Rockstars küsst man nicht von YukiKano ================================================================================ Prolog: n u l l --------------- Ich habe die Liebe gehasst, bevor ich sie geliebt habe. Und ich habe die Liebe geliebt, bevor ich sie gehasst habe. Ich glaube nicht an Liebe auf den ersten Blick. Aber ich hoffe darauf, jemanden zu treffen, der mein Herz von der ersten Sekunde an höher schlagen lässt. Ich weiß, dass draußen nicht mein Seelenverwandter auf mich wartet, aber ich denke, dass ich zu mindestens eine bessere Hälfte habe. Erwachsene lieben nicht, Erwachsene vertrauen. Und das ist die Basis dafür, dass sie Jahrelang eine Ehe führen, Kinder großziehen und einen gemeinsamen Weg gehen. Dabei spielt weder gegenseitiges Glück eine Rolle, noch Wohlbehagen. Ich habe von Polly nichts gelernt, aber sie hat mich gelehrt, was Liebe bedeutet. Und ich wünschte, ich hätte sie lehren können, was Erwachsene tun. Das man vertrauen, aber nicht lieben muss, um einen gemeinsamen Weg zu gehen. Aber Polly wollte nicht Erwachsen werden; Polly wollte nicht Vertrauen. Polly wollte bloß lieben. Jetzt weiß ich, dass die Liebe genau so widersprüchlich, wie eindeutig ist. Genauso nichtssagenden, wie aussagekräftig. Brutal und sanftmütig zu gleich; kaltherzig und herzerwärmend. Gedankenraubend und doch eine Muse für Ideen und Inspiration. Und ich weiß nun, dass Erwachsene nicht vertrauen. Sie hoffen und sie glauben, genau wie ich. Aber sie lieben nicht. Ich wünschte, ich könnte Polly lieben. Und ich wünschte, Polly würde mir vertrauen. Aber Erwachsene wünschen sich nichts, dass tun nur Kinder. Und Menschen, die nie erwachsen geworden sind. Dabei weiß ich aber nicht, was Polly sich wünscht. e i n s ------- »B-e-l-l-y, ich schwöre dir bei Gott, wenn du nicht sofort die Tür öffnest und stattdessen weiter mit mir diskutierst, haue ich dir eine runter!«, schreit meine Arbeitskollegin Nina in die Gegensprechanlage. Das ich die Tür erstmal öffnen muss, damit sie mir eine reinhauen kann, lasse ich unkommentiert. Wenn sie sich erst einmal in Rage geredet hat, sind ihre Aussagen immer widersprüchlich. Meine Katze Velvet miaut neben mir. Sie ist genervt, weil ich seit zehn Minuten rührungslos vor der Wohnungstür stehe, statt sie zu streicheln. »Du bist die Einzige, die hier diskutiert!«, antworte ich unbeeindruckt von ihrer Drohung. »Weil "Nein" keine ordentliche Antwort ist!« »Warte« - ich räuspere mich - »Nein Nina, ich habe keine Lust auf ein Konzert in irgendeiner schäbigen Lagerhalle, mit Bands, die ich nicht kenne und Musikrichtungen, die ich nicht mag! So besser?« Nina sagt eine ganze Weile nichts, dann: »Nein, nicht besser! Ich will ein begeistertes "Ja, endlich komme ich mal wieder raus hier!" hören!« »Ich war gestern erst draußen«, entgegne ich ernst. »Auf der Arbeit und danach habe ich den Müll runtergebracht! Genug frische Luft für einen Tag.« »Belly ich warne dich, treibs nicht-« - »Entschuldigen Sie, ich warte jetzt seit fünf Minuten darauf, dass ich endlich meine Pakete hochbringen kann, würden Sie ganz kurz mal Platz machen, damit ich meine Arbeit machen kann?« Ich sehe vor meinem inneren Auge, wie Nina dämonisch die Augen nach innen dreht. Das ist die Vorstufe des Explodierens. Der arme Paketzusteller. »Sehen Sie nicht, dass ich beschäftigt bin? Schreiben Sie Zettel und geben Sie mir die, ich stecke sie in die Briefkästen und die Pakete bringen Sie am besten zur nächsten Post, da sind sie gut aufgehoben!« »Entschuldigen Sie?« »Ach tun Sie doch nicht so, als wäre das ein Problem! Sonst machen Sie das doch auch so und nur weil Sie jetzt einer dabei sehen könnte, wollen Sie ihre Arbeit ordentlich machen?! Wer's glaubt wird selig!« Ich ziehe beide Augenbrauen hoch. Eine interessante Situation. Aber ich drücke den Türöffner, bevor das Ganze noch in einem Handgemenge endet. Am Ende würde mir Nina vor Gericht dafür die Schuld in die Schuhe schieben und wie ich ihr Glück kenne, gibt man ihr sogar noch Recht. Das Summen des Öffners höre ich durch das Mikrophon. Das darauffolgende laute "Danke sehr" ist sogar zweistimmig. Ich lege den Hörer der Gegensprechanlage in die Gabel und lasse meinen Kopf gegen die Tür sinken. Ich wohne im fünften Stock und Nina hasst Fahrstühle. Sie poltert die Treppen in einer Lautstärke hinauf, dass ich ihre Schritte vom ersten Moment an mitzählen kann. Velvet macht einen Katzenbuckel und stellt alle Haare auf die es an ihrem Körper gibt, bevor sie sich in Windeseile unter dem Bett verkriecht. Velvet liebt die Ruhe eines freien Samstags mindestens genauso sehr wie ich und deswegen verstehen sich Nina und sie nicht. An Samstagen mag ich Nina auch nicht, davon mal abgesehen. Meine Arbeitskollegin, die sich vor ein paar Wochen selbst zu meiner besten Freundin ernannt hat, klopft energisch an die Tür. »Belly, ich weiß das du da bist!«, flötet sie gespielt freundlich, als hätte sie vorher keine Viertelstunde mit mir über die Gegensprechanlage diskutiert. »Eigentlich wollte ich nur den Paketboten hineinlassen; ich warte auf ein Buch«, antworte ich ebenfalls gespielt freundlich durch die immer noch geschlossene Wohnungstür. Der versetzt Nina auch gleich einen kräftigen Tritt, während sie genervt stöhnt: »Du und deine blöden Bücher. Wenn du mir am Montag wieder irgendetwas von irgendeinem fiktiven Charakter vorschwärmst, stoße ich dich eigenhändig aus dem Fenster und werfe dein blödes Buch gleich hinterher! Du musst endlich mal damit anfangen reale Menschen zu treffen!« Ich treffe reale Menschen. Nina zum Beispiel. Und wenn ich mir vorstelle, dass andere reale Menschen mir auch ständig damit drohen, mich zu töten oder mich zu schlagen, halte ich mich doch lieber an meine Bücher! »Be-lin-da« - Ich hasse es, wenn sie meinen Vornamen in Silben teilt - »Müller-Weber ich habe nicht ewig Zeit für diese sinnlose Diskussion! Mach jetzt verdammt nochmal endlich die Tür auf!« Keine zehn Sekunden später geht eine Tür auf, aber es ich nicht meine. »Ist jetzt endlich Ruhe hier draußen? Ich habe eine Doppelschicht hinter mir und würde gerne endlich schlafen, wenn es nicht zu viel verlangt ist!«, schreit mein Nachbar keinen Augenblick später quer durchs Treppenhaus. Eigentlich ist Herr Bauer ein friedliebender Mensch, von dem man nicht viel sieht und nicht viel hört. Es sei denn, jemand ist daran schuld, dass er nicht schlafen kann. Sei es nun die Großfamilie von über ihm, wo die Kinder das Wohnzimmer mit dem Spielplatz verwechseln oder die Studenten-WG von gegenüber, für die alles ein Anlasse zum Party machen ist - gerne auch mal nachts um drei. Mit Bewohnern dieses Hauses geht er in der Regel zimperlich um, aber Menschen, die hier nicht wohnen, sollten sich vor ihm in Acht nehmen. So auch Nina. Aber Nina wäre nicht Nina, wenn sie nicht selbstbewusst Zurückschießen würde! »Sie schon wieder!« - erfreut über Ninas Anwesenheit ist er nicht gerade - »Habe ich Ihnen nicht schon vor zwei Wochen gesagt, dass sie hier nicht randalieren sollen?« »Und habe ich Ihnen nicht gesagt, dass Sie Ihre Nase nicht in fremde Angelegenheiten stecken sollen?!« - Nina riskiert eine ziemlich dicke Lippe, aber wann tut sie das schon mal nicht. »Ich kann auch gerne die Polizei holen. Die erklärt Ihnen gerne noch einmal das Wort Ruhestörung und was für Strafen Sie erwarten, wenn Sie sich nicht ans Gesetz halten!« »Ob die das gerne machen, wage ich zu bezweifeln, Sie Spießer!«, feuert Nina zurück. Herr Bauer atmet so schockiert ein, dass es mich wundert, dass er sich nicht daran verschluckt. Der Fahrstuhl macht "Ping" und ich höre ein genervtes Stöhnen. Ah, der heiß ersehnte Paketzusteller. Ich habe mich schon gefragt, wann er endlich den Weg zu mir findet. »Nicht Sie schon wieder«, seufzt er und klingt so, als stünde er kurz vor dem Nervenzusammenbruch. »Ich glaube dieses Mal gebe ich das Paket wirklich in der Post ab!« »Nein, nein«, sagt Nina hastig und fügt dann zuckersüß hinzu: »Entschuldigen Sie mein unfreundliches Benehmen von vorhin, ich habe heute einfach einen schlechten Tag! Frau Müller-Weber wartet schon sehnsüchtig auf ihr Paket!« Ich höre, wie sie einen Schritt zurücktritt und ich wette sie zeigt dabei einladend auf meine Tür. Warum spielt ihr immer alles in die Karten, wenn sie vor hat mich zu quälen? Warum kann der Zusteller jetzt nicht einfach schreiend wegrennen? Dann müsste ich zwar bis Montag auf mein Paket warten, aber das wäre mir recht, wenn ich dafür Ruhe vor Nina habe. Es klingelt und ich zögere. Wenn ich einfach so tue, als wäre ich nicht da, würde er vielleicht wieder verschwinden. Ninas Widerworten zu trotz. »Jetzt mach endlich auf, damit hier Ruhe in dem Haus einkehrt!«, mischt sich Herr Bauer nun auch noch ein. Ich schrecke von der Tür zurück und öffne schließlich mit knallroten Wangen. Man ist das peinlich. Warum bringt Nina mich bloß immer in solche prekären Lagen? Die Tür steht noch keinen Zentimeter weit offen, da sehe ich bereits Ninas künstliche Nägel um die Ecke kommen. Danach habe ich gerade noch fünf Sekunden, um zurück zu springen, sonst hätte ich die Tür jetzt im Gesicht. »Na endlich!«, stöhnt Nina genervt. Im selben Moment reißt sie dem Paketzusteller das Päckchen aus der Hand und drückt es mir in die Brust. »Schönen Tag noch, alle beide!«, faucht sie in Richtung Bote und Herr Bauer, bevor sie beiden die Tür vor der Nase zu knallt. Das ich vielleicht noch für mein Buch unterschreiben muss, ist ihr herzlichst egal. Und sie schiebt mich in mein Wohnzimmer, bevor ich dazu komme, dass nachzuholen. Mich wundert es sowieso, dass sie ihnen nicht noch den blanken Mittelfinger gezeigt hat. Velvet faucht unter dem Bett und Nina zieht im Vorbeigehen die Schlafzimmertür lautknallend zu. »Du kannst sie dort nicht einsperren, was ist, wenn sie mal muss?«, frage ich schockiert. »Hast du das Vieh jemals hier herumrennen sehen, wenn ich da bin? Ich nicht, also wette ich, dass sie sich ihr "müssen" verkneifen wird!«, entgegnet Nina unbeeindruckt. Erst als wir mitten in meinem recht kleinen Wohnzimmer stehen, lässt Nina mich los. Sie streift sich die High-Heels ab und kickt sie quer durch den Raum, bevor sie sich auf mein Sofa fallen lässt und so tut, als wäre sie einen Marathon gelaufen. »Darf ich dir noch etwas zu trinken anbieten, bevor ich dich wieder hinauswerfe? Ich habe zu tun!«, sage ich eindringlich, nach dem ich meinen ersten Schock überwunden habe. Und ich hoffe, Nina verschwindet wirklich wieder. Leider kenne ich sie lange und gut genug, um zu wissen, dass sie erst wieder gehen wird, wenn sie ihren Willen hat. Und der besteht heute darin, dass ich mit ihr auf dieses saublöde Konzert gehe! Davon redet sie schon seit vergangenem Montag. Sie setzt sich auf und zieht die aktuelle Glamour über den Couchtisch zu sich heran. »Und was hast du so Wichtiges zu tun?«, fragt sie, während sie gelangweilt die Seiten durchblättert. Nina braucht nicht die Tipps aus der Glamour, um gut auszusehen. Und Modetrends gehen schon immer unerhört an ihr vorbei, trotzdem bekommt sie ständig Lob für ihr Outfit. Selbst dann, wenn sie sich keine Mühe gibt. »Ich muss putzen!« Nina lacht freudlos auf, ohne mich anzusehen. »Deine Wohnung sieht aus wie geleckt und ich wette, selbst der schlimmste Keim-Phobiker würde bei dir vom Boden essen, ohne Angst vor irgendeiner Krankheit zu haben!« Sie hat recht, leider. Als ich dazu ansetze, ihr eine andere Ausrede aufzutischen, fixiert sie mich wütend mit ihrem Blick und richtet ihren ausgestreckten Zeigefinger auf mich. »Und wehe, du willst mir jetzt erzählen, dass du um dekorieren willst! Das sagst du schon seit drei Wochen jedes Wochenende und es sieht hier immer noch aus, wie beim letzten Mal!« »Weil du mich ständig davon abhältst!«, entgegne ich eingeschnappt und verschränke bockig die Arme vor der Brust. Das mir mein Paket dabei in die Rippe pickst, ignoriere ich konsequent. »Deine beschissene Wohnung wäre die perfekte Vorlage für jeden Blog zum Thema Inneneinrichtung und hat de facto kein Umstyling nötig!« - sie mustert mich auffällig von oben bis unten - »Dein Kleiderschrank dafür schon. Wo zur Hölle hast du bloß diesen grässlichen Pullover her?« »Der war teuer«, entgegne ich, als wäre das ein Argument dafür, dass er schön ist. »Teuer ist in der Regel nur bei Schuhen, Männern und Prosecco schön!« - sie macht eine abwertende Handbewegung in meine Richtung - »Den kannst du nachher auf keinen Fall anziehen!« »Nachher wobei?«, frage ich scheinheilig, obwohl ich weiß, dass sie immer noch von diesem komischen Konzert redet. »Belinda: Ich habe zwei Karten für das Konzert und einen Fünfsitzer vor der Tür zu stehen. Und ich bin mindestens doppelt so stark, wie du mickriger Hungerhaken. Also entweder ziehst du dir freiwillig etwas Hübsches an und kommst mit mir mit oder ich schleife dich in diesem kackbraunen Sack dorthin - ob du willst oder nicht!« Nina ist mindestens zehn Zentimeter kleiner als ich und schmaler. Und ich bin kein mickriger Hungerhaken. Selbst, wenn sie alle Kraft aufbringen würde, über die sie verfügt: Sie würde mich keinen Meter geschoben bekommen, wenn ich nicht wenigstens ein bisschen mithelfe. »Warum muss ausgerechnet ich dich begleiten? Warum machst du Darian nicht zu deinem sozialen Experiment?«, frage ich, während ich versuche mein Paket zu öffnen. »Weil Darian Freunde hat ... und Hobbys ... und das Haus in regelmäßigen Abständen nicht nur zum Arbeiten gehen verlässt!«, entgegnet Nina überzeugt und schielt nachdenklich gegen die Decke. »Außerdem leidet er unter mir schon genug!« »Aber er ist dein Freund und liest dir bestimmt jeden Wunsch von den Lippen ab!« »Nicht diesen! Er hasst Menschenmassen mehr, als er mich liebt!« - sie stützt ihr Kinn auf ihrer Handfläche ab und zieht die Unterlippe zwischen die Zähne - »Außerdem bekommt er bestimmt Minderwertigkeitskomplexe, wenn er sieht, wie ich die ganzen Drummer anhimmle!« Ich glaube nicht. Auf mich macht Darian eher den Eindruck, als wolle er lieber gar nicht mit Nina ausgehen und sich stattdessen im Keller seines Elternhauses zwischen seinen Comics verkrümeln. Ich glaube, er wäre ganz froh darüber, wenn sich Nina einen Drummer angelt und ihn vom Haken lässt. Aber das sage ich Nina nicht, ich will Darian nicht in Schwierigkeiten bringen. Und ich glaube Nina liebt ihn wirklich. »Erde an Belinda?« - Nina schnippst vom Sofa aus aufdringlich in meine Richtung - »Gehst du dich jetzt endlich anziehen?« »Muss das unbedingt sein?«, quengle ich und halte mein Buch hoch. »Ich wollte eigentlich lesen - ich freue mich auf dieses Buch seit Tagen!« »Den zweihundertsten fiktiven Mister Grey kannst du auch morgen noch kennenlernen!« - Nina springt vom Sofa auf und reißt mir das Buch aus der Hand - »Wird endlich Mal Zeit, dass du einen echten Mister Grey kennenlernst, also mach dich hübsch!« »Ich will aber keinen Mister Grey«, antworte ich gequält. »Außerdem geht es in dem Buch nicht um Sex oder Liebe!« »Dann ist es Langweilig und nicht wert, seine Zeit daran zu verschwenden, also los jetzt!« Nina schleudert das Buch quer durch den Raum und verfehlt nur ganz knapp eine Vase auf dem Schreibtisch, bevor sie mich an den Schultern packt, umdreht und in Richtung Schlafzimmer schiebt. Velvet faucht, als Nina die Tür aufreißt. Alles was sie dazu sagt ist: »Ja, ja du mich auch!« Sie lässt mich mitten im Raum stehen und öffnet meinen zweitürigen Kleiderschrank. Ich beschreibe meinen Style als Leger und Businessorientiert. Nina beschreibt ihn als: »Da sieht ja jedes Mauerblümchen mutiger aus!«. Sie schiebt die Blusen auf der Kleiderstange bei Seite und holt ein schwarzes Top mit Fledermausärmeln heraus. Es folgt ein kritischer Blick, dann schmeißt sie es mir in den Schoß. »Wir gehen nächste Woche shoppen, notiere dir das schon mal in deinem Kalender!« »Ich habe keine Zeit ... und auch kein Geld dafür! Außerdem habe ich genug Klamotten!«, entgegne ich und ziehe gleichzeitig meinen Pullover über den Kopf. »Und vor allem, sahen Anastasia Steele und Isabella Swan auch nicht aus wie Top-Models, als sie ihren Helden das Herz erobert haben!« »Aber du wirst wie eins aussehen«, sagt Nina begeistert und zieht im selben Moment ein pechschwarzes geripptes Strick-Minikleid von der Kleiderstange. »Belly« - sie schnalzt verwundert mit der Zunge - »Ich wusste gar nicht, dass du solche Schätze in deinem Kleiderschrank zu hängen hast! Zieh das an - du musst das heute Abend unbedingt tragen!« »Wozu? Denkst du wirklich ich treffe dort jemanden, der mir gefällt? Du weißt ich mag keine Rockstars!« »Rockstars küsst man auch nicht, man träumt von ihnen und jetzt ab mit dir!«, sagt Nina eindringlich und scheucht mich ins Badezimmer. z w e i ------- Wir landen in einem Rudower Hinterhof, fernab jedweder Zivilisation - oder besser gesagt fernab dem, was ich als Zivilisation bezeichne. Vor einer alten Lagerhalle stehen Menschen dicht gedrängt und tuscheln, während in der Halle Soundchecks gemacht werden und ab und an etwas davon nach draußen durchdringt. Es stinkt auf dem leeren Betriebsgelände nach Zigarettenrauch und verschüttetem Alkohol. Egal wo man hinsieht, bietet sich einem der gleiche Anblick: Frauen und Männer mit Undercut, Piercings im Gesicht und sichtbare Tattoos an Armen und Beinen und manchmal auch im Gesicht - so viele, dass man sie beinahe gar nicht zählen kann. Nina - die eigentlich nicht raucht, nur dann, wenn sie Party machen will oder ein nervenaufreibendes Gespräch mit unserem Chef hinter sich hat - schnorrt sich eine Zigarette und verwickelt die Geschlechter gemischte Gruppe gleich in ein Gespräch. Ich versuche mich so gut wie es geht hinter ihr zu verstecken und ziehe den Reißverschluss meiner Jacke bis zum Anschlag nach oben, als ich bemerke, dass einer von den Typen auffällig auf meinen Busen starrt. Ich hasse es, wenn Männer einen nur darauf reduzieren. Nina interviewt die Leute und will wissen, auf welche Band sie sich am meisten freuen und ob sie schon Mal auf so einem Newcomer-Konzert waren. Ich frage mich, ob Nina überhaupt eine von den Gruppen kennt, die heute Abend hier auftreten werden. Eigentlich mag Nina keine Rockmusik, aber sie ist zu geizig um 50 Euro aufwärts für eine Konzertkarte zu bezahlen. Auch wenn sie den Künstler, der dann auf der Bühne steht, kennt und mag. Deswegen geht Nina auf Newcomer-Konzerte. Die Karten sind günstig und Nina kann den ganzen Abend das tun, was sie am liebsten tut: Musik hören und Leute zu texten. Ich sehe mich unauffällig um. Ich rede nicht gerne mit fremden Menschen und ich lerne auch nicht gerne neue Menschen kennen. Mein Bekanntenkreis ist groß genug und die sozialen Interaktionen reichen mir aus. Ich habe für jeden Fall jemanden an der Hand, der mir schnell und unkompliziert helfen kann und eine Handvoll kultivierter Menschen, mit denen man sich Mal zum Abendessen oder Buch-Austausch trifft. Und dann gibt es Nina, die weder hilfreich noch kultiviert ist. Aber sie hat sich selbst zu meiner Bekanntenliste hinzugefügt und weigert sich jetzt hartnäckig, wieder davon zu verschwinden. Vermutlich würde sie mich nicht mal dann in Ruhe lassen, wenn ich auswandere! Als ich mich Ablenkung suchend, umdrehe, zieht eine Frau mit kupferroten Haaren sofort meine ganze Aufmerksamkeit auf sich. Ich weiß nicht warum, aber sie sticht zwischen den ganzen künstlichen Haarfarben irgendwie heraus. Sie grinst und verschmälert dabei ihre Augen, während sich ihre Nase kräuselt. Sie wirft auffallend ihre Haare über die Schulter zurück, bevor sie sie zu einem lockeren Pferdeschwanz zusammenbindet und sich anschließend von einem jungen Mann eine Zigarette reichen lässt. Sie kommt mir bekannt vor und ich starre sie auffällig an, während ich überlege, wo ich sie schon einmal gesehen haben könnte. Dann sagt sie "Fresse des Herren", was über die Gespräche und das Gelächter der anderen klar und deutlich bei mir ankommt und ich weiß sofort wer sie ist: Polina Meyer aus der Oberschule - oder Polly, wie sie immer genannt werden wollte, weil sie ihren Vornamen nicht mochte. Sie merkt, dass ich sie anstarre. Denn als sie ihre Zigarette aus dem Mund nimmt und den Rauch aus ihren Lungen entweichen lässt, dreht sie den Kopf ganz bewusst in meine Richtung und fixiert mich mit ihren katzengrünen Augen. Ertappt drehe ich mich wieder um und tue so, als würde ich Ninas Erzählungen zu hören. Polly sieht mich immer noch an und das macht mich nervös. Ich beginne auf meinem Fußballen hin und her zu wippen und bete, dass sie nicht zu uns hinüber kommt. Ich will mich vor den ganzen Menschen nicht dafür rechtfertigen müssen, dass ich sie ungeniert angestarrt habe. Polly hat die direkte Konfrontation noch nie gescheut, vor allem dann nicht, wenn ihr etwas nicht passt. Sie hat schon in der 9. Klasse argumentiert wie eine Erwachsene und die Welt immer ein wenig anders gesehen, als alle anderen. Es wundert mich nicht, dass ich sie an einem Samstagabend genau hier wieder sehe - zum ersten Mal nach sechs Jahren. Ich sehe aus dem Augenwinkel, wie sie ihre Zigarette ausdrückt und ihren Freunden erklärt was sie vorhat, dabei zeigt sie auf mich und ich bekomme Angst. Ich zupfe hilflos an Ninas Ärmel. Sie sieht mich ratlos an, als sie sich zu mir umdreht. »Was ist denn?« »Wollen wir uns nicht schon mal anstellen? Ich will nicht die Letzte sein!« - ich hoffe es ist Nina auch wichtig, einen möglichst guten Platz nahe der Bühne zu ergattern. »Belly, Belly, Belly« - sie seufzt kopfschüttelnd und voller Unverständnis - »bei solchen Konzerten ist es nicht wichtig weit vorne zu stehen, sondern möglichst nahe an der Bar! Und die ist in der Regel ganz hinten, also haben wir noch ganz viel Zeit hier draußen!« Polly kommt bereits die ersten Schritte auf uns zu. Ich darf jetzt keine Zeit mehr verlieren. Es trennen uns keine zwanzig Meter mehr voneinander. »Nina, ich bin mitgekommen, also tu mir den Gefallen und mach jetzt einmal, was ich dir sage!«, zische ich und reiße ihr die Zigarette aus der Hand. Manchmal kann sie wirklich egoistisch sein. »Bis später Leute«, sage ich zu den Typen in der Runde und klimpere mit meinen ungeschminkten Wimpern. Ich packe Nina am Handgelenk und ziehe sie hinfort. Da Polly zwischen uns und dem Eingang steht, muss ich mit Nina einen Umweg machen. Natürlich quengelt sie, dass ich nicht so schnell laufen soll, weil ihr die Füße jetzt schon wehtun. Sie hat flache Schuhe im Auto, zwei Paar - Reserve für solche Abende. Bevor wir ausgestiegen sind, habe ich sie gefragt, ob sie nicht lieber doch die Schuhe wechseln will. Sie hat es verneint - drei Mal. Also nehme ich auf ihre Jammerei keine Rücksicht. Wer nicht hören will muss fühlen! Zum Glück habe ich vorhin nicht auf Nina gehört, als sie mich dazu überreden wollte, ebenfalls High-Heels anzuziehen. Ich habe auf meine Chucks bestanden und meinen Willen auch durchgesetzt. Denn ich weiß, wie sehr es schmerzt länger als eine Stunde auf Absätzen stehen zu müssen. Nina eigentlich auch, aber dazu sagt sie nie mehr als "Wer schön sein will, muss leiden", nur um dann doch wieder herum zu jammern. Sie wird sich wohl nie mit sich selbst einig werden. Eine richtige Einlassschlange gibt es nicht. Auch hier stehen die Menschen durcheinander. Nina riecht die nächste Gelegenheit für neue Bekanntschaften und ich freue mich darüber, dass wir ungesehen in der Menge verschwinden können. Hier wird Polly uns niemals finden - denke ich zu mindestens. Nina ist sofort wieder in ihrem Element und zieht mich bereits in die nächste Gruppe hinein, während ich mich noch immer frage, warum ich so eine Angst vor einem Treffen mit Polly habe. Vermutlich erkennt sie mich gar nicht. Wir haben schon in der Schule nicht viel miteinander zu tun gehabt. Polly war immer mit den Älteren zusammen. Und als wir die Ältesten waren, kam sie kaum noch zur Schule. Ihr bestes Fach war Musik und wenn wir ein Lied auf der Gitarre oder dem Keyboard lernen sollten, dann bekam sie immer eine Eins dafür. Polly hatte ein besonderes Gefühl für Musik. Denn selbst wenn sie sich mal verspielte, kam es einem so vor, als hätte sie die Noten einfach geändert und das Lied zu ihrem eigenen gemacht. Fast jeder mochte Polly und Polly mochte niemanden. Wenn nicht gerade Musikunterricht war, hatte man das Gefühl, sie existierte gar nicht. Es sei denn, auf dem Schulhof stiegen Rauchschwaden auf oder es waren die Anfeuerungsrufe einer Prügelei zu hören. Wenn das der Fall war, wusste jeder, dass Polly irgendwie in die Sache verstrickt war. Ich hingegen, war eher die schüchterne Schülerin, die sich immer bedeckt hielt. Ich wurde schon von klein auf dazu gedrillt, gute Noten zu schreiben und mich in Arbeitsgemeinschaften zu engagieren. Meine Eltern wollten immer, dass mein Zeugnis aussieht wie das einer Musterschülerin. Und so war es letztendlich auch. Selbst in meiner Freizeit kannte ich nichts anderes als Bücher und Lernstoff. Ich war für Musik zu ungeschickt, dafür in Kunst ein Ass. Meine Zeichnungen sahen zwar immer aus, wie gewollt und nicht gekonnt, aber nachdem ich meine Lehrerin dazu überreden konnte, dass Schreiben auch eine Kunst sei, gab sie sich damit zufrieden, wenn ich statt einem Bild eine Kurzgeschichte abgab. Ich weiß nicht, was Polly nach dem Schulabschluss gemacht hat. Bestimmt etwas mit Musik. Das Talent dazu hat sie. Während Nina die Punker nach einer neuen Zigarette fragt, ziehe ich meine Jacke aus und hänge sie mir über den Arm. Hoffentlich wird mich Polly jetzt erst recht nicht wiederfinden. Die hellblaue Wildlederjacke war das einzig auffällige an mir gewesen. Meine braunen Haare bleiben selten in Erinnerung und sind kein hervorstechendes Erkennungsmerkmal. Nina legt mir einen Arm um die Hüfte und schiebt mich ein Stück weiter in den Kreis hinein. »Das hier ist übrigens meine Freundin Belinda oder Belly, wie ihr wollt.« - sie grinst diabolisch in meine Richtung, bevor sie den Kopf wieder abwendet - »Und sie ist Single, also ran an den Speck meine Herren!« »Nina lass das!«, zische ich und trete ihr absichtlich auf den Fuß, während ich versuche meine feuerroten Wangen irgendwie zu kaschieren. »Aua«, meckert sie und boxt mir rachsüchtig in die Schulter. »Ich will dir nur helfen und das sind alles nette Jungs!« Ich ziehe zweifelnd beide Augenbrauen hoch. Woher will Nina das schon wieder wissen? Und selbst wenn ... nett oder nicht, mit einem Punk gehe ich bestimmt nicht aus! Mir dreht sich schon der Magen um, wenn ich nur daran denke. Das mir ist dann doch etwas zu ausgefallen. Da nehme ich lieber einen Mister Grey. Zum Glück scheine ich den Punks zu langweilig zu sein, denn sie sehen nach Ninas Bemerkung nicht gerade begeistert aus, als sie mich mustern. Wenigstens besitzen sie den Anstand und schauen mir auch wirklich ins Gesicht, statt sich nur für meine Brüste zu interessieren. Danach sind sie plötzlich daran interessiert, so schnell wie möglich ins Innere der Halle zu gelangen. Außer einer; der kommt auf mich zu und streckt mir seine Schachtel Zigaretten entgegen. Ich rauche nicht, niemals. Zigaretten stinken und der Rauch kratzt im Hals. Außerdem vertrete ich die Meinung, dass Nikotin genauso eine Droge ist, wie Alkohol und Gras welche sind. Und ich mag keine Drogen! Doch bevor ich ablehnen kann, tut das bereits jemand anderes für mich. »Als ob die brave Belinda Müller-Weber rauchen würde«, sagt eine Stimme keine zwei Meter hinter mir. Es ist nicht Nina und ich halte erschrocken die Luft an. Schockiert drehe ich mich um. »Na, erkennst du mich nicht mehr? Dafür hast du mich aber vorhin ganz schön auffällig angestarrt! Fresse des Herren; du hast dich kein Stück verändert Brillengesicht!«, sagt Polly und grinst mich selbstgefällig an. »Und wer bist du jetzt und vor allem; was fällt dir ein Belinda zu beleidigen?«, fragt Nina und stemmt wütend die Hände in die Hüften. Noch ein böses Wort von Polly, dann kommt das typische Augen-Verdrehen und gleich danach geht sie in die Luft. Vielleicht habe ich Glück und wir werden daraufhin des Grundstücks verwiesen. Dann entgehe ich Polly - und diesem Konzert und kann mich zuhause meinem neuen Buch widmen. Ich überlege nichts zu sagen und Polly Nina zu überlassen, aber dann breitet sie die Arme aus und erwartet anscheinend, dass ich sie umarme. »Und was soll das jetzt?«, stellt Nina die Frage, die mir ebenfalls im Kopf herumschwirrt und ist mit der Situation genauso überfordert wie ich. Ratlos blickt sie zwischen Polly und mir hin und her. »Ich trage jetzt Kontaktlinsen Polly«, sage ich scheu, weil mir nichts anderes einfällt. Ich hätte sie vielleicht zuerst begrüßen sollen oder ... nicht ... Ach, keine Ahnung! Für Smalltalk bin ich nicht gemacht. »Das sehe ich« - Polly lacht und es klingt genauso unbeschwert wie früher - »Kriege ich jetzt meine Wiedersehensumarmung oder lässt du mich blöd stehen?« Zögerlich wende ich mich ihr zu. Doch Nina springt zwischen uns, bevor ich Pollys Bitte nachkommen kann. »Stopp! Time-Out, Auszeit, Tiempo fuera!« - Nina macht eine überforderte Handgeste und ich frage mich, seit wann sie spanisch spricht - »Woher kennst du die, Belly?" »Wir waren in der Oberschule gemeinsam in einer Klasse.« - ich seufze - »Darf ich jetzt durch?«, frage ich unsicher und weiß nicht, was ich von dieser Situation halten soll. Hier kollidieren gerade zwei meiner Lebensabschnitte, die ich niemals zusammenbringen wollte. Ich will nicht, dass Nina etwas von der Belly erfährt, die ich früher war. Und ich will nicht, dass Polly etwas von der Belly erfährt, die ich jetzt bin! Damals war ich noch ein Kind, heute bin ich Erwachsen - das kann man nicht miteinander vergleichen. Es ist nicht so, dass es etwas sonderlich Interessantes aus meiner Jugend zu berichten gäbe; es geht hier einfach ums Prinzip! Trotzdem will ich Polly umarmen, in der Hoffnung sie würde danach wieder verschwinden und ich hoffe, ich würde sie danach nie wiedersehen. Und irgendwie will ich sie doch wiedersehen, weil ich wissen will was aus ihr geworden ist. Was mich eigentlich nicht interessieren sollte... Meine Gedanken verwirren mich so sehr, dass ich versuche sie abzuschalten und mich stattdessen auf Polly ausgebreitete Arme konzentriere. Eine Umarmung und ein bisschen Smalltalk. Danach verschwindet sie zu ihren Freunden und Nina und ich gehen alleine in die Halle. Und danach werde ich Nina nie wieder auf ein Konzert einer Newcomer Band in einem Rudower Hinterhof begleiten - so viel ist sicher! Also schiebe ich Nina beiseite und lasse für den Bruchteil einer Sekunde zu, dass Polly mich umarmt, bevor ich mich wieder von ihr löse. »Was machst du hier?«, frage ich, weil ich denke das tun zu müssen. Solche Fragen gehören doch zu Smalltalk dazu oder nicht? Polly grinst. »Meine Band und ich treten heute Abend auf. After March in Berlin. Sag' bloß, du hast von uns noch nie gehört?!« Habe ich nicht, denn ich höre keine Rockmusik. Aber das sage ich Polly nicht. Ich schlittere sonst schon oft genug ungebremst in wirklich peinliche Fettnäpfchen. Gott sei Dank bleibt mir das ausnahmsweise mal erspart! »Ich habe mir das Programm noch gar nicht angesehen«, antworte ich ausweichend. Ich habe auch nicht vorgehabt, es mir anzusehen, weil es mich eh nicht interessiert - aber auch das sage ich Polly nicht. Das geht sie nichts an. »Wer ist denn deine freundliche Begleitung da?« - Polly fragt mich als nächstes, nicht Nina. Und Nina kann es nicht leiden, wenn man über sie redet, als wäre sie gar nicht da. Nicht im Mittelpunkt zu stehen ist ihr persönliches Weltuntergangs-Szenario! Nina zwirbelt ihre Finger von hinten in mein Kleid und zieht mich hinter sich, bevor sie mutig auf Polly zu geht, als wäre sie selbst zwei Meter groß und hätte keine Angst vor gar nichts. Dabei kippt Nina schon fast um, wenn sich ihr eine Wespe auf zwei Meter nähert und von ihrer Spinnen-Phobie will ich gar nicht erst anfangen. Sie hätte wegen eines Weberknechts beinahe mal den Feueralarm im Büro ausgelöst. Schließlich hatte sie Darian geholt, der die Spinne mit leidendem Gesichtsausdruck entfernt hat. Bis dahin konnte in unserem fünf Mann Büro niemand vernünftig arbeiten, weil Nina sofort wie eine Irre geschrien hat, sobald sich das Tierchen nur einen Zentimeter bewegt hat. »Die freundliche Begleitung hier heißt Nina« - sie betont den ganzen Satz auf eine Art und Weise, die normalerweise nur unsere Lieferanten zu hören bekommen, wenn sie mal wieder die Rechnung falsch adressiert haben, obwohl Nina ihnen den Firmennamen bei Bestellung vier Mal buchstabiert hat - »Und Nina wäre es ganz lieb, wenn du dahin zurück gehst, wo der Pfeffer wächst!« Erstaunt ziehe ich die Augenbrauen hoch. Normalerweise ist Nina die Freundlichkeit in Person. Den Giftzwerg lässt sie nur heraushängen, wenn man ihren Plänen im Weg steht oder eine Gegenfrage stellt, bevor man ihr eine Antwort gegeben hat. Dass sie Polly wegen so einer kleinen Lappalie gleich dermaßen anfeindet ist wirklich untypisch. Zu Mal Polly es bestimmt nicht böse gemeint hat. Polly wirft den Kopf in den Nacken und beginnt schallend laut zu lachen. Ich wünschte, ich könnte Nina den subtilen Hinweis geben, dass sie so bei Polly gar nichts erreicht. Denn Polly hat wirklich vor nichts Angst - nicht mal vor Spinnen. Und Polly kann zu schlagen, wenn man es darauf anlegt. Dabei ist Polly egal, ob Frau oder Mann. In der Schule hat sie jeden zweiten Tag beim Direktor gesessen. Mal, weil sie auf den Schulhof geraucht hat. Mal, weil sie zwei Wochen lang geschwänzt hatte. Und Mal, weil sie körperliche Gewalt angewendet hat. Angeblich war immer sie es, die die Prügeleien begonnen hatte. Ich halte Polly nicht für einen friedfertigen Menschen, aber auch nicht für jemanden der zuerst zuschlägt. Polly hat andere Methoden einen Streit anzufangen und zu beenden. Sie ist niemand, der auf andere Menschen zugeht und ihnen direkt ein Schimpfwort an den Kopf wirft. Sie schafft es Menschen subtil zu beleidigen und schlagfertig mundtot zu machen. Manche von ihnen haben sich geschlagen zurückgezogen und anderer haben eben zugeschlagen, weil sie sich nicht anders zu helfen wussten. Die Waffe des primitiven Geistes. Polly will auf Ninas Bemerkung gerade etwas erwidern, als hinter ihr ein dunkelblonder Mann auftaucht und sie an der Schulter packt. »Was zur Hölle machst du hier? Wir suchen dich schon die ganze Zeit! Kathi und Ruben wollen die Songliste noch einmal durchgehen!«, sagt er zu Polly und nimmt von Nina und mir gar keine Notiz. Und er klingt ziemlich genervt davon, dass er seine Bandkollegin suchen muss. Als hätte er im Moment wichtigeres zu tun. Polly verdreht die Augen, bevor sie sich zu ihm umdreht. »Reg' dich ab, ich war bloß eine rauchen!« »Wohl eher drei«, murmelt er ungerührt und greift hastig nach ihrem Handgelenk. »Wir müssen rein, du kannst später weiter quatschen!« Während er sie bereits von uns hinfort zieht, dreht sich Polly noch einmal zu mir um und lächelt mich an. Und ich weiß sofort, dass sie alles daransetzen wird, mich wieder zu finden. Die Hoffnung, sie hätte mich nach dem Konzert bereits wieder vergessen, macht sie mir mit diesem simplen Lächeln zu Nichte. Irgendwie finde ich das gleichermaßen gut und schlecht. Ich weiß nicht warum mein Gehirn sich nicht entscheiden kann. Rebellen gefielen mir irgendwie schon immer gut und irgendwie auch nicht. In Büchern sind sie stets meine Lieblingscharaktere und im realen Leben machen sie mir ein wenig Angst und ich halte mich deswegen lieber von ihnen fern. »Was war denn das?«, fragt Nina fassungslos. Ich schüttle zuerst nur den Kopf, bevor ich ziemlich verspätet antworte: »Keine Ahnung!« - denn meine Aufmerksamkeit liegt noch immer auf Polly, die von dem Mann quer durch die Menge gezogen wird. Sie sieht mich nicht mehr an. Nina räuspert sich. »Du kennst komische Menschen, Belly.« Dieser Kommentar unangebrachte Kommentar reiß mich aus meiner Starre. Verwirrt sehe ich Nina an. »Ich weiß«, sage ich nach kurzem Zögern und beginne diabolisch zu grinsen. »Und du bist die Anführerin dieser Fraktion!« Nina boxt mir gegen den Oberarm, bevor sie beleidigt das Gesicht verzieht. »Zur Strafe für diese ungeheure Frechheit, bezahlst du mir mindestens zwei Getränke!« Ich komme nicht dazu ihr zu antworten, da zieht sich mich bereits in Richtung Eingang der Halle. Sie schiebt sich grob zwischen zwei größeren Gruppen hindurch und stört sich nicht daran, dass wir andere Leute anrempeln. Ich versuche mich so gut es geht zu entschuldigen, doch aufgrund von Ninas Tempo gelingt mir das leider nicht bei jedem. Als wir die Halle betreten, schlägt mir sofort ein Schwall verbrauchter, heißer Luft entgegen und trocknet meine Lungen aus. Ich huste gequält und bin froh darüber, dass mich Nina direkt zur Bar zieht. Sie überlegt nicht lange und bestellt ein Bier. Dann schiebt sie mich vor den Tresen. In erster Linie, damit ich bezahle, nicht, um mir etwas zu trinken zu bestellen. »Ein Bier wird dich nicht töten Belly!«, zieht Nina mich auf und rümpft die Nase, als ich meine gewünschte Cola entgegennehme. Ich lasse mich nicht zu einer Diskussion anstacheln. Nina versteht meine Einstellung zum Thema Alkohol nicht, egal wie oft ich versuche ihr zu erklären, warum ich keinen trinke. Jedes Mal, wenn sie mich irgendwo mit hinschleppt kommt das Thema früher oder später erneut auf. Seit dem vorvorletzten Mal diskutiere ich nicht mehr mit ihr - es hat eh keinen Sinn. Und ich versuche es zu ignorieren, wenn wir sie mir Spitznamen wie "Nonne" oder "Langweiler" gibt. Nina verscheucht ein Gruppe Jugendlicher von einem Stehtisch, wie Kinder Vögel von Bahnhofsvorplätzen verjagen. Der Tisch ist in gleicher Entfernung zur Bar und zum Ausgang platziert. Als ich sie schief ansehe, begründet sie ihre Platzwahl damit, dass sie in der Pause die Erste vor der Tür sein will und nach der Pause die Erste an der Bar. Während wir auf den Beginn des Konzerts warten, erzählt mir Nina in aller Ausführlichkeit von ihrer Beziehung und ihrem Sexleben. Meine Wangen werden dabei von Satz zu Satz röter und kann nicht mehr genau sagen, ob ich Darian jemals wieder in die Augen sehen kann. Und sie stört sich nicht daran, dass uns andere Menschen zu hören. Die Halle wird immer voller und die Luft immer stickiger. Obwohl es gerade erst Mitte Mai ist und die Temperaturen demzufolge zwischen kalt und mittelwarm schwanken, bereue ich es trotzdem ein Kleid mit einem derartigen Kragen angezogen zu haben. Er schnürt mir die Luft zusätzlich ab und egal wie oft ich daran ziehe, er lockert sich einfach nicht. Dann wird es plötzlich stockdunkel in Halle und ein paar Sekunden später wieder gleißend hell. Es fängt eine E-Gitarre an zu spielen. Sie ist so laut, als würden Nina und ich direkt neben dem Verstärker stehen. Und sie klingt so schief, dass ich mir schlussendlich doch die Ohren zu halte und Nina einen leidenden Blick zu werfe. Doch sie bemerkt mich gar nicht. Auf ihrem Radar sind zwei junge Männer aufgetaucht, die so aussehen, als würden sie nach einem Tisch suchen, an dem sie sich dazustellen können. Das ist genau Ninas Beuteschema und es dauert keine drei Sekunden, bis sie die beiden auffällig an unseren Tisch heranwinkt. Sie reicht beiden die Hand und beugt sich ganz nah an sie heran, um ihnen ihren Namen ins Ohr zu schreien. Etwas anderes bleibt einem bei diesem Gitarrensolo auch nicht übrig. Wenn ich mir Ninas strahlendes Gesicht so ansehe, frage ich mich ob sie vergessen hat, dass sie einen Freund hat, dem sie nachher zweifelsfrei davon erzählen wird. So wie ich Darian kenne wird er nicht eifersüchtig darauf reagieren und Nina wird genau das aus ihm heraus kitzeln wollen. Streit vorprogrammiert - genau aus diesem Grund bleibe ich lieber Single! Als die beiden Typen mich ins Visier nehmen, trete ich einen Schritt vom Tisch zurück und tue so, als hätte ich sie gar nicht bemerkt. Ich wende mich der Bühne zu und versuche begeistert auszusehen. Auch wenn mir nicht ganz klar ist, welches Lied dort gerade gespielt wird. Es ist auf jeden Fall ein Stück ohne Gesang ... Obwohl die Bezeichnung „Stück" vielleicht etwas hochgegriffen ist. Für mich hört sich das eher so an, als würden der Gitarrist, der Drummer und der Bassist ihre Instrumente so spielen, wie es ihnen gerade einfällt. Nichts passt zusammen, aber das Publikum sieht das anscheinend anders und pfeift begeistert für diese Improvisationskünstler. Ich bereue es immer mehr, dass ich mich von Nina habe breitschlagen lassen. Ich hätte Standhaftigkeit beweisen und zuhause bleiben sollen. Nina kann vieles, aber über die lauten Geräusche hinweg gleichzeitig mit zwei Kerlen flirten gehört definitiv nicht zu ihren Talenten. Und da sie schon immer ein wenig mehr für südländische Typen übrighatte, hält sie sich an den schwarzhaarigen Kerl und der Blonde geht leer aus. Ich mache noch einen Schritt bei Seite, aber dieses Mal kann ich ihm nicht entgehen. Höchstens in dem ich davonrenne und mich auf der Toilette verschanze. Aber das wäre unhöflich und ich war noch nie ein Freund von Unhöflichkeit. Obwohl Wegrennen bei diesem Mediengeleckten Sonnyboy vielleicht doch keine schlechte Idee ist. Deswegen lasse ich das breite Grinsen, was zwei Reihen strahlend weißer Zähne zum Vorschein bringt, schweigsam über mich ergehen. Und ich tue auch so, als hätte ich nicht gesehen, dass er seinen Bizeps extra anspannt, als er auf mich zu kommt. »Hi Belly, ich bin Lukas, aber du kannst mich auch Luke nennen«, schnurrt er mir ins Ohr und kommt mir dabei näher, als unbedingt notwendig. Sein Atem riecht übertrieben nach Minze und der Geruch einer Überdosierung billigem Aftershaves steigt mir in die Nase. Er trägt eine beigefarbene Bermudashorts, die viel zu kurz für dieses Wetter ist, aber die Sonnenbank-Bräune seiner Beine unglücklich betont. Genauso wie die weißen Sneakers. Am Oberkörper hängt ein gelb-weiß gestreiftes Surfer Hemd schlaff von seinen Schultern herab und er fährt sich gleichzeitig wenig elegant durch die langen Strähnen seiner Starmagazinkonformen Scheitelfrisur. Er ist eine billige Kopie eines Hollywood-Möchtegern und hat sich wohl möglich in der Lagerhalle geirrt. Der Muskelprotz-Angeber-Wettbewerb war bestimmt eine Halle weiter. »Hallo Lukas«, antworte ich lautstark und bemühe mich nicht, mein Desinteresse zu verbergen. Ich rücke ihm nicht auf die Pelle und ich sehe ihn auch nicht länger an, als unbedingt notwendig. Stattdessen tue ich so, als würde mich das faszinieren, was gerade auf der Bühne passiert. Falls Nina gedacht hat, das ist mein bevorzugter Typ Mann, hat sie sich aber so etwas von gewaltig geirrt. Um solche Bubis, die unter Garantie nicht einmal wissen wie eine Waschmaschine funktioniert, aus Stumpfsinnigkeit Betriebswirtschaftslehre studieren und ihr Jugendzimmer von Mama aufräumen lassen, mache ich einen ganz großen Bogen. Während ich der nächsten Band dabei zu sehe wie sie ihre Instrumente aufbauen, stelle ich mir eine Frage, die ich mir lange nicht mehr gestellt habe: Brauche ich überhaupt einen Mann in meinem Leben? Ich hatte in meinem Leben eine einzige Beziehung. Stabil, ehrlich und langwierig. Es begann in der 7. Klasse mit einem harmlosen Kuss auf die Wange und endete vor einem Jahr damit, dass er unbedingt bei mir einziehen wollte. Und ab diesem Moment verpufften meine Gefühle von jetzt auf gleich. Denn ich konnte mir nicht vorstellen mit 21 einen Mann derart weit in mein Leben hineinzulassen. Obwohl er und ich seit wir dreizehn waren alles miteinander teilten, alle ersten Male miteinander erlebt hatten und unsere Familien hinter unserem Rücken Witze über Enkelkinder und Hochzeitspläne machten. Plötzlich stellte ich mir die Frage, ob ich seine Klamotten neben meinen im Schrank liegen haben wollte und ob ich es ertrug, wenn seine Kumpels Fußballspiele bei mir schauten und mein Wohnzimmer verwüsteten. Meine Wohnung war mein Rückzugsort seit ich 18 war. Ich wollte dort niemanden länger als drei Tage beherbergen müssen. Und ich wollte auch nicht, dass jemand seine Pflanzen neben meine stellte oder mein feinsäuberlich eingeräumtes Bücherregal mit farbloser Schulliteratur füllte, die man(n) nur aufhob, um angeberisch behaupten zu können, wenigstens ein Buch in seinem Leben gelesen zu haben. Also zog ich einen Schlussstrich und bereute es nicht allzu lange. Manchmal erwischte ich mich dann aber doch bei dem Gedanken, dass man den Sonntagabend Blockbuster zu zweit viel besser genießen konnte oder dass, das Einkaufstüten schleppen ein wenig einfacherer wäre, wenn ein Mann das Schwere trägt. Es kochte sich auch viel leichter für Zwei. Aber spätestens, wenn ich mir vor Augen führe, welche Probleme eine Beziehung mit sich bringt, bleibe ich doch lieber alleine. So behalte ich die Kontrolle und bin niemandem außer mir selbst Rechenschaft schuldig. Lukas neben mir sagt etwas. Ich höre ihm nicht zu. All den Honig, den er mir heute Abend ums Maul schmiert und all' die spannenden Geschichten, die er vermeintlich erlebt hat, dienen nur dem Zweck, eine weitere Kerbe in seinen Bettpfosten zu machen. Ich bin bestimmt kein Mädchen für eine Nacht! Mit meinem Freund habe ich erst geschlafen, als ich fast volljährig war und danach hatte ich nur einen einzigen One-Night-Stand, als ich das erste, einzige und letzte Mal in meinem Leben Alkohol getrunken habe. Und das endete darin, dass ich drei Wochen die Befürchtung haben musste schwanger zu sein, weil ich mich nicht mehr daran erinnern konnte, ob wir verhütet hatten oder nicht. Deswegen drehe ich mich wortlos um und drängle mich durch die Menge zur Bar durch. Ich bestelle noch eine Cola und fühle mich nicht schlecht, als der Barkeeper mich skeptisch ansieht. Dann bin ich eben die prüde und langweilige Belinda - na und? Ich muss nicht spannend oder aufregend sein, um anderen Menschen zu gefallen. Zweifelsfrei werde ich hier niemanden derart treffen, aber das ist auch nie mein Ziel gewesen - nur Ninas. Nach dem schrecklichen ersten Act, spielt eine Girl Group drei Lieder, die wenig mit der Rockmusik zu tun haben, wofür die meisten hergekommen sind. Aber sie klingen gar nicht so übel und ich erwische mich dabei, wie ich ab und zu im Takt hin und her wippe. Und dann taucht Pollys Band auf der Bühne auf, weswegen mir vor Schreck beinahe die Cola aus der Hand fällt. Ich weiß nicht, warum mein Körper so reagiert. Und ich verbiete mir selbst, weitere Fragen in diese Richtung, aus Angst meine Gedanken würden dann gar nicht mehr stillstehen. Polly hilft dem Drummer dabei, sein Schlagzeug zu positionieren und stimmt ihre Gitarre, während der Typ von vorhin der Keyboarderin zeigt, welche Einstellungen sie noch zu tätigen hat. Das Mädchen scheint noch nicht allzu lange Teil der Band zu sein. Polly stellt sich zwischen Schlagzeug und Keyboard, schräg hinter den Typen mit der Bassgitarre, der sich vor dem einzigen Mikrophon aufstellt. Ich runzle die Stirn. Polly kann singen, warum tut sie es nicht? Polly klemmt sich die Gitarre unter den Arm und lässt anschließend ihren Blick über das Publikum schweifen. Es kommt mir vor, als würde sie jemanden ganz bestimmtes suchen. Vielleicht mich? Ich bekomme schon wieder rote Wangen und frage mich, was ich tun sollte, wenn Polly mich tatsächlich in der Menge entdeckt. Doch es passiert nicht. Die Flutlichtartigen Lampen werden herunter gedimmt und beleuchten anschließend nur noch die Bühne. Nur so, dass man gerade noch die Musiker darauf erkennen kann. Es wird schlagartig ruhig in der ganzen Halle. Ich sehe, wie Polly dazu ansetzt die Saiten zu zupfen und eine unbändige Aufregung macht sich in mir breit. Und dann passiert es: Polly fängt an zu spielen und ich halte die Luft an. Ich fühle mich schlagartig in meine Oberschulzeit zurückversetzt und verliere mich in den Klängen. Ich liebe es, wenn Polly Gitarre spielt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)