1994-09-20
Über das Gelände der Einrichtung läutete die Glocke im tiefen Ton und rief zum Appell auf. Die Kinder aus allen Einheiten begaben sich auf den großen Vorhof der Klosterkirche und standen in Reih' und Glied. Hinter der Spitze des Glockenturms tauchte die Sonne den Himmel in Rot zur Abenddämmerung. Das Training war für diesen Tag beendet und während die Ausbilder die Anwesenheit kontrollierte, wurden die Aufgaben verteilt, die bis zum Abendbrot zu erledigen waren.
Yuriy ging mit Boris und zwei anderen Kindern die blechernen Arenen vom Platz tragen, um sie zu polieren und über Nacht im Schuppen zu verstauen. Das Schleppen war mühselig, doch es war eine der angenehmeren Aufgaben, mit der sich die Zeit bis zum Essen gut überbrücken ließ.
Immer zu zweit trugen sie eine Arena und stapelten sie provisorisch.
Mit jedem weiteren Schritt hatte Yuriy das Gefühl, dass sein Magen lauter knurrte. Das Mittagessen hielt nur selten bis zum Abend vor. Doch er wusste, wie er es am besten ignorieren konnte. Das hatte er bereits auf der Straße gelernt.
Sobald alle Arenen im Schuppen standen, schrubbte jeder mit einem Lappen über die Bowl. Dabei verlor Yuriy sich gerne in Gedanken. Er betrachtete die feinen Kerben im Metall und rekonstruierte vor seinem inneren Auge die Laufbahnen der Beyblades und wie die Kollisionen verlaufen waren. So etwas fiel ihm leicht und die Zeit vergaß er darüber.
Die anderen Drei nutzen die Gelegenheit zum Schwatzen, denn die hatten sie nur selten. Yuriy war es einerlei, ob er an solchen Gesprächen teilnahm. Er hatte selten etwas beizutragen und es interessierte ihn nicht. Außerdem war es den anderen Kindern offensichtlich unangenehm, selbst wenn er nur teilnahmslos dabei stand. Für Yuriy war es letztendlich nur wichtig, dass die Arbeit darüber nicht vernachlässigt wurde, sodass sie zeitig zum Abendbrot kamen.
Sie kamen trotz Unterhaltung zügig voran und wurden frühzeitig fertig. Entgegen ihrer Erziehung, liefen sie jedoch nicht gleich zum Hauptgebäude, um sich dort zu melden, sondern blieben im muffigen Schuppen.
Yuriy setzte sich auf einen Sprungkasten und hatte von dort eine gute Sicht durchs Fenster auf den Vorhof. Sollte ein Ausbilder ihre Arbeit kontrollieren wollen, würde es mitbekommen und konnte Bescheid geben.
Es gab nicht viel außer diverser Sport- und Trainingsgeräte, trotzdem fanden die Kinder für sich eine Beschäftigung. Sie teilten den Schuppen in Gebiete auf, die es zu erobern galt. Ihre Ausrüstung bestand dabei aus Besen und Harken. Ihr Abenteuer daraus, durch einen Tunnel zu kriechen, über einen Abhang zu hangeln und zum Schluss auf einem Gebirge zu rasten.
Zwischen dem Sprungkasten, auf dem sie saßen, und Yuriy stand ein Turnbarren. Die letzte Hürde. »Wer es schafft, erobert Schloss und Zarentochter«, entschied einer der Jungs über den Abschluss ihres Abenteuers.
»Meinst du damit Yuriy?«, fragte Boris.
Seine Kumpane unterdrückten ein Prusten und tauschten vielsagende Blicke.
Yuriy behielt den Blick stur aufs Fenster gerichtet, konnte aber in der Spiegelung sehen, wie sie feixten, weil sie glaubten, er bemerke es nicht. Über seine Stirn zogen sich kleine Fältchen ob der unbedarften Frage von Boris, die einen Scherz auf seine Kosten mit sich brachte.
Im nächsten Moment wackelte seine Sitzgelegenheit unter ihm und er kam nicht umhin, nach dem Ursprung zu schauen. Boris, der eben noch bei den geschwätzigen Jungen war, hatte sich neben ihn auf den Kasten geschwungen. Sein Grinsen erinnerte mehr an ein Zähnefletschen und brachte das Kichern zum Verstummen.
Yuriys Mundwinkel zuckte leicht.
Es wurde zum Essen geläutet und das Abenteuer wurde mit Boris als Sieger beendet. Yuriy ging mit ihm vor, während die beiden anderen Jungen wenige Schritte hinter ihnen lagen. Nachdem ihnen der Spaß vergangen war, lagen ihre Blicke stechend auf Boris. Der schien es – im Gegensatz zu Yuriy – nicht zu bemerken oder aber ignorierte es völlig.
»Armselig«, nuschelte einer von ihnen und gewann so doch ihre Aufmerksamkeit.
Boris blieb stehen und wandte sich mit gerunzelter Stirn zu ihm um. »Was?«
Trotz seiner jugendlichen Stimme hörte Yuriy ein Knurren heraus.
Möglichst gelassen zuckte der Junge mit den Schultern und schob seine Hände in die Hosentaschen. »Eine Zarentochter, die keiner will, ist armselig.«
Yuriy war neben Boris stehen geblieben und betrachtete die beiden Jungen mit ihrem hämischen Grinsen. Die Worte galten ihm, auch wenn er nicht verstand, wieso.
Boris schien es ähnlich zu gehen. Seine Augen verengten sich und er straffte die Schultern. »Wer ist armselig?«
Die beiden Jungen wichen einen halben Schritt zurück, bevor der Knabe, der sich bisher ruhig verhalten hatte, eine Antwort wagte: »Der Gewinner ohne Preis und der Preis, den keiner will.«
Dieses Kontra holte aus Yuriy nichts als einen müden Augenaufschlag. Dass sie wegen eines albernen Spiels in ihrer Ehre gekränkt waren und einen Streit inszenierten, zeigte ihm, wie kindisch sie waren.
Ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen, wandte er sich zum Gehen. Immerhin hatte die Glocke bereits einmal geläutet und sie hatten sich in der Haupthalle zu versammeln. Doch Boris hielt ihn am Arm zurück. Irritiert runzelte er die Stirn und blickte über die Schulter zu seinem Freund.
Er dachte, dass Boris‘ Augen eine gräuliche Färbung hatten, aber aus der Nähe betrachtet waren sie doch eher mintgrün. Das Atmen fiel ihm schwer, weil seine Nase platt gedrückt wurde, und bei der Kollision ihrer Lippen schmeckte er Blut.
Dieser Trotzanfall endete abrupt, als Yuriy und Boris an den Krägen voneinander gerissen wurden.
»Was glaubt ihr, was ihr hier treibt?!«, zischte der Ausbilder und obwohl es eine Frage war, wussten alle vier, dass keiner zu Antworten hatte.
Yuriys Nackenhaare stellten sich auf, als er grob von dem Erwachsenen mitgezerrt wurde und die beiden Jungen, mit denen er heute den Dienst teilen musste, sahen ihm und Boris mit aufgerissenen Augen nach.
Das Abendbrot würde für sie ausfallen.
2001-01-10
[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]
2005-02-08
Auf dem niedrigen Wohnzimmertisch, von dem sie selber mit Sandpapier die Oberfläche abgewetzt hatten, um den Dreck der Vorbesitzer zu entfernen, sammelten sich Krümel von Knabberkram und Ränder von Gläsern und Flaschen. Die Aussicht darauf am nächsten Morgen alles wieder in Ordnung bringen zu müssen, um auf einen unangekündigten Besuch der Betreuer vorbereitet zu sein, ließ Yuriys Augenbraue zucken. Er hatte Boris mit einem frostigen Blick zu verstehen gegeben, was er davon hielt und war sicher, dass sein Freund ihn verstand, aber bewusst ignorierte. Zu einer anderen Zeit wäre ihm das nie passiert. Es ließ Yuriy mit den Zähnen knirschen.
»Das ist ein denkwürdiger Moment«, erklärte Boris mit einem zufriedenen Grinsen und erhielt zustimmendes Nicken von Ivan und Sergeij.
»Den man nicht bei dir feiern konnte, weil …?«, fragte Yuriy und musterte seinen Kameraden von der Seite.
»Dein Geburtstag ist.« Zufrieden über seine Argumentation nahm Boris einen großzügigen Schluck vom Vodka.
Für Yuriy fühlte es sich nach einer willkommenen Ausrede an, die Boris davor bewahrte in seiner eigenen Wohnung im Chaos zu versinken. Allerdings war ihm auch bewusst, dass sein Freund immer viel Wert darauf legte, dass sie wichtige Ereignisse, wie Geburtstage, wenn möglich, gemeinsam verbrachten. Und diesmal kamen gleich diverse Ereignisse zusammen. Ein glücklicher Zufall für Boris.
Die Gruppe stieß an auf die Stellenzusage für Sergeij. Sobald er die Prüfungen an der Milizhochschule bestanden hatte, würde er im öffentlichen Dienst anfangen. Das erste Eigenheim von Boris und Yuriy war ebenfalls ein Grund zum Feiern, auch wenn alles recht provisorisch mit Möbeln vom Sperrmüll eingerichtet war – es erfüllte seinen Zweck und fühlte sich wohnlich an. Zu guter Letzt war es Yuriys Volljährigkeit, doch trotzdem, nachdem er offiziell Alkohol trinken durfte, verzichtete er strickt. Ivan nahm sich gerne seiner überschüssigen Gläser an.
Obwohl Yuriy der Trunkenheit nichts abgewinnen konnte und auch für eine Runde um den Block über längere Zeit von Boris bearbeitet werden musste, lehnte er sich auf dem Sofa zurück in die durchgesessen Polster und beobachtete seine munteren Kameraden, deren Zungen sich durch den Alkohol lösten. Diese drei Kerle waren wohl die einzigen, deren Gesellschaft er in jedem Zustand schätzen würde.
Nachdem sie jahrelang jeden Tag miteinander verbracht hatten, kam es selten dazu, dass sie zu viert beisammen waren. Sergeij hatte ein Zimmer in der Nähe der Hochschule und Ivan war zu einer Verwandten in eine andere Stadt gezogen. Schließlich hatten Boris und er sich auf die Suche nach ihrer ersten eigenen Wohnung gemacht.
Unwillkürlich wanderte Yuriys Blick zu seinem Freund, der lauthals über einen dreckigen Witz von Ivan lachte. Dass sie im gleichen Block auf unterschiedlichen Etagen je eine Wohnung für sich gefunden hatten, war Boris‘ verdienst. Keine Wohnung konnte seinen Ansprüchen genügen. Immer hatte er etwas auszusetzen gefunden. Es wurde zu einer Geduldsprobe für Yuriy, doch zuletzt musste er sich eingestehen, dass es das Beste für sie beide war.
Boris fing seinen Blick auf und blinzelte die Trübheit aus seinen Augen weg. Sein Grinsen erinnerte ihn noch immer an das Blecken von Zähnen, das nur durch die Grübchen in seinen Wangen gemildert wurde. Zumindest war das seine Erklärung dafür, wieso manche Menschen meinten, dass dieses Grinsen sympathisch war.
»Jetzt in unserer eigenen Bude können wir endlich selbst über unseren Besuch bestimmen.«
Yuriy lupfte eine Augenbraue, unterließ jedoch einen Hinweis darauf, dass seine Selbstbestimmung über Besuch in genau diesem Moment aktiv untergraben wurde. Das Zucken im Mundwinkel seines Freundes verriet ihm, dass er dabei bestimmte Vorstellungen hatte.
Er griff nach der offenen Flasche und schenkte Yuriy ein, bevor er bedeutungsschwer das Wort an ihn richtete. »Wird Zeit, dass wir für dich wen finden, der dein Bett wärmt.« Mit einem leichten Stoß seines Ellbogens reichte er ihm das Glas.
Yuriy nahm es entgegen, um es in der gleichen Bewegung an Ivan weiterzugeben. Der hob es zum Toast, den Yuriy mit seinem Glas Wasser erwiderte und in Ruhe einen Schluck trank, bevor er zu einer Erwiderung ansetzte. »Ich hatte nicht geplant, mir einen Hund anzuschaffen.«
Wie erwartet, quittierte Boris die Bemerkung mit einem Augenrollen. »Ich dachte an weniger haarig und dafür mehr kurvig«, konkretisierte er sein Anliegen.
Yuriy spürte die Blicke von Ivan und Sergeij auf sich ruhen, ließ sich dies aber nicht anmerken und blinzelte langsam. Er tat Boris nicht den Gefallen, zu verstehen, und Boris tat ihm nicht den Gefallen, nachzugeben.
Ein Brummen vibrierte in Boris‘ Kehle, als er sich bequem auf dem Sofa drehte, um sich seinem Freund zuzuwenden. Seinen freien Arm legte er locker über die Lehne, während er mit dem Glas in der Hand den Zeigefinger gegen Yuriys Brust tippte. »Du kannst doch nicht als alte Jungfer sterben wollen.«
Warum nicht?, dachte Yuriy bei sich, aber sagte es nicht. Ihm war bewusst, dass sein Gegenüber ihn ungläubig ansehen würde, wenn er sagte, dass er sich wenig für Sex begeistern konnte. Wie er Boris kannte, würde ihn das zu einem Loblied auf den Beischlaf beflügeln, also blieb er lieber still.
Sein Schweigen nahm Boris zum Anlass weiterzusprechen. »Maria hat da ein paar echt süße Freundinnen, von denen ich mir sicher bin, dass-«
»Boris.« Yuriy betrachtete seinen Freund eingehend, sah das enthusiastische Leuchten in seinen Augen, das einen Plan visualisierte, von dem er kein Teil sein wollte. Mit einem gedehnten Atemzug befeuchtete er seine Lippen. »Du solltest dich auf deine eigene Beziehung konzentrieren, damit die einmal nicht in einem Desaster endet.«
Die romantischen Verwirrungen seiner Kameraden hatten Yuriy nie interessiert. Bei Ivan und Sergeij bekam er auffallend wenig mit und könnte nicht sagen, ob sie derweil jemanden im Herzen trugen. Bei Boris war es allerdings anders. Hier war sein Interesse zwar ebenso gering, doch Boris‘ ungeschicktes Händchen führte mit einer erstaunlichen Zielsicherheit zu einem Schauspiel großer Emotionen, das niemand ignorieren konnte, der mit ihm unter einem Dach lebte.
Derartige Verwicklungen gehörten nicht zu den Dingen, die Yuriy in seinem Leben anstrebte.
Ein Ausdruck von Empörung zeichnete sich auf Boris‘ Gesicht ab, doch bevor er zu einer Rechtfertigung ansetzen konnte, wurde er von Ivans hämischen Kichern abgelenkt. »Er hat recht«, gluckste Ivan und leerte sein Glas. »Man könnte meinen, du nimmst ein Teeniedrama als Vorlage für dein Liebesleben.«
»So schlimm ist es nun auch nicht«, schaltete sich Sergeij ein und sprang Boris zur Seite. »Jelena war wirklich ein nettes Mädchen.«
»Oh ja, sie konnte einem wirklich sehr nett ihren Willen aufzwingen. Unausstehlich wurde sie erst, wenn sie ihn nicht bekommen hat. Bin immer noch beeindruckt, dass du ihr im Schlaf nicht den Hals umgedreht hast.« Anerkennend hob Ivan das leere Glas in Boris Richtung. Dann begann er zu grübeln. »Wie hieß noch mal die, die du über Nacht eingeschleust hast und sich morgens im Bad verbarrikadiert hat?«
»Irina …«, brummte Boris mit zusammengezogenen Augenbrauen.
Ivan ließ ein weiteres Glucksen verlauten. »Stimmt. Die entgleisten Gesichter von Veselov und Smirnov waren filmreif!«
Diesmal blieb Sergeij ruhig und Boris ertrug den Spott auf seine Kosten mit einem vollen Glas Vodka. Obwohl Ivan schon länger bei seinen Verwandten lebte, hatte er genug mitbekommen, um Anekdoten wie diese aufzufrischen.
Yuriy fragte sich, welche wichtigen Informationen Ivan dafür vergessen hatte.
»Du trinkst eindeutig nicht genug, wenn du so viel schwätzen kannst«, meinte Boris schließlich, als Ivan dabei war, sich an Lena zu erinnern, und schenkte seinem Kameraden mit gebleckten Zähnen nach.
Yuriy lehnte sich auf dem Sofa zurück und fühlte sich in seinen Ansichten bestätigt. Mit einem Blick auf Boris, der sich ihm wieder zuwandte, nachdem er Ivan vorläufig zum Schweigen gebracht hatte, ahnte er, dass er noch nicht raus aus dem Thema war.
»Also selbst wenn es ein bisschen chaotisch war-«
»Ein bisschen«, echote Yuriy und hob eine Augenbraue.
Boris quittierte die Unterbrechung mit einem Knurren. »Auch wenn es am Ende chaotisch war, würde ich es wieder tun.«
Die Ansichten seines Freundes brachten ihn dazu, die Stirn in Falten zu legen. Das Warum lag ihm auf der Zunge, doch er ließ sie unausgesprochen. Er musste nicht jede Sichtweise von Boris hinterfragen, nur weil er sie nicht teilte. Mit einem Schluck von seinem Wasser schluckte er die Frage herunter und erklärte das Thema für sich als beendet.
Mit ihrer nächsten Runde begann Sergeij von den bevorstehenden Prüfungen zu erzählen und wie die Vorbereitungen und das Training liefen. Yuriy rechnete es ihm hoch an, dass er sich trotz der hohen Anforderungen, die an ihn gestellt wurden, sich die Zeit nahm für ihre Zusammenkunft.
Ivan berichtete von seinen jüngeren Cousinen, die es laut seiner Aussage faustdick hinter den Ohren hatten, und Yuriy fiel es schwer, sich vorzustellen, wie jemand sein mochte, den Ivan als verschlagen deklarierte und ob es sich dabei um das Ergebnis seines Einflusses handelte.
Je länger der Abend ging, desto leerer wurde der Vorrat, den Boris herangetragen hatte. Sie stießen gemeinsam zum letzten Mal in dieser Nacht an, dann machte Yuriy sich auf, um das Lager für seine Gäste aufzuschlagen.
Ivan genügten Decke und Kissen mit denen er sich in der Ecke zwischen Stehlampe und Geigenfeige zu einem Knäul zusammenzurollen, während Sergeij sich mit dem Wohnzimmerteppich begnügte, da seine langen Glieder über den Rand des Sofas hinaus ragen würden. Als hätte Boris sich den Schlafplatz auf dem Sofa in einem harten Kampf verdient streckte er die Arme und bettete sie auf der Rückenlehne.
Theoretisch hatte er den kürzesten Heimweg, doch auch wenn er nur ein Stockwerk drüber wohnte, stand es für Yuriy nicht zur Debatte, dass auch nur einer seiner Kameraden heimgeschickt wurde. Er warf jedem Decken und Kissen zu und nahm erneut Platz auf dem Sofa.
Mit der einkehrenden Ruhe entspannten sich Yuriys Glieder und er sank langsam zurück in die Polster. Die Präsenz seiner Kameraden und die Stille wirkten beruhigend auf ihn und für einen Augenblick schloss er die Augen, um den Moment in Gänze zu genießen.
»Pennst du auch hier?« Boris‘ Stimme war ruhiger und dunkler als zuvor, als wollte er die fragile Atmosphäre nicht zerstören.
Kurz dachte Yuriy über die Antwort nach. Es wäre nicht das erste Mal, dass sie sich auf engem Raum zusammenraufen. Schlussendlich schüttelte er sachte den Kopf. »Ich gehe gleich nach nebenan.«
Boris ließ ein Brummen verlauten.
Yuriys Blick ging durch den Raum, sah Ivan, dessen Blick an die Decke geheftet war, als gäbe es dort ein Geheimnis zu entschlüsseln, und Sergeij, der die Arme bereits über die Augen legte und morgen sicherlich das eine Glas zu viel bereute, und den Tisch voll mit Krümeln und Rändern von Gläsern und leeren Flaschen, die dicht beieinanderstanden. Aber das war etwas, worum er sich morgen früh kümmern wollte.
»Yura?«
Mit einem Blinzeln lag sein Blick auf Boris neben sich, der gerade zum Fenster hinaus schaute.
»Ich muss mir keine Sorgen um dich machen, oder?«
Yuriy spürte ein Ziehen an seinen Mundwinkeln. Die Worte seines Freundes waren aufrichtig, weshalb er das aufkommende Amüsement ignorierte. »Wieso solltest du das?«
Boris wandte sich ihm zu und hatte die Augenbrauen zusammengezogen, als dachte er über eine schwierige Gleichung nach. »Jetzt mal ehrlich; wurdest du überhaupt schon mal geküsst?«
Ein wenig überraschte es Yuriy, dass Boris dieses Thema erneut aufgriff, jedoch dieses Mal ohne jeden Schelm im Nacken. Die Ernsthaftigkeit hinter dieser Frage, löste den Abwehrmechanismus. Fremde gingen diese Dinge nichts an, aber mit Boris hatte er schon immer alles teilen dürfen. Seine Antwort hielt sich schlicht. »Ja.«
Boris‘ Stirn glättete sich und seine Augen weiteten sich ein Stück, dass ihm wieder dieses Mintgrün auffiel. »Echt?«
Diesmal missglückte es Yuriy, sich zu beherrschen, und ein Schmunzeln lag auf seinen Lippen. »Von dir«, ergänzte er seine Aussage, um dem Gedächtnis seines Freundes auszuhelfen.
Der Überraschung folgte Unglaube. Mit gesenkten Blick begannen seine Augen hin und her zu huschen. In ihm arbeitete es. Mühsam versuchte er, die verlorene Erinnerung hervorzuholen. »Wann soll das- oh!« Boris sah zu ihm auf, die Augen riesig, fast manisch. »Das ist deine einzige Kusserfahrung?«
»So sieht es aus«, schloss Yuriy mit absoluter Gelassenheit und unterstrich dies mit einem Schulterzucken.
»Fuck.« Die Stimme von Boris wurde rau.
Yuriy musterte sein Gesicht und meinte darin Reue zu lesen, was für ihn keinen Sinn ergab und ihn irritierte.
»Das war richtig scheiße.«
»Stimmt.« Ihm wurde klar, dass Boris an die Folgen dachte, die dieser kindische Trotz damals mit sich gezogen hatte, doch es lag soweit zurück, dass Yuriy dieser Sache keine Bedeutung mehr beimessen wollte. »Du hast mir fast eine Kopfnuss gegeben und unsere Zähne haben sich berührt«, betonte er kritisch.
Der vorangegangenen Reue folgte ein ungläubiges Blinzeln, wie er es selten bei Boris beobachten durfte. Er öffnete den Mund, als wollte er darauf etwas erwidern, doch schloss er ihn gleich wieder, ohne einen Ton zu sagen. Es verging ein stiller Augenblick, der nur von Ivans leisen Schnarchen gestört wurde, bis schließlich die Grübchen in Boris‘ Wangen hervortraten. »Das kann ich so nicht stehen lassen.«
Yuriy begriff nicht sofort, doch als Boris sich zu ihm vorbeugte, seine Augen ihn fixierten wie Beute und er so dicht vor ihm innehielt, dass er seinen Atem auf der Haut spürte, verstand er, welcher Unsinn ihm durch den Kopf ging.
Abwartend erwiderte er den Blick, schlug die Augen nieder und war erstaunt darüber, wie sanft sich diese rauen Lippen auf seine legen konnten. Boris strich mit dem Daumen über die Kontur seines Unterkiefers, zog ihn mit der Hand in seinem Nacken näher an sich heran und übte einen angenehmen Druck auf ihn aus, dass Yuriy unbewusst den Atem anhielt. Ihm kam es vor, als passten sich ihre Lippen einander an. Zwischen kurzen Atemzügen konnte er den Alkohol schmecken, von dem er sich nun fragte, ob Boris vielleicht ein Glas zu viel hatte. Er legte eine Hand auf die Brust seines Freundes und spürte, wie sein Herz heftig dagegen schlug.
Yuriy kam es wie eine Ewigkeit vor, in der Boris an ihm heftete, bevor er langsam wieder etwas Raum zwischen sie brauchte. Seine Lippen fühlten sich geschwollen an und er unterdrückte den Drang, sich mit dem Arm drüber zu wischen.
Der Blick von Boris war forschend als suche er in Yuriys Gesicht nach einer Antwort auf eine Frage, die sie beide noch nicht kannten. Schließlich zeigte sich ein süffisantes Grinsen. »Und?«
Yuriy schätze sich glücklich, dass er nicht zu den redseligsten Genossen gehörte, denn so fiel es Boris nicht auf, dass seine stupide Frage ihm für einen Moment die Sprache verschlug. Unwillkürlich befeuchtete er seine Lippen. »Immerhin kein Schleudertrauma«, antwortete er trocken.
Boris fiel das Grinsen aus dem Gesicht und er quittierte die blöde Antwort auf eine ebenso blöde Frage mit einem Schlag gegen Yuriys Schulter. Das war für ihn das Zeichen, sich schlafen zu legen und er wünschte seinem Freund eine gute Nacht, bevor er aus dem Wohnzimmer ins Schlafzimmer ging und sich für die Nachtruhe umzog.
Innerlich schüttelte er den Kopf, als er das eben Geschehene noch einmal Revue passieren ließ. Boris hatte die absurdesten Einfälle, wenn ihm niemand Einhalt gebot, aber was sagte es über ihn aus, wenn er ihn gewähren ließ? Er legte die Hand auf seine Brust und fühlte seinen Herzschlag. Ruhig und beständig und kein Vergleich zu den wilden Schlägen in Boris‘ Brust.
Mit einem tiefen Atemzug schloss er diese Frage unbeantwortet und legte sich ins Bett. Am Morgen würde er früh aufstehen und ohne Rücksicht auf seine Kameraden das Wohnzimmer wieder herrichten.
2006-12-31
Der Plan für den Abend hatte anders ausgesehen.
Yuriy machte die abendliche Runde mit Lyca und hütete mit ihr die Wohnung, während Boris, Ivan und Sergeij in einer nahe gelegenen Bar vorglühten. Bevor es null Uhr wurde, wollten sie zurück sein, sodass sie zu Neujahr gemeinsam vom Balkon das Feuerwerk beobachten konnten. Es war für die junge Hündin das erste Silvester, das sie bei Boris verbrachte, weshalb er sie ungern alleine ließ. Gleichzeitig hatte er seine Kameraden nicht enttäuschen wollen, indem er die Kneipentour absagte. So war für Yuriy der logische Schluss, Lyca zu übernehmen - zumal die Hündin sich bereits in den letzten Monaten als angenehme Gesellschaft herausgestellt hatte.
Er hatte seine Kameraden an Boris' Wohnungstür verabschiedet, machte das Stroganoff vom Vortag in der Mikrowelle warm und verbrachte den Abend zusammen mit Lyca auf dem Sofa vor dem Fernseher, während er mit der einen Hand in seinem Buch umblätterte und die andere meditativ über Lycas Kopf strich. Er genoss die Ruhe, solange sie anhalten sollte. Wenn seine drei Kameraden spät am Abend wiederkämen, war abzusehen, dass es weit lebhafter zugehen würde. Darauf war er mental eingestellt.
Letztendlich kam es sehr viel früher zum Ende seiner Ruhe, als er erwartet hatte. Gegen halb elf klingelte sein Handy. Auf dem Display erkannte er Ivans Nummer und nahm den Anruf entgegen. Es kam selten vor, dass Ivan anrief. Lieber schrieb er Textnachrichten, was Yuriy begrüßte - auch, dass er nicht auf jede Nachricht eine Antwort erwartete. Sein Nacken prickelte, noch bevor er sich am Handy meldete.
»Komm her! Boris läuft Amok und wir-«
Den Rest des Satzes bekam Yuriy nicht mehr mit. Lyca reckte den Kopf und spitze die Ohren, als ihr Sitter hochschnellte, die Wohnung in großen Schritten durchquerte und sich im Vorbeigehen Boris' Parker griff, bevor die Wohnungstür hinter ihm zuknallte. Er hasste es, dass er seine Aufgabe vernachlässigte, doch es galt in diesem Augenblick Prioritäten zu setzen.
Seine drei Kameraden hatten in einer Bar bei ihnen im Viertel vorglühen wollen. Er begleitete sie nur selten, kannte aber den Weg und war mit einem Sprint in zehn Minuten dort. Vor dem Lokal befand sich eine Traube Menschen, aus der Sergeij herausragte. Yuriy steuerte direkt auf ihn zu, schob sich forsch an Schaulustigen vorbei und sah, wie Boris auf einen zweiten Kerl einschlug, während der erste bereits benommen am Boden lag. Die Knöchel an seiner Hand glänzten rot.
Sergeij bemerkte ihn erst, als er direkt neben ihm stand. »Wir müssen schleunigst weg«, erklärte er eindringlich.
Yuriy nickte, beobachtete Boris, der wie von Sinnen einen Schlag nach dem nächsten setzte. Boris hatte schon immer viel Kraft und mit seinem Boxtraining wusste er diese gezielt einzusetzen, doch in diesem Augenblick ließen sich keine überlegten Treffer erkennen. Es war willkürliche Zerstörungswut, mit der er rohhaft zuschlug.
Sergeij hatte die nötige Kraft und Ausbildung, um Boris festzuhalten, aber um ihn aufzuhalten, brauchte es Yuriy. In einem günstigen Moment ging er zwischen die Prügelnden und machte sich vor allem für Boris bemerkbar, indem er ihn am Kragen packte und seinen Blick fixierte.
Als der ihn erkannte, hielt er lange genug in seiner Bewegung inne, dass Sergeij ihn mit festem Griff packen konnte. Inbrünstig stieß er einen Wutschrei aus, versuchte aber nicht, sich zu befreien, wie er es noch vor wenigen Minuten getan hätte. Den Typen am Boden schenkte er keine weitere Beachtung.
»Weg hier!«, zischte Ivan zu ihrer Rechten und lotste sie aus der Menschenansammlung heraus und über Nebenstraßen zurück zu ihrem Block.
Es gab niemanden, der ihnen folgte, trotzdem hielten sie nicht an und blickten nicht zurück. Erst als die Haustür hinter ihnen ins Schloss fiel, konnte Yuriy seine Kameraden aufatmen hören. Er selbst atmete ruhig, trotzdem fühlte er den kalten Schweiß seinen Rücken hinunterlaufen. Sein Blick ruhte auf Boris und er bemerkte, dass sich die Anspannung aus dessen Körper gelöst hatte. Mit einem Nicken gab er Sergeij die Versicherung dafür, ihn wieder loslassen zu können. Schlaff kam Boris auf seinen Beinen zum Stehen und schwankte gefährlich, dass Sergeij ihn vorsorglich an den Schultern fasste.
»Die Treppen schaffst du selber?«, fragte Yuriy mit forschendem Blick.
»'Türlich«, nuschelte Boris ihm grimmig entgegen und ging wie zur Demonstration die Treppen hinauf zu seiner Wohnung.
Yuriy konnte die Blicke von Sergeij und Ivan auf sich spüren, die eine gewisse Ratlosigkeit ausstrahlten. Sie waren alle nicht zum ersten Mal in dieser Situation und glaubten auch nicht, dass es das letzte Mal sein würde. Ohne sich an sie zu wenden, folgte er Boris hoch. Erst auf seinem Stockwerk machte er halt. »Ihr wisst, wo alles steht?«, fragte er pro forma.
Sergeij holte die Wohnungsschlüssel aus seinen Hosentaschen und gab den für Boris' Wohnung an Yuriy weiter. »Wenn was ist, gib' Bescheid.«
Er nickte und ging einen Stock höher, auf dem Boris bereits vor seiner Wohnung auf ihn wartete. Die Stirn hatte er gegen die Tür gelehnt und von innen war ein Kratzen zu hören. Das Schloss klickte auf und Lyca bewegte sich in dem schmalen Flur um die eigene Achse, bevor sie auf Yuriys Anweisung hin in ihr Körbchen verschwand. Seinen Freund dirigierte er hingegen ins Badezimmer und setzte ihn auf dem Klo ab.
Er ging vor ihm auf die Knie und begutachtete die blutverschmierten Hände. An seiner Linken waren die Fingerknöchel aufgeplatzt und das Weiß von Knochen war zu erkennen. Das sah er nicht zum ersten Mal und so ging er wie gewohnt in die anliegende Küche und holte aus dem Kühlfach eine Packung Eis, um die er ein Handtuch wickelte. Zurück im Bad reichte er den provisorischen Behelf an Boris und setzte sich neben ihn auf den Rand der Badewanne. Im Raum breitete sich Stille aus, während sie darauf warteten, dass die Blutung stoppte.
»Hast du keine Fragen?« Boris‘ Stimme war rau. Er wagte nicht, aufzuschauen und konzentriert sich auf das Bündel Eis auf seinen Wunden.
»War denn diesmal etwas anders?«, entgegnete Yuriy ohne eine Miene zu verziehen.
Es bedurfte keiner Antwort, doch nun da Boris‘ Blick klarer wurde, schien er das Bedürfnis zu verspüren sich mitzuteilen. »Ich hab nicht zu viel getrunken«, stellte er mit gefestigter Stimme klar, ohne dass Yuriy ihm einen Vorwurf gemacht hätte. »Das kannst du Vanja und Seryoga fragen.«
»Das muss ich nicht.«
Boris kannte seine Einstellung zu Alkohol und welche Hintergründe es hatte. Und Yuriy kannte ihn lange genug, um zu wissen, dass es nicht am Kontrollverlust durch Alkohol lag, dass er wie ein Berserker auf einen Gegner losging. Es war ein Resultat ihrer Vergangenheit und Boris lernte noch, damit umzugehen.
Boris hob den Kopf und sah Yuriy direkt an. Ob ihm noch etwas auf der Seele lag oder er einfach vom Alkohol gedrängt war, sich mitzuteilen, konnte er nicht einschätzen. Schlussendlich beließ es Boris dabei und schwieg erneut.
Als sie beide übereinkamen, dass die Blutung an seiner Hand zurückging, holte Yuriy die Panthenolcreme und Bandagen. Er legte wie schon dutzende Male zuvor den Verband um Boris‘ Hand und erwischte sich dabei, wie er darüber nachdachte, ob er etwas hätte verhindern können, wenn er dabei gewesen wäre. Wütend über diesen sinnlosen Gedankengang zogen sich seine Augenbrauen zusammen und Boris gab mit einem zischenden Laut zu verstehen, dass er den Verband etwas zu schroff festzog.
Als Yuriy das Ende des Verbands sicherte, bemerkte er, wie sich in Boris Schultern Spannung bildete und musterte ihn mit gerunzelter Stirn.
»Kannst du mal nach Lyca sehen?«, bat ihn sein Freund mit einem schmalen Lächeln.
»Ich denke, ihr wird es gut gehen.« Die Sorge um die Hündin erschien ihm in diesem Augenblick absurd.
Boris blickte ihn mit zusammengekniffenen Augen an, das Lächeln gequält. »Ja, aber - könntest du bitte gehen? Ich glaube, ich muss kotzen.«
Es gab nicht viel, durch das sich Yuriy Ivanov überrumpelt wurde, doch diese Information ließ ihn erst die Augen weiten und anschließend die Nase rümpfen. Steif erhob er sich und verließ das Bad nicht ohne die Türe hinter sich zu schließen. Davon wollte er nichts mitbekommen.
Als er ins Wohnzimmer kam, erhob Lyca sich aus ihrem Körbchen und trabte ihm entgegen. Yuriy ahnte, dass sich das Mädchen um ihren Menschen sorgte, und schätze diese Eigenschaft an ihr sehr. Er strich durch das dichte Fell und kraulte sie hinter den Ohren, bis sich ihr ganzer Körper schüttelte, weil sie mit ihrem Schwanz wedelte.
Es dauerte, bis sich die Badezimmertür hinter ihm wieder öffnete. Lyca lief an Yuriy vorbei zu Boris hin, der vor ihr in die Hocke ging. Die Begeisterung, mit der sie über sein Gesicht leckte, bescherte ihm ein Lachen, das in einem herzhaften Gähnen mündete. »Bis Neujahr schaff ich nicht mehr.« Er strich sich mit der Hand durchs Gesicht, versteckte ein weiteres Gähnen und wirkte insgesamt furchtbar abgekämpft.
Yuriy nickte ergeben. Nach dieser ungeplanten Aktion wollte er auch lieber ins Bett. Das neue Jahr konnten sie auch noch morgen früh begrüßen.
»Pennst du bei mir?«, fragte Boris und sah aus großen Augen zu ihm auf.
Darüber hatte sich Yuriy bisher keine Gedanken gemacht. Eine Etage tiefer war seine eigene Wohnung mit seinem eigenen Bett. Sergeij und Ivan hatten sich sicherlich im Wohnzimmer einquartiert. Doch die Art wie Boris ihn ansah, ließ ihn bei der Antwort zögern.
»Ich meine; pennst du bei mir?«, wiederholte er seine Frage und zog seine Stirn in Falten.
Yuriy haderte nur kurz. Wenn Boris ihn so fragte, gab es eigentlich nur eine Antwort für ihn. Vorher musste er jedoch eins geklärt haben. »Hast du eben die Zähne geputzt?«
Die Frage ließ ihm mit den Augen rollen. »Sicher!«
»Gut.«
Sie machten sich nebeneinander für die Nachtruhe fertig. Yuriy holte sich aus dem Kleiderschrank von Boris ein Shirt zum Schlafen, um sich anschließend im Bad Gesicht und Zähne zu waschen. Derweil füllte Boris den Wassernapf und warf die dreckigen Klamotten in die Wäschetonne im Schlafzimmer, um sich nur in Shorts ins Bett zu schmeißen.
Yuriy bemerkte einen leichten Duft von Minze, als Boris sich nicht einfach neben ihn legte, sondern halb auf ihn drauf und zufrieden seufzte. Das Gewicht auf seiner Brust war ihm so vertraut wie das Ziehen einer Reißleine, obwohl es schon eine Weile her war, dass sie so beieinanderlagen. Langsam fielen ihm die Augen zu und als um Mitternacht das neue Jahr eingeläutet wurde, schliefen beide tief und entspannt.
2007-01-01
[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]
2007-03-11
Die Fenster seiner Wohnung waren zum Westen hin ausgerichtet, sodass die weißen Wände jeden Tag von der untergehenden Sonne in leuchtendes Rot getaucht wurden. Inzwischen war der Abend so weit vorangeschritten, dass die spärlichen Sonnenstrahlen nicht mehr genügten, um die Zimmer auszuleuchten. Für gewöhnlich schaltete Yuriy die Stehlampe neben seinem Sofa ein, um in Ruhe sein Buch weiterzulesen. Dieses Mal war es ihm kaum bewusst, dass er im hinteren Teil seines Wohnzimmers bereits im Dunkeln saß.
Seine Lider waren gesenkt und er blickte wie in Trance auf die Saiten seines Cellos. Die dunklen Töne vibrierten in seinem Brustkorb und zogen ihn in die Komposition von Dvořák hinein. Zwischen seinen Brauen bildete sich eine tiefe Falte der Unzufriedenheit darüber, dass ihm die Läufe nicht so schnell von der Hand gingen, wie er es von sich erwartete.
Seit seinen Jahren in der Abtei spielte er. Wie beim Beybladen hatte er stets nach Perfektion gestrebt und war in der Zeit nach der Abtei bis er sich selbstständig ein Cello kaufte ruhelos gewesen. Zu Beginn waren Betreuer und Therapeuten seiner Obsession gegenüber skeptisch und befürchteten Rückfälle in alte Muster. Es fiel ihnen schwer zu begreifen, dass es aus dieser Zeit etwas geben sollte, dass es zu bewahren galt. Die Bedenken verstummten ihm gegenüber als sie ihn spielen sahen.
Ein dumpfes Poltern führte dazu, dass er beim nächsten Lagenwechsel daneben griff. Yuriy blinzelte, bemerkte die Finsternis in seinem Zimmer, doch sah trotzdem davon ab, das Licht einzuschalten. Um aufzustehen, müsste er das Cello zur Seite legen. Nachdem er einmal tief durchgeatmet hatte, legte er den Bogen an die Saiten und überlegte, ob er von vorne beginnen sollte.
Erneut hörte er ein Knarzen, schloss die Augen und spielte weiter. Seine Finger drückten krampfhaft auf die Saiten, während die Töne unsauber klangen. Missbilligend verzog er den Mund. Tief in sich wusste er, dass er Musik nicht erzwingen konnte, selbst wenn er diese Phrase sonst mit einem Augenverdrehen als romantisch abtat. Mit einem Schnauben blies Yuriy sich eine vorwitzige Haarsträhne aus dem Gesicht und führte beharrlich den Bogen. Wenn er spielte, schaffte er es, seinen Kopf zu leeren.
Während einer kurzen Pause drang eine weibliche Stimme mit verzückten Lauten an sein Bewusstsein und er rutschte mit dem Bogen ab. Zischend stieß er die Luft zwischen den Zähnen aus und fluchte innerlich über die dünnen Wände.
Noch ein drittes Mal setzte Yuriy den Bogen an die Saiten, verharrte in dieser Position, ohne zu spielen, und wartete. Seine Wirbelsäule fühlte sich auf seinem Rücken an wie eine glühende Naht. Die Hitze konzentrierte sich in seinem Nacken und erschwerte es ihm, sich auf die Noten und Griffe zu konzentrieren.
Es war Yuriy ein Rätsel. Sie lebten schon zwei Jahre in diesem Block und es war nicht das erste Mal, dass er Fetzen davon mitbekam, was Boris über ihm so trieb. Die Tatsache, dass er sich an kein konkretes Mal erinnern konnte, zeigte ihm, wie leicht es ihm bisher gefallen war, diese irrelevanten Dinge auszublenden, wenn er gerade ein Buch las oder am Cello spielte.
Yuriy hob den Kopf zum Fenster und bemerkte dabei, wie steif sein Nacken inzwischen war. Seine Schultern waren vollkommen verspannt. Das Brennen in seinem Nacken verblasste, er senkte den Blick auf die Saiten und spielte. Die Klänge füllten seine Brust und betäubten das Ziehen in seinem Bauch.
2007-05-25
Nachdem er den Vormittag dazu genutzt hatte, dem Staub in seiner Wohnung den Kampf anzusagen, ließ Yuriy den Nachmittag an seinem Schreibtisch mit Kaffee und T-Konten ausklingen. Die Spitze seines Stiftes schwebte dicht über den Zahlenwerten in der Gewinn- und Verlustrechnung. Gerade als er den Jahresüberschuss auf das Eigenkapital übertragen wollte, schrillte seine Türklingel und ließ ihn zusammenzucken. In seiner erstarrten Haltung fühlte er wie sein Herz kräftig pumpte und atmete konzentriert, um es wieder auf ein gemäßigtes Tempo zu reduzieren.
Es kümmerte ihn wenig, wer vor der Tür stand. Allerdings wusste er auch, dass es nur Boris sein konnte und ihm zu öffnen widerstrebte ihm. Sein Herz hatte sich beruhigt, da ertönte die Klingel erneut und hörte nicht mehr auf. Erbarmungslos drückte Boris die Schelle durch und demonstrierte damit seinen unerschütterlichen Starrsinn.
Für gewöhnlich war Yuriy damit nicht zu beeindrucken, aber die Klingel schrillte wirklich grässlich in seinen Ohren und sollte er das nur eine Minute länger ertragen müssen, rechnete er mit einem Tinnitus. Also erhob er sich von seinem Schreibtischstuhl, ging in den Flur und öffnete unter Widerwillen die Wohnungstür. Davor – wie bereits erwartet – Boris, der endlich den Finger von der Klingel nahm.
»Hat ganz schön gedauert«, bemerkte der ungebetene Besuch mit gebleckten Zähnen und selbstsicherem Grinsen.
Yuriys Augenbraue zuckte. »Was glaubst du wohl, woran das liegt?«
Boris hob die Schultern und ließ sie dann entspannt fallen. Seine Lippen blieben zu einem Lächeln geformt. »Du warst sicher über irgendwelchem Unikram am Grübeln – und hast noch nichts gegessen, oder?«
Statt einer Antwort blinzelte Yuriy ihm stumm entgegen.
»War klar«, schloss sein Freund und schob sich an ihm vorbei in die Wohnung. »Ich auch nicht. Lass uns zusammen essen.« Wie zum Beweis dafür, dass er sich nicht bloß bei Yuriy durchschnorren wollte, hielt er demonstrativ drei Kartoffeln und eine Zwiebel hoch, während er zur Küche durchging.
Yuriy sah ihm nach, die Augenbrauen tief zusammengezogen. Mit einem gedehnten Seufzen schloss er die Wohnungstür und massierte sich die Nasenwurzel, um möglichen Kopfschmerzen vorzubeugen. Er hatte es den Tag über wirklich vernachlässigt, etwas zu essen. Widerwillig folgte er Boris in die Küche und sah vom Türrahmen aus dabei zu, wie sein Freund Töpfe und Geschirr aus den Schränken zusammensammelte.
»Schälst du die Kartoffeln?«
»Wenn wir dann schneller fertig sind«, murrte Yuriy ihm entgegen und setzte sich mit Topf und Schäler an den Küchentisch. Er spürte Boris‘ Blick auf sich, doch ignorierte ihn und begann die Schale in langen Streifen von den Kartoffeln zu schälen.
»Wie ich dich kenne, bist du noch bevor das Wochenende um ist mit dem Unikram durch, also stress dich nicht so.« Boris nahm die Packung Pfifferlinge aus dem Kühlschrank, die sie zuletzt auf dem Markt gekauft hatten und begann diese zu schneiden.
In seiner Vermutung hatte sein Freund wohl Recht, aber es änderte für Yuriy nichts daran, dass er alsbald wieder seine Ruhe wollte. »Disziplin bedeutet, sich nicht auf Erfolgen auszuruhen.« Er ließ die letzte Kartoffel in das Wasser fallen und stand auf, um den Topf auf den Herd zu stellen.
Seine Küche war nicht sonderlich groß und so stand er Schulter an Schulter mit Boris, während der das Messer still hielt und ihn anschaute. »Wenn du die Einstellung weiter fährst, landest du noch frühzeitig im Grab«, meinte er trocken.
Yuriy hatte das Gefühl, eine bittere Note herauszuhören. Mit einem Schritt zurück lehnte er sich an den Fensterrahmen und behielt den Blick auf dem Topf, der langsam von unten erhitzt wurde. »Dann hätte ich in jedem Fall endlich Ruhe.«
Als er den Blick hob, sah er direkt in Boris‘ Gesicht, wie er die Brauen tief zusammenzog, den Kiefer angespannt. In seinen Augen blitzte Zorn auf. »Dein scheiß Ernst?«, presste er hervor, darum bemüht, die Stimme ruhig zu halten, doch trotzdem lag ein Beben darin. »Welcher Film läuft denn aktuell bei dir, dass du meinst, lockere Sprüche übers Sterben zu reißen?«
Yuriy verschränkte die Arme und betrachtete seinen Freund mit gerunzelter Stirn. Das Maß an Selbstbeherrschung beeindruckte ihn, doch er war nicht gewillt, eine Antwort auf die Frage zu formulieren.
Damit gab er Boris Raum, sich in Rage zu reden. »Seit etwa drei Wochen benimmst du dich wie ein Vollarsch. Wir sehen uns kaum, weil du dich hier in deiner Festung verkriechst und wenn wir uns sehen, kommen nur blöde Sprüche. Das ist nicht mehr mit Unistress zu entschuldigen. Also, was ist dein scheiß Problem?«
»Nichts. Ich brauche halt nicht ständig irgendwelche Leute um mich herum«, erwiderte Yuriy kühl.
Boris schnaubte und verzog seine Lippen zu einem zynischen Lächeln. »Sicher, der starke Yuriy Alexandrovič Ivanov braucht nichts und niemanden! Der regelt alles ganz alleine.« Er strich sich durch das kurze aschblonde Haar und rollte die Augen zur Decke. »Dich müsste mal jemand richtig durchbürsten, damit du auf dein Leben klar kommst.« Als ihm das letzte Wort über die Lippen kam, hielt er kurz inne, bevor er Yuriy mit weit aufgerissenen Augen ansah.
»Raus«, befahl Yuriy ihm schneidend.
»Nein.« Er konnte nicht so schnell sprechen wie Yuriy ihn an der Schulter packte und zur Tür drängte. Ein Stuhl kam ins Straucheln, als Boris versuchte, danach zu greifen, doch er fand keinen Halt und wurde weiter bis zur Küchentür geschoben. Im Rahmen hielt er sich fest und stemmte seinen Körper gegen Yuriy. »Ich werde nicht gehen!«, beharrte sein Freund und blickte ihm stur entgegen.
In einem Anschwung von Frustration zischte Yuriy ihn an, stemmte nochmal all seine Kraft gegen ihn, doch schaffte es nicht, Boris auch nur einen Zentimeter weiter zu bewegen. »Weißt du, nicht jeder ist so notorisch schwanzgesteuert wie du. Nicht alle Probleme lassen sich mit Sex lösen!«
Kurz blinzelte Boris ihm entgegen, bevor er seine Augenbrauen wieder tief zusammenzog. »Probleme lösen sich aber auch nicht, wenn man sie in sich reinfrisst und seine schlechte Laune an anderen auslässt!«, schmetterte er ihm entgegen. »Oder willst du wirklich ganz allein sein? Dann mach weiter so!«
Yuriy hielt inne. Tief in sich wusste er, dass diese Vorhersage keinen Wahrheitsgehalt hatte. Er könnte einen Mord begehen und Boris, Sergeij und Ivan stünden nach wie vor hinter ihm. Trotzdem spürte er ein Brodeln in seinem Bauch und den Drang danach zu widersprechen. »Nein, will ich nicht.«
Der Druck auf Boris wurde schwächer und seine Schultern entspannten sich. »Was willst du dann?«
Das war die Frage, der sich Yuriy seit drei Wochen – aber eigentlich schon länger – versuchte zu entziehen. Natürlich war es Boris, der ihm diese nun stellte, nachdem er sie gekonnt in sich selbst ignoriert hatte.
Er wollte Ruhe. Ruhe von sich selbst. Sich nicht mehr von einem Prickeln im Nacken oder einem Ziehen im Bauch stören lassen. Seine Gedanken sollten geordnet auf ein Ziel gerichtet sein und nicht diffus zu Momenten abschweifen, die er nicht verstand – weil er sich nicht mit ihnen beschäftigen wollte.
Und immer, wenn Yuriy die Ruhe verlor, war da Boris. Und das war tröstend wie beunruhigend zugleich.
Er ließ von seinem Freund ab und verschränkte die Arme vor der Brust. Sein Blick war gesenkt und die Lippen zu einer dünnen Linie zusammengepresst. Das Brodeln in seinem Bauch war zu einem Klumpen verkommen, der sich tief in die Magengrube setzte. Schließlich sah er auf. »Dich.«
Boris sah ihn an ohne den Ärger, der sich eben noch auf seiner Stirn abgezeichnet hatte. Seine Brust hob sich mit einem tiefen Atemzug. Dann ließ er die Schultern sinken. »Ich bin doch hier.«
Yuriy war sich nicht sicher, was er erwartet hatte. Seine Schultern entspannten sich und der Klumpen in seinem Magen brach auf und ließ Hitze in ihm hochjagen, die seinen Hals bis zu den Ohren hinauf kroch.
Boris hob eine Braue und in seinen Mundwinkeln zuckte ein Grinsen.
Es ließ Yuriy mit den Augen rollen, bevor er sich von seinem Freund abwandte und zurück an den Herd ging. Inzwischen stiegen kleine Blasen aus dem kochenden Wasser auf und Boris schnitt die letzten Pfifferlinge, bevor er sie zusammen mit den kleingeschnittenen Zwiebeln in einer Pfanne anbriet.
In Yuriy kehrte Ruhe ein.
2009-10-13
Yuriy lief die Treppen zum zweiten Stock hinauf, dicht gefolgt von Lycas tapsigen Schritten. Vor der Wohnungstür von ihrem Partner wartete sie geduldig darauf, dass Yuriy die Schlüssel aus seiner Jackentasche hervorholte und aufschloss. Sie traten in die Wohnung ein. Yuriy voran, Lyca gleich an seinen Beinen vorbei. Ihr Weg führte sie als erstes zum Sofa, während Yuriy die Küche aufsuchte und den Wassernapf frisch auffüllte. Erst dann folgte er der Hündin, die neben dem Sofa saß, auf dem Boris lag.
Sein Gesicht war zur Lehne gedreht, ein Arm irgendwie um seinen Kopf geschlungen, der andere zu Lyca ausgestreckt, um eins ihrer Ohren liebevoll zu kneten. Als er damit fertig war, verschwand sie zur Küche, um nach dem langen Spaziergang anständig zu hydrieren.
Yuriy war positiv überrascht, dass Boris es vom Bett bis zum Sofa geschafft hatte, auch wenn er dort weiter herumlag und auf den ersten Blick nichts Sinnvolles zustande brachte. »Willst du nicht mal duschen gehen?«, schlug er vor, um Boris überhaupt zu irgendetwas zu bewegen.
Er war seit Anfang der Woche krankgeschrieben und morgen würde er zum Arzt müssen, um seinem Chef ein Attest vorzuweisen. Problem bei der Sache war, das Boris überhaupt nicht krank war. Zumindest nach Yuriys Einschätzung und selbst wenn er kein Arzt war, vermutete er, dass der ihm recht geben würde.
Boris brummte ihm nur unverständlich entgegen, was er von dem Vorschlag hielt und schob sich noch ein Stück weiter an die Rückenlehne des Sofas heran, dass Yuriy glaubte, er wolle mit dieser verschmelzen.
Mit einem gedehnten Atemzug ließ er die Schultern sinken. »Gut, dann komme ich später wieder und mache mit Lyca die Abendrunde«, informierte er und wartete auf eine Reaktion.
Es dauerte, bis eine Regung durch Boris ging und er sich aus seiner Sofaritze heraus drehte, um Yuriy über die Schulter hinweg anzusehen. Sein Arm verbarg immer noch Teile seines Gesichts, trotzdem erkannte Yuriy tiefe Augenringe und gerötete Augen. Obwohl er schwer aus dem Bett kam, schlief er nicht erholt.
»Du siehst scheiße aus«, stellte Yuriy fest.
Boris‘ Mundwinkel zuckten müde. Mehr holte es nicht aus ihm raus.
In der ganzen Zeit, die sie sich schon kannten, war es nicht das erste Mal, dass Yuriy miterlebte, wie Boris eine Trennung verarbeitete. Unausgeglichen wie er nun einmal war, bedeutete das stets große Gefühlsausbrüche, die sich nicht selten mit Wut vermengten. Aber diesmal fürchtete Yuriy, dass es anders war. Das letzte Mal hatte er Boris auf eine ähnliche Weise apathisch erlebt, als sie noch in der Abtei waren. Damals war der Grund jahrelange Manipulation und Drogen – kein gebrochenes Herz.
Yuriy konnte auf keine Erfahrungswerte zurückgreifen, die ihm in dieser Situation halfen, mit seinem Freund umzugehen.
Mit einem Schnauben machte er seinem Unmut Luft. »Hast du schon gegessen?«
Boris wich seinem Blick aus. Also nein.
»Du musst essen«, meinte er.
»Keinen Hunger«, murmelte Boris gegen seinen Arm, dass Yuriy es fast nicht verstanden hatte.
Lyca kehrte aus der Küche zurück, lief an Yuriy vorbei ans Sofa heran und sah ihren Partner abwartend an. Mit einem Klopfen auf die Polster gab Boris ihr die Erlaubnis und sie sprang aufs Sofa. Es war Yuriy ein Rätsel, wie dieser nicht gerade kleine Akita-Inu-Husky-Mix mit Boris zusammen auf die Sitzfläche passen wollte, aber sie schaffte es, sich zwischen ihn und die Rückenlehne zu quetschen und halb auf seiner Brust zu liegen.
Boris legte eine Hand auf ihren Kopf und kraulte ihre Ohren. Diesmal bekam er sogar ein Lächeln zustande.
Dünne Fältchen bildeten sich zwischen Yuriys Augenbrauen, bevor er sich schlussendlich dagegen entschied zu gehen und sich neben Boris auf das Sofa fallen ließ. Er hatte für den Tag ohnehin keine Pläne.
Lyca spitze die Ohren und Boris warf ihm einen irritierten Blick zu. »Was ist denn jetzt?«
Darauf konnte Yuriy ihm keine Antwort geben, da sein Plan bisher nicht weiter reichte, weshalb er mit den Schultern zuckte. »Wir bestellen, sobald du Hunger hast«, entschied er spontan.
Boris starrte ihn an, ohne etwas zu sagen, bis er von Lyca abgelenkt wurde, die mit ihrer Pfote auf seine Brust klopfte. Sie reckte ihm die Schnauze entgegen und er nahm sie in beide Hände, knetete ihr dickes Fell und kraulte ihren Hals, sodass ihr Schwanz beständig gegen das Sofa klopfte. »Mein Mädchen«, murmelte er. Ohne davon abzulassen sie zu kraulen, legte er den Kopf in den Nacken und schaute Yuriy an.
Dass Boris nichts sagte und bloß schaute, ließ ihn die Stirn runzeln. »Du benimmst dich sonderbar.«
»Du auch.«
Dem konnte er nicht widersprechen. Für ihn fühlte sich das alles an, als liefe er über dünnes Eis – aber er würde nicht einbrechen. Er legte die Hand an Boris‘ Schulter und zwang ihn mit Nachdruck dazu, ein Stück Platz zu machen, sodass sich Yuriy bis zur Rückenlehne heranschieben konnte und Boris den Kopf an ihn lehnen musste.
Langsam kam das Mienenspiel seines Freundes zurück und mit zusammengezogenen Augenbrauen musterte er ihn von unten. »Was wird denn das?«
»Es ist bequemer und du bekommst keinen steifen Nacken«, erklärte Yuriy sachlich.
»Hast du Lack gesoffen?«
Yuriy spürte in sich das Bedürfnis aufkommen, Boris mit einem Kissen zu ersticken, rang dieses aber mit viel Selbstbeherrschung nieder und atmete tief durch. Es wäre besser gewesen, wäre er einfach gegangen und zur Abendrunde mit Lyca wiedergekommen. »Nein.«
Ohne weiter darauf einzugehen, angelte Boris nach der Fernbedienung, zappte unmotiviert durch die Kanäle, bevor er irgendetwas, das sie beide nicht interessierte, laufen ließ. Die Beschallung half über die Grabesstille hinweg, die wieder zwischen ihnen einkehrte. Zwischenzeitlich forderte Lyca etwas Aufmerksamkeit für sich ein, doch sonst blieb es ein ruhiger Nachmittag.
Ein Gemisch aus Langeweile und Ratlosigkeit verleitete Yuriy dazu, mit seinen Fingern durch Boris‘ kurzes struppiges Haar zu streichen, während sein Blick glasig auf den Fernseher gerichtet war. Er blinzelte, als Boris ihn in seinem Tun unterbrach und ihre Finger ineinander verschränkte.
Boris sah ihn nicht an, sondern weiter zum Fernseher. Reglos lagen ihre beiden Hände ineinander verwoben auf seiner Brust. »Dich und Lyca. Mehr brauche ich nicht.«
Seine Worte hinterließen in Yuriys Magen ein nervöses Kribbeln. Sein Blick ruhte auf seinem Freund, auf ihren Händen und er presste die Lippen zusammen, um nicht zu sagen, was er dachte: Das stimmt nicht.
So wichtig sie füreinander waren und so sehr sie einander brauchten, wusste Yuriy zu genau, dass er für Boris nicht das sein konnte, was Tatjana war. Weil Yuriy nicht so war. Weil Boris nicht so war.
Er hob die freie Hand und begann wieder damit, durch sein Haar zu streichen. »Sehen wir mal, was die Zukunft bringt.«
2012-08-13
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