Die Wander-Geisha von Futuhiro ================================================================================ Kapitel 4: arglistige Spiele ---------------------------- „Eine Sage von der Schneefrau Yuki Onna!“, kündigte Ryuka schließlich dramatisch an. Man konnte die Spannung förmlich mit einer Klinge zerschneiden. „In einem Dorf, nicht weit von hier, da lebte eine junge Witwe, die hatte zwei Töchter. Als der Winter kam, ging sie in den Wald, um Holz für Feuer zu holen. Den Töchtern sagte sie, sie sollten das Haus nicht verlassen, solange sie ausbliebe, und sollten niemandem öffnen. Als sie fort war, fiel ein mächtiger Schneesturm in das Dorf ein, schlug gegen alle Dächer, rüttelte an allen Türen und ließ sich schließlich vor dem Haus der Witwe nieder. Das war die arglistige Schneefrau Yuki Onna. Sie schaute durch das Fenster ins Haus und erblickte die zwei Mädchen. 'Ai, was für wundervolle Kinder. Ich will eines haben.', dachte sie und klopfte. 'Wer ist da?', riefen die Mädchen. 'Hier ist ein altes Mütterchen, das vom Schneesturm überrascht wurde. Lasst mich doch ein, damit ich es für den Moment warm und trocken habe.' 'Wir sollen niemandem öffnen!', riefen die Mädchen, da musste Yuki Onna wieder abziehen. Am Nachmittag kam die Mutter mit dem Holz heim, fand die beiden Töchter einträchtig beieinander vor, und freute sich. Am nächsten Tag ging sie wieder in den Wald, Holz zu holen, da kam abermals der Schneesturm über das Dorf, schlug gegen alle Dächer, rüttelte an allen Türen und ließ sich wieder vor dem Haus der Witwe nieder. Yuki Onna klopfte auch diesmal und die Mädchen riefen: 'Wer ist da?' 'Hier ist eure Tante, eurer Mutter ältere Schwester. Lasst mich ein!' 'Wir sollen niemandem öffnen!', riefen die Mädchen, da musste Yuki Onna erneut mit leeren Händen abziehen. Am dritten Tag geschah es auf die gleiche Weise. 'Hier ist ein Bote, ich bringe Nachricht vom Großvater. Lasst mich ein!' 'Wir sollen niemandem öffnen!', riefen die Mädchen wieder. Die Schneefrau Yuki Onna geriet darüber in Zorn, blies gegen das Haus, rüttelte an der Tür und den Fenstern und drohte das ganze Haus unter Schnee zu begraben, doch dieses widerstand dem Toben und verbarg die Kinder sicher im Inneren. Am Nachmittag kam die Mutter heim und fand die Kinder weinend und verängstigt vor. Sie erzählten, ein Dämon habe seit Tagen versucht, sich unter verschiedenen Identitäten Zutritt zum Haus zu verschaffen und es heute beinahe zum Einsturz gebracht, als sie ihm nicht geöffnet hatten. Die Witwe war darüber sehr schrocken und beschloss, die Mädchen fortan nicht mehr allein im Haus zu lassen. Am nächsten Tag machte sie sich wieder auf in den Wald, da es kalt war und sie Feuer zum Heizen brauchte, und nahm die Kinder diesmal mit sich. Sie sagte sich, zu dritt könnten sie sicherlich so viel Holz tragen, daß sie nur noch jeden zweiten oder dritten Tag loslaufen mussten. Kurz vor dem Waldrand wurden sie jedoch von einem plötzlichen, wilden Schneetreiben überrascht, daß man die Hand vor Augen nicht mehr sah. Der Sturm riss an ihren Kleidern und brüllte ihnen ins Ohr und so verlor die Mutter eine ihrer Töchter aus den Augen. Als der Schneesturm sich legte, war die ältere fort und spurlos verschwunden. Aber an ihrer Stelle stand die Schneefrau Yuki Onna dort, in einem eisblauen Kimono und schwarzen Haaren bis zu den Hüften. Ihre schneeweißen Augen sahen die Mutter herzlos und kalt an. 'Liebe Yuki Onna, hast du meine Tochter gesehen?', wollte die Witwe wissen. 'Das habe ich wohl', antwortete Yuki Onna. 'Doch lasse sie mir. Du hast zwei Töchter und ich keine. Gib mir eine von dir und ich will dafür sorgen, daß du bis an dein Lebensende weder Hunger noch Frost fürchten musst.' Die Mutter war entsetzt. 'Lieber will ich Hunger und Kälte leiden, als dir eines meiner Kinder zu lassen! Ich bitte dich, gib sie mir wieder!' 'Das werde ich nicht. Geh auf meinen Handel ein, oder eben nicht.' Die Mutter begann zu weinen und zu flehen, daß sie ihre Tochter zurück wöllte, aber die arglistige Schneefrau blieb hart. 'Ich weiß, daß du meine Tochter bis an ihr Lebensende furchtbar quälen würdest. Wenn ich meine Tochter also nicht wiederhaben kann, dann soll keine von uns beiden sie haben! Meine Tochter soll in deinem kalten Schnee-Griff auf der Stelle erfrieren und zu einem Eiszapfen erstarren, damit du ihr kein Leid mehr zufügen kannst!', schrie da die Mutter in ihrer Verzweiflung. Yuki Onna trat zur Seite und hinter ihr stand die ältere Tochter. Sie war in der Tat zu einer Eissäule erstarrt und tot, wie der Fluch es verlangte, den ihre Mutter ausgesprochen hatte. Darüber wurde Yuki Onna böse.“ Zaku kam langsam links herum um die Bühne gelaufen, der alte Pandabär rechts herum, während Ryuka oben endete: „Die Schneefrau zürnte sehr und sprach: 'Reich entlohnt hätte ich dich, hättest du mir ein Kind gegeben. Weil du mir aber deine eine Tochter verweigert hast, will ich dir auch die andere noch nehmen.' Und sie verwandelte das jüngere Kind in einen Pandabären, auf daß die Mutter fortan keine Freude mehr daran habe. Keinen zum Reden. Und keine Hilfe im Haushalt. Und keine Unterstützung im Alter. Und dabei blieb es.“ Dann zog Ryuka seine Bambusflöte aus dem Ärmel und drehte dem Publikum den Rücken zu, damit keiner sah, wie er sich seine Holzmaske so weit nach oben schob, daß sein Mund frei kam. Er begann, weiterhin von den Zuschauern abgewandt, ein langsames, trauriges Stück zu spielen. Zaku und Chirobi unten vor der Bühne tanzten dazu einen Ausdruckstanz, der die Qual und die Trauer der Mutter wiederspiegelte, die von Yuki Onna ihrer beiden Töchter beraubt worden war. Der Panda, der auf den Hinterbeinen aufgerichtet herumging und sich im Kreis drehte, brachte die Zuschauer so zum Staunen, daß erst leises Gemurmel und schließlich immer lauter werdender Applaus aufkamen. Manche waren durch die Intensität von Zakus traurigem Tanz auch zu Tränen gerührt und weinten hemmungslos. Das Fest, das Zaku im Sinn gehabt hatte, war in vollem Gange. Die Bauern hatten Essen und Getränke herbeigeschafft, daß es genug für alle war. Der fahrende Händler verteilte Sake aus großen Krügen. Die meisten Bauern waren damit beschäftigt, den zahmen Panda zu knuddeln oder Ryuka für sein Flötenspiel und seine Tricks zu bewundern, von denen er doch etliche mehr in petto hatte als er zugeben wollte. Und Ryuka genoss die viele Aufmerksamkeit spürbar. Er war gänzlich in seinem Element, wurde nicht müde die Menge zu unterhalten und ließ sich gehörig feiern. Zaku begleitete ihn ab und an auf dem Shamisen, wenn er musizierte, oder sie tanzte dazu, alles in allem ließ sie es aber wesentlich gemächlicher angehen als der beifallbedürftige Kopf der Theater-Truppe. Sie gesellte sich zu dem fahrenden Händler Kobayashi, der immer noch im Besitz ihrer goldenen Tempelstatue war, und sich gerade beim Feiern bester Laune gab. „Hallo, Süße!“, lallte Kobayashi ihr freudig entgegen, als er sie neben sich bemerkte. Er war schon merklich betrunken. Mit einem berechnenden Lächeln nahm Zaku den Krug mit Sake und goss ihm nochmal ordentlich nach. „Wie du tanzt ... Wahnsinn!“, lobte er, prostete ihr zu und trank. „Vielen Dank.“ Die nach wie vor als Wander-Geisha herumlaufende Göttin behielt ihr Lächeln bei. „Du bis' sicher, daß'u keine ... du weiß' schon ... Dienste anbietest?“, hakte er nach, zwar beschwippst, aber noch taktvoll genug, seine Tonlage etwas zu dämpfen. „Vielleicht ja doch“, schmunzelte Zaku und goss ihm gleich nochmal nach. „Ja?“ Seine Augen strahlten mit seiner roten Nase um die Wette. „Un' was wills'u dafür?“ „Später. Hast du Lust, ein Spiel mit mir zu spielen?“ „Was'n für eins?“ „Irgendein Glücksspiel. Hast du Karten? Oder Würfel?“, wollte Zaku zuckersüß wissen. Sie war natürlich nicht hier, um mit dem alten Knacker Spiele zu spielen. Genauso wie sie dieses ganze Fest hier nicht angeleiert hatte, damit die Dorfbewohner Spaß hatten oder Ryuka auf seine Kosten kam. Sie wollte einzig und allein, daß der Händler so betrunken wurde, daß er die goldene Tempelstatue endlich rausrückte. „Yoah, könn' wa machen“, willigte Kobayashi ein und angelte zwei Würfel aus seiner Ärmeltasche. Die warf er in einen Becher und stülpte diesen dann auf den Tisch um. Ein überlegenes Grinsen. „Die Würfel liegen, kein Betrug mehr möglich. Gerade oder ungerade?“, wollte er wissen. „Hmmm ...“ Zaku zog eine übertrieben nachdenkliche Schnute. Sie wusste natürlich, welche Zahlen gefallen waren. Wozu war sie eine Göttin? „Ungerade.“ Der Mann hob den umgestülpten Becher hoch. „Verdammisch, is' das dunkel hier. Ich seh' nüscht“, murrte er erstmal und ging mit der Nase nah an die Würfel heran. Seine verschleierte Sicht lag aber wohl eher am Alkohol als am Fackellicht. „Äh ... 2 und 4 ... gerade!“, urteilte er dann. Zaku nickte. Sie hatte ihn vorsätzlich gewinnen lassen. Das Spiel ging noch eine Weile weiter und sie achtete darauf, ihn den überwiegenden Teil der Würfe gewinnen zu lassen. Natürlich nicht alle, damit er nicht skeptisch wurde, aber doch genug, um ihn bei Laune zu halten. Dazu goss sie ihm immer fleißig Sake nach. Irgendwann schlug sie vor, doch um Einsätze zu spielen. „Um Einsätze? Um was zum Beispiel?“ „Wie wäre die goldene Götterfigur, die du da hast?“ Kobayashi feixte blöd. „Was wills'u mir denn für die bieten?“ „Mein Shamisen. Das hat auch Gold und Edelsteine verbaut.“ „Zu wenig. Für den Klunker will ich schon wenigstens 'ne halbe Stunde mit dir haben. Aber mit all'm drum und dran, wenn'u verstehst was ich meine.“ „Du verlangst viel“, bemerkte Zaku säuerlich. „Du ja auch.“ Der Händler griente wieder überlegen. Zaku atmete durch und tat so, als müsse sie reiflich nachdenken, ob es ihr das wert war. Eigentlich musste sie sich ja keine Sorgen machen. Sie wusste ja, welche Zahlen fielen. Dann nickte sie. „Okay, wirf.“ Kobayashi pfefferte enthusiastisch den Würfelbecher auf den Tisch. „Die Würfel liegen, kein Betrug mehr möglich. Gerade oder ungerade?“ „Gerade.“ Er hob den Becher. „3 und 3 ... gerade“, stellte er fassungslos fest. Er hatte jetzt nicht ernsthaft seine Gold-Ikone verjubelt, oder? Zaku nickte zufrieden. „Dann lass das goldene Mädchen mal rüberwachsen!“ Kobayashi fluchte ungeniert und goss sich erstmal einen weiteren Becher Sake in die Rübe, um den Frust zu kompensieren. „Ich will sie zurückhaben! Lass uns nochmal drum spielen!“, verlangte er dann. „Sicher, was bietest du?“, wollte Zaku stoisch wissen. „Eine Ladung Lebensmittel.“ „Einverstanden“, meinte sie. Natürlich würde sie ihn wieder verlieren lassen. In der dritten Runde setzte er zwei Stoffballen ein, die er ebenfalls verlor, in der vierten verlangte Zaku Informationen über den Mann oder die Männer, die ihm die Tempelstatue gebracht hatten. Sie wollte ja nach wie vor Rache für ihre tote Priesterin und ihren niedergebrannten Tempel. Da Kobayashi auch die vierte Runde verlor, erzählte er alles, was er wusste. Dann weigerte er sich, weiter mit ihr zu spielen. Aber das war in Ordnung für Zaku. Sie hatte ja alles, was sie brauchte. Überaus zufrieden sammelte sie Ryuka und O-Shikara ein, und nötigte die beiden, die Feierlichkeiten jetzt so langsam zu beenden. O-Shikara hatte in Kräftemess-Spielen wie Armdrücken ebenfalls einige Lebensmittel, Werkzeuge und Kleidungsstücke errungen, so daß ihre Weiterreise erstmal gut abgesichert war. Die Kleidungsstücke würden aber wohl eher Ryuka passen als dem riesenhaften Muskelpaket. Ryuka fiel es schwer, sich von seinem Publikum zu trennen, aber Zaku und O-Shikara machten ihm nachdrücklich klar, daß sie morgen noch die Bühne abbauen mussten und dann eine anstrengende Wanderstrecke vor sich hatten, wenn sie weiter wollten. Dazu sollte er besser halbwegs ausgeschlafen sein. Als die drei Animateure, die die Feierlaune maßgeblich am Laufen gehalten hatten, weg waren, kam auch der Rest des Dorfes denkbar schnell zur Ruhe. Zaku trug dem Panda-Tiergeist aber dennoch auf, ihre neuen Gewinne, insbesondere die goldene Statue, die ganze Nacht zu bewachen. Sie traute dem fahrenden Händler durchaus zu, sich die Figur in der Nacht heimlich wiederholen zu wollen. Der Wert von dem Ding war ja schließlich nicht ganz unbedeutend und sie konnte sich vorstellen, daß er sich gehörig ärgerte, sowas beim Spielen verzockt zu haben. Als Zaku am nächsten Morgen gähnend aus ihrem Zelt gekrochen kam – zwar noch hundemüde aber perfekt angezogen und frisiert, wie es sich für eine Göttin gehörte – fand sie Ryuka und O-Shikara schon fleißig bei der Arbeit. O-Shikara baute die schweren Holzbretter der Bühne ab, sein Chef versuchte alles möglichst platzsparend auf den Karren zu laden. Enthusiastische Hilfe hatten sie dabei von einem halbstarken Bauernjungen mit aufgeweckt blitzenden Augen. „Guten Morgen, Prinzessin“, grüßte Ryuka sie gutgelaunt. Als Göttin nahm sie so eine Anrede natürlich widerspruchslos hin, lächelte nur und kam näher, um sich in dem Wirrwarr aus Kisten etwas Essbares zu suchen. „Hast du gut geschlafen? Wir sind fast fertig. Wir können dann sicher bald los, wenn wir dein Zelt abgebaut haben“, fuhr er fort. Zaku nickte verstehend und einverstanden. „Wer ist der Junge?“, wechselte sie sofort konsequent das Thema und deutete zu dem kleinen Bretterstapel hin, der von der Bühne noch übrig war. „Weiß nicht. Irgendein Junge eben. Ist doch nett, wenn er uns hilft.“ „Hat er euch schon gefragt, ob er mit uns mitkommen kann, wenn wir weiterziehen?“ „Nein!?“, machte Ryuka verwirrt. „Dann tut er´s noch.“ „Wie kommst du darauf?“ „Er hat ein schon fertig gepacktes Bündel dabei“, machte Zaku ihn aufmerksam und neigte den Kopf vielsagend in die Richtung des Bauernjungen. Dann biss sie in einen Reiskuchen, den sie inzwischen gefunden hatte. Ryuka starrte einen Moment ungläubig auf den Jugendlichen, der mit O-Shikara emsig Holzkeile sortierte. „Du glaubst, er will sich uns anschließen? ... Willst du ihn denn dabei haben?“ „Nein“, meinte Zaku gleichmütig. „So pauschal? Willst du ihn nicht wenigstens was vorspielen lassen?“ „Nein.“ „Aber vielleicht ist er talentiert.“ „Ist er nicht. Er kann gar nichts. Er ist ein Einfaltspinsel, der zu faul ist, sein Leben auf den Reisfeldern seines Vaters zu fristen. Aber er taugt zu nichts.“ Ryuka warf ihr einen etwas unwilligen Blick zu, da er nicht verstand, woher sie aus der Kalten so ein Urteil fällen zu können glaubte. „Wir könnten aber etwas Zuwachs gut gebrauchen. Zu dritt können wir jedenfalls nicht bleiben, wenn wir als Theater-Truppe überleben wollen.“ „Aber bitte nur mit tauglichen Leuten. Wir können es uns genauso wenig leisten, Tölpel wie ihn durchzufüttern. Wenn wir mit ihm erstmal ein paar Tagesreisen weit weg sind, wird es zu spät sein, ihn wieder fort zu schicken.“ „Zumindest zum Auf- und Abbau der Bühne scheint er ja durchaus zu taugen!“ Zaku gab ein genervtes Stöhnen von sich. „Ryuka, du bist der Chef. Wieso fragst du mich denn, wenn du meine Meinung gar nicht hören willst? Nimm ihn doch mit, wenn du´s schon so entschieden hast, behellige mich nicht mehr mit diesen Diskussionen, und lass dich von der Realität eines Besseren belehren!“ „Ich will deine Meinung ja hören. Aber ich will sie auch nachvollziehen können. Du siehst ihn einen Moment lang aus der Ferne und weißt schon um sein Talent?“ „Irgendwann wirst du´s vielleicht verstehen“, entgegnete sie nur, biss wieder in ihren Reiskuchen und spazierte davon, um Chirobi zu suchen. Ryuka lehnte sich mit dem Hintern gegen den Karren und schaute O-Shikara und dem Bauernjungen beim Abbau der Bühne zu. Dabei grübelte er düster vor sich hin. Weniger über den Jungen als vielmehr über Zaku. Was für ein seltsames Spiel spielte sie hier? Eine Tempeldienerin hinter der Maske einer Wander-Geisha war sie jedenfalls nicht. Dafür war sie zu launisch und hatte zu sehr ihren eigenen Kopf. Mal ganz abgesehen davon, daß sie viel zu gut tanzte. Rituelle Tempeltänze waren das definitiv nicht, was sie gestern aufgeführt hatte. Nach einer Weile tauchte O-Shikara neben ihm auf und lud ein paar der letzten, verbliebenen Bühnenteile beim Karren ab. „He, guck nicht so finster!“, forderte er seinen jungen Chef auf und boxte ihm kumpelhaft gegen die Schulter. „Was' los?“ Ryuka schüttelte den Kopf und stemmte sich vom Wagen weg. „Nichts.“ „Muss ja ein richtig mieses Nichts sein ... Der Junge fragt, ob er mit uns kommen kann, wenn wir weiterfahren.“ „Tatsächlich?“, gab Ryuka unglücklich zurück. O-Shikara brummte bestätigend. „Ich hab ihm gesagt, daß ich das nicht entscheide.“ „Und was denkst du von ihm?“ „Ganz ehrlich? Er ist eine Plinse. ... Zugegeben, eine nette Plinse, aber trotzdem eine Plinse. Hat viele Flausen im Kopf, der Junge, und kühne Träume, aber nicht das Zeug, um diese Träume zu realisieren.“ Ryuka seufzte nur. „Ryuka! Ryuka!“ Sieh an, seinen Namen kannte der Rabauke also auch schon, dachte der junge Chef der Theater-Truppe und rollte kurz mit den Augen, bevor er stehen blieb und sich umdrehte. Eigentlich wollten sie doch gerade aufbrechen und das Dorf endlich verlassen. Der Junge, der ihnen beim Abbau der Bühne geholfen hatte, sprang ihnen in langen Sätzen nach. Dabei hatte Ryuka so gehofft, unbehelligt davon zu kommen. „Ryuka, warte auf mich!“ „Was gibt es?“ „Ich möchte mit euch kommen. Nehmt ihr mich in eure Theater-Truppe auf?“, wollte der Halbstarke ganz unverblümt wissen. Ryuka wischte sich mit dem Ärmel über die Nase, um seinen Unmut zu verbergen. „Wie heißt du denn, Großer?“ „Yoji, Herr!“ „Und wie alt bist du?“, hakte Ryuka nach. „Ich wurde gebohren im Jahr es Hahns.“ Er überschlug kurz im Kopf. „Fünfzehn, ja?“ „Ja, Herr.“ „Hör mal, Kind, so einfach ist das nicht. Ihr Bauern untersteht einem Feudalherren. Ihr seid Paria. Leibeigene. Euer Herr würde es gar nicht lustig finden, wenn du einfach verduftest. Wenn du volljährig bist und – woher auch immer – große Besitztümer zusammengetragen hast, kannst du dich vielleicht freikaufen und dich einer fahrenden Theater-Truppe anschließen. Aber du bist weder alt noch reich genug. ... nehme ich jedenfalls mal an. Oder ist dein Vater zufällig gewillt, für deine freiheitsliebenden Absichten aufzukommen?“ „Ich habe keinen Vater mehr. Ich bin der Mann im Haus.“ „Das ist ja noch schlimmer“, urteilte Ryuka halbwegs entsetzt. „Bedeutet dir deine Mutter so wenig?“ „Ich habe auch keine Mutter. Und meine jüngeren Schwestern leben bei Verwandten in einem anderen Dorf. Ich wohne allein.“ Ryuka zog ungläubig die Stirn in Falten. Das war ein armer, schicksalsgebeutelter Junge, zugegeben. Und sein Los war sicher nicht leicht. Aber trotzdem konnte er ihn nicht einfach mitnehmen. Der Lehensherr würde ihm nachhetzen, das Kind zurückfordern und seine Theater-Truppe wohlmöglich samt und sonders hinrichten lassen. „Was ist mit deinen Fünfer-Genossen? Willst du die etwa für deinen eigenen Egoismus opfern?“ Ryuka wusste, daß die Paria eines Dorfes vor dem Gesetz für gewöhnlich in Fünfer-Gruppen zusammengesteckt wurden, ohne Rücksicht auf irgendwelche Familien- oder Verwandtschaftsverhältnisse. Wenn einer von ihnen Mist baute, wurden alle fünf bestraft. Bekam man den Übeltäter nicht mehr zu fassen, mussten die restlichen vier an seiner Stelle den Kopf hinhalten. Keine schöne Sache, aber sehr wirkungsvoll, um unter den Leibeigenen für Ruhe zu sorgen. „Die sind mir egal“, behauptete der Junge voller Überzeugung. „Yoji ...“, meinte Ryuka tonlos. „Sowas wie dich will ich hier nicht haben, du gewissenloses Monster ohne jede Ehre im Leib. Sieh zu, daß du fort kommst!“ Damit winkte er O-Shikara und Zaku, weiter zu gehen, und wandte sich auch selbst ab, dem Weg zu. Mit einem zufriedenen Brummen setzte O-Shikara den Karren wieder in Bewegung. Auf einem Hügel hielten sie kurz an, um Luft zu holen und Ausschau zu halten. Vor ihnen erstreckte sich eine steinige Geröllstraße, die wie eine Trennlinie quer durch die grüne Ebene schnitt. Kein Mensch weit und breit zu sehen. Im Herbst waren nur noch wenige Händler unterwegs. Die meisten sahen sich schon jetzt nach sicheren Winterquartieren um, aus Angst, nicht mehr rechtzeitig eines zu finden, bevor der Schneefall einsetzte. Hier in den höheren Regionen musste man damit immer schon recht zeitig rechnen. „Den Berg runter müsst ihr mir mit dem Karren helfen“, meinte O-Shikara. „Alleine kann ich das schwere Ding auf so abschüssigem Gelände nicht halten.“ Ryuka nickte und ließ den Blick weiter schweifen. Zaku zeigte in die Ferne. „Da unten ist eine Kreuzung. Wir müssen weiter nach Westen. Der Kerl, der dem fahrenden Händler meine Tempelstatue gegeben hat, ist nach Shirakawa-Go gegangen. Leider war er alleine unterwegs. Die drei Halunken scheinen sich aufgeteilt und in verschiedene Richtungen versprengt zu haben. Aber vielleicht kann der Kerl in Shirakawa-Go uns ja sagen, wo wir die anderen beiden finden.“ Ryuka maß sie mit einem langen Seitenblick. Dann holte er vernehmlich Luft, um etwas zu sagen. „Zaku, auch auf die Gefahr hin, daß ich mich wiederhole, aber was willst du gegen den Mann ausrichten, wenn du ihn gefunden hast?“ „Ihn umbringen.“ „Und wie?“, hakte der Schauspieler nach. „Der hat ein ganzes Waffenarsenal. Du nicht.“ „Woher willst du das wissen?“ „Ich war zufällig dabei, als dein Tempel in seine Einzelteile zerlegt wurde!?“ Die Göttin verzog das Gesicht. Das konnte sie wohl nicht abstreiten. „Trotzdem, das wird dem Kerl nichts nützen“, meinte sie nur kryptisch, um die Frage nicht direkt beantworten zu müssen. Um ehrlich zu sein, hatte sie nämlich selber noch keine konkrete Idee dazu. Wie auch? Sie musste sich ja erstmal anschauen, mit wem sie es überhaupt zu tun hatte. Das würde sich schon finden, wenn es soweit war. „Übrigens, wenn ich das mal erwähnen darf: wir werden verfolgt.“ Ryuka und O-Shikara fuhren schlagartig herum. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)