleinen Laterne an einem Pfosten nahe dem Steuerruder befestig war und in der ein pfeilförmiges metallenes Plättchen schwamm, war etwas Neues für Adarach.
 

"Seine Spitze zeigt immer nach Süden", erklärte Sapach, stupste das Plättchen mit zwei Fingern an, so daß sich auf dem Wasser drehte und dann tatsächlich wieder in die ursprüngliche Richtung zeigte. "Und wenn man von Berresh gerade nach Süden fährt, ist man, je nach dem wie der Wind will, nach knapp zwei Tagen am Horn von Ma'ouwat, dort ist das Kreismeer zuende. Die Ma'ouwati haben an der Spitze des Horns einen großer Turm mit einem Leuchtfeuer errichtet, so daß man es auch im Dunkeln nicht übersehen kann. Und gleich dahinter ist der östliche Hafen von Ma'ouwat."
 

"Mein Lehrer hat mir schon von dem Leuchtturm von Ma'ouwat erzählt", erinnerte Adarach sich, "und das es in der taribischen Zeit entlang der ganzen Steilküste solche Leuchtfeuer gab."
 

Sapach nickte. "Ja, das mag sein, einige von den Felsen auf der Küste könnten tatsächlich verwitterte Türme sein - und da es vor der Steilküste so viele Untiefen gibt, war es in alter Zeit, als man noch keine Kompasse kannte, sicher gut, wenn man durch die Leuchtfeuer auch bei Nacht abschätzen konnte, wie nahe man der Küste schon ist."
 

Adarach erinnerte sich, daß Chafaran erzählt hatte, daß man in taribischer Zeit nahezu ausschließlich auf den Landweg zwischen Ma'ouwat und dem Taribischen Reich reiste, weil der Seeweg entlang der Steilküste, dem 'Drachenrücken', wie die Tarib ihn genannt hatten, als viel zu gefährlich galt, aber er schwieg. Das Plätschern der Wellen am Schiffsrumpf, das leise Quietschen der Segelbefestigung und das gelegentliche Knattern des geölten Leders, aus dem das Segel bestand, war wie entfernter Trommelklang, eine ruhige Melodie, die vermutlich einschläfernd gewesen wäre, hätte Adarach nicht einen halben Tag an Bord verschlafen.
 

"Du hast heute genug geschlafen, was, kleiner Mawek?" fragte Sapach nach einer Weile auch. Als Adarach nickte, erklärte der Mann: "Dann wirst du das Schiff mal für ein Weilchen steuern."
 

"Aber...", schnappte Adarach panisch, und: "Wie soll ich denn... also wenn..."
 

"Beruhig dich mal. Das Steuerruder ist festgebunden, aber du mußt es trotzdem halten, denn das Seil läßt dem Ruder etwas Spiel. Schau auf den Pfeil in der Schale, er muß immer auf diesen Strich da an der Innenseite der Schale zeigen", Sapach legte den Finger auf den Schalenrand, um auf den langen schwarzen Strich hinzuweisen, "dann fahren wir auch wirklich nach Süden." Das klang logisch. Die Schale war mit zwei Metallbändern am Pfosten befestigt, so daß sie sich in keine Richtung bewegen konnte. Wenn das Schiff nicht mehr genau nach Süden fuhr, würde doch der Pfeil weiter nach Süden zeigen, aber eben nicht mehr auf den Strich in der Schale. Ein trickreiches System. "Ich leg mich aufs Ohr, und wenn was passiert, darfst du mich auch wecken." Mit den Worten verschwand er unter Deck.
 

Adarach hielt brav das Steuerruder und richtete die Augen die erste Zeit starr auf den Pfeil im Kompass, bis er merkte, daß das Ruder nicht wirklich viel Spiel hatte und der Wind praktisch genau aus Norden kam. Wahrscheinlich hatte Sapach ihm das Steuer auch nur deswegen überlassen, weil er gar nichts falsch machen konnte.
 

Es dämmerte schon, als Sapach wieder an Deck kam. Er beachtete Adarach gar nicht, streckte sich, gähnte ausgiebig und starrte in die Dämmerung, als suche er die Klippen vor der Steilküste, um Adarach für schlechte Arbeit schelten zu können. Er schlenderte langsam in Richtung Heck, begrüßte Adarach beiläufig und erleichterte sich über die Reling. Dann kam er näher, blickte in den Kompass, wohl um die Fahrtrichtung zu prüfen und lächelte. "Na, wie war die Nacht?"
 

"Sie war ruhig", antwortete Adarach.
 

"Und das war gut so. Glaub nicht, daß du jetzt ein Steuermann bist, nur weil ich dir mal das Ruder in die Hand gelegt habe", aber er grinste dabei. "Also, kleiner Mawek, scheinst ja ganz in Ordnung zu sein. Aber jetzt laß mich mal wieder machen."
 

Adarach übergab das Steuerruder und freute sich, ebenfalls die Glieder strecken zu können, und merkte, daß nach der durchwachten Nacht nun doch die Müdigkeit einsetzte. Also zog er sich seinerseits unter Deck zurück, kroch vorsichtig zu dem Platz, an dem er am Tag zuvor geschlafen hatte und hoffte noch, wieder von Avilah zu träumen, um sie vor der Gefahr in Berresh zu warnen, dann war er auch schon eingeschlafen.
 

Er wachte auf und war wieder an Deck, bevor die Sonne ihren höchsten Punkt erreicht hatte. Wieder durfte er bei der Essensbereitung zur Hand gehen und wieder ließen sie die Würfel rollen. Und wieder brach endlich die Dämmerung herein.
 

"Da drüben ist der Leuchtturm von Ma'ouwat", sagte Tachan und zeigte in die Ferne. Bald sind wir wieder... da hätte ich doch fast 'zu Haus' gesagt", und er lachte. Sehr unbeschwert klang dieses Lachen in Adarachs Ohren nicht.
 

Viel war von dem Leuchtturm noch nicht zu sehen, aber das Horn von Ma'ouwat, eine auffällig spitz zulaufende Felsenformation am Ende der Steilküste, die den Westen des Kreismeeres begrenzte, war in der Ferne nun gut zu erkennen. Mit der fortschreitenden Dämmerung erkannte Adarach auch das Leuchtfeuer auf der Spitze der Felsenformation.
 

"Willst du uns zum Hafen steuern, kleiner Mawek?" fragte Sapach überraschend. Als Adarach nicht gleich aufsprang, setzte er hinzu: "Keine Angst, ich werd hier stehen bleiben."
 

Da nun alle guckten, ob er es wagen würde, stand er natürlich auf und ging zum Steuerruder. Es war nicht mehr an der Reling festgebunden, sondern in seinem Lager frei beweglich, allerdings bedurfte es einiger Kraft, um das Ruder neu auszurichten.
 

"Achtung am Segel", rief Sapach über das Deck.
 

Anachan löste die äußere Ecke des Segels und trat dicht an den Mast, behielt das Seil, mit dem es ansonsten in einer bestimmten Position festgezurrt wurde, aber in der Hand, damit das Segel sich nicht ganz frei um den Mast bewegen konnte. Ohne den Widerstand, den das volle Segel geboten hatte, war es nun viel leichter, das Steuerruder umzulegen und auf die nun in der Ferne erkennbare Stadt zuzuhalten. Auch ohne den Wind hatte das Schiff noch so viel Vortrieb, daß es eine große Kurve fuhr. "Und diese Richtung halten, also gegensteuern", riet Sapach. Adarach tat sein bestes, so daß das Steuerruder schließlich wieder parallel zum Schiffsrumpf lag. "Nicht loslassen, auch nicht wenn Anachan das Segel wieder gespannt hat", warnte Sapach. Tatsächlich mußte Adarach mit einiger Kraft gegensteuern, als der Wind das Segel wieder füllte.
 

Die Fläche, die das Segel dem Wind bot, war für die nun gewählte Richtung nicht mehr so groß, so daß sie etwas langsamer wurden, aber das Schiff auf Kurs zu halten wurde mit der Zeit immer anstrengender. Sapach musterte Adarach eine Weile, der schließlich beide Hände an das Steuerruder legen mußte und merkte, wie seine Arme vor Anspannung zu zittern begannen. Und dann war plötzlich der Widerstand komplett weg.
 

"Das ist der Windschatten des Horns", erklärte Sapach. "Hast du gar nicht schlecht gemacht fürs erste Mal, kleiner Mawek. Jetzt übernehme ich wieder."
 

Anachan wickelte das Segel um den Mast und Sapach begann, das Steuerruder schnell hin- und her zu bewegen und trieb da Schiff so weiter an. Ihre Fahrt wurde immer langsamer, je näher der Hafen kam, der viel größer und bunter war, als der von Berresh oder Garam. Die Schiffe, fast alle kleine Sa'atik-Segler, waren in allen möglichen Farben bemalt, die um die Mastbäume gewickelten Segel trugen ihre eigenen Farbtupfer bei, und direkt an den Anlegern der Schiffe waren trotz der späten Stunde noch einige Marktstände und Buden aufgebaut, die bunte Dächer aus Stoffbahnen hatten. Der Hafen schien nach Süden gar kein Ende zu nehmen, weiter weg lagen größere Segler und sogar ein awranischer Zweiruderer. Die letzten Lichtstrahlen der untergegenden Sonne ließen ein großes, von Säulen umgebenes Gebäude auf einem Hügel im Zentrum der Stadt aufleuchten. Davon hatte er schon Abbildungen gesehen, in Büchern und auf Münzen der Ma'ouwati, das war der Tempel der Hawat, die dieser Stadt ihren Namen gegeben hatte: 'Ankunft der Hawat', auch wenn der Ort, an dem sie der Legende nach aus dem Meer gestiegen war, an der westlichen Seite der Stadt lag.
 

Sapach und Anachan machten das Schiff fest, alle sammelten ihr Gepäck ein, gingen von Bord und marschierten dann, immer zu zweit nebeneinander, den Anleger hinunter zu dem Pavillon, die an seinem Ende stand, direkt an der Hafenmauer. Unter der bunten Stoffbahn stand ein awranischer Soldat, gerüstet mit Brustpanzer und Helm, bewaffnet nur mit einem Schwert, aber ein Schild und ein Speer standen hinter ihm an der Mauer.
 

Tachan schlug sich mit der Faust vor die Brust. "Sei gegrüßt, Walwar!" bellte er. "Mawar Tachan um-Buhachu meldet sich zurück von der Rekrutierung in Berresh."
 

*
 

Die Kaserne der Königlichen Söldner war nicht weit vom östlichen Hafen. Die einhundert Mann, die Tachan unterstanden, waren mit zwei weiteren Einheiten in einem langen Gebäude untergebracht, in das auch die 'Jungs' mit einquartiert wurden. Es gab sogar noch ein Nachtmahl für die Neuankömmlinge, einen würzigen, heißen Brei aus Getreide und Gemüse.
 

Am nächsten Tag würde der Vertrag durch Übergabe des Handgelds rechtskräftig und für Adarach und Warachan stand der Erwerb einer Rüstung auf der Tagesordnung, die Waffen, die seine Söldner trugen, finanzierte der König. Und Adarach nahm sich fest vor, so schnell wie möglich auch den Tempel der Hawat zu besuchen, um sein Versprechen einzulösen und der Göttin für seine Rettung mit einem besonderen Geschenk zu danken.
 

* * *
 

####
 

Die beiden 'Awrani'-Geschichten sind nur der Anfang. In der nächsten Zeit werde ich noch ein paar andere Charaktere vorstellen, die in der DGS eine mehr oder weniger wichtige Rolle spielen.

Ich werde auch Leserwünsche zur Reihenfolge berücksichtigen - also schreib mir oder kommentier eines der Prequels (oder die DGS) - um mir DEINE Wünsche dazu mitzuteilen.



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