Staubkörner II von lady_j (neue Short Stories) ================================================================================ Kapitel 2: Jongleure (AU) ------------------------- Sie stand in der Mitte des Zebrastreifens, hinter ihr ratterte die U1 über die Brückenbögen, die Sonne brannte hinab auf Asphalt und die Blechdächer der Autos, das Wasser im Kanal stank, wie jedes Jahr im Hochsommer. Schweiß tropfte ihren Rücken hinab und sie blickte starr nach oben, während sie fünf Keulen in die Luft warf und wieder fing. Die Grünphase der Fußgängerampel dauerte exakt 40 Sekunden, drei Viertel dieser Zeit jonglierte sie und in den letzten zehn Sekunden lief sie die ersten Reihen Autos ab und sammelte, wenn sie Glück hatte, ein paar Cents ein. Wenn die Ampel auf Rot sprang, stellte sie sich in den Schatten einiger dürrer Bäume zu Rick und verschnaufte für einen Augenblick. Rick hatte sie ein paar Meter weiter in der Bibliothek kennengelernt. Er studierte an der TU und war nebenbei Fitnesstrainer, und als sie ihm erzählt hatte, was sie in ihrer Freizeit machte, hatte er darauf bestanden, auf sie aufzupassen. Es wäre ihr weitaus lieber, wenn er statt auf sie ein Auge auf ihren Bruder haben könnte, denn der stand am Tempelhofer Damm auf der Auffahrt zur A100 und machte dasselbe wie sie; mehr als einmal hatten ihn irgendwelche Spaßvögel schon ins Auto zerren und mitnehmen wollen, weil er so klein und unschuldig wirkte. Heute war ein guter Tag. Vielleicht lag das auch an dem kurzen Rock, den sie trug. Außerdem war es August und die Stadt voller Touristen. Nach zwei Stunden hatte sie schon eine erträgliche Menge Geld zusammen, dafür aber langsam die Nase voll von angetrunkenen Gaffern auf klapprigen Mietfahrrädern. Vorhin hatte Rick beinahe einen von ihnen von seinem Drahtesel gezogen und in den Kanal geworfen, weil er einfach nicht abhauen wollte. Sie fing ihre Keulen auf und sprang ein letztes Mal zwischen den Autos herum, dann verließ sie die Straße und ging zu Rick. „Na komm, lass einen Kaffee trinken gehen.” Rick entfaltete seine üppigen Oberarme und brummte, was sie als Zustimmung interpretierte. Gemeinsam gingen sie zur Bibliothek, in der es ein Café gab. Aus der Maschine hinter dem Tresen zischte Dampf, während eine zierliche Kleine sie bediente und flink mehrere Espressi durchlaufen ließ. „Hey, Mattie!” „Giulia, hey!”, rief die Kleine zurück, „Was kann ich dir machen?” Sie drehte sich um und Giulia stützte sich am Tresen ab, um sie mit zwei Wangenküssen zu begrüßen. „Hab schon gesehen, deine Süße ist auch wieder da”, raunte sie danach und Mathilda errötete ein bisschen. Sie hatte sich in eine hübsche Grünäugige verguckt, die seit einigen Wochen regelmäßig im Café saß und ihre Bücher wälzte. Giulia hegte den Verdacht, dass das inzwischen nicht mehr nur Zufall war, doch Mathilda war leider immer noch zu schüchtern, um ihre Angebetete einfach anzuquatschen. „Mach uns mal zwei Americano, bitte”, sagte sie schließlich mit Blick auf Rick, der gerade Mathildas Kollegin auscheckte und, wahrscheinlich unterbewusst, seine Muskeln spielen ließ. „Rick du Neanderthaler, hör mal auf die Frauen zu belästigen.” „Ich mach doch gar nichts!” „Hm, ja nee ist klar.” Giulia wandte sich wieder ihrer Freundin zu. „Was machst du heute Abend? Mao und ich wollen Simon-Dach.” „Ehrlich jetzt?”, brummte Rick dazwischen, aber sie winkte ab. Er konnte nicht wissen, dass sie Freitagabend nur in die Simon-Dach gingen, um Touristen zu finden, die ihnen die Drinks bezahlten. Es war witzig. Als Zeichen der Freundschaft schob sie ihm eine der Tassen hin und als er sie nahm, blickte er schon wieder etwas versöhnlicher drein. „Was machst du denn heute noch?” „Pumpen”, nuschelte er und Giulia verdrehte die Augen. War ja klar. „Ich kann mitkommen”, sagte Mathilda jetzt, „Aber lass mal nicht so lange bleiben. Übrigens gehen Takao und ein paar andere heute ins Ichiban. Da können wir ja später hin, oder?” „Ja klar. Aber ist da freitags nicht immer so richtig voll?” „Duh”, machte Mathilda, „Umso besser, oder?” Sie trafen sich am Ostkreuz, enge Jeans, Glitzersandalen, Spaghettiträger, Giulia brachte Mathilda mit und Mao hatte Emily dabei, ihre Mitbewohnerin, die kaum mal vor die Tür kam, weil sie Mathe und Physik studierte und ständig am Lernen war. Sie zogen vorbei an den Dönerläden und unbestimmt-asiatischen Restaurants, bei denen immer Bastlampions an den Markisen hingen, holten sich einen ersten Drink im Späti und staksten kichernd weiter zur Simon-Dach. Die Nacht war warm und die Straße voller Menschen, sie saßen auf den Bänken vor den Imbissen, auf dem Boxi im Gras (oder was davon übrig war nach wochenlanger Dürre), auf den Umzäunungen der Bäume und auf dem Bordstein. Die Simon-Dach war wie Ballermann, ein hell erleuchteter Streifen, Markise an Markise, es war beinahe nicht zu überblicken, wo die Sitze der einen Bar aufhörten und die der nächsten anfingen. Hier hörte man sehr viel Englisch. Sie fanden einen Tisch irgendwo, der Name des Ladens war egal, hier passten sich die Preise sowieso an, und bestellten die erste Runde. „Weißt du denn den Namen von deiner Süßen?”, fragte Mao Mathilda, als der Kellner ihre Caipirinhas brachte und sie sich an den nassen Gläsern die Unterarme kühlten. Mathilda nahm einen großen Schluck, um nicht sofort antworten zu müssen, und hustete - der erste Schluck ist immer fast nur Alkohol. „Ja”, keuchte sie dann, „Ich glaube, sie heißt Mariam.” „Mathilda und Mariam”, sagte Giulia, „Das hört sich schön an.” „Steck ihr doch einfach deine Nummer zu, das ist für dich doch super einfach”, schlug Mao vor. Emily neben ihr verfolgte das Gespräch neugierig. Sie war so beschäftigt, dass man sie immer erstmal auf den neuesten Stand bringen musste, wenn sie mal wieder unter Menschen kam. Während sich ihre Drinks langsam lehrten, sah Giulia sich verstohlen nach potentiellen Geldgebern um. Ein paar Kerle erwiderten ihren Blick interessiert, schienen sich aber nicht an eine Gruppe aus vier lauten Frauen heranzutrauen. Es war eben doch einfacher, wenn sie nur zu zweit unterwegs waren. Andere waren selbst schon zu betrunken, als dass sie sich mit ihnen hätte abgeben wollen. Kurz darauf wurde das Glück ihnen allerdings hold: „Entschuldigung die Damen, ist hier noch frei?” Vier Typen quetschten sich an den Nachbartisch, der so nah bei ihrem stand, dass die Frage tatsächlich angebracht war. Sie hatten Englisch gesprochen und taten das auch unter sich, obwohl es nicht ihre Muttersprache zu sein schien. Der Mann, der sie angesprochen hatte - Typ Surferboy mit sonnengebleichten blonden Locken - beugte sich zu Mao. „Könnt ihr die Caipis empfehlen?” Mao bot ihm sofort ihr Glas an, damit er probieren konnte. Sie wusste, worauf es ankam, damit am Ende die Herren alles bezahlten. „Oh ja, der ist gut!”, stellte der Blonde fest. „Ich bin übrigens Giancarlo.” Sie verstanden den Wink und stellten sich der Reihe nach vor. Giulia musterte verstohlen Giancarlos Begleiter, die ebenfalls ihre Gruppe auschecken während ihr Anführer schon im Flirtmodus war. „Aber bevor ich es vergesse!”, rief er und deutete auf seinen Sitznachbarn, „Das ist Ralf, der hat Geburtstag.” „Happy Birthday, Ralf!”, flöteten sie im Chor, was den Angesprochenen tatsächlich ein wenig aus der Reserve zu locken schien, denn seine Miene taute endlich etwas auf. „Aww, danke Ladies”, sagte Giancarlo, dann zeigte er auf die anderen. „Der lange rothaarige da ist Yuriy und der Miesepeter Kai, der taut aber auf, wenn er was getrunken hat, also keine Angst.” „Er hatte n Scheißtag”, sagte Yuriy und klopfte Kai auf die Schulter, dann winkte er einem Kellner. „Wer hat Bock auf Wodka-Shots?” „Dann bist du also sowas wie ’ne Straßenkünstlerin”, sagte Kai anderthalb Stunden später zu Giulia, wobei er sich sehr nah zu ihrem Ohr beugte. Er lallte schon ein wenig. Neben ihnen hob Yuriy, der mit zunehmendem Alkoholpegel immer lauter geworden war, die Stimme: „Es heißt za zdorovje, nicht na zdorovje, das machen alle falsch!” Er schlug mit der Faust auf den Tisch und Emily brach in gackerndes Lachen aus. Auf dem Tisch hatten sich bereits einige Gläser gesammelt und sie waren drauf und dran, ihre Pläne über den Haufen zu werfen und länger mit den Jungs abzuhängen, als sie eigentlich geplant hatten. Selbst Mathilda, die sonst immer irgendwann etwas kleinlaut wurde, amüsierte sich mit Giancarlo, der ziemlich plump, oder vielleicht auch ironisch, mit ihr flirtete. „Ich bin keine Straßenkünstlerin!”, antwortete Giulia jetzt und blickte Kai böse an, „Ich hatte eine Zirkusausbildung! Und jetzt verdiene ich mir halt ein bisschen was dazu, neben dem Studium.” „Und? Lohnt sich?” Sie hob die Schultern. „Schon.” Dann zwinkerte sie ihm frech zu. „Kannst ja mal vorbeikommen und mir zusehen. Ich bin immer Dienstag und Freitag Hallesches Tor, an der AGB.” „Pass auf, ich mach das wirklich.” „Ich nehm dich beim Wort.” Ihr war bewusst, dass sie flirtete, auch wenn sie nicht mehr sagen konnte, wann sie damit angefangen hatte. Am Anfang hatte sie es geschafft, Ralf und Kai gleichzeitig zu unterhalten - das Geheimnis lag darin, immer einem von ihnen genauso lange die Aufmerksamkeit zu schenken, dass sie glaubten, dem jeweils anderen vorgezogen zu werden - doch Ralf war, mit Verlaub, ein wenig langweilig. Inzwischen schien Mao ihn aber in ein Gespräch verwickelt zu haben, vermutlich, weil sich herausgestellt hatte, dass die beiden die einzigen am Tisch waren, die kein Tequila-Trauma hinter sich hatten und das Zeug tatsächlich noch gerne tranken. Giulia lehnte sich zurück und streckte seufzend die Beine unter dem Tisch aus. So angenehm ihre Runde war, so unbequem wurden die Stühle. Vielleicht sollten sie wirklich langsam die Location wechseln. „Geile Schuhe”, sagte Kai, der diese wohl bis dahin nicht bemerkt hatte. Sie hob erstaunt die Brauen, denn er hatte geklungen, als würde er wirklich ihre Schuhe meinen und nicht „die Art und Weise wie sich ein Frauenarsch bewegt, oder wahrscheinlich bewegt, wenn sie Heels trägt”. Sie winkelte die Beine an, damit er einen besseren Blick hatte. „Willst du sie mal anziehen?” „Haha, pass auf, noch zwei Drinks und ich mache es. Welche Größe hast du?” „Einundvierzig”, nuschelte sie. Eigentlich war es ihr peinlich, dass sie so große Füße hatte. Doch Kai lachte schon wieder. „Okay, passt.” „Machst du das öfter?”, fragte sie, „Frauenschuhe tragen?” „Nur um meinen Großvater zu provozieren. Oder, wenn andere Menschen es heiß finden.” Sie hob ihr Glas und prostete ihm zu. „Wir haben einen Deal.” Anstatt mehr Drinks zu kaufen verließen sie die Cocktailbar wenig später. Sie fuhren zur Warschauer Straße und wankten über die S-Bahnbrücke zum Ichiban, der Karaokebar, in der Takao mit seinen Leuten feierte. Raul hatte Giulia vorhin geschrieben, dass er auch dort sein würde, denn er kannte Takao von irgendeiner Studentenparty an der HU. Giulia überlegte, ob sie Kai später mit nach Hause nehmen sollte, denn betrunken war er schon sehr süß und sie hatte Lust, herauszufinden, was unter seinem Shirt so alles verborgen war. Aber es war noch zu früh am Abend um sich endgültig zu entscheiden. Für’s erste hakte sie sich bei ihm unter und tat so, als bräuchte sie auf ihren Stöckelschuhen eine Stütze. „Okay Leute jetzt bemüht euch alle mal, möglichst nüchtern zu wirken, sonst kommen wir nicht rein!”, rief Mao und sie brachen kurz in hysterisches Kichern aus, bevor sie sich zusammennahmen und dem Türsteher entgegentraten. Sie schafften es tatsächlich allesamt hinein. Im Ichiban tobte der Bär. Auf der Bühne sang jemand „Time of my life” und der ganze Saal gröhlte mit. Die Booths waren wie kleine Aquarien, man konnte die Gruppen beobachten, wie sie theatralisch in die Mikros schrien, doch vom Sound drang nichts nach draußen. Hinter der Bar flitzten die Keeper hin und her. Giancarlo, der die Gruppe anführte und scheinbar noch nie hier gewesen war, drehte sich um und riss begeistert den Mund auf. Nach ein paar Schritten sprangen ihnen Takao und Max in den Weg und umarmten sie alle, auch die Kerle - sie schienen davon auszugehen, dass es Freunde von Giulia und den anderen waren, the more the merrier. „Wir sind vor der Bühne!”, brüllte Takao, „MingMing ist gleich dran!” „Boris und Johnny haben eine Booth bekommen”, ergänzte Max, „Also wenn ihr drinnen singen wollt, geht einfach rein!” „Boris? Boris Kuznetsov?”, kam es von Yuriy, und als Takao nickte: „Das ist’n Freund von mir - er hat mir erzählt, dass er heute auch hier ist. Witzig!” „Witziiiig”, riefen die anderen. Giulia beugte sich zu Kai. „Singst du?”, rief sie ihm ins Ohr und er schüttelte den Kopf. „Nur unter der Dusche!” „Okay. Kaufst du mir’n Drink?” Er verdrehte die Augen, zog sie dann aber zur Bar. Mathilda und Mao, die das beobachteten, warfen ihr eindeutige Blicke zu, doch Giulia grinste nur und winkte. Sie fanden einen Platz am Tresen, von dem aus sie die Bühne gut im Blick hatten und während Kai sich zur Barkeeperin beugte, um zu bestellen, jubelte Giulia MingMing zu, die in diesem Moment begann zu singen. Sie war hier so etwas wie eine kleine Berühmtheit, denn sie hatte eine Hammer Stimme und sang am liebsten Disney. Als sie den Refrain erreichte, wollte Giulia, wie auch alle anderen, einstimmen, doch in diesem Moment erblickte sie einen ihr bekannten dunklen Pferdeschwanz am Ende der Bar. „Oh mein Gott!”, rief sie und Kai, der ihr gerade ein Glas in die Hand drücken wollte, sah sie verwundert an. „Beweg dich nicht vom Fleck und halt meinen Drink fest, ich muss schnell Mathilda suchen gehen!”, sagte Giulia und stürmte davon, noch eher er ganz begriffen hatte, was gerade passierte. Sie fand Mathilda zusammen mit ihrem Bruder in der Booth, die Boris ihnen besorgt hatte. Der war auch dort und neben ihm Yuriy. Sie schenkten der Karaokemaschine keine Beachtung, sondern unterhielten sich laut auf Russisch. „Mattie, deine Angebetete ist hier, komm schnell!”, brüllte Giulia und packte ihre Freundin am Handgelenk. „Hi Brüderchen!”, sagte sie noch, dann zog sie Mathilda nach draußen und schloss die Tür wieder. „Hey! Jules, warte!”, protestierte Mathilda, aber Giulia ignorierte sie und reckte den Hals, um nach Mariam Ausschau zu halten. Zum Glück hatte sie sich nicht von der Stelle gerührt. Ob sie allein war? Oder wartete sie nur auf ihren Drink? „Heeeeyyy!”, sagte Giulia laut, als sie bei Mariam ankamen. „Du bist doch immer in der AGB, oder? Kennst du schon Mathilda?” Mit diesen Worten schob sie die Kleinere etwas vor. „Das ist die zauberhafte Dame, die dir immer deinen Kaffee macht. Und jetzt haben wir gedacht, wir sagen dir mal Hallo.” Mariam wirkte etwas perplex und dann sogar verlegen, als sie zurücklächelte. Mathilda ging es nicht anders, aber ihre Augen leuchteten, als sie sich die Hand gaben. „Ich bin mit ein paar Freunden hier”, sagte Mariam, „Wollt ihr zu uns kommen? Wir sind gleich da hinten.” Sie zeigte mit dem Daumen über die Schulter und Mathilda nickte eifrig. Giulia ließ sie aber ziehen, denn sie wollte nun endlich ihren Drink bei Kai abholen. Der wartete tatsächlich noch immer brav an der Bar, hatte von seinem Standpunkt aus aber alles beobachtet. „Hast du sie verkuppelt?”, fragte er und Giulia warf ihm nur einen vielsagenden Blick zu, bevor sie trank. In diesem Moment erklomm eine Dragqueen in einem engen, roten Abendkleid, das wunderbar mit ihrem grünen Bob kontrastierte, die Bühne. Sie war vielleicht eher klein, die waghalsigen Heels machten sie aber mindestens zehn Zentimeter größer. „Oooh”, hauchte Giulia, „Wer ist das?” Und zu ihrer Überraschung hatte Kai eine Antwort: „Kennst du nicht? Das ist Olivia Emerald.” „Woher weißt du?” „Ich hab sie mal kennengelernt. Also, nicht sie, sondern Olivier. Er studiert Modedesign an der FU, und einer meiner Bekannten, Sergeij, hat mal für ihn gemodelt.” „Woher kennst du so viele Russen?” „Yuriy. Er ist mein Mitbewohner.” Und da hatte sie anfangs noch gedacht, die Jungs wären Touristen. „Diese Stadt ist ein Dorf”, murmelte sie, dann lauschten sie einträchtig Olivias Performance. Es gab viele Küsse in dieser Nacht. Mathilda küsste Mariam, das war absehbar. Giulia küsste sie beide, und Mao und Emily, weil sie so verdammt gute Freundinnen waren. Emily küsste Ralf und später Boris und Giancarlo schoss den Vogel ab, denn er küsste Olivia. MingMing küsste Raul, weil er so schüchtern war. Mao küsste Max, weil er so gar nicht schüchtern war. Und später, viel später, küsste Giulia Kai sehr lange, und noch ein bisschen später sah sie aus nächster Nähe, wie Kai Takao küsste, und wie es dazu gekommen war hatte sie nach dem Aufstehen vergessen. Als die Sonne aufging stand sie mit ein paar anderen am Brückengeländer, doch sie blickten nicht dem Licht entgegen sondern in die andere Richtung, hin zum blinkenden Fernsehturm. Mariam hatte einen Arm um Mathilda gelegt und Max den Kopf auf Takaos Schulter. Yuriy versuchte, per App ein Taxi zu rufen. MingMing hatte sich auf Takaos anderer Seite eingehakt und summte. Der Wind frischte auf und fuhr in ihr dünnes Oberteil, doch Giulia war immer noch betrunken genug, um es nicht zu bemerken. Sie stand in der Mitte des Zebrastreifens, hinter ihr ratterte die U1 über die Brückenbögen, die Sonne brannte hinab auf Asphalt und die Blechdächer der Autos, das Wasser im Kanal stank, wie jedes Jahr im Hochsommer. Sie jonglierte für exakt dreißig Sekunden, Rick stand im Schatten und beobachtete sie, sie fing ihre Keulen auf, sie lief durch die Autoreihen. Jemand klatschte. Als Giulia den Blick hob, sah sie Kai, ein Rennrad unterm Arsch und das Fahrradschloss am Gürtel. Beinahe wurde sie überfahren, denn sie war so überrascht, dass sie nicht bemerkte, wie die Ampel umsprang. „Hi”, sagte sie nur, als sie sich zu ihm gerettet hatte. „Hi.” Er deutete auf ihre Jonglierkeulen. „Bringst du mir das bei?” „Nur, wenn du für mich in High Heels läufst”, entgegnete sie grinsend. Er legte den Kopf schief. „Deal.” Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)