Sünde von Labrynna ================================================================================ Kapitel 24: Melanie ------------------- Die harten Klänge zweier E-Gitarren und das vibrierende Dröhnen von Schlagzeug und Bass hämmerten durch die Aula, prallten von den Wänden ab und vermengten sich zu einer schnellen Melodie, die unwillkürlich gute Laune vermittelte. Der diesjährige Abschlussjahrgang hatte sich etwas Besonderes einfallen lassen und ließ eine der vielen schulinternen Bands auftreten, anstatt Musik vom Band laufen zu lassen. Man hatte sogar extra auf einer Breitseite der Aula eine improvisierte Bühne aufgebaut. Ich bewunderte die Musiker dafür, dass sie sich trauten, auf der etwas wackelig aussehenden Konstruktion zu spielen. Neben mir stand Finchen und wippte im Rhythmus der Musik auf und ab, so als hätte sie Sprungfedern unter den Absätzen. Als sie bemerkte, dass ich sie ansah, grinste sie mich an und beugte sich zu mir. „Klasse Musik, oder?“ Ein wenig irritiert nickte ich. Eigentlich konnte Finchen Punk nicht ausstehen. Ich musterte sie von der Seite und bemerkte endlich ihren irgendwie starren und verträumten Blick. Grinsend schaute ich in dieselbe Richtung wie Finchen und entdeckte den dunkelhaarigen Gitarristen auf der rechten Bühnenseite, den sie so anschmachtete. Kein Wunder, dass sie sich plötzlich für diese Art Musik begeisterte. Ich betrachtete die anderen Musiker und fragte mich, ob ich einen von ihnen süß fand. Links stand ein weiterer Gitarrist, der erstaunlich groß und schlaksig war und blondes, zerzaustes Haar hatte. Augenblicklich musste ich wieder an Greg denken und sah schnell weg. Ich wollte mir den Abend nicht verderben, indem ich meinen Bruder vermisste. Ein Stück weiter rechts stand der Bassist. Er hatte kurze, stoppelige Haare, deren Farbe von meinem Standpunkt aus nicht zu erkennen war. Von dunkelblond bis hin zu fast schwarz hätte es alles sein können. Mit einem Kopfschütteln entschied ich, dass der Bassist mir nicht gefiel. Er hatte kalte, helle Augen und ein irgendwie unfreundliches Gesicht. In der Mitte war das Schlagzeug aufgebaut, hinter dem ein hünenhafter, türkischstämmiger Junge saß, der mit einer Kraft auf die Felle seiner Trommeln drosch, dass ich fürchtete, sie könnten reißen. Er hatte langes, glänzendes, schwarzes Haar und eine große Hakennase, neben der zwei dunkle, wie Knöpfe wirkende Augen saßen. Ich legte den Kopf schief und dachte nach, entschied mich dann aber doch gegen den Schlagzeuger. Er sah zwar definitiv gut aus, aber irgendwie fehlte ihm etwas. Ich konnte nicht einmal sagen, was. Vor dem Schlagzeug war der Bereich des Sängers – ein kleiner, leicht untersetzter Junge mit wilden, ungebändigten, braunen Locken, die lustig auf und ab sprangen, während ihr Besitzer über die Bühne flitzte. Fasziniert blieb mein Blick an ihm hängen. Er hatte leuchtende grünbraune Augen, die hellwach wirkten und immer wieder über das Publikum glitten. Doch sie waren es nicht, was mich so gebannt hatte. Ich war vielmehr von der gewaltigen Energie beeindruckt, die dieser Junge freisetzte. Er sprang und flitzte umher und sang sich dabei die Seele aus dem Leib, so als müsste er niemals Luft holen. Ich fragte mich, ob er dieses Tempo den ganzen Abend über würde aufrecht halten können. Etwa anderthalb Stunden später hatte ich dann meine Antwort: Ja, er konnte. Ich war unglaublich beeindruckt und nahm mir vor, mal wieder zu einem Gig seiner Band zu gehen – schließlich spielten sie auch noch echt gute Musik. Nachdem die anwesenden Partygäste sich während des Bandauftritts mehr oder weniger geschlossen der Bühne zugewandt hatten, verstreuten die Leute sich nun und bildeten kleine Grüppchen. Finchen stand noch immer neben mir, kaute auf einem Fingernagel und beobachtete den dunkelhaarigen Gitarristen, der zusammen mit seinen Bandkollegen das Equipment zusammen packte. Anscheinend überlegte sie, ob sie hin gehen und ihn ansprechen sollte. Ich wollte ihr gerade Mut machen, als ich den Sänger auf uns zu kommen sah. Er hatte seine Oberbekleidung gewechselt und trug nun einen leuchtendblauen Pullover statt seines grauen, mit Schweißflecken übersäten T-Shirts. Auch seine Locken sahen so aus, als wären die kleinen Tropfen, die in ihnen schimmerten, Wasser und kein Schweiß. Ich spürte, wie mir Nervosität den Rücken entlang perlte und sich als leises Ziehen im Magen einnistete, obwohl ich mir einzureden versuchte, dass dieser Junge bestimmt nicht zu mir wollte. Überraschenderweise blieb er jedoch tatsächlich vor Josephine und mir stehen und grinste. Finchen sah ihn mit unverhohlener Abneigung an, so als wäre er ein widerliches Insekt, das man dringend zerquetschen musste. Ich fragte mich, was sie gegen ihn hatte. Er sah doch total sympathisch aus und in seinen Augen schimmerte ein stummes Versprechen von Warmherzigkeit und Feinfühligkeit. „Du bist die kleine Schwester von Greg, oder? Melanie?“ Der Junge fixierte mich mit einem erfreuten Blick, während mir die Verwirrung bestimmt ins Gesicht geschrieben stand. Finchen verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte ihr Gewicht auf das rechte Bein. Ich kannte sie lange genug, um zu wissen, dass das bei ihr eine angriffslustige Stimmung bedeutete. Bevor sie sich mit unserem Gegenüber anlegen konnte, sagte ich deswegen: „Möglich. Wie kommst du drauf?“ „Ich hab früher neben Chris gewohnt und immer mal wieder etwas mit ihm und deinem Bruder unternommen. Mein Name ist übrigens Johannes.“ Er hielt mir seine Hand entgegen, die ich nach kurzem Zögern ergriff. Als ich seine erstaunlich weiche Haut berührte, fiel es mir wieder ein: Greg hatte früher des Öfteren von einem Jungen namens Johannes in Chris’ Nachbarschaft erzählt, den sie hatten mitspielen lassen, obwohl er zwei Jahre jünger war als sie selbst. Ich lächelte Johannes an, was er mit einem breiten Grinsen beantwortete. „Ja, ich erinnere mich. Mein Bruder hat von dir erzählt.“ Finchen warf mir einen sonderbaren Blick zu, so als wunderte sie sich, dass ich überhaupt mit diesem Jungen sprach. Aber wie hätte ich Johannes nicht mögen können? Mein Bruder hatte ihn schließlich auch gern gehabt. „Ich komm gleich wieder.“ Ohne ein weiteres Wort wandte Finchen sich um und verschwand in dem Meer aus umherstehenden und sich unterhaltenden Menschen. Johannes machte ein ratloses Gesicht und sah mich dann fragend an. „Hab ich sie jetzt vertrieben? Das tut mir leid.“ Ich zuckte mit den Schultern und schüttelte den Kopf. „Das ist normal. Josephine ist manchmal ein bisschen zickig.“ „Hm. Ach so.“ Einige Herzschläge lang sah Johannes nicht überzeugt aus, doch dann erhellte ein Lächeln wieder seine Züge. „Vielleicht denkt sie ja auch, ich wolle dich anmachen, und glaubt, ich traue mich nicht, so lange sie dabei ist.“ Ich grinste, als ich mir eine so feinfühlige Finchen vorstellte. „Nein, glaub mir: Wenn sie denken würde, du wollest mich anmachen, wäre sie geblieben.“ „Meinst du?“ Ich nickte. „Ja, ganz sicher.“ Dass ich das Gefühl hatte, dass sie schon allein deswegen geblieben wäre, um ihn zu ärgern, verschwieg ich lieber. Johannes beugte sich ein wenig zu mir, damit ich ihn trotz der plötzlich eingesetzten, lauten Musik verstand, auch wenn er nicht aus voller Lunge brüllte. „Wollen wir vielleicht trotzdem ein wenig in die Chill-Out-Area? Da kann man sich besser unterhalten.“ Wieder spürte ich, wie Nervosität durch meinen Körper schwappte. Erst kribbelte es nur unter meinen Füßen, doch es breitete sich rasend schnell über den gesamten Körper aus. Ich lächelte und nickte. „Gerne.“ Die Chill-Out-Area war in dem großen Kunstraum am hinteren Ende der Aula errichtet worden. Irgendwer hatte die Möbel aus dem Aufenthaltsraum der Oberstufe hierher geschafft und mit bunten Tüchern abgehängte Stehlampen im Raum verteilt. Durch die geschlossene Tür hörte man noch immer den Bass aus dem Tanzbereich wummern, der sich mit den leisen Entspannungsklängen aus einer ziemlich ramponiert aussehenden Stereoanlage vermischte. Ich lies mich auf ein altes, ausgesessenes Zweiersofa fallen, dessen Bezug an einigen Stellen bereits aufgerissen war und einen Blick auf das Sofainnenleben aus gelbem Schaumstoff gewährte. Johannes setzte sich neben mich und rümpfte ein wenig die Nase, als er ein heftig fummelndes Pärchen in der gegenüberliegenden Ecke des Raumes entdeckte. „Haben die Beiden kein Zuhause?“ Ich kicherte ein bisschen beschämt und sah schnell wieder von dem Pärchen weg. Johannes setzte sich ein wenig quer und legte einen Arm auf die Rückenlehne des Sofas. Ich lehnte mich zurück, sodass er nun fast um meine Schultern lag. Zu meiner Freude zog Johannes ihn nicht zurück. Erste, kleine Schmetterlinge flatterten durch meinen Bauch. Ich fühlte mich von diesem Jungen einfach irgendwie fasziniert. Genauso wenig wie ich bei dem Schlagzeuger hatte sagen können, was mir an ihm gefehlt hatte, so konnte ich bei Johannes nicht sagen, was mir so gefiel. Vielleicht waren es die strahlenden Augen oder die Energie, die er ausstrahlte. Doch als er den Mund aufmachte, um mich etwas zu fragen, fielen die kleinen Schmetterlinge tot zu Boden, wo sie ein fieses Magenbrennen verursachten. „Und wie geht’s Greg? Was macht er so? Ich hab ihn ja ewig nicht mehr gesehen.“ Ich biss mir von innen auf die Wange, um mir meine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Ich würde jetzt nicht weinen, nur weil ich tatsächlich so dumm gewesen war zu glauben, dass Johannes Interesse an mir hätte haben können! „Er hat die Schule gewechselt und geht jetzt auf ein Internat.“ Selbst in meinen Ohren klang meine Stimme beleidigt und traurig. Ich hoffte, dass Johannes das auf die Abwesenheit meines Bruders bezog und nicht auf sich selbst. Er zog die Stirn kraus und machte ein nachdenkliches Gesicht. „Das ist schade. Er war immer ein guter Basketballspieler. Ich hatte gehofft, ihn für unsere Schulmannschaft gewinnen zu können. Mein Onkel trainiert sie, weißt du?“ Nein, wusste ich nicht und interessierte mich auch nicht. Ich wollte plötzlich einfach nur noch gehen und mich hinter Finchen verstecken. Wie hatte ich nur so blöd sein können? Kein Sechzehnjähriger, der in einer Band spielte, interessierte sich für eine unscheinbare Vierzehnjährige wie mich. Doch dann lächelte Johannes mich auf einmal wieder an, wobei er dieses Mal allerdings irgendwie ein wenig zerknirscht aussah. „Wenn du so schweigsam bist, machst du’s einem Jungen wirklich nicht leicht.“ Ich blinzelte ihn irritiert an. „Wie bitte?“ Plötzlich nervös nestelte er an einem losen Faden des Sofabezugs. „Na ja, also... ähm...“ Er holte tief Luft und sah mich eindringlich an. „Eigentlich war die Frage nach deinem Bruder nur ein willkommener Vorwand, um dich anzusprechen. Ich hatte gehofft, dass wir vielleicht ein wenig ins Gespräch kommen.“ Ich merkte, wie mir das Blut ins Gesicht schoss und meine Wangen zu glühen anfingen. „Oh.“ Verlegen starrte ich auf meine Knie, als ich zugab: „Das hatte ich auch gehofft. Ich war schon ein wenig enttäuscht, als du nach Greg gefragt hast.“ Neben mir entspannte Johannes sich merklich und stieß einen kleinen Seufzer aus. „Sollen wir das Gespräch dann vielleicht noch mal von vorne anfangen?“ Lächelnd sah ich zu ihm herauf und begegnete seinem warmen, fast liebevollen Blick. „Auf jeden Fall.“ Für einige Zeit unterhielten wir uns über Musik, Lieblingsfilme, die Schule und seine Band. Mit einem kleinen Schrecken stellte ich fest, dass ich Finchen vollkommen vergessen hatte. Ich wollte gerade aufspringen und nach ihr suchen, als Johannes meine Hand ergriff. „Darf ich dir etwas sagen?“ Er sah mich ein wenig unsicher aus großen Augen an. „Klar.“ Sanfte Röte breitete sich auf seinem leicht rundlichen Gesicht aus. „Du bist echt hübsch.“ Ich starrte ihn ungläubig mit offenstehendem Mund an, während ein flaues Glücksgefühl durch meinen Körper schwappte. Finchen hatte ich schon wieder vergessen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)