Die Wander-Geisha von Futuhiro ================================================================================ Kapitel 1: Orakelhalle ---------------------- „Ah. Hallo, Frau Tanaka.“ „Hallo, Natsuo.“ „Was führt euch denn in meinen Tempel?“, wollte die junge Priesterin irritiert wissen, als das Mütterchen mit einem großen Weidenkorb auf dem Rücken vor der 'Orakelhalle' auftauchte. Die betagte, buckelige, gebrechliche Frau war eine einfache Bäuerin und verkaufte, was ihre bescheidenen Felder ihr bescherten. Aber Lieferservice war neu. „Es ist Dienstag. Ich will meinen kleinen Verkaufsstand heute eher schließen, ich kann nicht auf dich warten. Aber du musst essen, Kind. Daher dachte ich, ich bringe dir noch etwas vorbei, bevor ich für heute Schluss mache.“ „Meine Güte, das ist zu freundlich“, bemerkte Natsuo hingerissen. Die Öffnungszeiten ihres Tempels erlaubten es ihr für gewöhnlich nicht, Lebensmittel einkaufen zu gehen, bevor die Stände von den Straßen verschwanden. Daher ließ Mütterchen Tanaka ihren Stand dienstags gern immer extra lange geöffnet, bis Natsuo angehechtet kam und schnell noch etwas kaufte. „Und außerdem will ich auch gleich noch beten, wenn ich schonmal hier bin“, fügte die Alte an und zeigte ein fast zahnloses Grinsen. Natsuo nahm ihr den Korb ab und begann den Inhalt auszuleeren. „Wofür könntet ihr denn zur Göttin der Künste beten wollen?“, wollte sie amüsiert wissen. Dieser Tempel hier war einer lokalen Gottheit, Zaku, der Göttin der Kunst, geweiht, die sich über die Grenzen des Dorfes hinaus kaum einen Namen gemacht hatte. „Für meinen Jüngsten“, erklärte Mütterchen Tanaka. „Will er sich etwa immer noch einer fahrenden Theater-Truppe anschließen?“ „Ja, will er.“ „Zaku wird ihn sicherlich beschützen“, lächelte die junge Priesterin, die selbst kaum alt genug war, um eigene Söhne zu haben. „Das soll sie aber nicht!“, maulte Mütterchen Tanaka griesgrämig. „Ich bin hier, um Zaku um ihre Missgunst anzuflehen. Theater-Leute haben kein sicheres Auskommen. Und sie kümmern sich nicht um ihre armen, alten Eltern daheim. Sie sind Vagabunden und oftmals zum Betteln, Hausieren und gar Rauben gezwungen, um nicht zu verhungern. Das ist kein erstrebenswertes Leben. Zaku soll ihm diese Flausen austreiben.“ Natsuo seufzte. So konnte man das natürlich auch sehen. Erstaunlich viele besorgte Mütter kam mit ähnlichen Anliegen in diesen Tempel. Nur wenige gönnten ihren Sprösslingen ein müßiges Leben als Künstler. Die grauhaarige Alte stapfte zur Orakelhalle, um sich ihrem Gebet zu widmen. Natsuo wollte sich derweile aufmachen, um etwas Geld aus der Tempelkasse zu holen, damit sie dem Mütterchen die mitgebrachten Lebensmittel bezahlen konnte. Aber die Alte rief ihr aufhaltend nach. „Natsuo, komm doch mit! Du musst mir den Reis und das Gemüse nicht bezahlen. Deute mir stattdessen lieber die Zeichen, ob Zaku meiner Bitte nachkommen wird!“ „Herrje ...“, seufzte die Priesterin unglücklich und trottete hinterdrein. Das mit dem 'Deuten der Zeichen' war nicht so einfach, wie die Leute sich das gemeinhin vorstellten. Die Gottheit Zaku stand ja nicht 24 Stunden am Tag zur Verfügung, um in der Orakelhalle zu sitzen und über die Befindlichkeiten ihrer Anhänger Gericht zu halten. Man konnte beten – und Zaku durchaus auch Fragen stellen –, aber die Antwort ließ oft lange auf sich warten. Natsuo hatte sich schon lange auf die Taktik verlegt, zu behaupten, die Zeichen seien wage und Zaku habe sich noch nicht entschieden, und versprach, an der Sache dran zu bleiben. Eindeutige Aussagen ad hoc machte sie nur selten. Als Priesterin hatte Natsuo nicht unbedingt ein leichtes Los gezogen. Die Mehrheit der Japaner gingen nur noch um der Tradition Willen in die Tempel, um gewohnheitsmäßig zu irgendwelchen Göttern zu beten, an die sie schon lange nicht mehr wirklich glaubten. Und in der Tat, sie hatten auch keinen Grund mehr dazu. Die allermeisten Götter hatten sich von den Menschen abgewandt, hatten schon vor Jahrhunderten ihre Tempel verlassen und scherten sich nicht mehr um das, was die Welt ihnen zu sagen oder von ihnen zu erbitten hatte. Die Menschen brauchten die Götter nicht mehr. Sie waren erwachsen geworden und hatten sich von den Göttern abgenabelt wie Kinder, die ihr Elternhaus verließen, um auf eigenen Beinen zu stehen. Und die Götter hatten es hingenommen und mit dem Aufgeben ihrer Pflichten darauf reagiert. Zaku war eine der wirklich, wirklich wenigen Götter, die noch in ihren Tempeln gegenwärtig waren und mit ihren Orakeln und Priestern in Kontakt standen. Natsuo, selbst eine gute Shamisen-Spielerin, hatte sich zunächst gefreut, Priesterin einer wahrhaftigen Gottheit sein zu dürfen, die auch noch ihren Hang zur Musik unterstützte. Sehr bald hatte sie aber eingesehen, daß schweigsame Tempel, weiße Kleider und ein Leben ohne eigene Familie nicht ganz das waren, was sich ein Musiker unter dem Himmel auf Erden vorstellte. Sie warf sich bisweilen in zivile Kleider und ging auf Konzerte, probte regelmäßig mit ihrer eigenen Kapelle und hatte durchaus Freunde und ein Leben außerhalb der Orakelhalle. Aber das war eben nur eine zeitweilige Flucht aus dem einsamen Tempelleben in grün und weiß. Ob sie wollte oder nicht, sie musste immer wieder hier her zurückkehren und sich gewissenhaft und ernsthaft um die Besucher kümmern, die jeden Tag in Zakus Tempel kamen, um zu beten. Und man durfte staunen, wieviele Möchtegern-Musiker und -Schauspieler herkamen, um den Segen der Göttin der Künste zu erbitten. Und wieviele besorgte Mütter herkamen, um das genaue Gegenteil zu erflehen, weil ihre Kinder eine unsichere Karriere in irgendwelchen Vagabunden-Horden anzugehen drohten, von der sie sie lieber fernhalten wollten. Es gab nur denkbar wenige feste Theater in großen Städten, wo man gegen Bezahlung angestellt wurde, um auf der Bühne zu stehen. Und nur wenige hohe Würdenträger, die sich zum privaten Vergnügen eigene Haus-Kapellen leisteten, die zumeist aus ihren Kammerdienern bestanden. Am nächsten Spätnachmittag fegte Natsuo mäßig gelaunt die Treppe und den Schotterhof vor ihrem Tempel mit einem Besen aus gebundenen Zweigen. Es war Herbst und es fiel eine Menge Laub. Natsuo mochte zwar die bunten Farben der Blätter, doch dreimal am Tag kehren zu müssen, nervte sie dann doch. Sie hatte ja schließlich noch anderes zu tun. Aber ihre alte Tempeldienerin schaffte das eben nicht allein. Die war gerade mit einem Eimer Wasser zu Gange und putzte die hellen Steinstufen. Natsuo dachte eben daran, daß es langsam Zeit wäre, die Tore zu schließen und den Tempel für heute abzusperren, als draußen eine größere Prozession bunt gekleideter Männer lachend und lärmend daher kam. Wie ein Schwarm Heuschrecken fielen sie in die Tempelanlage ein. Sie warfen ihren großen Haufen Gepäck mitten in den Hof. Drei von ihnen rupften Blumen aus einem Beet und steckten sie sich als Schmuck in die Haare und Gürtel. Mehrere trampelten mit ihren schlammigen Schuhen die eben gewischte Treppe zur Orakelhalle hinauf und machten damit die mühsame Arbeit der alten Tempeldienerin wieder zunichte. Andere stürzten sich auf den Koi-Teich, um sich darin zu waschen, obwohl es tatsächlich ein steinernes Waschbecken für die rituelle Reinigung gab. Alles in allem mussten es um die 13 oder 14 Leute sein. Einer mit weißer, langnäsiger Holzmaske blieb vor Natsuo stehen. „Sind wir hier richtig, im Tempel der Kunst-Göttin? Der Tempel hat doch noch geöffnet, oder?“ „Oh, ihr ungehobelten ... !“, ereiferte sich Natsuo entrüstet und musste aufpassen, nicht mangels passender Worte ihren Besen zu gebrauchen, um ihrer Empörung Ausdruck zu verleihen. Was bildeten die sich ein? „Bist du die Priesterin hier? Komm, bete für uns, Mädchen!“, lachte der Mann und zog sich die hölzerne Maske vom Gesicht, um etwas höflicher zu erscheinen. Er war noch recht jung und sogar auffallend hübsch, was von seinem fröhlichen Schmunzeln noch betont wurde. Er hatte reine Haut, fein geschwungene Gesichtszüge, große, sanfte Augen, volle Lippen und lange, offene Haare. Natsuo atmete tief durch, um ihren Ärger wieder in den Griff zu kriegen, und hielt sich an ihrem Besenstiel fest. „Tut mir leid, wir wollten sicher keine Umstände machen. Wir sind gerade erst in diesem Dorf angekommen und leider etwas spät dran. Wir dachten, wir würden das Dorf eher erreichen. Dann wären wir natürlich auch eher in den Tempel gekommen.“ „Seid ihr Theater-Leute?“, hakte Natsuo nach. Die bunten Kleider und die Masken dieser Kerle waren da ebenso selbstredend wie ihre unverschämte Art. „Ja. Wir wollen heute Abend noch hier auftreten. Und das natürlich nicht ohne den Segen von Zaku. Wenn wir schonmal in die Gegend der Gottheit der Kunst kommen, sollten wir ihr auch Achtung zollen. Immerhin ist sie unser Schutzpatron“, lächelte er. „Ihr beweist hier gerade das komplette Gegenteil von Achtung“, gab Natsuo säuerlich zurück und deutete auf einen der Kerle, der sich den Inhalt einer Keramik-Flasche gönnte, wie sie ausschließlich für Sake gebraucht wurden. „Horibe, lass das! Du bist hier in einem Gotteshaus!“, ging der Sprecher sofort selbst fassungslos dazwischen und ließ Natsuo einfach stehen. „Oh Mann ...“, seufzte Natsuo unmotiviert und machte sich auf den Weg in die Orakelhalle, um das Treiben der Truppe zu überwachen. Jetzt wusste sie auch, warum Mütterchen Tanaka gestern hier gewesen war und um Zakus Missgunst für ihren jüngsten Sohn gebetet hatte. Die Alte hatte gewusst, daß eine fahrende Theater-Gruppe hier aufschlagen würde. Sicher würde ihr Sohn noch heute bei denen vorstellig werden, um sich zu bewerben. Zaku spazierte mit einem fröhlichen Lächeln durch ihre Tempelanlage. Der Komplex bestand im Wesentlichen aus einem weiträumigen Park mit einem großen, grünen Teich in der Mitte und geräumigen Rasenflächen, die hier und da von Pfaden aus weißen Steinplatten durchzogen waren. An den weißen Wegen standen viele uralte Trauerweiden, deren lange Girlanden bis auf den Boden herabhingen und sanft im Wind wiegten. Es war ein sonniger Tag, die warmgoldene Sonne war noch nicht ganz untergegangen, und nur ein wenig Vogelgezwitscher unterbrach die Stille. Diese Mischung aus Weiß und Grün dominierte im Sommer alles hier. Es ließen sich kaum andere Farben finden. Nur im Herbst wurde es kurzzeitig etwas bunter. Folgte man den Wegen, erreichte man hinter dem Teich ein verziertes Holzgebäude mit Pagodendächern, gleichfalls überwiegend weiß gestrichen, was für japanische Tempel untypisch war. Ihre Orakelhalle. Da drin lebte und wirkte ihre Priesterin Natsuo, ein junges, sanftes Ding, das auch ohne Schminke ganz reizend und natürlich aussah. Am Rande, etwas versteckt, stand noch ein kleiner Bretterschuppen, in dem eine Tempeldienerin wohnte, die die Orakelhalle, den Park, den Teich und die Wege Tag ein Tag aus makellos hielt. Diese beiden, Natsuo und sehr viel seltener auch die Tempeldienerin, waren die einzigen, die Zaku jemals als das gesehen hatten, was sie wirklich war: eine Gottheit. Zaku war die Göttin der Kunst, vor allen Dingen der Musik. Zaku hatte, wenn sie sich als das zeigte, was sie wirklich war, hüftlange, wilde stachelnde, rubinrote Haare und ebensolche Augen – im Gegensatz zu sterblichen Japanern. Dann strahlte sie Autorität und Macht aus und war von einem seltsamen Lichtschein umgeben. Aber Zaku mischte sich auch ganz gern mal unter das Volk, vor allen Dingen um Auftritte von Musikkapellen zu sehen oder einfach nur auf dem Markt allen möglichen Schnickschnack einzukaufen. Dann konnte man sie nicht mehr von jedem anderen, gewöhnlichen Tempelmädchen unterscheiden. Keiner wusste, wo Zaku für gewöhnlich wohnte, woher sie das Geld für ihre Einkaufstouren nahm, oder wo sie all die Sachen hortete, die sie sich während selbiger zulegte. In ihrem Tempel jedenfalls nicht, denn dort ließ sie sich nur dann und wann sehen, um zu schauen, ob noch alles seine Ordnung hatte. Ob die Dienerin die Anlage zu ihrer Zufriedenheit in Schuss hielt, ob Natsuo artig das vorgeschriebene, weiße Gewand trug, denn Zaku liebte Weiß, oder ob es irgendwas Neues zu berichten gab. Zaku entging nicht, daß die alte Tempeldienern Chirobi zu so später Stunde noch mit dem Wischen der Treppen beschäftigt war, ließ sie aber nach einem grüßenden Lächeln links liegen und suchte weiter. Sie fand ihre Priesterin hinter der Orakelhalle auf einer abgeschiedenen Parkbank, wo sie eine melancholische Melodie auf einem dreisaitigen Shamisen zupfte. Natsuo sah auf, als ihr die lichtumhüllte Erscheinung aus dem Augenwinkel auffiel, und unterbrach ihr Musikstück. „Zaku, du auch mal wieder hier?“, grüßte sie die Göttin ungezwungen lächelnd. Als Priesterin konnte sie es sich leisten, so vertraute Töne mit einer Gottheit anzustimmen. In der Tat war das Verhältnis zwischen ihnen ein so freundschaftliches, daß sie sogar gemeinsam irgendwelche Dinge unternahmen. Nicht wenige Konzerte besuchten sie zusammen. „Was heißt denn hier 'auch mal wieder'?“, wollte Zaku wissen. Und wie immer hallte ihre Stimme dabei ein wenig nach wie ein Glockenschlag. „Es ist ganze drei Woche her, daß du dich hast sehen lassen.“ „Na immerhin. Andere Götter lassen sich jahrhundertelang nicht blicken. Habe ich denn was verpasst?“ „Nein, nicht wirklich. Es war dieser Tage sehr ruhig hier.“ Zaku nickte und setzte sich neben sie. „Du bist aufgebracht“, bemerkte sie, womit sie Natsuos Behauptung, es sei alles ruhig gewesen, negierte. „Hm.“ Die Priesterin legte ihr Shamisen beiseite. „Heute ist eine Gruppe fahrender Gaukler hier gewesen, noch kurz vor Torschluss. Ich war nur ein bisschen erschüttert von ihren schlechten Manieren, das ist alles.“ „Ach, es sind heimatlose Wandergesellen. Sieh es ihnen nach.“ „Sie haben im Tempel wesentlich mehr Räucherwerk abgebrannt als sie bezahlt haben!“ Zaku lachte. „Sei doch froh, wenn sie überhaupt was bezahlt haben. Das sind bettelarme Hunde, weißt du? Sie haben nichts.“ Natsuo verschränkte mit einem beleidigten 'hampf' die Arme. Die Gottheit legte ihr versöhnlich einen Arm um die Schultern und drückte sie spielerisch an sich. „Lass uns heute Abend ins Dorf gehen und uns ihre Vorstellung ansehen. Ich bin wirklich gespannt auf sie.“ „Mütterchen Tanaka war wieder hier“, wechselte Natsuo das Thema. „Ja?“ „Sie bittet immer nachdrücklicher darum, daß du ihren Jüngsten davon abhältst, sich der Gruppe anzuschließen.“ „Warum? Der Junge hat Talent. Er würde da gut hinpassen.“ „Mütterchen Tanaka wird böse auf dich sein!“, versuchte Natsuo es ihr auszureden. „Na und? Ich bin eine Gottheit!“, lachte Zaku. „Soll sie doch böse auf mich sein. Was soll sie mir mit ihrem Groll anhaben?“ „Aber sie war immer so gut zu mir! Ohne sie wäre ich verhungert, wenn sie nicht jeden Dienstag ihren Stand länger für mich geöffnet gelassen hätte.“ Eigentlich erstaunlich, daß sie es sich als Priesterin herausnehmen konnte, die Entscheidungen einer Göttin in Frage zu stellen. In der Tat war ihre Freundschaft außergewöhnlich tief, das merkte Natsuo in solchen Situationen immer wieder. Zaku seufzte leise. „Lass uns gehen und die Vorstellung anschauen. Dann werden wir ja sehen, ob die Zuwachs brauchen oder nicht.“ Es war bereits dunkel, als Zaku und Natsuo auf dem großen Platz in der Mitte des Dorfes ankamen. Natsuo war immer etwas befremdet, wenn sie mit der rothaarigen und rotäugigen Göttin unterwegs war, von der niemand Notiz nahm. Sicher verbarg Zaku ihr Aussehen vor den gewöhnlichen Dorfbewohnern. Nur Natsuo selbst konnte sehen, wer sie wirklich war. Bei Nacht hatte das Bauerndorf etwas unglaublich Romantisches an sich. Überall waren Lagerfeuer entfacht worden, die die strohbedeckten Hütten in ein magisches Glühen tauchten. Mitten auf dem Platz hatte man eine provisorische Bühne errichtet und dahinter Stoffbahnen als blickdichte Kulisse und Hintergrund aufgehangen. Das gesamte Dorf musste hier versammelt sein. Jedes Kind und jeder Greis, alles was Beine hatte, war hier zusammengekommen. Ein alter Mann, der es sich bereits in der ersten Reihe mitten vor der Bühne auf dem besten Platz bequem gemacht hatte, sprang diensteifrig hoch, als er Natsuo und ihre Begleiterin sah. „Nehmt doch hier Platz, ihr beiden!“, bat er. Sein Tonfall klang, als würde er durchaus ahnen, wer die Mädchen wirklich waren, auch wenn er sicherlich einfach nur Respekt vor einer Priesterin hatte. „Ich bitte euch, Väterchen. Es ist genug Platz für alle. Setzt euch wieder“, gab Zaku nur zurück und nahm mit einem Außenplatz Vorlieb. Zu längeren Diskussionen um die Platzwahl kam es nicht mehr, denn da wurden auch schon die meisten Feuer um die Bühne abgedunkelt und Musik setzte ein. Die Vorstellung begann. Es wurde still im Publikum. „Das ist Ryuka, der Kopf der Theater-Truppe“, raunte Natsuo der Göttin leise zu, als zuerst ein Mann mit weißer, langnäsiger Holzmaske erschien, um das Publikum zu begrüßen. Mit dem Kerlchen hatte sie ja heute Nachmittag im Tempel bereits das Vergnügen gehabt. Zaku musterte ihre Priesterin schmunzelnd. „Er gefällt dir!“ Natsuo wurde schlagartig knallrot. „N-Nein, tut er nicht! Er ist ein grober Klotz ohne jede Manier!“ „Im Gegenteil, er ist ein ganz feiner und tadelloser Mensch. Und ein großartiger Schauspieler“, beharrte die Göttin leise und bedeutete Natsuo mit einem Fingerzeig Richtung Bühne, daß sie die Vorstellung weiter verfolgen sollte. Mit einem unterschwelligen Grummeln konzentrierte sich die junge Priesterin wieder auf das, was vorn passierte. Sie hasste es, von Zaku immer so anstandslos durchschaut zu werden. Aber dafür war sie halt eine Gottheit. In irgendwelchen Dingen musste sie den Sterblichen ja überlegen sein. Angeregt fummelten ihre Finger an dem Tuch herum, in dem sie Äpfel und etwas Fisch eingeschlagen hatte. Die Sitte gebot es, den fahrenden Künstlern im Gegenzug für ihren unterhaltsamen Auftritt etwas zu essen zu bringen, denn von irgendetwas mussten die ja auch leben. Selbst wenn jeder Dorfbewohner nur einen lächerlich kleinen Beitrag leistete, der ihm nicht weh tat, kam alles in allem doch genug zusammen, um die ganze Theater-Truppe satt zu bekommen und ihnen noch etwas Proviant für den Weg zu garantieren, bis sie im nächsten Dorf ankamen. Die Musik wechselte und ein weiterer Schauspieler kam auf die Bühne, um sich mit Ryuka in einem durchchoreographierten Schaukampf zu messen. Er trug die Maske des alten Mannes Sanko-jo. Ein weiser Mensch gegen einen Tengu. Man konnte sich ausmalen, wie das enden würde. Natsuo wusste, daß die Männer im No-Theater eigentlich nur Masken trugen, wenn sie Frauen, Götter oder Ungeheuer spielten. Für männliche Charaktere trugen sie keine Masken. Nur, wenn sie wirklich betont und ausdrücklich einem bestimmten Stereotyp gerecht werden mussten. Die Manöver sahen teilweise echt schwer und akrobatisch aus. Ryuka und sein Partner warfen und wirbelten sich gegenseitig meterweit, mitunter sogar in Saltos, durch die Luft oder balancierten in schwierigen Hebefiguren aufeinander herum. Unwillkürlich hielt Natsuo den Atem an, in Erwartung des Ausgangs des Kampfes. Sie hoffte, Ryuka würde nicht verlieren ... Einige Stunden später, inzwischen konnte man schon fast von 'Nacht' sprechen, stieß Natsuo mürrisch die Türen ihrer Orakelhalle auf. Sie würde heute Nacht also Gäste haben. Zaku hatte die ganze Theater-Truppe eingeladen, in ihrem Tempel zu übernachten. Da die herbstlichen Nächste zunehmend kalt, nass und ungemütlich wurden, hatte die Göttin der Kunst ihre neuen Günstlinge nicht unter freiem Himmel und in Zelten schlafen lassen wollen. Sie sollten ein festes, beheiztes Dach über dem Kopf haben. Natsuo hatte es der Göttin nicht wieder ausreden können und hatte den Pulk lauter, feiernder, unzivilisierter Kerle mitnehmen müssen. Und feiern taten sie durchaus. Einer der Bauern, der heimlich hobbymäßig Sake braute, hatte eine ganze Menge Alkohol für sie springen lassen, der von den Darstellern auch gern und umgehend wieder vernichtet wurde. Ryuka stand mit verschränkten Armen am Rand und überschaute seine Bande von Mitstreitern, ob alle da waren, ob pfleglich mit dem Gepäck umgegangen wurde und sich im Tempel keiner ungebührlich aufführte. Dann musste er amüsiert lächeln, als er auf Natsuo neben sich schaute. Die einen halben Kopf kleinere Priesterin beaufsichtigte den Trubel, der in ihrem sonst so ruhigen Tempel Einzug hielt, sichtlich unzufrieden. „Es ist nett von dir, daß du uns Unterkunft gewährst“, meinte Ryuka und versuchte dabei, ein Lachen zu unterdrücken. „Mh. An mir lag diese Entscheidung nicht“, meinte sie nur. „Es tut mir leid, wenn wir dir Umstände machen. Ich weiß, daß wir fahrenden Schauspieler manchmal ein bisschen laut und ungezügelt sind.“ „Ist schon okay ...“ „Wo ist denn deine Freundin hin, die uns eingeladen hat?“, hakte der Kopf der Schar interessiert nach und schaute sich suchend um. Er hatte gar nicht bemerkt, wie das andere Mädchen sich von der Gruppe getrennt hatte und verschwunden war. „Sie wird uns heute Nacht keine Gesellschaft leisten“, erklärte Natsuo. Zaku war noch nie über Nacht in ihrer Orakelhalle geblieben. „Sie wohnt wohl draußen in dem Bretterschuppen, den wir am Teich gesehen haben?“ „Nein, sie lebt gar nicht hier im Tempel. Im Schuppen findet ihr nur meine alte Dienerin Chirobi. Und ich wäre euch verbunden, wenn ihr Chirobi nicht belästigen würdet“, stellte Natsuo schnippischer als nötig klar und wandte sich dann ab, um zu gehen. Sie wollte nicht erklären müssen, warum sie Zaku weder beim Namen nennen, noch sagen konnte, wo die nun eigentlich wohnte. Sie konnte den Theater-Leuten ja schwerlich sagen, daß ihre Begleitung während der Vorstellung im Dorf wahrhaftig die Göttin der Kunst gewesen war. Wenn man ihr das überhaupt geglaubt hätte, wäre sie der darauf folgenden Belagerung nicht mehr Herr geworden. Das Prinzip der Götter war es, sich tot zu stellen und sich niemals als das zu offenbaren, was sie wirklich waren. Niemals sichtbar tätig zu werden, sondern immer nur aus den Schatten des Hintergrundes die Fäden zu ziehen. All ihre Macht und ihren Einfluss auf die Menschen schöpften sie aus Mythen und Legenden. Wäre irgendwo in Japan ein handfester Beweis für die Existenz einer echten Gottheit aufgetaucht, hätte das die Welt aus den Angeln gehoben. Die unterschiedlichsten Leute mit den unterschiedlichsten Absichten wären aktiv geworden, sowohl für als auch gegen Zaku. Kriege wären vom Zaun gebrochen worden, im Namen einer Göttin, die sich für die Gründe nichtmal interessierte. Wohlmöglich sogar Überfälle der Gläubigen auf die Ungläubigen, denen man jetzt nachweisen konnte, daß sie um Unrecht waren. Kranke hätten sich Hoffnung auf Heilung gemacht, Witwen und Waisen Hoffnung auf den Zurückerhalt ihrer Verstorbenen, Bauern hätten künftig jede Missernte Zaku zugeschrieben, denn sie war ja schließlich eine Göttin. Kaiser wären mit Armeen angerückt, um Zaku für ihre Machtinteressen zu gewinnen oder sie in den Kerker zu werfen, wo sie nicht mehr ins Wohl und Wehe der Welt eingreifen konnte. Manch einer hätte vielleicht sogar versucht, Zaku zu töten, nur um zu beweisen, daß die Gottheiten der alten Zeit nicht allmächtig waren und nichts gegen die Kraft der Menschen ausrichten konnten. Natsuo war sehr wohl bewusst, was die Offenbarung einer Gottheit nach sich gezogen hätte. Pures Chaos im ganzen Land. Und Erwartungen und Forderungen, denen eine Gottheit in Art und Menge nicht gerecht werden konnte. Denn Götter konnten nicht überall gleichzeitig sein und waren ganz sicher nicht unfehlbar. Und die Menschen waren unsagbar dumm und egoistisch. - Aber das alles wollte Natsuo nicht mit dem Kopf einer Vagabunden-Horde ausdiskutieren. Eine halbe Stunde später klopfte es höflich an der Schiebetür zu Natsuos privatem Wohnraum. Sie hatte gerade begonnen, ihren Futon auszubreiten und sich für die Nacht einzurichten, da es in der Orakelhalle schon merklich stiller geworden war. Die Theater-Leute waren also ebenfalls so langsam zur Ruhe gekommen. Die dünnen Papierwände hier ließen ja ungehindert jeden Lärm durch. „Wer da?“, rief Natsuo in Reaktion auf das Klopfen. „Ich bin es. Ryuka.“ Die Priesterin rollte mit den Augen. Auch das noch. Aber das Gebot der Gastfreundlichkeit untersagte es ihr leider, ihn abzuweisen. „Ja, komm ruhig rein.“ Mit einem schleifenden Geräusch wurde die Schiebetür aufgezogen und dahinter kniete der hübsche, langhaarige Mann neben einem Tablett mit zwei Keramik-Schüsselchen und einer Kanne. „Hallo. Wir haben unsere Vorbereitungen für die Nacht abgeschlossen. Ich dachte, du trinkst vielleicht zum Dank für die Unterkunft noch einen Tee mit mir, bevor wir uns alle schlafen legen.“ Natsuo zog ein ziemlich dummes Gesicht. „Der Tee ist wirklich gut. Ein Kaufmann aus Edo hat ihn mir geschenkt, als wir dort aufgetreten sind“, fügte Ryuka an, da er nicht wusste, wie er diesen Gesichtsausdruck deuten durfte. „Darum geht es nicht. Ich habe mich bloß gerade gefragt, wo ihr in meiner Orakelhalle Feuer hergenommen habt, um Wasser zu kochen.“ „Jaaaaa~“, machte Ryuka gedehnt, unschlüssig, wie er ihr das plausibel erklären sollte. „Ihr habt doch hoffentlich kein Lagerfeuer im Tempel gemacht!?“ „Das ... also ... Doch, haben wir“, lächelte der junge Mann verlegen. Natsuo atmete tief durch. „Zaku soll euch verfluchen“, erwiderte sie scherzhaft und winkte ihm dann, mit dem Tablett endlich herein zu kommen und eines der Schälchen rüber zu reichen. Sie räumte den niederen Tisch wieder in die Mitte des Zimmers, den sie eigentlich schon zur Seite geschoben hatte, um Platz für ihren Futon zu haben. „Das Feuer ist schon wieder gelöscht worden. Wir brennen deinen Tempel nicht nieder, keine Sorge.“ Der Schauspieler setzte sich ihr gegenüber. Ganz ungezwungen und locker, aber doch darauf bedacht, den gebührenden Abstand zu wahren und ihr nicht unsittlich zu nahe zu kommen. Er wollte ihr kein falsches Bild von seinen Absichten vermitteln. So einer war er nicht. „Ich beneide dich ein bisschen. Du bist ständig auf Reisen und hast die Freiheit, zu gehen wo immer du hin willst. Ich bin hier in diesen Tempel eingesperrt und schaffe es kaum, noch Lebensmittel einzukaufen, bevor die Stände abends schließen. Erzähl mir: wie lebt es sich als fahrender Künstler? Und wie bist du dazu gekommen?“, hob Natsuo interessiert ein Gespräch an und schloss beide Hände um ihren Tee, um sich daran zu wärmen. Weit kam Ryuka aber mit seinen Geschichten nicht, denn nach einer Weile wurden im Tempel Lärm, Gepolter und das Krachen von Holz laut, als würde jemand die Orakelhalle niederreißen. Männer schrien durcheinander. Erschrocken sprang Natsuo von ihrem Sitzplatz hoch und hechtete zum Fenster, um hinaus zu schauen. Draußen am Teich sah sie die Bretterbude ihrer Dienerin Chirobi in Flammen stehen. Unten vor dem Tempel rannten Männer herum, nicht nur Theater-Leute, aber einige von ihnen bewaffnet. Kämpfe waren ausgebrochen, wo sich Schausteller mit Bühnenrequisiten gegen Äxte und Schwerter zur Wehr zu setzen versuchten. Jemand warf johlend eine brennende Fackel aufs Pagodendach des Tempels ... Kapitel 2: Wander-Truppe ------------------------ Fassungslos stieg Zaku am nächsten Morgen in den Trümmern ihres Tempels herum und sah sich an, was davon noch übrig war. Überall bot sich ein Bild beispielloser Verwüstung und des Elends. Der Tempel war in der Nacht von einer Räuberbande überfallen worden. Sie hatte das schon vorher gewusst und die 14-köpfige Theater-Truppe nicht grundlos über Nacht hier einquartiert. Ihr selbst waren die Hände gebunden. Zaku hatte ihren Tempel nicht eigenhändig verteidigen dürfen. Zu kämpfen stand ihr nicht an. Ihr Aufgabenfeld war ein anderes. Aber offensichtlich hatte es auch das gute Dutzend Männer nicht geschafft, ihren Tempel gegen die Banditen zu verteidigen. Die Orakelhalle war zur Hälfte abgebrannt, ebenso das Häuschen der alten Dienerin Chirobi. In der Asche lagen drei totgeschlagene Schauspieler. Die, die sich hatten retten können, waren in alle Himmelsrichtungen geflohen. Die Bühnenrequisiten lagen zerstört und verstreut über dem halben Gelände oder schwammen im Teich. Hier und da wehten zerfetzte Stoffbahnen im Wind. Zerbrochene Zeltstangen waren wie Pfähle durch die Papierwände gerammt worden. Was nicht niet- und nagelfest war, war geplündert worden, allen voran natürlich das Tempelgold, Räucherwerk und die Gebetskerzen, aber auch die Habseligkeiten der Theater-Leute. Zaku bereute es, diese armen Männer da mit reingezogen zu haben, die eigentlich unter ihrem Schutz hätten stehen sollen. Was ihr aber am bittersten zu schaffen machte, war die Tatsache, daß ihre Priesterin Natsuo geschändet und getötet worden war. Tot! Ihre Freundin, ihr Orakel Natsuo war tot! Es dauerte eine ganze Weile, bis die Gottheit sich das so richtig zu Bewusstsein geführt hatte. Was hatte das arme, sanfte, immerfröhliche Ding denn verbrochen, um das zu verdienen? Einen Tempel zu entweihen und auszurauben, okay, das war schon dreist genug. Aber wie brachte man es fertig, eine Priesterin zu ermorden? Neben Ryuka blieb sie stehen, der mit einigen blutigen Striemen und einer Platzwunde auf der Stirn auf den Steinstufen vor der Orakelhalle lag, eine Holzkeule noch in der Hand. Er hatte versucht, die Eindringlinge zurück zu schlagen und war dabei wohl bewusstlos geprügelt worden. Jedenfalls lebte und atmete er noch. Einen Moment schaute Zaku auf ihn herab, dann bückte sie sich herunter und berührte ihn an der Schulter. „Ryuka, wach auf“, forderte sie. Als er nicht gleich reagierte, schüttelte sie ihn. Mit einem Stöhnen kam der junge Mann endlich wieder zu sich und griff sich an den schmerzenden Kopf. Er setzte sich vorsichtig auf. „Ryuka, was ist hier geschehen?“ Er hatte einen Moment damit zu kämpfen, die Augen auf zu bekommen. Dann sah er sie nachdenklich an, als müsse er selber erstmal überlegen, wer er war und was hier vor sich ging. Plötzlich blitzte sichtlich eine Erinnerung in seinem Kopf auf. „Natsuo!“ „Sie ist tot.“ „Was!?“ „Sie ist tot, Ryuka. Sag mir, wer das gewesen ist!“ „Wart' mal, woher kennst du meinen Namen?“ „Bei allen Göttern, es ist also wahr!“, rief jemand aus dem Hintergrund. Einige Bauern aus dem Dorf waren erschienen, um sich zu vergewissern, was hier passiert war. Die Nachricht, daß der Tempel ihrer lokalen Schutzgöttin zerstört worden war, hatte sich im Dorf bereits herumgesprochen wie ein Lauffeuer, auch wenn den eigentlichen Brand in der Nacht niemand mitbekommen hatte, da der Tempel zu weit außerhalb lag. Sonst wären die Dorfbewohner sicher eher zu Hilfe geeilt. Zaku schaute in die polierte Bronze-Platte, die ihr als Spiegel diente, und trug rote Farbe auf ihre Lippen auf. Als letztes Highlight für ihr neues Aussehen. Sie hatte sich aus dem zerstörten und verteilten Ramsch der Theater-Leute einen blaugrünen Kimono gekrallt, und weiße Gesichtsfarbe. Die Haare hatte sie zu einer Kürbis-Frisur hochgesteckt. Nun sah sie aus wie eine Geisha. In dieser Gestalt gedachte sie fortan durch die Welt zu ziehen. Sie hatte Pläne. „Du siehst aus, wie eine billige Nutte“, kommentierte Ryuka hinter ihr mit träger, lallender Aussprache. Er hatte sich das Blut abgewaschen und sah nun wieder einigermaßen gut aus. Irgendwo in dem Chaos hatte er noch ein paar Keramik-Fläschchen mit Sake ausgegraben, die er jetzt eine nach der anderen leerte. „Hör auf, dich zu betrinken! Davon wird es auch nicht besser!“, nörgelte Zaku ihn voll. „Und du glaubst, dein Aufputz macht irgendwas besser, Mädchen?“, gab er nur zurück und deutete vage auf ihr weiß bemaltes Gesicht. Sie hatte sich ihm gegenüber noch nicht als Gottheit zu erkennen gegeben. Noch hielt Ryuka sie für eine Maiko, ein gewöhnliches Tempelmädchen. „Chirobi, wir verlassen jetzt diesen Tempel“, wandte sich Zaku an die alte Dienerin, die aus heiterem Himmel wieder aufgetaucht war und von dem nächtlichen Überfall und dem Abbrennen ihres Bretterschuppens keinerlei Verletzungen davongetragen zu haben schien. Wer weiß, wo sie sich all die Zeit verborgen gehalten hatte, um der Räuberbande zu entgehen. „Nimm jetzt wieder deine wahre Gestalt an“, trug Zaku ihr auf. Die Alte nickte nur und wurde augenblicklich zu einem Pandabären. „Heiliger ...!“, fluchte Ryuka schockiert, als er das sah, und warf seine Sake-Flasche in hohem Bogen davon, als wäre der Alkohol daran Schuld, daß er langsam den Verstand verlor. „Sie ist ein Tiergeist!?“, jappste er fassungslos. „Sie ist harmloser als sie aussieht“, versicherte Zaku ihm. Auch als Panda war Chirobi unübersehbar alt. Eines ihrer Augen war eingetrübt und blind, sie hatte kaum noch Zähne, ihr Fell war schütter und sie schleppte sich mit schweren, trägen Schritten dahin. Die Narbe quer über dem Unterarm, die von vergangenen Kämpfen zeugte, blieb auch auf der Pfote ihrer Tiergestalt sichtbar zurück. Zaku und der Panda-Tiergeist marschierten zielstrebig los und ließen die Tempelruine hinter sich. Sie hielt jetzt nichts mehr hier. Und wenn man einst über diesen Landstrich sagen würde 'Unsere Göttin hat uns verlassen.', so war ihr das auch egal. „Äh ... he, warte doch mal!“, rief Ryuka ihr nach und hechtete hinterher. „Wo willst du jetzt hin, Kind? Wo willst du ... Ich meine, wo willst du mit einem Tiergeist hin?“ „Ich gehe die suchen, die das hier getan haben. Ich werde diese Mörder jagen, bis der Gerechtigkeit Genüge getan ist. Ich werde Natsuos Tod rächen. Ich werde die finden, die meinen Tempel niedergebrannt und meine Priesterin geschändet haben. Das lasse ich nicht auf mir sitzen.“ „Alleine?“ „Ich habe Chirobi“, erklärte Zaku, immer weitermarschierend, ohne sich aufhalten zu lassen. Die Formulierung 'mein Tempel' und 'meine Priesterin' konnte durchaus auch aus dem Begriffsumfang einer Maiko stammen. Zaku ließ ihn in dem Glauben, daß sie nur ein Tempellehrling war. Ryuka stapfte ihr ebenso entschlossen hinterher. „Und was machst du, wenn du sie gefunden hast, Kleine? Wie willst du sie überhaupt finden?“ Zaku blieb stehen und überlegte. Diese Frage war in der Tat berechtigt. Wie sollte sie die Verbrecher wiederfinden? Als Göttin konnte und wusste sie eine Menge, aber bei weitem nicht alles. Schon gar nicht Sachen, die nicht ihrem Aufgabenfeld entsprachen. Und ihre Aufgabe war nunmal die Förderung der schönen Künste, wo das Brandschatzen beileibe nicht dazu gehörte. Der Schauspieler blieb neben ihr stehen und schaute sie wartend an. Er wollte seine Antwort sichtlich noch haben. „Also?“ „Du weißt, wer das war, oder? Du bist dabei gewesen, als das passiert ist. Kannst du mir helfen, sie zu finden?“ Ryukas Augenbrauen rutschten ein wenig nach oben. Jetzt wollte sie ihn also in die Sache mit reinziehen? Da hatte er sich ja was schönes eingebrockt. Auch wenn er nicht abstreiten konnte, daß es mit seinen eigenen Interessen konform ging. Er hatte seine gesamte Theater-Truppe verloren, und alles was sie als solche besessen hatten. Und er war als Künstler absolut nicht damit einverstanden, wenn die Priesterin seiner persönlichen Schutzgöttin einfach dahingemeuchelt wurde. Er hatte selbst den starken Drang, diese Kerle abzustrafen. Ryuka seufzte hinnehmend. „Gut, ich helfe dir. Lass uns nur eben zum Tempel zurückgehen und retten, was von meiner Theater-Ausrüstung noch zu retten ist, einverstanden?“ „Einverstanden.“ „Ich weiß, wer die Brut war. Und ich weiß auch, wo wir sie wiederfinden dürften. Sie werden die Beute und das Tempelgold unter sich aufgeteilt haben und sind dann in verschiedene Richtungen gezogen, um es zu veräußern.“ „Von wievielen reden wir?“ „Es waren drei.“ „DREI!?“, keuchte Zaku ungläubig. „Ihr wart vierzehn Männer und konntet es nicht mit DREI Halunken aufnehmen!?“ „Hey, sie waren schwer bewaffnet und sie haben uns förmlich im Schlaf überrascht! Die meisten meiner Männer waren im brennenden Tempel eingeschlossen, als es passiert ist! Wir sind nur einfache Theater-Leute, keine Kämpfer“, verteidigte er sich. Zaku blies die Backen auf und ließ die Luft dann langsam wieder entweichen. Der Panda an ihrer Seite gab ein zustimmendes Quäken von sich. Der Kampf war wirklich anders vonstatten gegangen als die Göttin sicher glaubte. Zwischen entgeistert und sauer schwieg Zaku und begnügte sich mit einem leichten Kopfschütteln. In der Tempelanlage trafen sie auf einen großen, muskelbepackten Kerl mit dichtem Bart, der sich gerade abmühte, den Holzkarren der Theater-Truppe wieder aus dem Teich zu ziehen, und damit erstaunlich erfolgreich zu sein schien. „O-Shikara, du bist zurückgekommen?“, grüßte Ryuka das Kraftpaket von einem Mann, während er im Vorbeigehen seine herumliegende weiße Holzmaske mit der langen Nase vom Boden aufklaubte. „Du lebst noch!?“, gab der Angesprochene zurück, zog akut ein Gesicht als würde er vor Freude losheulen wollen, und ließ den Holzkarren los, der klatschend zurück in den Teich rollte. „Ich fühl mich schlecht. Ich bin in dem ganzen Chaos letzte Nacht auf und davon gerannt wie ein Feigling.“ „Das war dein Glück. Von denen, die geblieben sind, hat keiner überlebt. Nicht einmal die Priesterin haben sie verschont“, meinte Ryuka nachsichtig. „Ein Mist.“ „Hast du noch andere meiner Männer gesehen? Weißt du, wo sie alle hin sind?“ O-Shikara schüttelte den Kopf und hatte jetzt wirklich Tränen in den Augen. Die ganze Sache nahm ihn furchtbar mit. Fahrig strich er sich den Bart mit einer Hand glatt. „Ich weiß von keinem. Sie sind alle weg.“ Ryuka schaute auf die Maske in seiner Hand. Es war eine Tengu-Maske. Der Tengu war auf der Bühne immer seine Paraderolle gewesen, die er am meisten geliebt und in der er sich am wohlsten gefühlt hatte. Die Tengu waren unglaublich schlaue, gerissene Viecher, bis hin zu Gedankenlesern. Damit konnte sich Ryuka gut identifizieren. Er zog eine Schnur durch die Augenlöcher der Maske und band sie sich um den Bauch, so daß die Maske seitlich auf seinem linken Hüftknochen ruhte. Wer weiß, ob er jetzt jemals wieder als Schauspieler auf einer Bühne stehen würde. Aber dieses Andenken an sein bisheriges Leben wollte er auf jeden Fall mitnehmen. Immerhin war diese Maske hier etwas besonderes. Tengu-Masken waren für gewöhnlich rot. Seine Rolle als weißer Tengu war ein Alleinstellungsmerkmal gewesen, mit dem er einigermaßen bekannt geworden war. Nur damit hatte er es schaffen können, seine eigene Theater-Truppe zu gründen, deren Kopf er war. „Was wirst du jetzt tun, Ryuka?“, wollte der Muskelprotz wissen. „Ich ziehe weiter. Das Mädchen will die Mörder finden, die diesen Tempel niedergebrannt haben. Und, bei Zaku, der Göttin der Kunst, das will ich auch!“ Erst jetzt nahm O-Shikara das Mädchen im Kimono so richtig wahr, das ein wenig entfernt in den Trümmern und dem Chaos herumwühlte, gleichfalls auf der Suche nach irgendwas, was noch zu gebrauchen war. „Eine Geisha?“ „Nein, den Kimono hat sie aus unserer Theater-Ausrüstung. Horibe wird ihn nicht mehr brauchen, er ist tot. ... Bist du mit mir, O-Shikara? Willst du mir folgen?“ Das weinerliche Gesicht des Riesen wurde wieder entschlossen. „Das werde ich! Ich bin dir immer gefolgt, und ich werde es auch weiterhin tun!“ „Gut. Dann lass uns den Karren aus dem Wasser ziehen und sehen, was wir von unseren Sachen noch verwenden können.“ „Wie heißt denn deine neue, kleine Geisha-Freundin?“, bohrte O-Shikara nach. Ryuka grinste schief. „Ich weiß nicht. Ich hatte noch keine Gelegenheit, sie zu fragen. Aber nimm dich in Acht vor ihrem Panda.“ „Panda? Welcher Pan-...“ Der Hüne kreischte erschrocken auf, als im gleichen Moment der gewaltige Kopf eines schwarz-weißen Bären durch die Wasseroberfläche des Teiches brach. Das Tier stemmte sich diensteifrig gegen den Karren und half, diesen wieder ans Ufer zu wuchten. Die beiden Theater-Leute sprangen auseinander, um nicht überrollt zu werden. „Willst du nicht essen?“, fragte O-Shikara besorgt nach und deutete auf die Schale mit geschnittenem Gemüse, die Ryuka noch nichtmal angerührt hatte. Der saß nur mit leerem Blick herum und regte sich nicht. Es war inzwischen später Abend. Sie hatten ein gutes Stück Weg zurückgelegt und dann ein Lager aufgeschlagen. Das Lagerfeuer strahlte durch die Zeltplane und sorgte selbst hier drinnen für ausreichendes Licht. Von Zeit zu Zeit hörten sie den Panda-Tiergeist gähnen, der gemütlich am Feuer lag und sich wärmte. Im Zelt war ungewohnt viel Platz. Es war sonst für sechs Leute gedacht, nicht für zwei. Es wirkte regelrecht trostlos. Ryuka schüttelte leicht den Kopf. „Ich krieg nichts runter“, hauchte er matt und schob die Schüssel von sich. „Iss du, wenn du magst.“ „Nein, ich möchte auch nichts mehr. Lass es uns aufheben. Sicher können wir es auf unserer Reise noch brauchen“, gab der Muskelprotz zurück. Ryuka starrte weiter Löcher in die Luft. „Was hältst du von dieser Geisha?“, versuchte O-Shikara das Gespräch am Laufen zu halten, und deutete durch den Zeltausgang nach draußen. Das Mädchen hatte ein eigenes Zelt, um den Anstand zu wahren. „Was meinst du?“ „Naja, allgemein. Weißt du irgendwas über sie? Ich meine, wir sollen sie 'Zaku' nennen. Sie behauptet, von ihren Eltern nach der Gottheit der Kunst und der Darsteller benannt worden zu sein. Und dabei rennt sie mit einem Tiergeist durch die Gegend. Schon ein echter Panda als zahmes Haustier wäre der Knüller. Aber das ist ein Tiergeist! Du musst doch zugeben, daß das alles sehr eigenartig ist.“ „Ich kann es doch auch nicht ändern“, murmelte Ryuka leise und sein Gesicht verzog sich ein wenig ins Wehleidige. „Ich wünschte, ich könnte irgendwas ändern. Irgendwas ungeschehen machen. Aber ich kann nicht.“ Ein Hochziehen der Nase, dann brach er endgültig in Tränen aus. Jetzt übermannten ihn die Ereignisse endgültig. O-Shikara rutschte mit einem gutmütigen Brummen heran und schloss seinen Chef und Freund fest in die Arme, um ihn zu trösten. „So habe ich das nicht gemeint.“ „So hab ich´s auch nicht verstanden. ... Aber trotzdem. ... Mein Gott, all unsere Kameraden. Tot. Alle tot. Oder mittel- und heimatlos in alle Winde zerstreut. In einer einzigen Nacht. Wie konnte sowas passieren?“ O-Shikara strich ihm mit einer seiner großen Pranken über die Haare und drückte Ryukas Kopf gegen seine Brust. „Bin ich daran Schuld?“ „Unsinn“, meinte der Riese. „Ich hab meine Leute ins Verderben geführt. Zaku bestraft mich für irgendwas. Wir werden als Gäste in ihren Tempel eingeladen, und ein paar Stunden später sind wir alle tot. Irgendwas habe ich als Kopf dieser Theater-Truppe falsch gemacht. Was nur, O-Shikara? Was nur?“ „Gar nichts. Du warst ein guter Anführer. Es war weder deine noch Zakus Schuld. Wäre es Zakus Wille gewesen, hätte sie wohl kaum ihr Orakel und ihren ganzen Tempel geopfert. Hätte sie dir eins auswischen wollen, hätte sie das einfacher haben können. Unsere Göttin Zaku wurde genauso betrogen wie wir.“ Ryuka schniefte und wischte sich mit den Fingern die Wangen trocken, machte aber keine Anstalten, sich aus dem aufmunternden Klammergriff des Muskelprotzes befreien zu wollen. Er war dankbar für diesen Halt, die Wärme und die Nähe. Dadurch fühlte er sich nicht mehr ganz so elend. Schön zu wissen, daß er noch jemanden auf seiner Seite hatte, der zu ihm hielt. „Wenn es dich beruhigt, ich vermisse die anderen auch“, fügte O-Shikara noch an. Jetzt klang er selbst schon etwas trübsinnig. Er legte seine bärtige Wange oben auf Ryukas Schädeldach ab. „Ich vermisse sie sogar ganz furchtbar. Jeden einzelnen.“ Kurz herrschte Schweigen, dann fuhr er doch fort: „Kenji hätte jetzt sicher draußen am Feuer gesessen und uns Geschichten erzählt. Fast ein Jahr war er bei uns. Und nie sind ihm die Geschichten ausgegangen. Erinnerst du dich an seine Geschichte von dem Kappa? Die wollten wir eigentlich irgendwann auf der Bühne aufführen.“ „Ich entsinne mich.“ „Und Hakane hätte über dem Feuer wieder ihren wundervollen Reiskuchen gebacken.“ „Ach komm, jetzt hör schon auf damit!“, verlangte Ryuka missmutig. „Das trägt gerade nicht dazu bei, daß ich mich besser fühle.“ „Entschuldige“, murmelte der Hüne kleinlaut und drückte Ryuka noch etwas fester. „Ich vermisse sie nur so.“ Dann wurde es wieder still zwischen ihnen. Nur hier und da wehten leise Gitarrenklänge herein. Drüben auf der anderen Seite des Feuers saß Zaku in ihrem eigenen Zelt und spielte auf einem dreiseitigen Shamisen. Es war nicht Natsuos Shamisen. Das hatte den Brand in der Orakelhalle leider nicht überlebt, was die Gottheit sehr ärgerte. Ihrem Gemüt hätte es gut getan, wenn sie als Andenken an ihre Freundin und Priesterin wenigstens noch deren Shamisen hätte retten können. So musste sie nun auf ihr eigenes zurückgreifen, das sie als Göttin der Kunst willkürlich überall her aus dem Nichts beschwören konnte, und das auch um einiges sphärischer klang als ein gewöhnliches. Ihr anfänglicher Zorn, der sich in unüberhörbar derben, flotten Anschlägen auf dem Instrument entladen hatte, war längst einer kraftloseren, sentimentaleren Trauermelodie gewichen. Zaku fühlte sich leer. Sie sollte es sich endlich abgewöhnen, sich mit ihren Priesterinnen so sehr anzufreunden. Es war immer das gleiche. Irgendwann starben sie, früher oder später. Und sie, Zaku, die als Gottheit nicht alterte und keines natürlichen Todes starb, blieb trauernd und alleingelassen zurück. Sie fühlte sich erst wieder etwas besser, wenn sie ein neues Orakel für sich gefunden hatte. Und das dauerte für gewöhnlich eine Weile. Letztes Mal hatte ihr Tempel fast ein Jahr leergestanden, nur von der alten Chirobi in Schuss gehalten. Kapitel 3: Fährte ----------------- Am nächsten Tag rumpelten sie gemeinsam den alten, steinigen Trampelpfad entlang, der als Handelsstraße quer durch die Provinz von einem Dorf zum nächsten führte. Zaku schien sich sehr sicher zu sein, wohin sie wollte. O-Shikara zog den hölzernen Karren, der der Theater-Truppe gehört hatte, und auf dem sie ihre letzten paar Habseligkeiten verladen hatten. Der Karren war recht schwer, so daß sie nicht übertrieben schnell voran kamen. Zumal sein junger Chef Ryuka noch hinten auf dem Karren lag und schlief, wodurch das Gefährt auch nicht gerade leichter wurde. Aber Ryuka hatte die ganze Nacht nicht geschlafen und es ging ihm heute echt elend, so daß O-Shikara darauf bestanden hatte, ihn zu ziehen. „Wie bist du zu diesem Tempel gekommen?“, wollte O-Shikara wissen. Zaku lief neben ihm, eine Hand auf der Schulter des Panda-Tiergeistes abgelegt, und zuckte mit den Achseln. „Ich habe keine Eltern. Natsuo war so freundlich, mich im Tempel aufzunehmen“, log sie. Sie blieb immer noch bei der Variante, daß sie ein ganz gewöhnlicher Mensch wäre und nur zufällig nach der Göttin der Kunst benannt worden sei. Sie hatte einfach keine Lust, sich einen neuen Namen auszudenken und sich am Ende noch zu verraten, weil sie auf diesen neuen Namen nicht reagierte. „Mh. Das erklärt, warum du einfach aufs Geratewohl in die Welt hinaus spazierst und den Tempel sich selbst überlässt. In dem Dorf hält dich nichts, was?“ Zaku entgegnete nichts. Sie hatte nicht vor, diese Annahme zu korrigieren. „Und wo hast du den Tiergeist her?“, bohrte der Muskelprotz weiter. „Chirobi hat schon immer im Tempel gelebt. Sie war schon vor mir da“, log Zaku erneut. „Und sie folgt dir?“ „Ich kann sie ja schlecht alleine da lassen.“ „Kann sich so ein Wesen denn nicht selbst versorgen? Ich dachte immer, es wäre unüblich, daß Geister überhaupt mitten unter Menschen leben.“ Zaku zuckte abermals mit den Schultern und sagte nichts. O-Shikara seufzte leise. Sehr gesprächig war das Mädchen ja nicht. Aber das war Tempelpersonal wohl von Natur aus nicht. Bei denen galt es als Tugend, zu schweigen. Für das Mittagessen machten sie eine Rast am Wegesrand und weckten Ryuka auf, damit er auch etwas aß. Er wirkte schon etwas ausgeruhter und gefasster und war immerhin wieder in der Lage, Nahrung zu sich zu nehmen. Auch wenn es nicht viel war, was er futterte. „Bekommt der Panda denn eigentlich nichts zu fressen?“, wollte O-Shikara wissen. Ihm war nicht entgangen, daß der Tiergeist schon gestern abend und heute früh nichts vorgesetzt bekommen hatte. „Geistwesen brauchen keine stoffliche Nahrung“, klärte Zaku ihn auf. Der Muskelprotz nickte verstehend. „Immerhin“, meinte Ryuka matt. „Wenn wir von unseren ohnehin schon knappen Vorräten auch noch so ein riesiges Tier durchbringen müssten, hätten wir ein echtes Problem. Wir haben schon für uns selber kaum genug.“ O-Shikara nickte wieder und legte diesmal noch ein zustimmendes Brummen nach. „Was mich auch gleich auf eine existenzielle Sorge zu sprechen bringt ...“, fuhr Ryuka ungewohnt ernst fort. „Bisher haben wir uns als Theater-Truppe mit Auftritten unser Essen erarbeitet. Aber jetzt sind wir nur noch zu zweit. Zu zweit können wir keine Theaterstücke aufführen. Wie soll´s weitergehen?“ O-Shikara senkte nachdenklich den Blick und grübelte los. „Für eine Tengu-Nummer wird es bei dir ja sicher trotzdem noch reichen. Wir müssen uns nur ein Stück erarbeiten, das du alleine bestreiten kannst. Eine Erzählung vielleicht. Wir sollten künftig vielleicht mehr Märchenerzähler als Schauspieler sein. Und abgesehen davon könnten wir uns auf Kunststücke verlagern. Ich bin stark, ich kann die Leute mit meiner Muskelkraft beeindrucken. Und du bist doch ein guter Akrobat.“ „Hm, ich weiß nicht“, erwiderte Ryuka zweifelnd und stellte seine Schüssel weg. Er stand auf, ging ein paar Schritte weg, um Platz zu haben, und versuchte einige Tricks. Ein Rad und einen gewöhnlichen Handstand bekam er hin. Einen Flickflack ebenfalls gerade noch so. Den würde er noch etwas üben müssen. Aber einen kompletten Salto traute er sich schon nicht mehr zu. Dabei würde er sich am Ende noch das Genick brechen. Dann waren seine Ideen bereits aufgebraucht. Und die paar Sachen, die er konnte, waren auch nicht direkt beeindruckend, musste er sich eingestehen. „Ich glaube, das reicht bei weitem nicht für die Bühne“, meinte Ryuka ehrlich und setzte sich wieder. „Lern doch, zu jonglieren. Oder Messer zu werfen. Dann kannst du es dem Publikum beibringen. Nummern zum Mitmachen kommen immer gut an.“ „Chirobi kann tanzen. Lassen wir sie auftreten“, schlug Zaku mit Deut auf den faul herumliegenden Pandabären vor, der gerade gar nicht den Eindruck machte, zum Publikumsmagneten zu taugen. „Und was ist mit dir?“, hakte O-Shikara unverfroren nach. „Was soll mit mir sein?“ „Kannst du auch auftreten?“ „Wieso sollte ich?“, meinte Zaku begeisterungsfrei. „Weil du mit einer fahrenden Theater-Truppe unterwegs bist und für dein Essen auch was tun solltest!?“, schlug O-Shikara vor. „Aber wenn du im Geisha-Aufputz rumläufst, kannst du natürlich auch auf andere Weise arbeiten. Geishas stehen ja eher den Männern zur Verfügung, für ... du weißt schon was.“ Er machte eine obszöne Handbewegung zwischen seinen Beinen. Ryuka lachte leise. Zaku wog nachdenklich den Kopf hin und her, ob ihr nicht eine bessere Idee kam. „Ich kann Shamisen spielen. ... Kann von euch beiden auch jemand spielen?“ „Spielst du auch die Flöte?“, kicherte Ryuka mehrdeutig und zeigte dabei ebenfalls zwischen seine Beine. „Du bist ein Ferkel!“, blaffte Zaku ihn empört an. Die Männer lachten wieder erheitert. „Gut, Spaß beiseite“, meinte Ryuka lächelnd. „Shamisen kann ich zwar nicht spielen, aber auf der Bambusflöte komme ich ganz gut klar, wenn das auch zählt.“ „Das wird auch gehen. Wenn du Flöte spielst, kann ich dazu tanzen.“ „Und danach den Männern Gesellschaft leisten?“, zog O-Shikara sie erneut auf. Zaku verpasste ihm einen Klapps auf den Hinterkopf. „Ich bin kein Freudenmädchen!“ „Du siehst aber aus wie eins!“ „Du ungehobelter Klotz!“ „Dazu müsste ich mir aber erstmal eine neue Flöte besorgen“, lenkte Ryuka das Gespräch kichernd wieder auf das eigentliche Thema zurück. Er fand, sie hatten die Kleine jetzt genug geärgert. „Ich habe nämlich keine.“ „Nimm meine!“ Zaku hielt ihm wie aus dem Nichts eine filigrane, verschnörkelte Querflöte aus Bambus hin. Ryuka verzog kurz irritiert das Gesicht bevor er sie annahm, weil er gar nicht mitbekommen hatte, wo das Mädchen das Instrument auf die Schnelle hergenommen hatte. Er drehte sie staunend zwischen den Fingern. Die war verdammt schön und sicher nicht ganz wertlos. „Dann zeig doch mal, was du kannst“, trug Zaku ihm auf. „Okay, aber sei bitte etwas nachsichtig. Es ist schon eine Weile her, daß ich auf sowas gespielt habe.“ Der Anführer der Truppe hob sich die Flöte an die Unterlippe und benetzte nochmal mit der Zunge seine Lippen, bevor er vorsichtig darauf blies. Die langsame, tragende Melodie, die sich wie von selbst zusammensetzte und sich angenehm ins Ohr fügte, war spürbar mit Leidenschaft beseelt. Ryuka spielte wirklich wundervoll. Nach einer Weile stand Zaku lächelnd auf und begann dazu zu tanzen. Ganz selbstverständlich, als würde sie das Lied auswändig kennen, schon seit Kindertagen harmonisch mit Ryuka zusammenarbeiten, und mit der Biegsamkeit und Geschmeidigkeit von Grashalmen im Wind. Ihre langen Kimono-Ärmel schienen beinahe zu Flügeln zu werden, als sie den 'Tageslauf der Krähe' tanzte, und zu einem dicken Pelzmantel, als sie 'die Götterprinzessin bricht das Eis' vorführte. Als Ryuka mutiger und seine Melodie schneller und feuriger wurde, ging sie über zum 'Spiel der Schlangen und Vögel'. Dieser Tanz wechselte zwischen runden, schlängelnden Bewegungen, und schnellen, geraden Stichen aus dem Körperzentrum heraus, die fast wie Angriffe aus einer Kampfkunst wirkten. Es schien beinahe, als würde Zaku selbst zu einer Schlange, oder zu einem mit spitzem Schnabel hackenden Vogel werden. O-Shikara gaffte sich die Augen aus dem Kopf, während er abwechselnd Ryuka und Zaku beobachtete. Er hatte seinen jungen Chef noch nie so auf einem Instrument spielen gehört. Und er hatte noch nie eine Frau so tanzen sehen. Er war so angetan, fast hypnotisch gebannt, daß er nicht umhin kam, irgendwann in die Proben mit einzusteigen und einen Takt zu Ryukas Melodie zu klatschen. Mangels einer Trommel oder anderer geeigneter Klopfwerkzeuge klatschte er in die Hände. O-Shikara verhaspelte sich aber schockiert, als das Mädchen in einen Stripteas überging und den Kimono erst über die eine Schulter rutschen ließ, dann auch noch über die andere, den ganzen Rücken bis hinunter zu den Hüften frei machte und den Stoff beim Umdrehen gerade noch so vorn vor dem Busen zusammenhielt. Ryuka, von dem Muskelprotz gleichsam mit aus dem Takt gerissen, brach sein Spiel auf der Bambusflöte verwirrt ab und schaute fragend auf, was los war. Lachend zog sich Zaku das Gewand wieder hoch, stiefelte zu ihrem Sitzplatz zurück und pflanzte sich wieder neben die beiden Männer, um endlich fertig zu essen. Die wollten sexuell angehauchte Possen reißen? Das konnte Zaku auch! O-Shikara hüstelte, knallrot um die Nase. „Das, ähm ... das war doch schon ganz gut. Ich denke, das ist bühnenreif.“ Ryuka begutachtete wieder das Instrument in seinen Händen. „Das ist eine sonderbare Flöte. Das Spielen ist mir noch nie so leicht gefallen wie auf dieser hier.“ Zaku schmunzelte nur in sich hinein, sagte aber nichts. Natürlich war das eine sonderbare Flöte. Es war ja ihre. Eine göttliche Flöte. Kein Wunder, daß die besser zu handhaben war als jede menschengemachte. Und ihre Anwesenheit als Göttin der Kunst beflügelte das Talent der beiden ebenfalls um einiges. „Wo hast du so zu tanzen gelernt?“, wollte O-Shikara wissen. Zaku schob sich einen Streifen Möhre zwischen die Zähne. „Im Tempel hat man doch sonst nichts anderes zu tun“, mampfte sie mit vollem Mund. „Sag mal, wo hast du eigentlich gelebt? Als der Tempel überfallen wurde, warst du ja gar nicht da!“, hakte der Riese argwöhnisch nach. Langsam war genug Zeit ins Land gegangen, auf daß er sich ein paar Dinge hatte zusammenreimen können. Das Mädchen war ihm immer noch ziemlich suspekt, trotz allem. Vieles passte da nicht zusammen, wenn man mal genau drüber nachdachte. Zaku warf ihm einen bösen Blick zu. „Frag einfach nicht“, verlangte sie und begann dann demonstrativ ihre Sachen zusammen zu packen und den Aufbruch zur Weiterreise vorzubereiten. „Seltsam ist das schon, das musst du zugeben“, fuhr O-Shikara also an seinen Gefährten Ryuka gewandt fort, da das Mädchen ihm offensichtlich nicht mehr zuhörte. Am späten Nachmittag erreichten sie das nächste Dorf im Süden, schlugen ihre Zelte aber nicht gerade zentral im Blickfeld der Dorfbewohner auf. Schließlich hatten sie nicht vor, hier aufzutreten. Ein brauchbares Bühnenprogramm hatten sie ja noch lange nicht. Ryuka und Zaku gingen aber zumindest noch ins Dorf, um zu sehen, ob man irgendwo etwas zu essen auftreiben konnte. Und wenn sie darum betteln mussten. O-Shikara bewachte solange den Karren mit all ihren Sachen. Zaku versuchte mit einem Obsthändler einen Tausch von einer Ladung Birnen gegen ihr Shamisen auszuhandeln, was zu ihrem Bedauern nicht sehr erfolgversprechend zu sein schien, denn der Bauer hatte für ein Musikinstrument keine Verwendung, auch wenn es noch so wertvoll war. Als sie dem Obstbauern gerade zu erklären versuchte, daß er das Shamisen ja gewinnbringend weiterverkaufen könne, wenn er selber keine Verwendung dafür hätte – Zaku sagte ihm natürlich auch nicht dazu, daß sich das Shamisen in Luft auflösen würde, wenn sie weiterging – tippte Ryuka ihr von hinten auf die Schulter und zog sie vom Stand weg. „Sieh dir das hier an“, trug er dem Mädchen halblaut auf und führte sie zu einem fahrenden Händler, der ebenfalls heute in diesem Dorf angekommen war und seine mitgebrachten Waren zu tauschen versuchte. Neben etlichen Dingen des Alltagsbedarfs, hauptsächlich Haushaltsgerätschaften und Stoffballen, prangte eine goldglitzernde Götterfigur mitten auf seinem Wagen. Es war eine handliche Tempelstatue, nicht ganz zwei Shaku groß. Zaku erkannte sie sofort wieder, da im Gewand der Figur ein bestimmter Edelstein fehlte, der schon vor Jahrzehnten einfach mal herausgefallen und dann mangels Wiedereinarbeitung verloren gegangen war. Sie schnappte empört nach Luft. „Das ist die Gebets-Ikone aus meiner Orakelhalle!“ „Ich weiß“, meinte Ryuka zwischen verständnisvoll und bedauernd. Er verstand Zakus Aufregung. Aber auch wenn es hundertmal eine aus dem zerstörten Tempel gestohlene Statue war, würden sie die nicht so ohne weiteres wiederbekommen. „Wie kommt die hier her?“ „Die Männer, die deinen Tempel überfallen haben, werden sie dem Händler zum Tausch angeboten haben. Die müssen hier durchgekommen und ihm begegnet sein. Das heißt, wir sind zumindest auf dem richtigen Weg. Wir sind ihnen auf der Spur.“ Zaku verschränkte mit einem 'hmpf' die Arme und schien sichtlich zu überlegen, ob sie sich damit jetzt wirklich zufrieden geben musste. „Du willst die Statue zurück haben, hm?“, hakte Ryuka einfühlsam nach. „Darauf kannst du wetten.“ „Das wird schwierig. Wir haben nicht genug Tauschwaren, um sie uns von dem Händler wieder zu ertauschen.“ „Sagt wer?“ Ryuka stutzte irritiert. „Was willst du ihm denn dafür bieten?“ „Sein Leben, wenn es ihm lieb ist!“ „Zaku! Wir sind keine Verbrecher!“, blaffte der junge Darsteller entrüstet. „Wenn du das tust, bist du keinen Deut besser als die Kerle, die deinen Tempel niedergebrannt haben! Willst du so tief sinken und dich mit denen auf eine Stufe stellen?“ Das Mädchen im Kimono seufzte. „Nagut. Ich muss es ja nicht so offensichtlich als Morddrohung ausgeben. Ich kann´s ja freundlich verpacken.“ Sie schnappe ihr Shamisen aus der Luft, weiß der Himmel woher, und marschierte direkterweise auf den Karren des fahrenden Händlers zu. „Eh ... warte mal, wo nimmst du plötzlich die Gitarre her?“, wollte Ryuka verwirrt wissen und hechtete ihr hinterher. Er hatte gar nicht gesehen, daß sie die bei sich gehabt hatte. Oder eher, wo sie die versteckt hatte seit er sie vom Obststand weggezogen hatte. Dort hatte sie das Instrument ja noch gegen Birnen eintauschen wollen. „Alter Taschenspieler-Trick. Wäre was für die Bühne“, gab sie knapp angebunden zurück, ohne ihm wirklich Beachtung zu schenken. Händler Kobayashi stand gemütlich auf, als er die Geisha und den jungen Mann mit der Tengu-Maske vor dem Bauch, die ihn als Theater-Darsteller ausgab, forschen Schrittes auf sich zukommen sah. Er hatte sie schon seit einer ganzen Weile beobachtet, während er sein ausgespanntes Okinawa-Pony am Führstrick grasen ließ. Normalerweise zog das Pony den Karren für ihn. Aber im Moment pausierten sie ja hier und versuchten, mit den Dorfbewohnern zu handeln. „Hallo, ihr zwei. Kann ich helfen?“, grüßte er. „Hallo, Meister“, erwiderte Zaku betont freundlich und liebreizend. „Diese goldene Statue da, was hat es damit auf sich?“ „Die Inari-Figur? Ich hab sie von einem Wanderer bekommen.“ „Diese Figur stellt Zaku dar! Die Göttin der Kunst!“, schoss Zaku ein wenig giftiger zurück als sie gewollt hatte und biss sich gerade noch rechtzeitig auf die Zunge, bevor sie noch ein 'Vollidiot!' anhängte. Dieser ungebildete Tölpel! Sie fühlte sich beleidigt. „Ach ja?“ Kobayashi warf einen Blick auf die Ikone. Dann zuckte er desinteressiert mit den Schultern. „Wenn du meinst!? Wer soll die schon alle kennen?“ „Ich will sie haben! Ich gebe dir mein Shamisen dafür.“ Der Händler zog ein sichtlich abgeneigtes Gesicht, streckte aber dennoch die Arme nach dem Instrument aus. Er wollte es sich zumindest einmal ansehen, bevor er ablehnte. Er packte die dreisaitige Gitarre aus der Stoffdecke aus, in die sie eingeschlagen war, und musterte das feine, filigran verarbeitete und reich verzierte Holz. Perlmutt und Schildpatt waren darin eingesetzt, und die Mechaniken zum Stimmen der Saiten waren mit Gold und Edelsteinen überzogen. Interessiert zupfte er eine Saite an, weil er kaum glauben konnte, daß so ein Dekorationsgegenstand wirklich spielbar war. Aber der Klang war erstaunlich brilliant. ... Andererseits, was sollte er mit dem Ding, auch wenn es ganz hübsch war? Kobayashi drückte es Zaku wieder in die Hand. „Zu wenig. An meiner Statue sind wesentlich mehr Gold und Edelsteine dran als an dem Ding da. Und es ist immerhin eine Götter-Statue, nicht wahr?“ Ryuka mischte sich ein: „Eine Götter-Statue, die aus einem Tempel gestohlen wurde, der im Anschluss verwüstet und niedergebrannt wurde! Wenn man dich mit dieser Statue sieht, wird man glauben, DU hättest sie gestohlen und diesen Tempel zerstört.“ Der Händler lachte schallend auf. „Eine nette Geschichte. Das müsst ihr mir erst beweisen. So leicht lasse ich mich beim Tausch nicht über´s Ohr hauen.“ „Wir waren dabei und haben den Tempel gesehen. Wir kommen von dort“, bekräftigte Ryuka toternst. „Sicher. Und jetzt schert euch fort, wenn ihr mir für die Statue keinen passablen Tausch anbieten könnt.“ Mit einem amüsierten Kopfschütteln zog Kobayashi sein Pony mit sich fort und ging ein paar Schritte weiter. Er war das Gespräch leid. Zaku atmete genervt durch und folgte ihm rigeros. „Erzähl mir, woher du diese Gebets-Ikone hast!“, verlangte sie. „Ich will den Kerl finden, der sie dir gegeben hat! Erzähl mir, wer er war! Wie hat er ausgesehen und wohin ist er gegangen?“ „Was interessiert´s dich?“, brummte er mürrisch. „Schuldet er dir etwa noch den Lohn für deine Gefälligkeiten?“ Er deutete vielsagend auf ihre weiblichen Reize. Er war ja durchaus im Bilde, daß solche herren- und heimatlosen Möchtegern-Geishas, die im Gefolge fahrender Künstler-Truppen durch die Lande zogen, ihr Dasein nicht gerade mit geistreicher Konversation bestritten, sondern mit weit handfesteren Argumenten. „Zaku, jetzt krieg dich doch wieder ein!“, bat Ryuka, wobei er fast rufen musste. Das Mädchen rauschte vorweg wie ein wütender Stier und er konnte kaum mit ihr Schritt halten. Er konnte verstehen, daß sie so sauer war. Der Händler hatte ihr angeboten, ihr die goldene Tempelstatue für das Shamisen und für gewisse Dienste zu überlassen. Das sie als Tempeldienerin auf sowas nicht eingehen würde, war ja klar. Sie war nunmal keine Wander-Geisha, auch wenn sie sich als solche verkleidete. Allerdings konnte er auch den Händler ein bisschen verstehen, wenn er auf diese Verkleidung hereinfiel und Zaku irrtümlicherweise wirklich für ein Freudenmädchen hielt. Woher sollte er es auch besser wissen? O-Shikara, der sich die Zeit mit Jonglage-Übungen vertrieben hatte, fing ungeschickt die bunt gemischten, durch die Luft segelnden Gegenstände wieder auf. „Hey. Na, wart ihr erfolgreich?“ Er runzelte die Stirn, als Zaku an ihm vorbeistürmte. „Teilweise“, meinte Ryuka und strich sich die langen, schwarzen Haare glatt. „Zu essen haben wir nichts bekommen. Aber Hinweise auf die Männer, die ihre Priesterin ermordet und ihren Tempel verwüstet haben. Wir scheinen auf dem richtigen Weg zu sein.“ „Wir jagen jetzt also tatsächlich diese Kerle?“ „Es scheint so.“ Zaku kam wieder angerannt. „Wir werden heute Abend im Dorf ein Fest feiern! Baut die Bühne auf!“ „Was!?“, machten die beiden Männer synchron. „Ich will diese verdammte Statue wiederhaben!“, stellte Zaku launisch klar. „Und ich weiß auch, wie ich das anstelle!“ „Kind, wir haben kein Programm, das vorführfähig wäre“, appellierte Ryuka etwas unbeholfen an ihre Vernunft. „Du wirst doch wohl eine Märchenerzählung improvisieren können! Und du kannst Flöte spielen. Chirobi und ich tanzen dazu.“ Der Muskelprotz neben ihm nickte leicht. „Ganz schlecht finde ich die Idee nicht, wenn wir heute was zum Abendbrot haben wollen. Und eine Geisha, die mit einem Bären tanzt, ist mal was Neues, das gefällt mir. Lass du dir in Ruhe eine Geschichte einfallen, ich bau inzwischen die Bühne auf.“ Unglücklich legte Ryuka eine Hand auf die hölzerne Tengu-Maske, die noch immer an einem Strick an seiner Hüfte baumelte. O-Shikara wedelte aufgeregt mit einem brennenden Ast herum, den er aus einem Lagerfeuer gezogen hatte, als wolle er damit jonglieren. „Mann, ich bin nervös“, jammerte er dabei weinerlich. Ryuka bedachte ihn mit einem spöttischen Blick. „Wieso das? Du trittst ja nichtmal vor dem Publikum auf. Du löschst nur die Feuer und verdunkelst alles.“ „Trotzdem.“ „Was soll ich da erst sagen? Ich muss mir auf der Bühne was zurechtimprovisieren, was ich vorher noch nie aufgeführt habe.“ „Hast du denn deine Geschichte schon fertig?“, wollte O-Shikara wissen. „Nein“, meinte der junge Mann völlig ruhig, verschränkte die Arme und schaute gelassen den züngelnden Flammen des Lagerfeuers zu. „Aber es wird sich schon alles von selber zum Besten fügen.“ „Ich hab all die Jahre nie verstanden, wie du so gleichmütig bleiben kannst. Ich würde vor Lampenfieber sterben, wenn ich an deiner Stelle wäre.“ „Die Bühne ist mein Leben. Ich fühl mich da wohl. Warum sollte ich Angst vor der Bühne haben? Die tut mir doch nichts.“ Der bärtige Riese winkte ab und stapfte davon. Vor Auftritten war sein Chef schon immer zu einer Diva geworden. Ryuka war verdammt gut und wusste das auch. Und er ließ das auch ungeniert raushängen. Ryuka lächelte ihm amüsiert hinterher. Dann schaute er wieder ins Feuer. Das hatte was Meditatives und brachte die Gedanken zur Ruhe. Er hatte noch nie mit Lampenfieber zu kämpfen gehabt. Selbst bei reinweg improvisierten Stücken, wo nichts geplant oder abgesprochen war, hatte er sich mit Selbstvertrauen und Zuversicht vor die Zuschauer gestellt. Ohne diese fast hochmütige Gelassenheit wäre er wohl kaum so ein guter Darsteller geworden. Mit einem „Achso, hätt ich fast vergessen!“ tauchte O-Shikara plötzlich wieder neben ihm auf und streckte ihm seinen Hintern entgegen. Auch wenn der Po nach wie vor von einem Hakama bedeckt war, sah die Geste reichlich blöd aus. Ryuka musste grinsen. „Unsere Gruppe ist zerschlagen. Wir sind alleine. Willst du wirklich an diesem albernen Ritual festhalten?“ „Natürlich!“, beharrte der Hüne, sein Hinterteil weiter präsentierend herausgestreckt. „So bleibt uns wenigstens noch ein Rest Andenken.“ Mit einem etwas überheblichen Schmunzeln drehte sich Ryuka um, so daß sie Rücken an Rücken standen, und rieb seine Po-Backen an denen von O-Shikara. „Auf der Bühne und dahinter, wir war'n und sind Theater-Kinder!“, beteten sie dabei gemeinsam ihren albernen, gereimten Vers herunter, mit dem sie sich früher vor jedem Auftritt gegenseitig angeheizt und motiviert hatten. Zu Glanzzeiten, als ihre Truppe 15 Männer und mehr umfasst hatte, hatten sie dafür einen riesigen Kreis gebildet, wodurch man sich mit den beiden Kerlen zur linken und zur rechten die Hinterteile aneinander gerieben hatte. Das war immer eine riesen Gaudi gewesen. Ryuka konnte heute gar nicht mehr sagen, wer von den Männern diese affige Tradition mal eingeführt hatte. Im Dorf herrschte ausgelassene Stimmung. Das Leben der Bauern unter der harten, erpresserischen Knute der Lehensfürsten war trostlos, eintönig und voller Entbehrungen. Da kam es ihnen sehr gelegen, daß ein paar reisende Gaukler hier Halt machten und die Bewohner unterhalten wollten. Eine willkommene Flucht aus dem Alltag von Reisfeldern und Tributeintreibung, und sei es auch nur für einen Abend. Auch der fahrende Händler, der selten solche Auftritte zu sehen bekam, freute sich riesig und hatte zur Feier des Tages seinen Sake-Vorrat zur Verfügung gestellt. Als Ryuka nach Dunkelwerden auf die rot fackelbeleuchtete Holzempore trat, hatte er seine Tengu-Maske bereits vor dem Gesicht. Seine Bewegungen waren so unglaublich feierlich, daß das Publikum augenblicklich schwieg, ja regelrecht die Luft anhielt. Er bezog seinen Posten und blieb erstmal sekundenlang stumm und reglos dort stehen, bis ihn wirklich jeder gebannt anstarrte. „Eine Sage von der Schneefrau Yuki Onna!“, kündigte er schließlich dramatisch an. Man konnte die Spannung förmlich mit einer Klinge zerschneiden. Kapitel 4: arglistige Spiele ---------------------------- „Eine Sage von der Schneefrau Yuki Onna!“, kündigte Ryuka schließlich dramatisch an. Man konnte die Spannung förmlich mit einer Klinge zerschneiden. „In einem Dorf, nicht weit von hier, da lebte eine junge Witwe, die hatte zwei Töchter. Als der Winter kam, ging sie in den Wald, um Holz für Feuer zu holen. Den Töchtern sagte sie, sie sollten das Haus nicht verlassen, solange sie ausbliebe, und sollten niemandem öffnen. Als sie fort war, fiel ein mächtiger Schneesturm in das Dorf ein, schlug gegen alle Dächer, rüttelte an allen Türen und ließ sich schließlich vor dem Haus der Witwe nieder. Das war die arglistige Schneefrau Yuki Onna. Sie schaute durch das Fenster ins Haus und erblickte die zwei Mädchen. 'Ai, was für wundervolle Kinder. Ich will eines haben.', dachte sie und klopfte. 'Wer ist da?', riefen die Mädchen. 'Hier ist ein altes Mütterchen, das vom Schneesturm überrascht wurde. Lasst mich doch ein, damit ich es für den Moment warm und trocken habe.' 'Wir sollen niemandem öffnen!', riefen die Mädchen, da musste Yuki Onna wieder abziehen. Am Nachmittag kam die Mutter mit dem Holz heim, fand die beiden Töchter einträchtig beieinander vor, und freute sich. Am nächsten Tag ging sie wieder in den Wald, Holz zu holen, da kam abermals der Schneesturm über das Dorf, schlug gegen alle Dächer, rüttelte an allen Türen und ließ sich wieder vor dem Haus der Witwe nieder. Yuki Onna klopfte auch diesmal und die Mädchen riefen: 'Wer ist da?' 'Hier ist eure Tante, eurer Mutter ältere Schwester. Lasst mich ein!' 'Wir sollen niemandem öffnen!', riefen die Mädchen, da musste Yuki Onna erneut mit leeren Händen abziehen. Am dritten Tag geschah es auf die gleiche Weise. 'Hier ist ein Bote, ich bringe Nachricht vom Großvater. Lasst mich ein!' 'Wir sollen niemandem öffnen!', riefen die Mädchen wieder. Die Schneefrau Yuki Onna geriet darüber in Zorn, blies gegen das Haus, rüttelte an der Tür und den Fenstern und drohte das ganze Haus unter Schnee zu begraben, doch dieses widerstand dem Toben und verbarg die Kinder sicher im Inneren. Am Nachmittag kam die Mutter heim und fand die Kinder weinend und verängstigt vor. Sie erzählten, ein Dämon habe seit Tagen versucht, sich unter verschiedenen Identitäten Zutritt zum Haus zu verschaffen und es heute beinahe zum Einsturz gebracht, als sie ihm nicht geöffnet hatten. Die Witwe war darüber sehr schrocken und beschloss, die Mädchen fortan nicht mehr allein im Haus zu lassen. Am nächsten Tag machte sie sich wieder auf in den Wald, da es kalt war und sie Feuer zum Heizen brauchte, und nahm die Kinder diesmal mit sich. Sie sagte sich, zu dritt könnten sie sicherlich so viel Holz tragen, daß sie nur noch jeden zweiten oder dritten Tag loslaufen mussten. Kurz vor dem Waldrand wurden sie jedoch von einem plötzlichen, wilden Schneetreiben überrascht, daß man die Hand vor Augen nicht mehr sah. Der Sturm riss an ihren Kleidern und brüllte ihnen ins Ohr und so verlor die Mutter eine ihrer Töchter aus den Augen. Als der Schneesturm sich legte, war die ältere fort und spurlos verschwunden. Aber an ihrer Stelle stand die Schneefrau Yuki Onna dort, in einem eisblauen Kimono und schwarzen Haaren bis zu den Hüften. Ihre schneeweißen Augen sahen die Mutter herzlos und kalt an. 'Liebe Yuki Onna, hast du meine Tochter gesehen?', wollte die Witwe wissen. 'Das habe ich wohl', antwortete Yuki Onna. 'Doch lasse sie mir. Du hast zwei Töchter und ich keine. Gib mir eine von dir und ich will dafür sorgen, daß du bis an dein Lebensende weder Hunger noch Frost fürchten musst.' Die Mutter war entsetzt. 'Lieber will ich Hunger und Kälte leiden, als dir eines meiner Kinder zu lassen! Ich bitte dich, gib sie mir wieder!' 'Das werde ich nicht. Geh auf meinen Handel ein, oder eben nicht.' Die Mutter begann zu weinen und zu flehen, daß sie ihre Tochter zurück wöllte, aber die arglistige Schneefrau blieb hart. 'Ich weiß, daß du meine Tochter bis an ihr Lebensende furchtbar quälen würdest. Wenn ich meine Tochter also nicht wiederhaben kann, dann soll keine von uns beiden sie haben! Meine Tochter soll in deinem kalten Schnee-Griff auf der Stelle erfrieren und zu einem Eiszapfen erstarren, damit du ihr kein Leid mehr zufügen kannst!', schrie da die Mutter in ihrer Verzweiflung. Yuki Onna trat zur Seite und hinter ihr stand die ältere Tochter. Sie war in der Tat zu einer Eissäule erstarrt und tot, wie der Fluch es verlangte, den ihre Mutter ausgesprochen hatte. Darüber wurde Yuki Onna böse.“ Zaku kam langsam links herum um die Bühne gelaufen, der alte Pandabär rechts herum, während Ryuka oben endete: „Die Schneefrau zürnte sehr und sprach: 'Reich entlohnt hätte ich dich, hättest du mir ein Kind gegeben. Weil du mir aber deine eine Tochter verweigert hast, will ich dir auch die andere noch nehmen.' Und sie verwandelte das jüngere Kind in einen Pandabären, auf daß die Mutter fortan keine Freude mehr daran habe. Keinen zum Reden. Und keine Hilfe im Haushalt. Und keine Unterstützung im Alter. Und dabei blieb es.“ Dann zog Ryuka seine Bambusflöte aus dem Ärmel und drehte dem Publikum den Rücken zu, damit keiner sah, wie er sich seine Holzmaske so weit nach oben schob, daß sein Mund frei kam. Er begann, weiterhin von den Zuschauern abgewandt, ein langsames, trauriges Stück zu spielen. Zaku und Chirobi unten vor der Bühne tanzten dazu einen Ausdruckstanz, der die Qual und die Trauer der Mutter wiederspiegelte, die von Yuki Onna ihrer beiden Töchter beraubt worden war. Der Panda, der auf den Hinterbeinen aufgerichtet herumging und sich im Kreis drehte, brachte die Zuschauer so zum Staunen, daß erst leises Gemurmel und schließlich immer lauter werdender Applaus aufkamen. Manche waren durch die Intensität von Zakus traurigem Tanz auch zu Tränen gerührt und weinten hemmungslos. Das Fest, das Zaku im Sinn gehabt hatte, war in vollem Gange. Die Bauern hatten Essen und Getränke herbeigeschafft, daß es genug für alle war. Der fahrende Händler verteilte Sake aus großen Krügen. Die meisten Bauern waren damit beschäftigt, den zahmen Panda zu knuddeln oder Ryuka für sein Flötenspiel und seine Tricks zu bewundern, von denen er doch etliche mehr in petto hatte als er zugeben wollte. Und Ryuka genoss die viele Aufmerksamkeit spürbar. Er war gänzlich in seinem Element, wurde nicht müde die Menge zu unterhalten und ließ sich gehörig feiern. Zaku begleitete ihn ab und an auf dem Shamisen, wenn er musizierte, oder sie tanzte dazu, alles in allem ließ sie es aber wesentlich gemächlicher angehen als der beifallbedürftige Kopf der Theater-Truppe. Sie gesellte sich zu dem fahrenden Händler Kobayashi, der immer noch im Besitz ihrer goldenen Tempelstatue war, und sich gerade beim Feiern bester Laune gab. „Hallo, Süße!“, lallte Kobayashi ihr freudig entgegen, als er sie neben sich bemerkte. Er war schon merklich betrunken. Mit einem berechnenden Lächeln nahm Zaku den Krug mit Sake und goss ihm nochmal ordentlich nach. „Wie du tanzt ... Wahnsinn!“, lobte er, prostete ihr zu und trank. „Vielen Dank.“ Die nach wie vor als Wander-Geisha herumlaufende Göttin behielt ihr Lächeln bei. „Du bis' sicher, daß'u keine ... du weiß' schon ... Dienste anbietest?“, hakte er nach, zwar beschwippst, aber noch taktvoll genug, seine Tonlage etwas zu dämpfen. „Vielleicht ja doch“, schmunzelte Zaku und goss ihm gleich nochmal nach. „Ja?“ Seine Augen strahlten mit seiner roten Nase um die Wette. „Un' was wills'u dafür?“ „Später. Hast du Lust, ein Spiel mit mir zu spielen?“ „Was'n für eins?“ „Irgendein Glücksspiel. Hast du Karten? Oder Würfel?“, wollte Zaku zuckersüß wissen. Sie war natürlich nicht hier, um mit dem alten Knacker Spiele zu spielen. Genauso wie sie dieses ganze Fest hier nicht angeleiert hatte, damit die Dorfbewohner Spaß hatten oder Ryuka auf seine Kosten kam. Sie wollte einzig und allein, daß der Händler so betrunken wurde, daß er die goldene Tempelstatue endlich rausrückte. „Yoah, könn' wa machen“, willigte Kobayashi ein und angelte zwei Würfel aus seiner Ärmeltasche. Die warf er in einen Becher und stülpte diesen dann auf den Tisch um. Ein überlegenes Grinsen. „Die Würfel liegen, kein Betrug mehr möglich. Gerade oder ungerade?“, wollte er wissen. „Hmmm ...“ Zaku zog eine übertrieben nachdenkliche Schnute. Sie wusste natürlich, welche Zahlen gefallen waren. Wozu war sie eine Göttin? „Ungerade.“ Der Mann hob den umgestülpten Becher hoch. „Verdammisch, is' das dunkel hier. Ich seh' nüscht“, murrte er erstmal und ging mit der Nase nah an die Würfel heran. Seine verschleierte Sicht lag aber wohl eher am Alkohol als am Fackellicht. „Äh ... 2 und 4 ... gerade!“, urteilte er dann. Zaku nickte. Sie hatte ihn vorsätzlich gewinnen lassen. Das Spiel ging noch eine Weile weiter und sie achtete darauf, ihn den überwiegenden Teil der Würfe gewinnen zu lassen. Natürlich nicht alle, damit er nicht skeptisch wurde, aber doch genug, um ihn bei Laune zu halten. Dazu goss sie ihm immer fleißig Sake nach. Irgendwann schlug sie vor, doch um Einsätze zu spielen. „Um Einsätze? Um was zum Beispiel?“ „Wie wäre die goldene Götterfigur, die du da hast?“ Kobayashi feixte blöd. „Was wills'u mir denn für die bieten?“ „Mein Shamisen. Das hat auch Gold und Edelsteine verbaut.“ „Zu wenig. Für den Klunker will ich schon wenigstens 'ne halbe Stunde mit dir haben. Aber mit all'm drum und dran, wenn'u verstehst was ich meine.“ „Du verlangst viel“, bemerkte Zaku säuerlich. „Du ja auch.“ Der Händler griente wieder überlegen. Zaku atmete durch und tat so, als müsse sie reiflich nachdenken, ob es ihr das wert war. Eigentlich musste sie sich ja keine Sorgen machen. Sie wusste ja, welche Zahlen fielen. Dann nickte sie. „Okay, wirf.“ Kobayashi pfefferte enthusiastisch den Würfelbecher auf den Tisch. „Die Würfel liegen, kein Betrug mehr möglich. Gerade oder ungerade?“ „Gerade.“ Er hob den Becher. „3 und 3 ... gerade“, stellte er fassungslos fest. Er hatte jetzt nicht ernsthaft seine Gold-Ikone verjubelt, oder? Zaku nickte zufrieden. „Dann lass das goldene Mädchen mal rüberwachsen!“ Kobayashi fluchte ungeniert und goss sich erstmal einen weiteren Becher Sake in die Rübe, um den Frust zu kompensieren. „Ich will sie zurückhaben! Lass uns nochmal drum spielen!“, verlangte er dann. „Sicher, was bietest du?“, wollte Zaku stoisch wissen. „Eine Ladung Lebensmittel.“ „Einverstanden“, meinte sie. Natürlich würde sie ihn wieder verlieren lassen. In der dritten Runde setzte er zwei Stoffballen ein, die er ebenfalls verlor, in der vierten verlangte Zaku Informationen über den Mann oder die Männer, die ihm die Tempelstatue gebracht hatten. Sie wollte ja nach wie vor Rache für ihre tote Priesterin und ihren niedergebrannten Tempel. Da Kobayashi auch die vierte Runde verlor, erzählte er alles, was er wusste. Dann weigerte er sich, weiter mit ihr zu spielen. Aber das war in Ordnung für Zaku. Sie hatte ja alles, was sie brauchte. Überaus zufrieden sammelte sie Ryuka und O-Shikara ein, und nötigte die beiden, die Feierlichkeiten jetzt so langsam zu beenden. O-Shikara hatte in Kräftemess-Spielen wie Armdrücken ebenfalls einige Lebensmittel, Werkzeuge und Kleidungsstücke errungen, so daß ihre Weiterreise erstmal gut abgesichert war. Die Kleidungsstücke würden aber wohl eher Ryuka passen als dem riesenhaften Muskelpaket. Ryuka fiel es schwer, sich von seinem Publikum zu trennen, aber Zaku und O-Shikara machten ihm nachdrücklich klar, daß sie morgen noch die Bühne abbauen mussten und dann eine anstrengende Wanderstrecke vor sich hatten, wenn sie weiter wollten. Dazu sollte er besser halbwegs ausgeschlafen sein. Als die drei Animateure, die die Feierlaune maßgeblich am Laufen gehalten hatten, weg waren, kam auch der Rest des Dorfes denkbar schnell zur Ruhe. Zaku trug dem Panda-Tiergeist aber dennoch auf, ihre neuen Gewinne, insbesondere die goldene Statue, die ganze Nacht zu bewachen. Sie traute dem fahrenden Händler durchaus zu, sich die Figur in der Nacht heimlich wiederholen zu wollen. Der Wert von dem Ding war ja schließlich nicht ganz unbedeutend und sie konnte sich vorstellen, daß er sich gehörig ärgerte, sowas beim Spielen verzockt zu haben. Als Zaku am nächsten Morgen gähnend aus ihrem Zelt gekrochen kam – zwar noch hundemüde aber perfekt angezogen und frisiert, wie es sich für eine Göttin gehörte – fand sie Ryuka und O-Shikara schon fleißig bei der Arbeit. O-Shikara baute die schweren Holzbretter der Bühne ab, sein Chef versuchte alles möglichst platzsparend auf den Karren zu laden. Enthusiastische Hilfe hatten sie dabei von einem halbstarken Bauernjungen mit aufgeweckt blitzenden Augen. „Guten Morgen, Prinzessin“, grüßte Ryuka sie gutgelaunt. Als Göttin nahm sie so eine Anrede natürlich widerspruchslos hin, lächelte nur und kam näher, um sich in dem Wirrwarr aus Kisten etwas Essbares zu suchen. „Hast du gut geschlafen? Wir sind fast fertig. Wir können dann sicher bald los, wenn wir dein Zelt abgebaut haben“, fuhr er fort. Zaku nickte verstehend und einverstanden. „Wer ist der Junge?“, wechselte sie sofort konsequent das Thema und deutete zu dem kleinen Bretterstapel hin, der von der Bühne noch übrig war. „Weiß nicht. Irgendein Junge eben. Ist doch nett, wenn er uns hilft.“ „Hat er euch schon gefragt, ob er mit uns mitkommen kann, wenn wir weiterziehen?“ „Nein!?“, machte Ryuka verwirrt. „Dann tut er´s noch.“ „Wie kommst du darauf?“ „Er hat ein schon fertig gepacktes Bündel dabei“, machte Zaku ihn aufmerksam und neigte den Kopf vielsagend in die Richtung des Bauernjungen. Dann biss sie in einen Reiskuchen, den sie inzwischen gefunden hatte. Ryuka starrte einen Moment ungläubig auf den Jugendlichen, der mit O-Shikara emsig Holzkeile sortierte. „Du glaubst, er will sich uns anschließen? ... Willst du ihn denn dabei haben?“ „Nein“, meinte Zaku gleichmütig. „So pauschal? Willst du ihn nicht wenigstens was vorspielen lassen?“ „Nein.“ „Aber vielleicht ist er talentiert.“ „Ist er nicht. Er kann gar nichts. Er ist ein Einfaltspinsel, der zu faul ist, sein Leben auf den Reisfeldern seines Vaters zu fristen. Aber er taugt zu nichts.“ Ryuka warf ihr einen etwas unwilligen Blick zu, da er nicht verstand, woher sie aus der Kalten so ein Urteil fällen zu können glaubte. „Wir könnten aber etwas Zuwachs gut gebrauchen. Zu dritt können wir jedenfalls nicht bleiben, wenn wir als Theater-Truppe überleben wollen.“ „Aber bitte nur mit tauglichen Leuten. Wir können es uns genauso wenig leisten, Tölpel wie ihn durchzufüttern. Wenn wir mit ihm erstmal ein paar Tagesreisen weit weg sind, wird es zu spät sein, ihn wieder fort zu schicken.“ „Zumindest zum Auf- und Abbau der Bühne scheint er ja durchaus zu taugen!“ Zaku gab ein genervtes Stöhnen von sich. „Ryuka, du bist der Chef. Wieso fragst du mich denn, wenn du meine Meinung gar nicht hören willst? Nimm ihn doch mit, wenn du´s schon so entschieden hast, behellige mich nicht mehr mit diesen Diskussionen, und lass dich von der Realität eines Besseren belehren!“ „Ich will deine Meinung ja hören. Aber ich will sie auch nachvollziehen können. Du siehst ihn einen Moment lang aus der Ferne und weißt schon um sein Talent?“ „Irgendwann wirst du´s vielleicht verstehen“, entgegnete sie nur, biss wieder in ihren Reiskuchen und spazierte davon, um Chirobi zu suchen. Ryuka lehnte sich mit dem Hintern gegen den Karren und schaute O-Shikara und dem Bauernjungen beim Abbau der Bühne zu. Dabei grübelte er düster vor sich hin. Weniger über den Jungen als vielmehr über Zaku. Was für ein seltsames Spiel spielte sie hier? Eine Tempeldienerin hinter der Maske einer Wander-Geisha war sie jedenfalls nicht. Dafür war sie zu launisch und hatte zu sehr ihren eigenen Kopf. Mal ganz abgesehen davon, daß sie viel zu gut tanzte. Rituelle Tempeltänze waren das definitiv nicht, was sie gestern aufgeführt hatte. Nach einer Weile tauchte O-Shikara neben ihm auf und lud ein paar der letzten, verbliebenen Bühnenteile beim Karren ab. „He, guck nicht so finster!“, forderte er seinen jungen Chef auf und boxte ihm kumpelhaft gegen die Schulter. „Was' los?“ Ryuka schüttelte den Kopf und stemmte sich vom Wagen weg. „Nichts.“ „Muss ja ein richtig mieses Nichts sein ... Der Junge fragt, ob er mit uns kommen kann, wenn wir weiterfahren.“ „Tatsächlich?“, gab Ryuka unglücklich zurück. O-Shikara brummte bestätigend. „Ich hab ihm gesagt, daß ich das nicht entscheide.“ „Und was denkst du von ihm?“ „Ganz ehrlich? Er ist eine Plinse. ... Zugegeben, eine nette Plinse, aber trotzdem eine Plinse. Hat viele Flausen im Kopf, der Junge, und kühne Träume, aber nicht das Zeug, um diese Träume zu realisieren.“ Ryuka seufzte nur. „Ryuka! Ryuka!“ Sieh an, seinen Namen kannte der Rabauke also auch schon, dachte der junge Chef der Theater-Truppe und rollte kurz mit den Augen, bevor er stehen blieb und sich umdrehte. Eigentlich wollten sie doch gerade aufbrechen und das Dorf endlich verlassen. Der Junge, der ihnen beim Abbau der Bühne geholfen hatte, sprang ihnen in langen Sätzen nach. Dabei hatte Ryuka so gehofft, unbehelligt davon zu kommen. „Ryuka, warte auf mich!“ „Was gibt es?“ „Ich möchte mit euch kommen. Nehmt ihr mich in eure Theater-Truppe auf?“, wollte der Halbstarke ganz unverblümt wissen. Ryuka wischte sich mit dem Ärmel über die Nase, um seinen Unmut zu verbergen. „Wie heißt du denn, Großer?“ „Yoji, Herr!“ „Und wie alt bist du?“, hakte Ryuka nach. „Ich wurde gebohren im Jahr es Hahns.“ Er überschlug kurz im Kopf. „Fünfzehn, ja?“ „Ja, Herr.“ „Hör mal, Kind, so einfach ist das nicht. Ihr Bauern untersteht einem Feudalherren. Ihr seid Paria. Leibeigene. Euer Herr würde es gar nicht lustig finden, wenn du einfach verduftest. Wenn du volljährig bist und – woher auch immer – große Besitztümer zusammengetragen hast, kannst du dich vielleicht freikaufen und dich einer fahrenden Theater-Truppe anschließen. Aber du bist weder alt noch reich genug. ... nehme ich jedenfalls mal an. Oder ist dein Vater zufällig gewillt, für deine freiheitsliebenden Absichten aufzukommen?“ „Ich habe keinen Vater mehr. Ich bin der Mann im Haus.“ „Das ist ja noch schlimmer“, urteilte Ryuka halbwegs entsetzt. „Bedeutet dir deine Mutter so wenig?“ „Ich habe auch keine Mutter. Und meine jüngeren Schwestern leben bei Verwandten in einem anderen Dorf. Ich wohne allein.“ Ryuka zog ungläubig die Stirn in Falten. Das war ein armer, schicksalsgebeutelter Junge, zugegeben. Und sein Los war sicher nicht leicht. Aber trotzdem konnte er ihn nicht einfach mitnehmen. Der Lehensherr würde ihm nachhetzen, das Kind zurückfordern und seine Theater-Truppe wohlmöglich samt und sonders hinrichten lassen. „Was ist mit deinen Fünfer-Genossen? Willst du die etwa für deinen eigenen Egoismus opfern?“ Ryuka wusste, daß die Paria eines Dorfes vor dem Gesetz für gewöhnlich in Fünfer-Gruppen zusammengesteckt wurden, ohne Rücksicht auf irgendwelche Familien- oder Verwandtschaftsverhältnisse. Wenn einer von ihnen Mist baute, wurden alle fünf bestraft. Bekam man den Übeltäter nicht mehr zu fassen, mussten die restlichen vier an seiner Stelle den Kopf hinhalten. Keine schöne Sache, aber sehr wirkungsvoll, um unter den Leibeigenen für Ruhe zu sorgen. „Die sind mir egal“, behauptete der Junge voller Überzeugung. „Yoji ...“, meinte Ryuka tonlos. „Sowas wie dich will ich hier nicht haben, du gewissenloses Monster ohne jede Ehre im Leib. Sieh zu, daß du fort kommst!“ Damit winkte er O-Shikara und Zaku, weiter zu gehen, und wandte sich auch selbst ab, dem Weg zu. Mit einem zufriedenen Brummen setzte O-Shikara den Karren wieder in Bewegung. Auf einem Hügel hielten sie kurz an, um Luft zu holen und Ausschau zu halten. Vor ihnen erstreckte sich eine steinige Geröllstraße, die wie eine Trennlinie quer durch die grüne Ebene schnitt. Kein Mensch weit und breit zu sehen. Im Herbst waren nur noch wenige Händler unterwegs. Die meisten sahen sich schon jetzt nach sicheren Winterquartieren um, aus Angst, nicht mehr rechtzeitig eines zu finden, bevor der Schneefall einsetzte. Hier in den höheren Regionen musste man damit immer schon recht zeitig rechnen. „Den Berg runter müsst ihr mir mit dem Karren helfen“, meinte O-Shikara. „Alleine kann ich das schwere Ding auf so abschüssigem Gelände nicht halten.“ Ryuka nickte und ließ den Blick weiter schweifen. Zaku zeigte in die Ferne. „Da unten ist eine Kreuzung. Wir müssen weiter nach Westen. Der Kerl, der dem fahrenden Händler meine Tempelstatue gegeben hat, ist nach Shirakawa-Go gegangen. Leider war er alleine unterwegs. Die drei Halunken scheinen sich aufgeteilt und in verschiedene Richtungen versprengt zu haben. Aber vielleicht kann der Kerl in Shirakawa-Go uns ja sagen, wo wir die anderen beiden finden.“ Ryuka maß sie mit einem langen Seitenblick. Dann holte er vernehmlich Luft, um etwas zu sagen. „Zaku, auch auf die Gefahr hin, daß ich mich wiederhole, aber was willst du gegen den Mann ausrichten, wenn du ihn gefunden hast?“ „Ihn umbringen.“ „Und wie?“, hakte der Schauspieler nach. „Der hat ein ganzes Waffenarsenal. Du nicht.“ „Woher willst du das wissen?“ „Ich war zufällig dabei, als dein Tempel in seine Einzelteile zerlegt wurde!?“ Die Göttin verzog das Gesicht. Das konnte sie wohl nicht abstreiten. „Trotzdem, das wird dem Kerl nichts nützen“, meinte sie nur kryptisch, um die Frage nicht direkt beantworten zu müssen. Um ehrlich zu sein, hatte sie nämlich selber noch keine konkrete Idee dazu. Wie auch? Sie musste sich ja erstmal anschauen, mit wem sie es überhaupt zu tun hatte. Das würde sich schon finden, wenn es soweit war. „Übrigens, wenn ich das mal erwähnen darf: wir werden verfolgt.“ Ryuka und O-Shikara fuhren schlagartig herum. Kapitel 5: Straße nach Shirakawa-Go ----------------------------------- „Übrigens, wenn ich das mal erwähnen darf: wir werden verfolgt.“ Ryuka und O-Shikara fuhren schlagartig herum. Beide starrten eine Weile vergeblich zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Auf die Schnelle sahen sie niemanden. Dann stapfte der Muskelprotz plötzlich mit einem Brummen los, auf eine etwas entfernte Hecke zu. Die Hecke begann sich zu schütteln. Dahinter tauchte ein Junge mit einem geschnürten Bündel auf und ergriff die Flucht. O-Shikara beschleunigte seine Schritte, um ihn trotzdem einzuholen und zu schnappen. Und da er sehr viel größere Schritte machen konnte, erwischte er ihn auch ziemlich schnell. „Lass mich los, du Grobian! Ich hab dir gar nichts getan!“, jaulte Yoji, als er zu der fahrenden Theater-Truppe zurückgeschleift wurde. Ryuka erwartete die beiden mit verschränkten Armen und humorloser Mimik. „Dann erklär mir mal, warum du wegrennst!“, verlangte O-Shikara zu wissen. „Weil du hinter mir her warst! Da würde jeder Angst kriegen!“ Ryuka maß ihn mit einem geradezu richterlichen Blick und fragte dann ruhig: „Warum folgst du uns?“ „Tu ich nicht“, erklärte der Bauernjunge trotzig. „Ich kann ja nichts dafür, wenn ihr unbedingt in die gleiche Richtung reisen müsst wie ich.“ „Das glaub ich dir auf´s Wort, nachdem du uns heute früh gefragt hast, ob du dich uns anschließen kannst, und wir dich abgewiesen haben.“ Ryuka seufzte still in sich hinein. Was sollte er mit dem Jungen machen? „Geh wieder nach Hause“, bat er ernst. Auch wenn er vermutete, ihn zurück zu schicken würde genauso wenig fruchten wie die Anweisung heute morgen, gar nicht erst mitzukommen. „Ich geh nicht zurück. Und ihr könnt mich auch nicht dazu zwingen. Selber Schuld, wenn ihr zufällig die gleiche Route einschlagt wie ich.“ Ryuka und O-Shikara tauschten vielsagende Blicke. Dann brummte der Chef der Theater-Truppe ein leises 'meinetwegen' und machte sich übergangslos wieder auf den Weg, um weiter zu gehen. „Lass mich eins klarstellen, Junge“, meinte O-Shikara. „Du bist ein Paria! Wenn irgendjemand auftaucht, der nach dir sucht, werden wir dich verleugnen. Wenn einer fragt, wissen wir nicht, wer du bist oder woher du kommst. Wir haben keine Lust, unseren Kopf für dich hinzuhalten.“ Mit diesen Worten stapfte er Ryuka nach, ohne auf eine Antwort oder einen Einwand zu warten. „Ein 'willkommen bei uns' hätte es auch getan“, maulte Yoji. „Du BIST nicht willkommen!“ „Schon klar.“ Yoji wandte sich Zaku zu und strahlte sie freudig an, in der Hoffnung, daß wenigstens sie ihm wohlgesonnen wäre. Sie war ja schließlich eine Frau. Frauen hatten immer irgendwie Mutterinstinkte, wenn sie jemanden zum beschützen hatten. Aber auch die ging nur missmutig weiter. Die Truppe war den ganzen Nachmittag unterwegs, nur unterbrochen von kurzen Rasten. Gelegentlich zogen Zaku und Ryuka gemeinsam den Karren, damit O-Shikara sich etwas ausruhen konnte. Dann übernahm er das Gefährt wieder. Ohne Pferd war es doch recht mühsam, so einen Karren quer durch das halbe Land zu zerren. Aber die alte Chirobi wollten sie damit nicht belasten. Ihr Neuzugang Yoji bildete allzeit das einsame Schlusslicht. Keiner redete mit ihm. Nicht darüber, ob er etwas Bühnentaugliches konnte oder wie er sich die Arbeit in einer Theater-Truppe überhaupt vorstellte, und auch sonst über nichts. Sie waren immer noch ein wenig sauer darüber, daß er sie so dreist vor vollendete Tatsachen gestellt hatte. Irgendwann schloss Ryuka zu Zaku auf, die stets energiegeladen vorweg eilte, wenn sie nicht gerade half, den Karren zu ziehen. „Hör mal, Mädchen. Ohne dir zu nahe treten zu wollen, aber wer bist du wirklich? Oder sollte ich besser fragen 'was'?“ Sie warf ihm einen prüfenden Seitenblick zu. „Präzisiere die Frage!“ „Naja ... Wo soll ich anfangen? Du bist mit einem Tiergeist unterwegs, du kannst Musikinstrumente aus dem Nichts herbeiholen – und ich kaufe dir nicht ab, daß das ein Taschenspieler-Trick ist! – du kannst tanzen und Instrumente spielen, wie es kein profaner Tempeldiener können sollte ...“ Ryuka deutete mit dem Daumen über die Schulter nach hinten. „Du kannst Leute mit einem einzigen Blick einschätzen. Und du bemerkst Dinge, die keinem anderen Menschen auffallen. Wie hast du mitbekommen, daß Yoji uns folgt?“ Zaku atmete nur tief durch und wirkte dabei ein wenig ertappt. „Jedes für sich genommen würde mich vielleicht gar nicht skeptisch machen. Aber die schiere Masse der seltsamen Fähigkeiten, die du hast, macht mich hellhörig. Du scheinst normalen Menschen irgendwie auf undefinierbare Weise überlegen zu sein. Wenn ich raten müsste, würde ich sagen, du bist eine Dämonin, eine Yokai“, fuhr Ryuka überzeugt fort. Nun hatte er das Thema einmal angeschnitten, nun würde er es auch bis zu Ende mit ihr ausdiskutieren. Zaku schaute kurz zurück zu O-Shikara und Yoji, um einzuschätzen, ob die beiden in Hörweite waren. „Hast du manchmal Lust, der neue Priester unserer Göttin Zaku, der Gottheit der Kunst, zu werden?“ „Gott, nein, das wäre mein Albtraum“, lachte Ryuka auf. „Ich bin nicht dafür gemacht, in einem Tempel eingesperrt zu werden. Ich brauche die Freiheit, das weite Land, das Reisen, die Bühne und mein Publikum, sonst bin ich totunglücklich.“ Zaku nickte verstehend. „Außerdem ist das Priestertum matriarchalisch geführt. Das ist Frauensache. Da habe ich nichts zu suchen“, fügte er an. „Warum fragst du? ... Und überhaupt, was hat das mit dem Thema zu tun?“ „Komm heute Nacht in mein Zelt. Dann erkläre ich dir alles, was du wissen willst. Pass nur auf, daß dir keiner der beiden folgt“, bat sie mit Deut auf O-Shikara und Yoji. Ryuka verengte argwöhnisch die Augen. „Du und ich, alleine, nachts? Will ich wissen, worin das enden wird?“ „In nichts, was du nicht auch wollen würdest. Versprochen“, schmunzelte Zaku ihn verschwörerisch an. „Du bist echt komisch“, stellte der junge Chef fest. „Du wirst immer mysteriöser.“ Weil sie Shirakawa-Go heute ohnehin nicht mehr erreichen würden, richteten sie sich bereits am frühen Nachmittag ihr Lager ein, stellten die Zelte auf und nutzten die Zeit bis Sonnenuntergang dazu, an einem neuen Bühnenprogramm zu arbeiten, das sie zu zweit oder zu dritt bestreiten konnten, denn ihr Neuzugang zählte ja hochwahrscheinlich noch nicht als bühnenreif. Zaku spielte für Ryuka das Shamisen, damit der sich einen neuen Tanz choreographieren konnte, der es ihm erlaubte, seine Tengu-Rolle pantomimisch darzustellen. Denn alleine auf der Bühne zu stehen und einfach nur Märchen zu erzählen, machte so ganz ohne alles eben nichts her. Da die beiden damit gut beschäftigt waren, blieb es an O-Shikara hängen, den Nachwuchs unter seine Fittiche zu nehmen. Der Muskelprotz verschränkte die Arme und musterte Yoji finster. Der Junge war für sein Alter recht klein und – wie die meisten unter Entbehrung und Armut leidenden Bauernjungen – dürr wie ein Gerippe. Seine Haare waren herausgewachsen und verwildert. Er hatte ein kräftiges, breites Kinn und eine verwegene Nase, die nach einer langen Raufbold-Karriere aussah. Ein kleiner Giftzwerg also, der kein Eltern hatte, die ihm Manieren hätten beibringen oder auf ein gepflegtes Äußeres hätten achten können. „Na schön, Kamerad“, meinte O-Shikara. „Dann erzähl doch mal, wie du dir das Leben bei uns vorgestellt hast. Was willst du machen? Zu was bist du zu gebrauchen?“ „Ich weiß nicht“, gab er grinsend zu. „Aber ich bin lernfähig. Sagt ihr mir, was ich können soll, und ich lege los!“ O-Shikara stöhnte missmutig in sich hinein. Auch das noch. Der Junge konnte noch nichtmal irgendwas und musste erst alles beigebracht kriegen. „Gut. Ich bin groß und stark, du bist klein und leicht. Versuchen wir eine Akrobatik-Nummer. Ich werfe dich durch die Luft und fange dich wieder auf.“ „Und was soll ich machen?“, hakte Yoji schockiert nach. Er wurde schlagartig ziemlich grün um die Nase. „Einen Salto meinetwegen. Versuch dir einfach nicht das Genick zu brechen“, legte der bärtige Hüne fest, packte den Jungen mit beiden Händen um die Taille und hob ihn mühelos hoch, um ihn in der Luft zu wenden und ihn sich auf die Schulter zu setzen wie einen Papagei. „Ach du heiliges bisschen Reisfeld!“, keuchte der Junge überfordert. „Gib mir deinen Fuß. Ich werfe dich nach vorn-oben und du kommst mit einem Salto wieder auf dem Boden auf!“ „Bitte was!?“ O-Shikara wartete gar nicht erst auf Proteste, sondern holte Schwung. Yoji begann schreiend zu zappeln und zu rudern, wodurch er durch O-Shikaras Griff rutschte und ungelenkig zu Boden klatschte. „Aua ...“ „Du Pflaume! Stillhalten musst du schon! Wie soll ich dich sonst werfen?“, maulte der Muskelprotz ihn voll. „He, O-Shikara, lass den Jungen leben!“, verlangte Ryuka aus einigen Metern Entfernung, der das Spektakel mitbekommen hatte. Yoji stöhnte und rieb sich den angeschlagenen Ellenbogen. „Ich glaube, ich bleibe lieber bei Bodenakrobatik.“ „Nagut!?“, erwiderte O-Shikara sichtlich zweifelnd. „Einen Kontorsionisten können wir immer gut brauchen.“ „Einen was?“ „Kontorsionistik ist die Fähigkeit, alle seine Körperteile wie wild zu verdrehen und zu verbiegen. Schlagenmenschen quasi.“ „Das kann ich nicht ...“, jammerte der Neue in böser Vorahnung. „Oh, wenn ich mit dir fertig bin, kannst du das, verlass dich drauf! Ist nur eine Frage der Dehnung!“, drohte O-Shikara und zog ihn wieder vom Boden hoch. „Beginnen wir mit ein paar leichten Aufwärm-Übungen wie dem Fleischerhaken!“ Er verdrehte Yojis Arme nach hinten und mangelte sie ihm auf dem Rücken zu einem handlichen Paket zusammen. Der Junge schrie schmerzerfüllt auf. „O-Shikara, lass ihn bitte in einem Stück!“, rief Ryuka wieder herüber. „Die Mimose soll sich nicht so anstellen!“, gab der nur sorglos zurück. „Der ist doch kein Mädchen!“ Inzwischen war es dunkel geworden und der erste Schneefall hatte eingesetzt. Dieses Jahr wurde es verdammt zeitig kalt, dachte Zaku beunruhigt und stocherte im Lagerfeuer herum, damit es höher brannte. Sie hoffte inständig, daß sie ihre Reise nicht wegen des Wintereinbruchs vorzeitig abbrechen mussten. Ihr selbst machte die Kälte ja nichts aus, als Göttin war sie immun dagegen, aber die Männer würden vor dem Frost sicher schnell kapitulieren. Ryuka lief jetzt schon in dem am dicksten gefütterten Gewand herum, das er in die Finger bekommen hatte, und verkroch sich so viel wie möglich im windgeschützten Zelt. Dabei hatte der Winter noch gar nicht richtig begonnen. Mit einem müden 'Hallo' ließ Yoji sich neben ihr auf den Boden plumpsen und wärmte sich die Hände am Feuer. Zaku schaute auf ihn herunter. „Hi. Na, wie läuft es?“ „Was?“ „Deine Akrobatik-Übungen. Konnte O-Shikara dir schon einiges beibringen?“ Der Junge winkte nur ab. Wie er da am Feuer auf dem blanken Boden hockte und sich die Hände wärmte, wirkte er wieder wie der 15-Jährige, der er war. Noch ein halbes Kind. Auch wenn das Leben ihn schneller hatte erwachsen werden lassen. „O-Shikara sagt, bei mir reicht es bestenfalls zur Witzfigur.“ Zaku lachte leise. „So hab ich mir das Leben in einer fahrenden Theater-Truppe ehrlich gesagt nicht vorgestellt. Ich wollte kein Akrobat werden und Kunststückchen aufführen. Ich wollte schauspielern. Echtes Theater, weißt du?“, fuhr er traurig fort. „Ja, ich weiß. Aber dazu ist unsere Gruppe im Moment zu klein. Wir sind zu wenig Leute für ein vernünftiges Theaterstück.“ „Verstehe.“ Einen Moment war es ruhig zwischen ihnen beiden. Nur das Knacken des brennenden Holzes durchbrach die Dunkelheit. „Es ist noch gar nicht so lange her, da war diese Truppe viel größer“, begann Zaku sentimental zu erzählen. „Vierzehn Männer hat sie gezählt. Und sie waren verdammt gut. Aber sie sind alle verloren gegangen, in einer einzigen Nacht. Die beiden sind die letzten, die noch übrig sind. Sieh es ihnen nach, wenn sie manchmal etwas launisch wirken oder ungeduldig mit dir sind. Sie haben viel durchgemacht.“ „Stimmt es, was O-Shikara mir erzählt hat? Ihr habt in einem Tempel übernachtet und der wurde überfallen und niedergebrannt? Und alle, die drin waren, sind gestorben oder in alle Himmelsrichtungen versprengt worden?“ „Ja, das stimmt“, seufzte sie. „Nichtmal die Priesterin des Tempels wurde verschont. ... Das hat er dir erzählt? Warum?“ „Ach ...“, druckste der Junge etwas verbittert herum. „Er sagte, du stammst aus diesem Tempel. Der Tempel der Gottheit der 'Schönen Künste' soll es gewesen sein. Und ich soll dich fragen, ob du die große Göttin Zaku um ihren Segen bittest. Er meint, ich wäre dermaßen talentfrei, daß nur noch ein Gott mir helfen könnte, ein halbwegs passabler Schauspieler zu werden.“ Zaku verkniff sich ein Lachen. Wenn O-Shikara nur wüsste, wie richtig er mit dieser Einschätzung lag. Und Ryuka schien es auch langsam zu begreifen. „Was bedeutet eigentlich 'Schöne Künste'?“, wollte Yoji wissen, als er von der Geisha keine Antwort erhielt. „Ist Kunst nicht immer schön? Das muss doch nicht extra dazugesagt werden, oder?“ „Oh, doch, es gibt auch andere Künste als die 'Schönen Künste'. Die schönen Künste sind alles das, was man nur zum Vergnügen und wegen der Ästhetik macht, um sich daran zu erfreuen oder sich zu verwirklichen. Malen, Singen, Flöte spielen. Es gibt aber auch so Künste wie das Bushido, die Kriegskunst. Du kannst sagen was du willst, schön ist die nicht. Oder ganz praktische Künste wie das Holz-Zimmern oder das Metall-Schmieden. Das macht man nicht der Ästhetik wegen, sondern um gute, verwendbare Nutzgegenstände herzustellen. Um Häuser oder Werkzeuge zu bauen. Selbst der Ackerbau ist in gewisser Weise eine Kunst. Das kann nicht jeder, das muss man lange und mühsam erlernen.“ Ryuka musste ein Gähnen unterdrücken. Dabei war es noch gar nicht so spät. Sicher, sie hatten sich bereits in ihre Zelte zurückgezogen, um langsam die Nachtruhe ins Auge zu fassen, aber es war nicht so, als ob sie schon alle im Tiefschlaf hätten sein sollen. Er hatte O-Shikara gebeten, den Jungen im Zelt festzuhalten, und auch selbst nicht heraus zu kommen. Und wie er O-Shikara kannte, gehorchte er solchen Anweisungen seines Chefs auch zuverlässig. Trotzdem blieb er noch eine Weile draußen stehen, teils um zu warten, ob sich bei den beiden was tat, teils um seine Gedanken zu sammeln. Er hatte keine Ahnung, was jetzt gleich auf ihn zu kam. Er konnte sich auf alles und nichts gefasst machen. Zaku hatte versprochen ihm 'alles zu erklären'. Das suggerierte Übles. Entweder sie hatte maßlos übertrieben, oder er konnte sich jetzt warm anziehen. Nachdem bei O-Shikara und Yoji alles ruhig blieb, trat Ryuka also an das 'Frauenzelt' heran, das Zaku für sich alleine hatte, und puffte mit der flachen Hand gegen die Zeltbahne, um auf sich aufmerksam zu machen. „Zaku? Bist du da?“ Die Frage war nicht ganz unberechtigt, denn drinnen war es still und stockdunkel. Nichtmal eine Kerze hatte sie angebrannt. „Ja, komm rein“, rief es halblaut. „Bist du audienzfähig?“ „Natürlich“, gab Zaku empört zurück. „Glaubst du, ich würde dich reinbitten, wenn ich nicht ordentlich angezogen und hergerichtet wäre?“ „Man wird ja noch fragen dürfen“, grinste Ryuka amüsiert, als er seinen Kopf zum Zelteingang hereinsteckte. Als er wirklich nichts Anstößiges vorfand, folgte auch der Rest von ihm und er kam ganz herein. Immerhin, nachts mit ihr allein, das hatte ihm durchaus Grund zur Besorgnis gegeben. „Kerle! Ihr denkt immer nur mit eurem edelsten Teil.“ „Wer hat mich denn um so eine Tageszeit herbestellt und drauf bestanden, daß ich ohne Begleitung erscheine?“ Ryuka schaute sich verstohlen um, in der Hoffnung, heraus zu finden, was sie hier getrieben hatte, bevor er gekommen war. Aber es lagen keine Gegenstände herum, die auf irgendwelche Aktivitäten hingedeutet hätten. Es schien, sie hätte tatsächlich auf ihrer Sitzmatte herumgesessen und einfach nur tatenlos gewartet, daß die Zeit verging. Vielleicht hatte sie ja meditiert, das würde ausnahmsweise mal zu einer Tempeldienerin passen. Er pflanzte sich unaufgefordert ihr gegenüber auf den Boden und schaute sie erwartungsvoll an. Vom Lagerfeuer draußen kam noch genug Licht herein, daß er sie auch ohne Kerzen problemlos erkannte. „Also, da bin ich.“ Zaku nickte. Und holte vernehmlich Luft. „Ich breche für dich jetzt ein Gebot. Ich werde dir etwas zeigen, was du nicht sehen solltest. Und ich bitte dich, ruhig zu sein.“ Ryuka runzelte die Stirn. „Wird das gefährlich?“ „Nein. Nur unerwartet.“ „Okay!?“ Der junge Mann mit den langen, offenen Haaren zog sogar in Betracht, es hier mit keinem Menschen, sondern einem überirdischen Wesen zu tun zu haben. Er wusste beim besten Willen nicht, was jetzt noch unerwartet sein könnte. Aber er war offen für Überraschungen. Zaku legte die Hände aneinander, als wolle sie beten, und schloss die Augen. Ryuka blieb akut die Luft weg, als ihre Haare plötzlich zu einer wilden Löwenmähne hochstachelten, eine rubinrote Farbe annehmen und sie von einem ursprungslosen Lichtschimmer wie von einer Aura umgeben wurde. Ihre Gesichtszüge waren plötzlich ebenmäßiger, auch wenn man sie immer noch wiedererkennen konnte. Der Theater-Kimono wirkte auf einmal unglaublich edel, einfach nur aufgrund ihrer gesamten Ausstrahlung. „Du bist eine Gottheit“, keuchte Ryuka fassungslos und immer noch völlig außerstande, irgendwie adäquat zu reagieren. Er einzige Grund, warum er nicht schrie, war der, daß er nicht in der Lage dazu war. „Ich bin Zaku. Die Göttin der Schönen Künste.“ Ihre Stimme hallte nach wie der Anschlag einer Glocke. „Normalerweise darf nur mein Orakel mich in meiner wahren Gestalt sehen. Oder überhaupt mit mir in Kontakt treten, in dem Wissen, daß ich es bin. Für die normalen Menschen, wenn ich mich unter ihnen bewege, bin ich gleichwohl ein ganz normaler Mensch.“ Ryuka hatte immer noch vor Staunen den Mund aufgesperrt. „Darum hast du mich gefragt, ob ich dein Priester werden will. Damit du dich mir zeigen darfst“, brachte er gerade so mit Mühe hervor. „Das wäre schöner gewesen, ja.“ Endlich setzte bei dem Darsteller das klare Denken wieder ein. Er kippte aus seinem Kniesitz nach vorn, so daß er fast mit der Nase den Boden berührte, und begann ihr hektisch zu huldigen. Schlagartig legte ein paar Höflichkeitsstufen zu. „Es tut mir leid, daß ich Euch nicht eher erkannt habe, meine Göttin. Ich hatte keine Ahnung, in welcher Begleitung ich mich befinde. Hätte ich auch nur den geringsten Verdacht gehabt, würde ich mich Euch gegenüber anders verhalten haben. Ich entschuldige mich tausendfach für mein unangemessenes Benehmen.“ „Unsinn. Setz dich wieder auf!“, verlangte Zaku. „Du hättest mich nicht erkennen können. Ich habe dafür gesorgt, daß du es nicht kannst. Keiner von euch. Und ich wäre dir sehr verbunden, wenn die anderen beiden es nicht mitkriegen. Also ändere bitte nichts an deinem Verhalten. Benimm dich vor den beiden so, wie schon die ganze Zeit, sonst werden sie skeptisch.“ „Dürfen sie es nicht wissen?“ „NIEMAND darf es wissen!“, betonte Zaku streng. Ryuka setzte sich vorsichtig wieder auf. Er spürte, daß er zitterte. Vor Anspannung oder Ehrfurcht oder warum auch immer. „Hör zu. Ich mag eine Gottheit sein, aber auch die Macht von uns Göttern ist sehr begrenzt. Wir sind nicht allmächtig. Und auch wir können nicht immer überall sein. Es gibt sehr vieles, worauf wir keinen Einfluss haben. Um diese Verbrecher zu finden, die Natsuo getötet und meinen Tempel niedergebrannt haben, brauche ich Hilfe. Deine Hilfe, Ryuka. Ohne dich schaffe ich das nicht. Wirst du mir helfen?“ „Natürlich werde ich das!“, beeilte er sich zu bekräftgen. „Und ich werde auch Euer Priester, wenn Ihr das wünscht.“ „Musst du nicht“, lächelte Zaku und nahm wieder ihre harmlose, unverfängliche Form als Mensch an. Schwarze Haare, dunkelbraune Augen, nichts besonderes. „Du hast gesagt, daß du in einem freien Leben glücklicher wärst, und das gönne ich dir. Um ehrlich zu sein, würde mir und der Welt viel verloren gehen, wenn du deine Theater-Karriere beenden würdest. Es wäre schade um dein Talent.“ „Was wirst du tun, wenn du meiner Hilfe nicht mehr bedarfst?“, wollte Ryuka vorsichtig, fast furchtsam wissen. „Du sagst, ich dürfte nicht wissen, wer oder was du wirklich bist. Bringst du mich dann um?“ „Nur wenn du nicht in der Lage bist zu schweigen.“ Ryuka verneigte sich wieder mit der Stirn bis zum Boden hinunter. „Ich habe verstanden.“ Kapitel 6: Shirakawa-Go ----------------------- Erst spät am übernächsten Tag begegneten sie zum ersten Mal wieder irgendeiner Menschenseele. Ein Glück, daß sie auf der Feier im letzten Dorf genug Lebensmittel gehamstert hatten. „Hallo, Wanderer. Woher und wohin?“, grüßte Ryuka den mit einem Bündel beladenen, einsamen Reisenden, der ihnen entgegen kam. Der Fremde hatte ein freundliches Mondgesicht und ein schmieriges, altes Stirnband um den Kopf gebunden, das früher sicher mal weiß gewesen war. „Aus Shirakawa-Go, Herr“, gab der mit einer höflichen Verbeugung zurück. „Ich gehe in den Norden, um einen Verwandten zu besuchen.“ „Dann beeile dich. Auf dem Bergpass hat bereits der Schnee eingesetzt“, warf Zaku von der Seite ein. „Gib auf dich Acht, daß du nicht verloren gehst.“ „Danke. Ich will es beherzigen.“ „Wie weit noch bis Shirakawa-Go?“, wollte Ryuka wissen. Der Wanderer schaute nach dem Stand der Sonne. „Hm, vor Einbruch der Dunkelheit erreicht ihr es bestimmt noch, wenn ihr jetzt keine längere Rast mehr macht.“ „Okay.“ Der Fremde deutete auf die weiße Tengu-Maske, die Ryuka wie immer um den Bauch gebunden trug. „Seid ihr Theater-Leute?“ „Wir waren es. ... und werden es hoffentlich auch bald wieder sein.“ „Das sind schlechte Zeiten für Jungs wie euch“, raunte der Mann mit gedämpfter Stimme, als erzähle er ein Geheimnis. „In Shirakawa-Go ist Gold aus dem Tempel der Kunstgöttin aufgetaucht. Man sagt, der Tempel sei zerstört worden. Diese Göttin hat uns verlassen und wacht nicht mehr über die Ihren.“ Ryuka musste mit einem Schmunzeln kurz wegsehen, weil er dem Blick des Wanderers nicht mehr standhalten konnte. „Ich bin ganz zuversichtlich, daß sie noch mit uns ist. Seid unbesorgt. Aber habt trotzdem Dank für die Warnung.“ Zaku selbst lächelte nur wissend in sich hinein, sagte aber nichts. „Glaubst du, der, der das Gold nach Shirakawa-Go gebracht hat, ist noch im Dorf?“, fragte Ryuka an ihrer Stelle nach. „Wohl kaum. Mit diesem fluchbeladenen Gold wollen wir nichts zu schaffen haben. Wer weiß, was dem geschieht, der es annimmt. Wir wollen nicht den Zorn der Götter auf uns ziehen. Der Mann wird inzwischen wohl weitergezogen sein, um es wo anders zu veräußern.“ „Hast du mit ihm gesprochen? Weißt du, wie er aussah?“ „Gesprochen habe ich mit ihm nicht. Aber gesehen hab ich ihn wohl. Ich saß eines Abends im Gasthaus, um meinem zänkischen Weib zu entgehen – das ist schon eine Woche her – und habe einen Sake getrunken, da kam er herein und fragte den Wirt, ob er wisse, wo man das Gold eintauschen könnte. Ob er im Dorf jemanden wüsste, der es haben will. Er hatte ein sehr markantes Gesicht. Ihr würdet ihn erkennen, wenn ihr ihn sehen würdet. Er hat eine sichelförmige Narbe von der Stirn, um das rechte Augen herum, bis zum rechten Wangenknochen.“ Der Fremde zog beim Reden die Linie mit dem Zeigefinger in seinem eigenen Gesicht nach, um die Lage zu verdeutlichen. Ryuka nickte. „Vielen Dank für die Information. Dann wollen wir diesem Herrn mal besser aus dem Weg gehen, falls wir ihm begegnen, was?“, wollte er an Zaku gewandt wissen und rüffelte sie näckisch mit dem Ellenbogen. Zaku schenkte ihm ein humorloses, eingefrorenes Grinsen. „Wenn du das sagst ...“ Tatsächlich erreichten sie Shirakawa-Go mit dem letzten Sonnenstrahl und machten sich, nachdem sie ein geeignetes Plätzchen gefunden hatten, sogleich an den Aufbau ihrer Zelte, solange es noch nicht gänzlich dunkel war. „Das Dorf ist zu still“, bemerkte Ryuka unzufrieden. „Hier brauchen wir nicht auftreten. Das wäre vergebliche Mühe.“ „Wieso?“, fragte Zaku unwissend nach. „Erfahrungswert. Es wird keiner kommen, um uns zuzuschauen. Wenn sie uns nicht schon beim Aufbau der Zelte und der Bühne belagern, dann kommen sie auch nicht, um sich unsere Vorführung anzusehen.“ „Aber wir haben nichts zu essen mehr“, stellte Zaku klar. „Wenn wir nicht spielen, kriegen wir auch keine Lebensmittel. Wir haben unsere Vorräte auf der dreitägigen Reise hier her restlos aufgebraucht. Wir haben nicht mal mehr einen Krug voll Wasser.“ „Tja. Und dabei wird es heute auch bleiben“, brummte O-Shikara hinnehmend. Es schien, als hätte er solche Situationen schon mehr als einmal erlebt. Sowas kam halt vor, wenn man als Vagabunden-Gruppe quer durch das Land zog. Da hatte man eben nicht immer was zu essen. „Ich habe aber Hunger!“ „Dann geh betteln“, schlug Ryuka humorvoll vor und ging weiter, um Stoffplanen vom Karren zu holen, die er zum Aufbau der Zelte brauchte. Dabei sank seine heitere Laune plötzlich sichtlich. Er murmelte irgendwas davon, wie eiskalt das Flusswasser um diese Jahreszeit schon war, so daß Baden und Wäschewaschen zur Qual wurden. Zaku zog ein betrübtes Gesicht, während sie ihm hinterher schaute. Wenn sie selber hungern und im eiskalten Wasser baden musste, hatte sie wenig Probleme damit. Da stand sie drüber. Aber sie wollte nicht, daß Ryuka hungern und frieren musste. Inzwischen mochte sie den jungen Chef der Theater-Truppe verdammt gern, ganz unabhängig davon, daß er als Bühnendarsteller ohnehin unter ihrem Schutz stand und sie sich um sein Wohl zu sorgen hatte. Es dauerte nicht lange, bis Zaku sich alleine im Gasthaus einfand. Es hatte ein wirklich eisiger Wind eingesetzt, der sie am ganzen Körper schlottern ließ, so daß sie gründlich durchgefroren war, als sie durch die Tür stolperte. „Meine Güte!“, machte der Wirt, ein kahlköpfiger, dicklicher Mann im mittleren Alter, erschrocken und eilte ihr entgegen. „Wo kommst du denn her, um so eine Zeit und bei so einem Wetter?“ „V-Von draußen ...“, bibberte sie, in dem scheinbar kläglichen Versuch, einen Rest Humor zu bewahren. Die Kälte machte ihr nichts aus. Aber wenn sie als normalsterblicher Mensch durchgehen wollte, musste sie anderen Menschen Glauben machen, daß sie sehr wohl fror. Also trainierte sie mal ein bisschen ihr schauspielerisches Geschick. „Setz dich ans Feuer, Mädchen. Ich mach dir einen heißen Tee. Der geht auf´s Haus, so wie du aussiehst.“ „Das ist zu liebenswürdig. Danke.“ Zaku schaute sich um. In der kleinen Spilunke saß nur ein Dauergast am Tresen, ansonsten war hier alles leer. Die Gäste waren wohl entweder schon heim gegangen, oder kamen erst noch. Das konnte man um so eine komische Tageszeit schlecht sagen. Der Wirt hechtete hinter seinen Tresen und holte heißes Wasser von der Kochstelle, um ihr einen Grünen Tee aufzubrühen. „Bist du alleine, Kind?“ Zaku nickte. „Ich bin eine Wander-Geisha.“ „Ah ja. Und was führt dich ausgerechnet in unser kleines Dorf?“, hakte er nach und stellte ihr die Kanne und das Trinkschälchen hin. „Nur auf der Durchreise?“ „Um ehrlich zu sein, suche ich jemanden. Einen Mann mit einer sichelförmigen Narbe im Gesicht. Er verkauft Tempelgold und soll hier durchgekommen sein.“ Der Wirt verzog das Gesicht, als hätte er keine schöne Erinnerung an den Kerl. „Ja, ich entsinne mich. Der ist hier gewesen. Aber der ist leider schon weitergereist.“ Zaku nahm einen Zug von dem heißen Teeschälchen. „Tja, nicht zu ändern. Dann muss ich ihn weiter suchen. Sie wissen nicht zufällig, wohin er wollte, oder?“ „Nein.“ „Schade.“ Zaku nippte wieder am Tee und ließ den Blick schweifen. Aber das hatte sie ja beinahe erwartet. Der Wanderer hatte schließlich das gleiche gesagt. Der Wirt wischte sich die Hände an einem Putztuch ab, dessen Zipfel er sich in den Gürtel gesteckt hatte, so daß es immer griffbereit an ihm herab baumelte. „Kann ich dir sonst noch irgendwie weiterhelfen, Kind?“ Sie neigte nachdenklich den Kopf. „Ich könnte wirklich dringend Arbeit brauchen. Wissen Sie vielleicht jemanden, der Verwendung für die Dienste einer einfachen Geisha hat?“ Er bedachte sie mit einem abschätzenden Blick und runzelte die Stirn. So 'einfach' sah sie gar nicht aus. Ihre Kleidung war zu sauber und zu neu, ihre Frisur zu perfekt, ihre Schminke zu akribisch und zu aufwändig. Sie war eindeutig mehr als eine verkleidete Vagabundin. „An welche Art von Dienst denkst du denn genau?“ „Zur Not an alle.“ „Wie du meinst.“ Er wandte sich zu seinem Tresen um und stieß einen lauten Pfiff aus. Sekunden später öffnete sich dahinter eine unscheinbare Schiebetür und ein hageres Männchen kam heraus. Allem Anschein nach war er hier angestellt, wohl um die benutzten Reis- und Trinkschälchen aufzuwaschen. „Ja?“ „Ichigo, lauf doch mal rüber zu Herrn Kana und sag ihm, daß nette Gesellschaft da ist, die er sich dringend mal ansehen sollte.“ „Jawohl“, machte das drahtige Männchen und eilte davon. Als er zum Haupteingang hinaus verschwand, fegte ein kalter Wind in das Gasthaus. Der Wirt schauderte. „Verdammisch, es wird bald Winter. Viel Zeit, den Kerl mit der Narbe zu finden, hast du nicht mehr“, machte er Zaku klar. „Nimmst du heute Nacht hier bei mir Quartier?“ Die junge Frau schüttelte den Kopf. „Nein. Ich komme anderswo unter.“ Er brummte verstehend und verkrümelte sich dann. Zaku sah sich interessiert um, als sie in das große, luxuriöse Haus hereingebeten wurde. Das Zimmer, das sie betrat, war riesig, komplett mit wertvollen Strohmatten ausgelegt, hell erleuchtet und behaglich ausgeheizt. Im hinteren Teil saßen zwei pompös gekleidete Herren an einem niederen Tisch, die aßen, tranken und lachten. Das waren sichtlich reiche Leute, wohl hohe Verwaltungsbeamte, wurde Zaku klar. Kein Wunder, daß sie sich die Dienste einer Geisha leisten konnten. „Herr Kana, hier ist der Besuch, den ihr zu sehen gewünscht habt“, kündigte ein Diener Zaku an und trat beiseite, um sie einzulassen und den Blick auf sie freizugeben. Einer der Männer, der sich eindeutig angesprochen fühlte und sich dadurch als besagter Herr Kana zu erkennen gab, winkte Zaku näher. Er machte sich nicht die Mühe aufzustehen. „Komm näher, lass dich ansehen!“, verlangte er, ohne zu grüßen. Das machte ihn jetzt nicht direkt sympathisch, dachte Zaku, kam der Aufforderung aber trotzdem mit einem professionell-freundlichen Lächeln nach. „Es ist mir eine Ehre, daß Ihr mich empfangt, Herr.“ „Wie nennst du dich?“ „Aiko, mein Herr“, gab Zaku zurück. Einerseits, weil Geishas nie unter ihrem echten, bürgerlichen Namen auftraten, und andererseits weil sie auch keine große Lust verspürte, diesem Flegel ihren wahren Namen zu verraten. „Gesehen hab ich dich hier noch nicht. Wo kommst du her?“ „Aus dem Norden. Ich bin eine Wander-Geisha, Herr.“ „Alleine?“ „Nun ... nicht ganz. Ich reise in Begleitung einer fahrenden Theater-Truppe.“ Herr Kana verzog skeptisch das Gesicht. „Aber ich arbeite stets allein“, fügte Zaku also schnell an, damit er nicht glaubte, sein Haus würde im nächsten Moment von einer ganzen Gruppe Männer belagert sein. „Achso, dann ist es gut. Na dann ... du hast kein Musikinstrument, wie ich sehe!?“ „Oh doch, habe ich!“ Zaku holte aus dem Nichts ihr Shamisen herbei und nahm am Tisch Platz, um es auszupacken und zum Spielen vorzubereiten. „Wie!?“, machten die beiden Männer verwirrt. Zaku lächelte. „Der Kimono einer Geisha birgt viele Mysterien“, erklärte sie nur geheimnisvoll und gewollt zweideutig. Herr Kana klatschte laut in die Hände, da erschien der Diener wieder in der Tür und fragte nach dem Begehr. „Hol mir einen Sack Reis herbei!“ Das Mädchen musste aufpassen, nicht allzu perplex auszusehen. Ein ganzer 5-kg-Sack Reis war verdammt viel Kapital für die Dienste einer amüsanten Gesellschaft. Das würde ihr Auskommen über etliche Tage, vielleicht Wochen hinweg sicherstellen. Sie hatte sofort den Eindruck, daß er mehr als nur Musik und Tanz von ihr wollte, wenn er so viel zu zahlen bereit war. „Ihr ... Ihr seid zu großzügig“, murmelte sie vorsichtig. Herr Kana grinste nur schief. „Ich bin zuversichtlich, daß du es wert bist. Spiel schon, Mädchen!“, trug er ihr mit Deut auf die dreiseitige Gitarre auf. Zaku deutete zustimmend eine Verbeugung an und begann zu spielen. Chirobi hing bäuchlings über einer leeren, umgekippten Tonne und rollte darauf vergnügt immer hin und her. Die Tonne war so groß, daß sie nicht mit allen vier Pfoten auf den Boden kam. Entweder die Vorder- oder die Hinterbeine hingen immer in der Luft. Also wippte sie fröhlich immerzu vor und zurück. O-Shikara lächelte amüsiert. „Wir sollten dir das Laufen auf der Tonne beibringen. Das kommt bestimmt gut.“ „Equilibristik ist für einen Bären sicher schwer“, warf Ryuka nachdenklich ein. Aber an sich fand auch er die Idee reizvoll. „Was ist Equilibristik?“, wollte Yoji wissen. Als Neuzugang wusste der Junge natürlich noch lange nicht alles, was es zu wissen gab. „Alles, was mit Balance-Sachen zu tun hat. Auf einer rollenden Tonne zu laufen ist immerhin einfacher als auf einem Ball. Die Tonne kann dir im Gegensatz zum Ball nur in eine Richtung wegrollen.“ „Chirobi, lass mich mal auf das Ding drauf!“, verlangte O-Shikara und scheuchte den Panda von der Tonne herunter. „Ich zeig dir, wie das geht. Yoji, halt mal fest, damit ich auf die Tonne hoch komme, ohne mir die Ohren zu brechen.“ „Nagut, dann übt ihr mal euer Tonnenlaufen. Ich geh derweile Zaku suchen. Sie hätte längst wieder da sein sollen“, kündigte Ryuka an und schlang sich einen dicken Überwurf um die Schultern. „Yoji, was hältst du davon, wenn du auf den Schultern des Bären stehen und balancieren würdest?“, schlug der Muskelprotz noch vor, dann war Ryuka außer Hörweite. Nachdem sie einige Lieder für die beiden Männer gespielt hatte, legte sie das Shamisen zur Seite und versuchte die Männer in unterhaltsame Gespräche zu verwickeln, denn das war es, was Geishas für gewöhnlich taten. Aber die beiden hatten kein Interesse daran, daß sich eine Frau in ihre Unterhaltung einmischte. Herr Kana befahl ihr nur gebieterisch, weiter zu spielen. Zaku nickte leicht und holte die Bambusflöte aus ihrem Ärmel. „Steht euch der Sinn danach, zur Abwechslung einmal einem anderen Instrument zu lauschen?“ Der andere Mann erhob sich schwerfällig vom Boden. „Es ist spät. Ich denke, ich sollte eure Gastfreundschaft jetzt so langsam nicht mehr weiter strapazieren. Ich empfehle mich, Kana-san.“ „Dann sollte ich wohl besser auch gehen“, meinte Zaku vorsichtig. „Nein-nein, du bleibst noch ein bisschen, schönes Kind. Spiel für mich weiter. Spiel! Ich bin gleich wieder da. Ich verabschiede nur eben meinen Gast.“ Mit mulmigem Gefühl hob Zaku also die Flöte an die Unterlippe und spielte in den leeren Raum hinein, wo keiner ihr mehr zuhörte, nachdem die beiden Männer ihn plaudernd verlassen hatten. Der Diener, der sie vorhin schon ins Haus gelassen hatte, nutzte die Zeit, um den verlangten Sack Reis herein zu schleppen, hielt sich aber ebenfalls nicht unnötig lange auf, um ihrer Musik zu lauschen. Sie spielte beinahe drei Lieder durch, bis Herr Kana sich wieder blicken ließ. Diesmal hatte er eine Zofe mit einem Koto dabei. „Ich habe eine wundervolle Idee“, kündigte er an und wies der betagten Frau mit einem Wink einen Platz am Tisch. „Tanze ein bisschen für mich. Meine Kammerzofe wird für die nötige Musik sorgen.“ Zaku zog unmerklich eine Augenbraue hoch, weil sie nicht recht wusste, was sie davon halten sollte, gab dem Wunsch aber nach und erhob sich. Sie ging in ihre Ausgangspose, eine geschlossene Tanzhaltung, wartete darauf, daß die Melodie einsetzte und begann dann erstmal mit ein paar unspezifischen Bewegungen, die alles und nichts sein konnten, bis sie sich in die Stimmung und das Tempo eingehört hatte. Ein langsames, anmutiges Lied. Sie entschied, daß hier der 'Balz der Kraniche' gut passte, der diesem epischen Werk gerecht werden würde. Eine Weile tanzte Zaku elegant und überaus grazil vor sich hin. Das Tanzen machte ihr ja viel Spaß, aber die immer anzüglicher werdenden Blicke, die sie gelegentlich von Herrn Kana auffing, gefielen ihr umso weniger. Er zeigte sich von der reizvollen Darbietung äußerst angezogen. Schließlich stand er auf und kam mit herüber, wodurch er Zaku in ihrem Tanz unterbrach. „Darf ich um einen Tanz bitten, meine Schöne?“, schnurrte er zudringlich und schloss sie fest in seine Arme. Zaku keuchte ein schockiertes „Was!?“ und versuchte sich zu wehren, konnte sich in dem derben Klammergriff aber kaum bewegen. Herr Kana rang sie zu Boden und begann sich hemmungslos am Obi ihres Kimonos zur schaffen zu machen. Zaku keuchte völlig überfordert auf, als sie plötzlich schon halb ausgezogen war. Die Kammerzofe brach ihr Lied ab, stand auf, nahm ihr Koto und verließ mit einer Verbeugung den Raum. Statt Zaku zu helfen, ging sie weg und ließ ihren Herrn ungestört fortfahren. „Also ... ich darf doch bitten!“, jappste Zaku und strampelte. „Komm schon, tu doch nicht so, als würdest du das nicht kennen! Wozu bist du sonst hier?“, gab er nur humorlos zurück und drückte sie rücklings zu Boden ... „Ich bin sehr zufrieden. Deine zickige Art gefällt mir. Komm wieder!“, trug Herr Kana ihr auf, als er das Mädchen eine halbe Stunde später samt ihrem Sack Reis vor die Tür warf. So schwungvoll, daß sie strauchelte und auf den Knien im Matsch landete. Dann knallte die Schiebetür hinter ihr zu und sie saß in der eiskalten Nacht auf der Straße. Ihr Atem stieg stoßweise in dicken, weißen Kondenswölkchen empor und sie hatte Wasserränder in den Augen. Der junge Mann, dem sie bei ihrer Bruchlandung direkt vor die Füße gefallen war, blieb erschrocken stehen. „Zaku, ich hab dich schon überall gesucht!“, meinte er und griff nach ihr, um ihr hoch zu helfen. „Ist alles in Ordnung bei dir?“ Zaku konnte nur mit einem kurzen Blick registrieren, daß es tatsächlich Ryuka war, dann musste sie beschämt wegsehen. Ryuka musterte sie eingehend von oben bis unten. Die Festbeleuchtung des reichen Hauses bot ihm auch hier draußen noch genug Licht dafür. Sie war halb ausgezogen, hatte ihren Kimono nur flüchtig zusammengerafft. Ihre Haare hingen in wirren Strähnen herunter. Ihre Schminke war teils verschmiert. „Hast du etwa mit ihm geschlafen?“, wollte er fassungslos wissen. Nach einer freiwilligen Aktion sah ihm das nicht aus. „Ja.“ „Geschäftlich!!!???“, hakte er ungläubig nach. „Na, aus Spaß bestimmt nicht.“ „Warum tust du sowas?“ „Wir brauchen Essen. Ich kann euch nicht hungern lassen.“ „Bist du bekloppt? Zaku, du bist doch kein Freudenmädchen! Du bist eine Göttin! Wie kannst du dich zu so schmutziger Arbeit herablassen!?“ „Mir egal“, murmelte sie leise und wich seinem Blick weiter aus. „Oh Mann ...“ Ryuka zog sie an sich und schloss sie fest in die Arme. Er musste selber erstmal tief durchatmen. „Für eine Gottheit bist du echt furchtbar unvernünftig“, seufzte er. Er strich ihr zärtlich die Haare glatt, um sie und sich selbst zu beruhigen. Dabei schielte er aus dem Augenwinkel auf den Sack Reis. Für einen Sack Reis hatte sie das getan! Unglaublich. Er musste ein Kopfschütteln bewusst unterdrücken. „Ryuka?“, nuschelte sie nach einer Weile wehleidig. „Hm?“ „Kommst du mit mir ins Onsen?“ „Bitte!?“ Er schob sie auf Armlänge von sich, um ihr ins Gesicht sehen zu können. „Wir haben genug Reis, um den Eintritt ins Badehaus bezahlen zu können und danach immer noch Essen genug für uns alle zu haben. Lass uns heute Abend ein heißes Bad nehmen, allesamt. Ich finde, wir haben es verdient, nach allem, was passiert ist. Verdient, und nötig.“ Ryuka überlegte einen Moment zu lange. „Es ist dein Reis. Du hast dich hart dafür geschunden. Also entscheidest du, was damit zu tun ist. Wenn du uns dafür ins Onsen schleppen willst, wäre es wohl unhöflich von uns, das abzulehnen“, entschied er dann aber doch stoisch. Sie streckte beide Arme nach ihm aus, schlang sie um seinen Oberkörper und schmiegte sich wieder eng an. Wortlos. Unglaublich, wie zart und zerbrechlich so eine Göttin sein konnte, dachte Ryuka in diesem Moment. Fast schon hilflos. Er hatte sich ja noch nie einen Kopf darüber gemacht, wie die Gottheiten wohl waren, körperlich und psychisch gesehen. Aber so hier hatte er sie sich definitiv nicht vorgestellt. „Falls es dich beruhigt, das war nicht das erste Mal, daß ich mich mit einem Menschen eingelassen habe.“ Ryuka zischte leise. „Was soll mir das jetzt sagen? Das du weißt, was du tust?“ „Das du nicht eifersüchtig sein brauchst.“ „Was!?“ „Ich weiß, das dein Drang, mir ein schönes Leben zu machen, stärker geworden ist, seit du weißt, wer ich wirklich bin.“ „Und ist das verwerflich?“ „Im Gegenteil. Ich weiß es zu schätzen.“ Sie knuddelte sich noch etwas fester an. „Aber trotzdem, halte dich nicht an der falschen Annahme fest, daß du mich niemals kriegen könntest, während dieser Kerl mich haben durfte. Für einen Sack Reis!“ Ryuka schoss eine leichte Verlegenheitsröte ins Gesicht. Er hatte solche Gedanken in der Tat gehabt. Und sicher war es aussichtslos, das vor einer wahrhaftigen Gottheit abstreiten zu wollen. „Du bist ein Teil meiner Theater-Truppe, Zaku. Wenigstens für den Moment. Ich würde mich um jeden meiner Leute so sorgen. Nicht nur um dich.“ „Ich weiß.“ Ryuka schüttelte nun doch den Kopf, ohne selber richtig zu wissen, worüber. Wahrscheinlich über die gesamte Situationen an sich. „Du bist echt komisch, Zaku. Ich meine, für eine Gottheit bist du so unglaublich irrational. So menschlich. So ... keine Ahnung was.“ Zaku lächelte leicht. Auch wenn er das in dieser engen Umarmung nicht sehen konnte, in ihrer Stimme würde er dieses Lächeln hören. „Sprichst du uns Gottheiten etwa alle Gefühle ab? Wir haben auch Empfindungen. Wir können lieben und hassen, wie ihr. Wir sind barmherzig und machen uns Sorgen, aber wir sind bisweilen auch parteiisch und nachtragend. Wir können grausame Sadisten sein, sicher. Und wir können uns manchmal auch völlig unlogisch benehmen. Wir sind nicht perfekter als ihr Menschen es seid.“ „Aber ...“, wollte Ryuka irritiert wissen, „was unterscheidet die Götter denn dann von den Menschen?“ „Das gleiche, was die Fürsten von den Untertanen unterscheidet : sie herrschen.“ „Mehr nicht?“ „Ihr seid Götterkinder. Was soll euch Menschen denn da groß von uns Gottheiten unterscheiden, außer daß wir die Älteren sind?“ Kapitel 7: Hochseil-Akt ----------------------- „Langsam fühle ich mich von diesem elenden Schnee verfolgt“, seufzte Zaku, lehnte sich im Wasserbecken zurück und schaute in den nachtschwarzen Himmel hinauf. Inzwischen musste es fast Mitternacht sein. Sie saßen im lokalen gemischten Onsen, wo Männer und Frauen zusammen im gleichen Becken badeten. Es war nicht überdacht, nur eine heiße Quelle mit ein paar Sichtschutzwänden drum herum. Es war schweinekalt und Schneeflocken stoben durch die Luft. Das behaglich heiße Wasser, in dem sie saßen, dampfte in dieser nächtlichen Kälte, als würde man in einem Kochtopf sitzen. Zaku stützte sich mit den Ellenbogen hinterrücks auf den Rand. „Jeden Tag laufen wir dem Schnee davon, immer weiter nach Süden. Und jede Nacht holt er uns wieder ein.“ O-Shikara brummte nur zustimmend in sich hinein und schloss die Augen. Er schien tatsächlich in diesem heißen Becken ein Nickerchen halten zu wollen. Seine mächtigen Muskeln glänzten nass im Fackellicht. Zaku hatte ihn noch nie ohne Kleider gesehen. Erst jetzt fiel ihr auf, was für ein Kraftpaket der Mann wirklich war. Sonst versteckte er seine imposante Statur immer unter Yukatas und Umhängen. Ryuka dagegen wirkte neben ihm fast schmächtig, auch wenn er objektiv betrachtet durchaus eine sportliche Figur hatte. Er hatte seine langen Haare locker hochgesteckt, damit sie nicht ins Wasser titschten, wodurch seine Schultern noch ein wenig männlicher und breiter aussahen. Und ihr Neuzugang Yoji ... naja ... ein notgeiler 15-Jähriger eben, der sich an Zakus Oberweite die Augen ausglotzte und sich nur nicht getraute, sie anzufassen, weil links und rechts von ihm zwei stattliche Kerle im Wasser dümpelten, die ihn dafür in Stücke gerissen hätten. Er begnügte sich also damit, bis zur Oberlippe im Wasser zu versinken und kindische Blasen zu blubbern. Was allerdings ein wenig befremdlich war, war der Pandabär, der ebenfalls mit im heißen Wasser planschte und sich genüsslich aufwärmte. Wie Zaku den hier rein gekriegt hatte, wusste keiner. Der Betreiber von diesem Onsen hatte das sicher nicht erlaubt. „Wieso hast du deine Schminke erneuert, bevor du baden gehst?“, wollte Ryuka wissen, dem durchaus nicht entgangen war, daß Zaku längst wieder eine makellos sitzende Frisur und ein schneeweiß bemaltes Gesicht mit roten Lippen hatte. „Das wird dir hier im Wasser sowieso alles wieder zerlaufen.“ „Ich will damit ja nicht tauchen“, gab sie unbekümmert zurück. „Soll ich nachhelfen?“, grinste O-Shikara, doch noch munterer als gedacht. Zaku spritzte ihm mit den hohlen Hand eine Ladung Wasser ins Gesicht, als wolle sie ihm da zuvorkommen. Er quietschte protestierend auf. „Schade, ich hatte gehofft, du versuchst dich mal als Perlentaucher“, alberte er dann weiter und hob seine Hand über der Wasseroberfläche, damit man sah, daß er zwischen seine Beine zeigte. Damit wollte er klarstellen, welche Perlen er meinte. Ryuka warf ihm einen tadelnden Blick zu. „Lass solche Witze heute mal bleiben“, bat er so ernst, daß man ihm auf jeden Fall Gehör schenkte. Sicher war Zaku nach dem heutigen Abend nicht mehr in der Stimmung für sowas. Sie hatte O-Shikara und Yoji nicht gesagt, woher sie den Sack Reis hatte. Und Ryuka würde es ihnen auch nicht erzählen. „Na schön“, wechselte der Hüne bereitwillig das Thema. „Wie mir scheint, haben wir den Kerl mit dem Tempelgold hier in Shirakawa-Go nicht gefunden. Wie sehen unsere weiteren Pläne aus? Weiß jemand, wo er hin ist?“ „Wir sollten hier bleiben und üben. Ein vernünftiges Bühnenprogramm einstudieren und so. Auf unserem derzeitigen Stand wäre es erfolgversprechender, zu betteln, als vor den Leuten aufzutreten“, schlug Zaku vor. „Du willst hier Winterquartier beziehen?“, übersetzte Ryuka skeptisch. „Warum nicht?“ „Was ist mit den Kerlen, die wir jagen?“ „Die können wir im Frühjahr suchen. Der Schnee wird es innerhalb der nächsten Tage sowieso jedem unmöglich machen, weiter zu reisen. Weit werden die also auch nicht mehr kommen.“ „Und wovon sollen wir bis dahin leben?“, wollte O-Shikara wissen. Zaku zuckte gleichmütig mit den Schultern, was ihr einiges an schauspielerischem Talent abnötigte. „Da, wo ich den Sack Reis her habe, gibt es noch mehr.“ „Ooooh nein!“, hielt Ryuka sofort vehement dagegen. „Du wirst uns nicht den ganzen Winter lang ernähren! Nicht so!“ „Der Mann ist sehr großzügig.“ „Nein!“ „Bis zum nächsten Dorf sind es drei bis vier Tage Fußmarsch! Ich habe keine Lust, auf halber Strecke vom Wintereinbruch überrascht zu werden und verloren zu gehen, weil wir im Schnee den Weg nicht mehr finden!“ „Wir werden schneller sein als der Schnee!“ O-Shikara und Yoji ließen den Blick zwischen Ryuka und dem Mädchen hin und her wandern, waren aber beide klug genug, nicht dazwischen zu quatschen. „Wir ziehen weiter, solange wir noch können! Wir finden ein besseres Winterquartier als das hier“, legte Ryuka streng fest. Und dabei blieb es. Zaku nahm die Ellenbogen von der Beckenkante, weil ihr langsam kalt wurde, und tauchte wieder bis zum Kinn im Wasser unter. „Aber ich will morgen gefälligst ordentlich ausschlafen, bevor wir weiterziehen!“, verlangte sie. „Damit kann ich leben.“ „Gut.“ „Und tu sowas wie heute nie wieder, verstehst du mich?“ Zaku schaute mürrisch zur Seite. Als ob sie das gern gemacht hätte! Sie verstand nicht, warum Ryuka ihr Vorwürfe dafür machte, daß sie nur hatte helfen wollen. In den frühen Morgenstunden, als es gerade ansatzweise hell wurde, wurde Ryuka von gepressten, würgenden Geräuschen geweckt. Hellhörig kämpfte er sich aus seiner dicken, warmen Decke frei und tappte aus dem Zelt heraus. Draußen sah er zuerst Zakus Hintern, der hinter ihrem Zelt hervorragte. Sie übergab sich ein weiteres Mal in die Wiese. Danach kam sie mit mattem Gesicht wieder hervor und atmete betont durch. „He, ist alles okay bei dir?“, wollte Ryuka besorgt wissen. Zakus Gesicht verdunkelte sich etwas, als sie ihn bemerkte. Sie war gar nicht begeistert davon, daß er das mitbekommen hatte. Sehr göttlich war das schließlich nicht. „Das ist nur ein Hitzschlag. Ich war zu lange im heißen Onsen. Sowas passiert.“ „Du hast so hart für dein Essen gearbeitet und dann spuckst du es wieder aus?“ „Halt bloß die Klappe ...“ Ryuka kicherte leise. „Ich dachte, du wolltest lange ausschlafen!?“, zog er sie weiter auf. „Sei ruhig, hab ich gesagt!“, maulte Zaku beleidigt. „Schon gut“, meinte der junge Chef erheitert. Er schaute sich suchend um. „Wo ist eigentlich Chirobi?“ Zaku sah ebenfalls in die Runde. Der alte Panda-Tiergeist schlief sonst immer an der Feuerstelle, halb Wachhund, halb Feuerhüter, damit der Wind aus der wegfliegenden Glut keinen Flächenbrand machte. Aber jetzt war ihr Schlafplatz verwaist. „Sie ist weg“, stellte Zaku verwundert, aber korrekterweise, fest. „Wohin?“ „Ich weiß nicht.“ Er zog die Stirn in Falten. „Macht sie das häufiger?“ „Nein. Das ist das erste Mal“, murmelte die Göttin und grübelte dabei sichtlich, was das bedeuten könnte. Ryuka ließ den Blick wieder schweifen, entdeckte den Pandabären aber nirgends. Es war allerdings auch noch viel zu dunkel, um recht weit sehen zu können. „Ich werde sie suchen gehen“, entschied Zaku. „Du meinst: 'WIR werden sie suchen gehen'.“ „Das wollte ich nicht voraussetzen. Es ist lieb, wenn du mitkommen willst, aber du musst es nicht. Ich kann auf mich aufpassen.“ „Das habe ich gesehen“, kommentierte Ryuka zynisch. Zaku rollte mit den Augen. „Du vertraust mir nicht.“ „Für eine Göttin bist du jedenfalls recht schutzbedürftig.“ Sie zeigte auf die Spuren am Boden. „Zum Glück hat es geschneit“, meinte sie nur, um das lästige Thema zu umgehen. „Erstaunlich. Ich wusste gar nicht, daß Geister im Schnee Spuren hinterlassen.“ „Ich hätte mir was Wärmeres zum Anziehen mitnehmen sollen“, maulte Ryuka, der krampfhaft die Arme vor der Brust verschränkt hatte, um seine Körperwärme beisammen zu halten. Er hatte sich zwar immerhin noch Schuhe angezogen und einen Yukata übergeworfen, bevor sie losgelaufen waren, aber in der Schneelandschaft war das bei weitem zu wenig, wie er jetzt merkte. „Frierst du nicht?“, wollte er von Zaku wissen, die im leichten Kimono entspannt neben ihm herwanderte, mit Schneeflocken in den Haaren, und sich an dem eisigen Wind gar nicht zu stören schien. „Nein. Wir Gottheiten sind halbwegs resistent gegen die Kälte.“ Ryuka nickte nur. „Wir sind schon ganz schön weit vom Dorf weg“, meinte sie. „Ja. Und es hat wieder angefangen zu schneien. Wenn wir Chirobi nicht bald aufspüren, werden wir den Rückweg nicht mehr finden, weil der Schnee alle Spuren zudeckt.“ „Wenigstens ist es inzwischen hell.“ „Hör mal, willst du ernsthaft in diesen Wald rein?“, sprach Ryuka endlich das Thema an, das ihm schon die ganze Zeit auf der Seele brannte. Den Wald auf der Anhöhe hatten sie schon eine ganze Weile aus der Ferne gesehen. Und langsam war klar, daß die Spuren des Pandas, denen sie folgten, direkterweise darauf zuhielten. „Warum nicht?“ „Weil es ein Wald ist, und Winter?“ „Ach was. Der Schneefall hat erst gestern eingesetzt. Der Wald ist noch schneefrei und passierbar.“ „Um so schlimmer. Wenn da drin noch keine geschlossene Schneedecke liegt, werden wir Chirobi da drin erst recht nicht finden. Weil wir dann keine Spuren mehr haben, denen wir folgen könnten.“ Zaku winkte ab und deutete stattdessen vor sich in den Schnee. „Sieh dir das an. Fußspuren von einem Menschen.“ Tatsächlich, stellte Ryuka erstaunt fest. „Ist Chirobi in Begleitung?“ „Ich glaube eher, sie hat jemanden verfolgt“, überlegte Zaku und schaute zurück, um abzuschätzen, seit wann die Fußspuren sich schon dazugesellt hatten. Chirobi war direkt über die Fußspuren des Menschen gelaufen und hatte sie damit halb verwischt, so daß sie beide gar nicht bemerkt hatten, daß sie eigentlich schon seit einer Weile zwei Fährten verfolgten. „Zaku, ehrlich, wir sollten umdrehen. Wer weiß, mit wem Chirobi sich da angelegt hat. Ich habe keine Lust, es heraus zu finden. Wir sollten zurückgehen, solange unsere Spuren noch sichtbar sind.“ „Chirobi wird uns zurückführen, wenn wir sie gefunden haben.“ „Woher willst du wissen, ob sie überhaupt noch lebt?“, verlangte Ryuka ein wenig hysterisch zu wissen. Zaku warf ihm einen Blick zu, der an seine Vernunft appellierte. „Sie ist ein Geist. Geister können nicht so einfach getötet werden. Jedenfalls nicht von euch Menschen.“ Ungerührt ging sie weiter. Der Chef der Theater-Truppe stöhnte resignierend und ging notgedrungen mit. Er schlang die Arme fester um seinen kälteschlotternden Körper und machte sich dabei eine gedankliche Notiz, Zaku in Zukunft nicht mehr ständig retten und beschützen zu wollen. Es brachte ihm nichts als Ärger. Seine anfängliche Ehrfurcht vor der Tatsache, daß sie eine leibhaftige Gottheit war, war angesichts ihrer bodenständigen, viel zu menschlichen Züge schnell wieder gewichen. „Oh“, machte Zaku nach ein paar Metern. „Siehst du, was ich sehe?“ „Das da wäre?“ „Eine Schlucht. Da vorn steht eine Hängebrücke ... oder was davon noch übrig ist.“ Ryuka musste gehörig die Augen anstrengen, um durch den Schleier sanft dahinrieselnder Schneeflocken etwas zu erkennen. Aber beim Näherkommen sah er es auch. Von der hölzernen Hängebrücke war nicht viel mehr übrig als ein einzelnes Hanfseil, das einst als Handlauf zur Sicherung gedient haben musste. „Warum baut jemand eine Brücke mitten ins Nirgendwo?“ „Wahrscheinlich war das früher kein Nirgendwo. Die Gegend scheint bloß seit einer ganzen Weile nicht mehr bewandert zu werden. Vielleicht gab es hier früher sogar eine Handelsstraße, die inzwischen unter Gras verschwunden ist. Wenn ich die Karten von Japan richtig im Kopf habe, liegen in dieser Richtung Hida und Takayama, beides wichtige Handelsposten.“ Der junge Mann stutzte. „Dazu müsste man tagelang quer durch´s Gebirge“, hielt er dann ungläubig dagegen. Als fahrender Künstler, der sein Leben lang auf Reisen gewesen war, hatte er natürlich auch ein bisschen Ahnung von den geographischen Gegebenheiten des Landes. „Das wäre total gefährlich.“ „Das ist vielleicht der Grund, warum man die Strecke aufgegeben hat und die Handelsstraße heute einen Umweg nach Süden macht.“ „Na schön. Aber egal wie man es dreht, ein Pandabär wird über diese Schlucht wohl kaum drübergekommen sein.“ „Doch, durchaus. Chirobi kann verschwinden und drüben auf der anderen Seite wieder erscheinen“, erzählte das Mädchen derart selbstverständlich, als wäre das was ganz Normales. „Sie ist ein Geist“, fügte sie dann auf Ryukas dummen Blick hin noch an. „Und ja, ich kann das auch, verschwinden und wo anders wieder erscheinen. Ich bin eine Gottheit.“ „Aha. Also seid ihr Gottheiten uns Menschen doch irgendwie überlegen.“ „Hast du daran gezweifelt?“, zog Zaku ihn mit einem albernen Grinsen auf. Inzwischen waren sie an der Schlucht angelangt und schauten sich die Misere aus der Nähe an. Der Schnee war aufgewühlt, als hätte es einen Kampf gegeben. Es leuchteten sogar ein paar rote Blutflecken im Eis. Aber die Fußspuren gingen auf der anderen Seite der Schlucht weiter und führten in den Wald hinein. „Tja, wer auch immer das war, Chirobi hat ihn offenbar erwischt.“ „Er hat sich wohl über das Seil nach drüben gerettet.“ „Das dürfte ihm nichts genützt haben“, überlegte Zaku leise und schaute in die Schlucht hinunter. Unten floss ein kleiner Bach, der noch nicht zugefroren war, und es lag ein herrenloses Bündel am Ufer. „Ich geh mal gucken, was das ist.“ Ein Wimpernschlag und sie war spurlos verschwunden, als hätte sie nie hier gestanden. Erstaunt schaute Ryuka nach unten und fand die Gottheit unten am Wasser, wie sie sich gerade nach dem Bündel bückte und es öffnete. Sie betrachtete kurz den Inhalt und ... stand plötzlich wieder neben Ryuka, der sich tierisch erschreckte. „Das ist ein Teil meines Tempelgoldes“, berichtete sie und ließ ihn einen Blick auf den blitzenden Inhalt werfen, bevor sie das Tragetuch wieder verschnürte. „Wenn ich raten müsste, würde ich sagen, Chirobi jagt den Kerl mit der Narbe im Gesicht.“ „Dann sollten wir wohl weiter nach ihr suchen.“ „Kommst du denn da rüber?“, fragte sie mit Deut auf das Seil nach, das als letztes Überbleibsel der Hängebrücke noch die schmale Schlucht überspannte. „Ich hab früher mal Hochseiltanz gelernt. Bei der fahrenden Theater-Truppe hatte ich bloß keine Verwendung mehr dafür. Man kann so eine Seilkonstruktion auch unterwegs aufbauen. Damit die das Gewicht eines Menschen trägt, ohne zusammen zu klappen, wäre das zwar ein ziemlich aufwändiges Konstrukt aus Fixierungsleinen, die nur haltbar genug verankert werden müssen, aber wir wollten so eine Anlage nicht ständig mit uns rumschleppen. Unsere Bagage und das ganze Bühnenholz waren auch so schon schwer genug.“ Ryuka schaute wieder in den Abgrund hinunter und blies die Wangen auf. „So hoch war ich mit meinem Seil allerdings noch nie.“ „Du hast ja immerhin die Göttin der Künste an deiner Seite. Ich pass schon auf dich auf, daß du heil da rüber kommst, ohne abzustürzen. Ich versichere dir, daß dir der Seiltanz gelingen wird.“ „Deine moralische Stütze alleine wird mich auch nicht auffangen“, grinste Ryuka. „Ich sollte mich besser kopfüber hängend rüber hangeln, so wie es der andere Kerl vermutlich auch gemacht hat.“ „Du weißt doch, worauf es beim Seiltanz ankommt. Nicht auf das Seil schauen, sondern auf das gegenüberliegende Ende drüben. Den Fuß längs auf das Seil setzen, nicht quer. Und am besten leicht in die Knie gehen, für die Balance.“ „Ja, ist mir alles klar. Aber ich würde mich wohler fühlen, wenn ich zumindest eine Balance-Stange hätte.“ Zaku streckte ihm beide Hände hin. „Komm her, ich halte dich“, schlug sie vor. Langsam wurden ihre Haare und Augen wieder weinrot und sie wurde in einen leichten Lichtschein eingehüllt. Sie zeigte sich wieder als die Gottheit, die sie war, um ihm Vertrauen zu geben. Sie war die Göttin der Kunst, das hier war ihr Metier. Ihr Handwerk. Sie konnte nicht abstürzen. Und selbst wenn er straucheln sollte, würde er es nicht schaffen, sie mit sich in die Tiefe zu reißen. Sie würde ihn in jedem Fall halten können, das sollte er spüren. Ruhig und zwanglos ging sie rückwärts auf das Seil zu und zog den Schauspieler einfach mit sich. Ohne, daß sie hinsehen musste, fand ihr Fuß das Seil, das ein Jô weit von der Schlucht entfernt mit einem massiven Holzpflock in den Boden getrieben war und beinahe auf der Klippenkante auflag, so daß man bequem aufsteigen konnte. „Das Seil ist nicht sehr straff gespannt ...“, bemerkte Ryuka unwohl, ließ sich aber trotzdem widerstandslos mitziehen. „Ich weiß. Mach dir keine Sorgen darum“, gab Zaku mit warmer Stimme und einem zuversichtlichen Lächeln zurück und zog ihn auf das Seil hinauf. „Zu zweit auf dem Seil zu stehen, macht es nicht gerade einfacher, die schaukelnden Bewegungen des Seils auszubalancieren.“ „Es wird nicht schaukeln.“ „Na, du bist ja optimistisch ...“ Sicher und gelassen setzte Zaku einen Fuß hinter den anderen und spazierte förmlich blind rückwärts über das Seil, die ganze Zeit Ryuka mit beiden Händen stützend. Und anfangs nahm er es auch vertrauensvoll an. Als sie mittig über der Schlucht waren, konnte er es allerdings doch nicht mehr unterlassen, sich umzusehen. Sofort packte ihn ein Schwindelgefühl und er verwackelte seine Balance. Sein Gleichgewicht sackte ins Leere, als das Seil unter ihm zur Seite wegschwang. Aber Zaku stabilisierte ihn auf der Stelle wieder, scheinbar ohne große Mühe damit zu haben. „Wuuoooh!“, stöhnte der junge Mann schockiert und pendelte sich wieder aus. „Nicht nach unten sehen.“ „Nein, lieber nicht, da hast du Recht.“ Einen Moment lang fragte er sich, wo Zaku eigentlich das gefundene Bündel mit dem Tempelgold hingepackt hatte, und ob O-Shikara schon wach war und nach ihnen suchte, ermahnte sich dann aber, sich wieder auf das Seil zu konzentrieren. Konzentration war das A und O auf dem Hochseil. Als Ryuka sicher und heil auf der anderen Seite angekommen war, merkte er deutlich, wie eine ungeheure Anspannung von ihm abfiel. Über einen metertiefen Abgrund zu balancieren, war schon ein herber, psychologischer Faktor. Anders als auf der lächerlichen Seilanlage. „Oh Mann ... muss ich da nachher wirklich wieder zurück?“ „Was denn? Du hast das doch gut gemacht“, sprach Zaku ihm Mut zu, die inzwischen schon wieder ihre normalmenschliche Erscheinung angenommen hatte. Trotz der kaum noch bunten, größtenteils schon kahlen Bäume lag kein Schneekörnchen im Wald. Der Wind hatte es noch nicht geschafft, den Frost ins Holz zu treiben. Alles wirkte irgendwie tot und trostlos. Obwohl sie keinerlei Spur mehr hatten, die sie hätten verfolgen könnten, marschierte Zaku zielstrebig weiter. Sie schien sehr genau zu wissen, wohin sie musste. Plötzlich brach ein riesiges Tier durch die Büsche und stürmte brüllend auf sie zu. Ryuka machte schreiend einen Satz zur Seite, so daß der schwarz-weiße Bär Zaku erwischte und zu Boden riss. Auf allen Vieren über dem Mädchen stehend schlabberte er ihr quer durch das Gesicht. Zaku lachte laut auf und begann sich zu winden. „Chirobi, hör auf, das kitzelt! Benimm dich!“, verlangte sie. Ryuka versuchte hyperventilierend seinen rasenden Herzschlag wieder zu beruhigen. Mann, hatte der Tiergeist ihn erschreckt! „Chirobi, du versaust meine ganze Schminke!“, jaulte Zaku gespielt protestierend weiter. Da ließ der Panda von ihr ab und sie konnte sich zumindest wieder aufsetzen. „Was tust du hier? Warum bist du aus dem Lager verschwunden?“ Chirobi quäkte bedauernd, dann schnaubte sie. „Ich weiß. Wir haben das Tempelgold im Fluss gefunden. Hast du ihn erwischt?“, hakte sie nach. Sie konnte mit dem Pandabären tatsächlich reden??? Der Tiergeist machte Kehrt und trabte davon. Ryuka und Zaku hatten Mühe, mit ihr Schritt zu halten. Sie kämpften sich noch ein ganzes Stück weiter in die Tiefen des Waldes vor, bis Chirobi stehen blieb und nach oben schaute. Zaku schlief kurz das Gesicht ein. Da oben in den Wipfeln baumelte ein Mann kopfüber an einem Bein aufgehangen. „Meine Güte ... Ist der tot?“, keuchte auch Ryuka erschrocken. Zaku nickte. „Er ist mit dem Fuß in eine Schlingfalle geraten. Hat sich wohl das Genick gebrochen, als er in die Höhe gerissen wurde.“ Chirobi heulte wieder wehleidig auf. „Ich weiß, daß du ihn mir lieber lebend bringen wolltest, Chirobi“, murmelte Zaku abgelenkt und tätschelte dem alten Panda den Kopf. „Das ist nicht deine Schuld.“ „Wer baut hier mitten im Nirgendwo solche Fallen auf?“, empörte sich Ryuka. „Leben hier draußen noch wilde Naturvölker?“ „Ich glaube, wir sollten nicht hier bleiben, bis wir das rausfinden. Lass uns gehen“, trug sie ihm schaudernd auf, riss sich von dem Anblick des baumelnden Toten los und schlug den Rückweg ein. Ryuka sah ein paar Mal zwischen Zaku und dem Toten hin und her. Wieso hatte Zaku es plötzlich so eilig, hier wieder weg zu kommen? Dabei fiel ihm auf, daß er Zaku ziemlich häufig nicht verstand. Schulterzuckend schloss er sich dem Mädchen also an. Was hätte er auch sonst tun sollen? Den Toten herunterholen? Da hatte er irgendwie keine Lust drauf. Kapitel 8: Buddha ----------------- Zwei Tage später waren sie wieder auf Reisen und auf der schier endlosen Handelsstraße zum nächsten größeren Dorf. Je südlicher sie kamen, desto weiter lagen die Siedlungen auseinander. Sie würden zu Fuß und mit dem Holzkarren wieder Tage brauchen. Es war das reinste Wettrennen mit dem Winter. Tagsüber gelangten sie immer ein bisschen weiter in die Tiefebene, wo noch kein Schnee lag, und nachts holte sie der Schnee dann wieder ein. Wohl darum trieb Ryuka die Truppe unbarmherzig immer weiter, teils mit weniger Rasten als sie eigentlich nötig gehabt hätten. Er wollte nicht endgültig vom Schnee überrascht werden und in der Einöde verloren gehen, weil sie den Weg dann nicht mehr fanden, von den unwirtlichen Temperaturen ganz zu schweigen. Sie würden einfach erfrieren, wenn sie nachts noch sehr lange in Zelten schliefen. Mit Pferden war man natürlich schneller, aber sie hatten keine. Ryuka ließ sich ein wenig zurückfallen, bis Zaku zu ihm aufgeschlossen hatte. Es war ungewöhnlich, daß sie so hinterher hing. Sonst war sie immer die, die energiegeladen vornweg marschierte. „Na, noch alles okay bei dir?“ „Hm“, machte sie nur gleichgültig. „Brauchst du eine Pause?“ „Nein. Ich bin eine Gottheit, ich bin zäh. Frag lieber O-Shikara. Der arme Kerl plagt sich schon wieder viel zu lange mit dem Karren ab.“ Der junge Chef nickte verstehend und musterte noch einen Moment ihr ausdrucksloses Gesicht von der Seite. „Woran denkst du?“ „An die Kerle, die meinen Tempel zerstört haben.“ „Ärgerst du dich immer noch, daß du ihn nicht selber kalt machen konntest?“ Zaku schnalzte unwillig mit der Zunge. „Ist doch mein gutes Recht, oder nicht?“ „Er hat seine gerechte Strafe doch erhalten. Er ist tot. Was verlangst du denn noch?“ „Hätte ich ihn lebend gefangen, hätte ich ihn zumindest noch fragen können, wo die anderen beiden stecken. So tappen wir komplett im Dunkeln. Japan ist größer als es aussieht.“ Ryuka legte den Kopf leicht schief. „Nun gut, das ist ein Argument. Aber sieh es mal so: das nächste Dorf werden wir gerade noch so mit Ach und Krach erreichen. Und dort müssen wir sowieso Winterquartier beziehen, weil der Wintereinbruch es uns unmöglich macht, weiter zu reisen. Stell dir mal vor, du wüsstest, wo die beiden sind. Du könntest doch den ganzen Winter nicht still sitzen und würdest ständig nur darüber brüten, wie du trotz des Schnees dort hinkommen könntest.“ Zaku grinste ihn hämisch an. „Du überschätzt meinen Rachedurst. Ich bin durchaus in der Lage, zu warten. Ich will mir nur das Recht nicht nehmen lassen, meine Rache selber zu üben. Mir soll da keiner zuvor kommen.“ „Mit Verlaub, Zaku, so sehr ich deinen Groll auch verstehen kann, aber du solltest jetzt zu Hause bei deinem Tempel sein, überwachen, daß er wieder aufgebaut wird, und eine neue Priesterin suchen. Du solltest keine Verbrecher jagen, so weit weg von der Heimat. Der Landstrich, über den du wachen solltest, wird veröden, wenn er zu lange von seiner Schutzgottheit verlassen ist.“ „Zur Kenntnis genommen“, erwiderte sie nur kühl. Sie hatte schon seit Shirakawa-Go gemerkt, daß Ryuka keine rechte Lust mehr auf die Jagd nach den Dieben und Mördern hatte. 'Was willst du denn als Göttin der Kunst gegen sie ausrichten?', hatte er sie kürzlich gefragt. 'Willst du sie mit deiner Musik zu Tode foltern? Oder böse Bilder von ihnen zeichnen?' Das hatte Zaku ziemlich gekränkt. Anfangs hatte er sie in ihrem Plan noch voller Überzeugung unterstützt. Er hatte ja auch allen Grund dazu gehabt, immerhin hatte auch er alles verloren. Seine Theater-Leute waren versprengt, nicht wenige auch getötet worden. Aber inzwischen war sein Hass verflogen und er wandte sich zunehmend wieder irdischeren, dringlicheren Problemen zu, wie beispielsweise den Winter zu überleben. Vielleicht hatte auch der Anblick der ersten Leiche ihn wieder etwas in die Realität zurückgeworfen und ihm bewusst gemacht, daß er eigentlich nicht persönlich für den Tod anderer Menschen verantwortlich sein wollte, ganz egal was sie getan hatten. Ryuka rollte nur mit den Augen und ging dann wieder voraus, um sie in Ruhe zu lassen. Brachte offenbar nichts, mit ihr zu diskutieren. Um O-Shikara ein wenig zu entlasten, stemmte er sich von hinten gegen den Holzkarren und half schieben. Yoji spazierte neben dem Karren her und jonglierte beim Laufen mit zwei leeren Keramikschüsselchen. Ryuka hatte ihm erklärt, worauf es beim Jonglieren ankam. Gerade Haltung, die Hände unterhalb des Sichtfeldes halten und geradeaus schauen. Man jonglierte ohne hinzuschauen. Und natürlich Rhythmus. Das Jonglieren im Laufen war zwar nicht gerade einfacher, gab aber durch den Schritt-Gleichtakt schon einen verlässlichen, gleichmäßigen Rhythmus vor, an den man sich halten konnte. Die erste Stufe war das Jonglieren mit einem Gegenstand. Man warf das Ding immer von einer Hand in die andere und achtete darauf, gerade zu stehen, nicht hinzuschauen und die Flugbahn halbwegs unter Kontrolle zu haben. Dann versuchte man einen Wurfkreis mit zwei Objekten. Während der geworfene erste Gegenstand von der rechten in die linke Hand flog und sich noch in der Luft befand, übergab die linke Hand den zweiten Gegenstand an die rechte Hand, bevor sie den geworfenen auffangen konnte. Wenn das klappte, versuchte man sich am ersten richtigen Jonglieren mit zwei Gegenständen. Die rechte Hand warf das erste Objekt in die Luft, und wenn es den höchsten Punkt seiner Flugbahn erreichte, warf die linke Hand ihre Sache und fing sogleich das erste, gerade ankommende Ding auf. Daran versuchte sich Yoji im Moment. Damit die Gerätschaften nicht in der Luft zusammenprallten, musste eine Hand näher am Körper und eine weiter vom Körper entfernt werfen und entsprechend entgegengesetzt fangen. Und das erforderte schon ein wenig Geschick und Koordination. „Ich glaub, ich hab den Dreh langsam raus. Wenn ich noch ein bisschen übe, kann ich mich sicher bald an drei Schüsseln versuchen.“ „Leg die Dinger weg und hilf mir schieben!“, trug Ryuka ihm unbeeindruckt auf. „Hoppla“, machte der Junge, als ihm eine der Schalen in hohem Bogen auf den Karren segelte und zwischen der Bagage verschwand. „Warte, ich hol nur schnell das Schälchen zurück ...“, meinte er und zog sich mit Schwung auf den Karren hinauf. O-Shikara brummte unwillig, als das Holzgefährt gleich um einiges schwerer wurde, und stoppte genervt, um zu sehen, was los war. „Yoji, komm da runter, du wirst die ganze Ladung ver...“ Weiter kam er nicht, da lösten sich bereits einige Kisten und Holzteile, segelten rumpelnd hinten vom Karren herunter und gingen über Ryuka nieder wie eine Lawine. „Idiot! Hast du die Bagage denn nicht richtig festgezurrt, als du den Wagen heute früh beladen hast?“, herrschte Zaku den Jungen an und eilte hektisch herbei. Auch O-Shikara kam erschrocken um den Karren herumgespurtet und begann sofort, die schweren Kisten weg zu wuchten und Ryuka wieder auszugraben. Ryuka lag auf dem Rücken und rang hustend und blutspuckend um Atem. Sein Brustkorb war seltsam deformiert. Man sah ihm auf den ersten Blick an, daß er schwer verletzt war. Das Gewicht der Ladung hatte ihm mehrere Rippen zerschmettert und ihm die spitzen Enden wahrscheinlich in die Lungen getrieben. Er versuchte, etwas zu sagen, bekam aber nur ein gurgelndes Keuchen heraus und spuckte noch mehr Blut. O-Shikara wurde kreidebleich und fluchte leise. Da er nicht wusste, was er tun sollte, stand er wie erstarrt in der Gegend herum, die letzte schwere Kiste noch in den Händen. Hilflos, überfordert und in dem noch nicht ganz manifestierten Wissen, daß Ryuka das nicht überleben würde. Nicht überleben KONNTE. Zaku kniete sich neben den jungen Chef, schob ihm eine Hand ins Genick, um ihn ein wenig aufzurichten, und legte ihm die andere Hand beruhigend auf den Bauch. „Ganz ruhig ... das wird wieder ...“, versuchte sie ihm einzureden. Ryuka würgte wieder. Es klang ein wenig qualvoll. Langsam wich wohl der Schock und die Schmerzen, die mit solchen inneren Verletzungen einher gingen, bahnten sich einen Weg in sein Bewusstsein. „O-Shikara, ich brauch Wasser! Geh zu dem Bach da unten!“, trug Zaku ihm auf. Der Riese nickte abgehackt, unfähig zu denken und daher einfach nur blind gehorchend, stellte seine Kiste weg und griff nach einer Schüssel, um damit loszurennen. „Wir haben doch Trinkwasser in Krügen hier“, bemerkte Yoji verwirrt. „Du geh in den Wald da drüben und hol mir Tannenrinde! Beeil dich!“ „Wozu brauchst du Tannenrinde?“, wollte Yoji uneinsichtig wissen. „GEH!“, schrie Zaku ihn an. Der Junge sprang vom Karren herunter und sah zu, daß er weg kam. Die Tatsachen, daß er an allem Schuld war, daß Ryukas Röcheln deutlich gefährlicher wurde und daß Zaku zu wissen schien, was sie tat, hielten ihn davon ab, weitere Fragen zu stellen. Zaku sah sich rückversichernd um. Alle weg, sie war mit Ryuka alleine. Gut. Natürlich brauchte sie weder Bachwasser noch Baumrinde. Wozu auch, bei derart ausweglosen Verletzungen? Sie hatte die beiden Kerle lediglich schnell loswerden müssen. Sie wandte sich beruhigend wieder dem jungen Tengu-Darsteller zu. „Ryuka, du hast mich mal gefragt, was uns Götter von euch Menschen unterscheidet. Jetzt ist es an der Zeit, die Antwort zu erfahren ...“, säuselte sie und fuhr mit der Hand über seinen Oberkörper. Ein diffuses Licht strahlte aus seinem Brustkorb heraus, welcher sich knirschend wieder aufrichtete. Die gebrochenen Rippen fügten sich mit teils ekelhaften Geräuschen wieder zusammen, und sicher ging das auch nicht gänzlich schmerzfrei vor sich. Aber die mehrfach durchstoßene Lunge verheilte ebenso gespenstig wieder wie die anderen inneren Verletzungen. Ryuka bäumte sich mit einem halben Aufschrei hoch und zog laut Luft ein, wie ein Erstickender. Zaku lächelte leicht. „Wieder unter den Lebenden?“ Der junge Mann starrte sie entgeistert an, während er immer noch mit seinem Atem und seinem rasenden Herzschlag haderte. Seine Hand zuckte fahrig zu seiner Brust, als wolle sie tasten, ob die noch da war. „Was ...!?“ „Dir ist nichts geschehen, verstehst du mich?“, machte die Gottheit ihm in fast drohendem Ton klar. „Ein Wort zu O-Shikara und Yoji, und du hast keine Gelegenheit mehr, dich über deine neu erlangte Gesundheit zu freuen. Wenn die zwei zurückkommen, wirst du sagen, du hättest nur unter Schock gestanden und dir die Lippe aufgeschlagen, daher das gespuckte Blut.“ Ryuka nickte eingeschüchtert, auch wenn er noch nicht ganz verstand, was hier vor sich gegangen war und was sie da gerade sagte. Viel Zeit zum Sammeln seiner Gedanken hatte er auch nicht mehr, denn da tauchte O-Shikara panisch mit der geforderten Schüssel voll Wasser aus dem Bach neben ihm auf. Zaku hingegen ließ sich erleichtert rücklings zu Boden sinken und atmete ebenfalls erstmal in Ruhe durch. Trotz allem steckte auch ihr ein gehöriger Schreck in allen Gliedern. An diesem Abend saßen sie wie immer am Lagerfeuer, doch war die Runde schweigsamer als sonst. Überhaupt hatten sie seit dem Unfall kaum noch gesprochen. Ryuka schob sich mit Ess-Stäbchen seinen letzten Reis zwischen die Zähne und ließ sich zufrieden von der Hitze der Flammen wärmen. Zaku war schon fertig, saß auf dem blanken Boden und lehnte mit dem Rücken an dem schlafenden Pandabären. Sie starrte gedankenversunken in das tanzende Feuer. Yoji hatte sich bereits ins Zelt verkrümelt. Er wollte den anderen aus dem Weg gehen, um ihren Ärger nicht abzukriegen. Immerhin war er an dem ganzen Schlamassel Schuld. Ryuka schaute eher zufällig in die Runde und begegnete dem überaus düsteren Blick O-Shikaras, der auf ihm ruhte. Sofort wurde er ängstlich etwas kleiner. „Mir geht es gut!“, versicherte er, da er diesen Blick durchaus deuten konnte. „Ja. Etwas ZU gut! Du hast nichtmal einen blauen Fleck!“ „Ich hatte eben Glück.“ O-Shikara zog nur vielsagend eine Augenbraue hoch. Er strich sich immerzu mit einer Hand den Bart glatt. Das tat er gern, wenn er aufgewühlt war. Das gab ihm ein Ventil für seinen Tatendrang, den er auf nichts richten konnte. „Ach, jetzt lass ihn doch in Ruhe!“, maulte Zaku dazwischen. „Er hat für heute genug durchgemacht.“ „Verrate du mir lieber mal, was du mit Wasser und Baumrinde wolltest!“, stürzte sich der Muskelprotz daraufhin auf sie. „Bei solchen Verletzungen, wie wir sie zuerst angenommen haben, helfen Wasser und Tannenrinde beileibe nicht!“ „Doch, durchaus.“ „Na, im Rahmen der üblichen Medizin jedenfalls nicht. Kannst du vielleicht zaubern? Bist du eine Hexe?“ Zaku rollte mit den Augen. „Ich bin mit Tempelritualen aufgewachsen. Tannenrinde ist eine der harzreichsten Baumrinden, die es gibt. Da kann man notdürftig Weihrauch draus machen. Ich hatte vor, eine Beschwörung für Ryuka abzuhalten“, sog sie sich, ohne mit der Wimper zu zucken, eine plausible Erklärung aus den Fingern. „Weihrauch, ja? Und wieso dann bitte Wasser, und kein Feuer?“ „Für den Dampf-Aufguss! Feuer wäre meine nächste Anweisung gewesen!“, gab Zaku schnippisch zurück. „Aufguss? Für Weihrauch? Hab ich ja noch nie gehört“, behauptete O-Shikara. „Oh ja, du bist bestimmt auch so kompetent in Tempelangelegenheiten, daß du das beurteilen könntest.“ „Jetzt werd nicht gleich frech, Mädchen!“ „Nein! Ich versteh bloß nicht, warum sich keiner einfach mal drüber freuen kann, daß es Ryuka gut geht!“, giftete sie zurück. Ryuka selbst starrte nur weiter ins Lagerfeuer und schwieg. Zaku hatte ihm schon damals, als sie sich ihm zum ersten Mal offenbart hatte, deutlich genug klar gemacht, was geschah, wenn er ihr Geheimnis ausplauderte. O-Shikara richtete brummend das Augenmerk in den klaren, sternenübersäten Himmel hinauf. „Na, wenigstens scheint es heute Nacht mal nicht weiter zu schneien“, wechselte er das Thema und stand dann von seinem umgekippten Baumstamm auf, auf dem er gesessen hatte. „Ich hau mich auf´s Ohr.“ Ryuka und Zaku wechselten seufzend Blicke. Nach einem Moment Bedenkzeit lächelte Zaku den jungen Mann warm an. Zumindest sie freute sich, daß alles in Ordnung war. Der junge Mann wurde verlegen etwas rot um die Nase und sah weg, als ihm das Gefühl, Zaku nahe zu stehen, plötzlich unerklärlich absurd vorkam. Ja, er mochte sie. Und ja, sie hatte ihm das Leben gerettet. Aber deswegen sollte er sich noch lange nicht einbilden, ihrerseits irgendeine emotionale Bindung erwarten zu dürfen. „Ryuka?“ „Ja?“, antwortete er und sah vorsichtig wieder auf. „Möchtest du die Nacht mit mir verbringen?“ „Bitte was!?“, würgte er schockiert und ertappt hervor, mit dem ekelhaften Verdacht, sie sei in der Lage seine Gedanken zu lesen. Das Mädchen zog ein bestürztes Gesicht. „Entschuldige, die Frage war taktlos. Ich wollte nur ... Ich dachte ... Tut mir leid.“ Er räusperte sich. „Willst du mich veralbern?“ „Nein, das war eine ernstgemeinte Frage. Ich weiß, daß dir das schon im Kopf rumgeht, seit du in Shirakawa-Go mitbekommen hast, auf welche Art ich zu dem Sack Reis gekommen bin. Und ich meine, warum soll ich dir den Wunsch nicht erfüllen, wenn ich genauso dafür bin wie du. ... Aber ich wollte dir nicht zu nahe treten.“ Ryuka sah sich kurz zum Männerzelt um, in dem O-Shikara und Yoji verschwunden waren, ob auch keiner mithörte. „Ehrlich?“, rückversicherte er sich nochmal, schon etwas ruhiger. „Ja, ehrlich.“ „Steht das einer Gottheit denn an?“ Zaku zuckte mit den Schultern. „Das wäre nicht das erste Mal. Es gab schon viele Geschichten über die Liebe zwischen einer Gottheit und einem Menschen, oder einem Yôkai und einem Menschen.“ „Ja, aber soweit ich informiert bin, ist keine davon gut ausgegangen.“ „Nun, sie wird nicht von Dauer sein, das ist klar. Aber eine Nacht schadet nicht. Und auf mehr als das bin ich für den Moment auch nicht aus.“ Ryuka nickte leicht und schmunzelte pikiert. „Na, wenn das so ist ...“ „Komm mit“, lud Zaku ihn ein und streckte ihm eine Hand hin. „Lass mich nochmal nach deinen Verletzungen sehen. Nur zur Sicherheit.“ „Zaku?“ Die Göttin spazierte gemächlich neben dem Wagen her und schaute verträumt und gedankenversunken auf den Quadratmeter Trampelpfad vor sich, während sie lief. Es hatte was unglaublich Meditatives, Friedliches, einfach nur vor sich hin zu laufen und auf den unbefestigten Weg zu achten. Jeden Stein in der ausgetretenen Erde zu zählen und sich über die immer andere Form zu wundern. Kein Stein war wie der andere. Jeder war ein Unikat. Das war eigentlich total verblüffend. „Zaku!“, drang es nochmal etwas nachdrücklicher in ihr Bewusstsein. Aus ihren Gedanken gerissen schaute sie auf. „Was denn?“ Ryuka zeigte nach links in die Ferne. „Chirobi haut schon wieder ab.“ Sie folgte dem Fingerzeig und entdeckte ihren Panda-Tiergeist schon ein gutes Chô entfernt auf dem Weg in Richtung einer Bergkette. Sie zog ein lustloses Gesicht. Sie hasste es, wenn der Panda einfach wegrannte, ohne ihr vorher wenigstens Bescheid zu geben. „Hilft nichts, ich muss sie zurückholen“, entschied Zaku. „Ich komme mit. O-Shikara, Yoji, ihr bleibt hier und passt auf den Karren auf. Macht eine Pause, ihr könnt es brauchen.“ „Ich will auch mit!“, verlangte Yoji abenteuerlustig. „Du wirst hier bleiben! Lass O-Shikara ja nicht alleine hier zurück, sonst setzt es was!“ „Und wann gedenkt ihr zurück zu sein?“, hakte O-Shikara nüchtern nach. Seit dem Unfall war er nicht mehr sonderlich aufgeschlossen und zugetan. Er hielt Zaku und Ryuka immer noch vor, irgendwas zu verheimlichen. Entsprechend kühl gab er sich derzeit. „Es dauert so lange wie es dauert.“ „Sollen wir euch suchen kommen, wenn ihr bis zum Einbruch der Dunkelheit nicht zurück seid?“ „Nein. In der Dunkelheit kann euch sonstwas zustoßen. Sucht uns nach Sonnenaufgang, wenn wir dann immer noch nicht zurück sind“, legte Ryuka fest und eilte Zaku nach, die schon entschlossen vorweg marschierte. Zaku gab sich keine große Mühe, den Pandabären einzuholen. Sie ging nur so schnell wie sie musste, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Offenbar war sie darauf aus, zu erfahren, wohin Chirobi sie führen würde. „Glaubst du, sie hat wieder einen dieser Halunken gewittert, die deinen Tempel zerstört haben? „Wer weiß“, meinte Zaku nur wortkarg und ernst. Ryuka seufzte resignierend. Die Göttin wurde immer so kühl und verbissen, wenn sie ein Ziel ernsthaft vor Augen sah und nach dessen Erreichung trachtete. Wenn sie entspannt war, war sie irgendwie umgänglicher. Er beschloss, sie machen zu lassen und sich stattdessen aufmerksam den Weg zu merken, damit sie nachher wenigstens wieder zurück fanden. „Zaku, darf ich dich was fragen?“ „Klar“, stimmte Zaku zu, hielt ihre Aufmerksamkeit aber deutlich mehr auf Chirobi, der sie nach wie vor kreuz und quer durch die Einöde folgten. „War es klug, mir das Leben zu retten?“ Die Gottheit sah ihn prüfend an. Dann, mit einem Augenblick Verzögerung, kicherte sie belustigt los. „Warum denn nicht? Bedauerst du es, noch zu leben?“ „Nein, das nicht. Im Gegenteil. ... Im Übrigen bin ich noch nichtmal dazu gekommen, dir dafür zu danken. Vor O-Shikara und Yoji kann ich ja nicht so offen sprechen“, bekräftigte er, erleichtert über ihre Heiterkeit. Er wollte ja nicht undankbar klingen, wenn er so eine Frage stellte. „Ich habe mich nur gefragt, ob du das überhaupt durftest. Ob du auch keinen Ärger mit anderen Gottheiten bekommst.“ „Warum sollte ich?“ „Ich weiß nicht, ist nur so eine Vermutung. Ihr Götter habt ja auch das ungeschriebene Gesetz, euch den Menschen nicht zu zeigen, damit sie den Glauben an euch nicht verlieren, wenn ihr ihnen mal nicht helfen könnt. Da dachte ich, daß es vielleicht auch den Grundsatz gibt, nicht so offensichtlich und parteiisch konkrete Menschen zu retten und in ihr Schicksal einzugreifen. Immerhin würde das ja bedeuten, daß ihr dann auch immer und überall und jedem helfen müsstet, was ihr aber nicht könnt, weil ihr nicht immer überall gleichzeitig sein könnt.“ Ryuka verengte kurz nachdenklich die Augen. „Kompliziert!“, stellte er dann fest. Zaku schaute lächelnd wieder nach vorn, um ihren Panda-Tiergeist nicht aus den Augen zu verlieren. „Keine Sorge, ich habe mich damit nicht in Schwierigkeiten gebracht. Es ist mir nicht verboten, Menschen zu helfen. Wie soll ich eine Schutzgottheit sein, wenn ich den Menschen nicht helfen dürfte? Vor allem dir nicht, der du ein Theater-Darsteller bist und damit direkter in meine Zuständigkeit fällst als irgendjemand sonst?“ „Einem Händler hättest du wohl nicht geholfen?“ „Das will ich damit nicht sagen. Aber das wäre nicht meine Aufgabe.“ „Aber ist es denn deine Aufgabe, über Leben und Tod zu entscheiden?“ „Kein Mensch lebt ewig. Daran kann auch ich nichts ändern. Aber Verletzungen heilen, wenn noch Zeit dazu ist, kann ich wohl. Und ja, was das angeht, habe ich die Macht und die Erlaubnis, Schicksale zu verändern.“ Ryuka zog ein etwas trauriges Gesicht. Die Göttin musterte ihn von der Seite, als er nichts mehr sagte. „Das hätte ich dir nicht erzählen sollen. Jetzt wirst du dir wahrscheinlich ausmalen, daß ich auch deine Männer hätte retten können, die im brennenden Tempel eingeschlossen waren oder von den Räubern erschlagen wurden.“ „Ich mache dir keine Vorwürfe, wenn du das meinst.“ „Doch, tust du.“ „Hättest du ihnen denn helfen können?“ „Glaubst du, ich hätte meine eigene Priesterin sterben lassen, wenn ich dort irgendwas hätte ausrichten können?“, gab sie ruhig und sachlich zurück. Ryuka schüttelte den Kopf. „Nein, vermutlich nicht.“ „In meinem Tempel war eine Gottheit am Werk, die stärker war als ich. Ich war dort machtlos. Ich hätte nichts tun können. Das einzige, was man mir wirklich vorwerfen kann, und wofür ich mir auch selber Vorwürfe mache, ist, deine Theater-Truppe da mit reingezogen zu haben. Ich habe euch gerufen, in der Hoffnung, daß ihr dort irgendwas ausrichten könntet und meinen Tempel oder mein Orakel retten könntet. Aber ihr konntet es nicht. Wie auch? Wie hättet ihr etwas tun können, wenn selbst ich wehrlos bin? Ich habe euch in den Tod geschickt. Und das macht mich traurig, das kannst du mir glauben. Gewollt habe ich das nicht.“ Über eine Bergpass hinweg führte Chirobi die beiden inzwischen zu einer Höhle, in der sie auf direktem Weg und ohne zu zögern verschwand. Ryuka blieb auf einer Anhöhe stehen und musterte den Höhleneingang aus der Ferne. Das war ihm nicht geheuer. „Berghöhlen sind selten unbewohnt. Wer weiß, in was dein Panda uns da gerade reinreitet.“ „In nichts Gefährliches.“ „Wie bist du dir da so sicher?“ „Chirobi ist ein Feigling. Mit wilden Tieren würde sie sich nicht anlegen. Und mit bewaffneten Menschen nur, wenn richtig was auf dem Spiel steht“, analysierte Zaku stoisch. „Sagtest du nicht, sie kann sowieso nicht getötet werden?“ „Kann sie auch nicht. Aber ein Feigling ist sie trotzdem.“ Ryuka nickte und hoffte einfach mal, daß sie ihren Tiergeist gut genug kannte. „Na, dann lass uns mal nachsehen, was sie da drin zu finden hofft.“ Gemeinsam traten sie in die geräumige Höhle ein, die zwar durch den großen Eingang gut beleuchtet wirkte, aber sie gingen trotzdem langsam und sahen sich sorgfältig um. Man wusste ja nie. Was sie allerdings fanden, damit hätten sie niemals gerechnet. Mitten in der Höhle saß ein hagerer, alter Mann mit langen, grauen, ungekämmten Haaren, der nur mit einem Lendenschurz bekleidet war. Er saß im Lotussitz auf dem Boden, die Hände locker auf den Knien abgelegt, und die Augen geschlossen. Man hatte unvermittelt den Eindruck, daß er schon jahrelang hier saß. Er war schon fast Eins mit der Umgebung geworden. Fehlte nur noch, daß er Moos angesetzt hätte. Wenn er noch nicht tot war, dann meditierte er wohl. Chirobi hatte sich friedlich neben ihm zusammengerollt und schien glücklich die Ruhe zu genießen. Der Mann schaute auf, als er die näherkommenden Schritte bemerkte. Ein Lächeln sprang über seine Lippen und gleichwohl in seine Augen. „Hallo“, grüßte er und seine Stimme klang wie raschelndes Laub. Wie lange nicht mehr gebraucht. „Hallo ...“, gab Zaku zurück und sah sich suchend weiter in der Höhle um. Aber außer dem Alten war hier nichts. Absolut gar nichts. Nichtmal irgendein Gebrauchsgegenstand, der ihm hätte gehören können. „Was verschlägt denn eine Gottheit in diese trostlose Gegend?“, wollte der Greis wissen, was aber einen sehr rethorischen Anschein erweckte. Zaku schaute ihn fragend an. „Ihr erkennt, was ich bin?“ „Natürlich. Klar und deutlich. Genauso wie diesen drolligen Tiergeist hier, der Euch zu Diensten ist.“ „Wer seid Ihr?“, wollte sie interessiert wissen, ohne sich daran zu stören, daß er hinter ihre Maske zu schauen vermochte. Er überlegte kurz hin und her. „Ich habe keinen Namen mehr. Wenn die Leute mich denn irgendwie nennen wollen, dann sagen sie 'der Meister der vier Täler'. Aber mir bedeuten solche Titel nichts. Nennt mich, wie Ihr möchtet.“ Zaku schlief das Gesicht ein. „Ihr seid der Buddha!“ „Jaaa~“, machte er in einem nachdenklichen Tonfall, als müsse er eigentlich erst überlegen, ob man das gelten lassen konnte. „So werde ich bisweilen auch genannt. Wobei 'EIN Buddha' vielleicht korrekter wäre. 'Buddha' bedeutet ja nur 'der Erleuchtete' und die hat es zu allen Zeiten immer wieder gegeben. Ich bin da in der Tat nicht der einzige. Nur einer“, erklärte er zwischen fröhlich und bescheiden. Zaku pflanzte sich im Schneidersitz ihm gegenüber auf den nackten Steinboden. „Was tut Ihr hier?“ „Meditieren.“ Ryuka staunte. „Ich bin noch nie einem Menschen begegnet, der auf dem Weg des Zen so weit gekommen wäre wie Ihr“, warf er ehrfürchtig in die Runde und war plötzlich dankbar dafür, Zaku und ihrem vermaledeiten Panda hier her gefolgt zu sein. Es war eine Ehre, in so einer Gesellschaft verweilen zu können. Er ließ sich ebenfalls auf dem Boden nieder, wenn auch weniger schwungvoll als Zaku. Der Buddha lächelte leicht. „Ihr seid vom rechten Weg abgekommen, Herrin. Ich sehe, daß Eure Absichten Euch von dem wegführen, was das höchste Ziel sein sollte. Ihr ehrt das Leben nicht mehr, wie Ihr es tun solltet. Und wenn Ihr erreicht habt, was Ihr wolltet, wird Euch das nicht glücklicher machen“, meinte er an Zaku gewandt. „Erzählt mir doch, was in Euch vorgeht. Was hat Euch so aus dem Gleichgewicht gebracht?“ Und Zaku erzählte bereitwillig und ehrlich, wie sich alles zugetragen hatte. Von ihrem Tempel, der geplündert und niedergebrannt worden war, von ihrer Priesterin, die getötet worden war, von der fahrenden Theater-Truppe, die sie dabei dummerweise mit geopfert hatte, von ihrem unbändigen Rachedurst, und von den Verbrechern, die sie seither jagte, und von denen einer schon für seine Taten gehangen hatte. Der Buddha hörte sich alles geduldig an, nickte bisweilen verstehend und ließ sie ohne Unterbrechung ausreden. Als sie irgendwann fertig war, neigte er den Kopf zur Seite und lächelte mild. „Ihr habt zweifellos ein hartes Schicksal erlitten, Herrin. Und Eure Trauer ist berechtigt. Aber Rache ist wohl kaum der Weg, der hier angezeigt wäre. Eure Freundin Natsuo hätte bestimmt nicht gewollt, daß es noch mehr Blutvergießen gibt. In Eurem Tempel sind genug Menschen gestorben. Und wenn Ihr diese drei Mörder umbringt, wird Euch das Eure Freundin auch nicht zurückgeben.“ Zaku senkte nachdenklich den Blick. „Zugegeben, sehr buddhistisch ist mein Vorhaben nicht. Ihr meint also, ich sollte davon ablassen?“ „Unbedingt.“ „Aber worauf soll ich meine ganze Trauer und Wut dann richten? Ich bitte Euch inständig, edler Buddha, ratet mir, was zu tun ist!“ Der Alte zog ein betroffenes Gesicht. „Wie könnte ich? Ich bin nur ein unbedeutender, kleiner Mensch. Wie sollte ich einer wahrhaftigen Gottheit raten?“ „Ihr seid ein Buddha. Ein Erleuchteter und Meister. Wenn Ihr es nicht könnt, wer dann?“ Der Mann senkte ehrfürchtig das Haupt. „Ich bin zuversichtlich, daß das große Dao, aus dem die zehntausend Dinge entstehen, alles von alleine zum Besten fügen wird. Jeder Mensch erhält, was er verdient, sei es in diesem oder im nächsten Leben.“ „Das allein gibt mir meinen Seelenfrieden aber nicht zurück. Wie soll ich mich je wieder meiner Aufgabe als Schutzgöttin der Künste widmen können, wenn mein Herz um diese Gräueltaten und diese Ungerechtigkeit weiß und doch zur Untätigkeit verdammt ist? Es waren neben meiner Priesterin immerhin alles Künstler, die da erschlagen wurden! Meine Schützlinge! Damit kann mein Gewissen nicht leben.“ „Das Dao vergisst niemanden. Sicher wirst du jedem von ihnen im nächsten Leben wieder begegnen“, schmunzelte der Mann geheimnisvoll. „Ich sterbe keines natürlichen Todes.“ „Nein. Aber die Menschen schon.“ Ryuka dämmerte, worauf der Buddha hinaus wollte. „Er meint, wenn du unbedingt eine Aufgabe brauchst, auf die du deinen Ehrgeiz richten kannst, dann sollst du Natsuo suchen gehen. Sie wird sicher wiedergeboren“, mischte er sich ins Gespräch ein. „So würde ich das niemals formulieren“, lächelte der Alte. „Ich bin nicht in der Position, einer Gottheit Ratschläge zu erteilen. Aber es wäre eine Möglichkeit.“ Zaku überlegte einen Moment sichtlich hin und her, ob sie mit diesem Rat zufrieden war. Eigentlich wollte sie nicht die Übeltäter bestrafen. Eigentlich wollte sie ihr Orakel Natsuo zurück, da hatte der weise Mann Recht. Ja, so sollte sie es machen. Mit einem Lächeln sah sie dem Buddha wieder in die Augen. Und nickte langsam. „Habt Dank, Meister. Ihr habt meiner orientierungslosen Reise und blinden Suche im Dunkeln ein Ende bereitet und mir ein Ziel gegeben.“ „Also wirst du unsere fahrende Theater-Truppe verlassen?“, hakte Ryuka nach. „Nun ...“, gab Zaku zurück. „Jetzt kommt erstmal der Winter, da kann ich sowieso nicht zurück zu meinem Tempel reisen, oder irgendwo anders hin. Zumindest solange leiste ich euch noch Gesellschaft, bis die Handelswege wieder frei sind. Aber um Natsuo zu suchen, wird mich mein Weg in eine andere Richtung führen als euch der eure.“ Epilog: Epilog - 10 Jahre später -------------------------------- 10 Jahre später „Meine Güte, du wächst ja wie Unkraut, Kind. Die Ärmel sind dir langsam zu kurz. Wir müssen dir bald ein größeres Gewand beschaffen“, meinte Zaku lächelnd und zurrte den Obi um die Hüften den kleinen Mädchens herum zurecht. Dann strich sie ihm freundlich die Haare glatt. „So, fertig. Fall damit nicht wieder in den Schlamm, ja?“ „Ich passe auf“, versprach die Kleine. „Gut, dann ab mit dir.“ Zaku drehte das Kind an den Schultern dem Ausgang zu und entließ es für heute von seinen Pflichten. Die Türen der Orakelhalle wurden aufgestoßen, noch ehe das Mädchen sie erreichte. Zaku merkte auf. So spät noch Besucher im Tempel? Ein einzelner Mann kam herein, auch wenn draußen im untergehenden Sonnenlicht noch sehr viel mehr Menschen dabei waren, ihr Gepäck abzuladen. Viele von ihnen waren lustig gekleidet und bester Laune. Einige bunte Fahnen wehten im seichten Wind. „Ryuka“, hauchte die Göttin überwältigt, als sie den Neuankömmling erkannte. Er war ein wenig reifer geworden, hatte sich aber abgesehen davon nicht viel verändert. „Hey, schön, daß du meinen Tempel besuchen kommst! Gut siehst du aus! Wie geht es dir?“ „Bestens, dank deiner Hilfe“, erwiderte er fröhlich, schlang die Arme um ihre Mitte und wirbelte sie ungezügelt einmal herum. „Unserer fahrenden Theater-Truppe ging es all die Jahre stets prächtig, uns hat es nie an etwas gefehlt. Wir haben deutlich gespürt, daß dein Segen auf uns lag. Wir gedeihen super. Meine Truppe ist wieder auf 15 Männer angewachsen, alles ganz anständige, talentierte Leute.“ „Das freut mich“, lachte Zaku glücklich und umarmte ihn stürmisch. Fast war sie versucht, ihn zu küssen, aber sie beherrschte sich gerade noch rechtzeitig. „Ist das Natsuo?“, wollte Ryuka wissen. Sie beide schauten auf das kleine Mädchen im Priestergewand herunter. „Ja. Zumindest ihre Reinkarnation. Sie wurde wiedergeboren. Es hat mich ein bisschen Einfaltsreichtum und Geduld gekostet, sie zu finden, aber es hat sich gelohnt.“ „Das ist toll.“ Zaku stellte Ryuka der Kleinen vor und sie grüßte höflich. Das Leben im Tempel hatte sie in so kurzer Zeit so unglaublich erwachsen und diszipliniert gemacht, daß Zaku selbst darüber staunte. Das Kind nahm das Priestertum vollauf ernst. „Was gibt es Neues in der Welt?“, wechselte Zaku dann das Thema. „Ja~“, begann Ryuka gedehnt. „Deshalb bin ich hier, um es dir zu erzählen. Die beiden Männer, die vor 10 Jahren deinen Tempel geplündert und niedergebrannt haben, wurden in Edo gefasst und in den Kerker geworfen, als sie versucht haben, dein Tempelgold dort zu veräußern. Offenbar vor ein paar Jahren schon. Die Nachricht von der Zerstörung deines Tempels ist schneller in die kaiserliche Hauptstadt vorgedrungen als die beiden mit ihrem Diebesgut. Die zwei sitzen bis heute im Kerker. Ich habe es gehört, als ich letztes Frühjahr mit meiner Truppe durch Edo gezogen bin.“ Er grinste leicht. „So haben sie letzten Endes doch noch ihre Strafe bekommen, was?“ Zaku nickte zufrieden und lächelte zurück. „Ja. So ist alles gut.“ Hosted by Animexx e.V. 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