Sünde von Labrynna ================================================================================ Kapitel 12: Melanie ------------------- „Meinst du, dein Bruder ist inzwischen wieder aufgetaucht?“ Josephine balancierte über eine niedrige Mauer, die an der Straße zu meinem Elternhaus entlang führte. Dass es am vergangenen Tag noch wie aus Kübeln geregnet hatte, sah man inzwischen nicht mehr. Die Sommersonne brannte hell und heiß vom Himmel und ließ die Luft auf dem aufgeheizten Asphalt flirren. Ich zuckte träge mit den Schultern und versuchte, möglichst gelassen zu wirken, doch in Wirklichkeit drehte sich mir bei dem Gedanken daran, dass mein Bruder immer noch verschollen sein könnte, der Magen um. Ich hatte auch während der Nacht aus Sorge kaum ein Auge zugetan und wenn ich dann doch einmal eingeschlafen war, hatte ich wildes, unzusammenhängendes Zeug geträumt, das mich mehr als einmal hatte hochschrecken lassen. Falls Finchen etwas davon bemerkt hatte, ließ sie sich dies jedoch netterweise nicht anmerken. Kurz vor meinem Heim trennten sich unsere Wege. Josephine wollte ihre Großmutter besuchen, die in einer Querstraße wohnte und ich wollte nur noch nach Hause und nachsehen, ob Greg endlich wieder da war. Meine Hände zitterten leicht, als ich den Schlüssel ins Schloss schob und aufsperrte. Die Kühle, die mir aus dem Flur entgegen wehte, war ein unglaublich angenehmer Kontrast zu der unwirtlichen Hitze draußen. Schnell schlüpfte ich ins Haus und lauschte mit angehaltenem Atem. Von draußen hörte man das gedämpfte Motorengeräusch eines vorbei fahrenden Autos, doch ansonsten war alles still. Enttäuschung machte sich in mir breit und ich ließ mutlos die Schultern hängen. Niemand war hier, um mich zu begrüßen. Papa war garantiert im Krankenhaus, Mama war vermutlich einkaufen und Greg... keine Ahnung. Missmutig stapfte ich in die Küche und riss die Kühlschranktür ein wenig zu heftig auf. Ketchup-, Saucen- und Getränkeflaschen schlugen laut klirrend gegeneinander. Mit einem schnellen Blick prüfte ich das Angebot der kaltgestellten Getränke, doch nichts sagte mir wirklich zu. Dafür war ich einfach zu frustriert. Wo zur Hölle war Greg? Und warum wusste ich es nicht? Schließlich entschied ich mich resigniert seufzend für eine kleine Flasche roter Fruchtschorle und schubste die Kühlschranktür mit der Hüfte wieder zu. Die Flaschen klirrten wieder und ich grinste. Wäre meine Mutter hier gewesen, hätte ich dafür einen Rüffel bekommen. Ich schraubte den Verschluss von meiner Plastikflasche, stellte mich ans Fenster und sah hinaus auf unseren Garten, der in dem grellen Sommerlicht in bunten, kräftigen Farben leuchtete. Ich nahm einen ersten Schluck von der leicht säuerlich schmeckenden Schorle und dachte wieder an Greg. Konnte es wirklich sein, dass er schwul war? Irgendetwas störte mich an dieser Theorie. Nach nur wenigen Minuten stach mir das helle Sonnenlicht in den Augen und ich wandte mich vom Fenster ab. Was sollte ich nun mit dem angebrochenen Tag anfangen? Normalerweise wäre ich jetzt zu meinem Bruder hoch gegangen. Ihm wäre bestimmt irgendetwas spaßiges eingefallen. Stattdessen wandte ich mich dem Esszimmer zu, durch das man ins Wohnzimmer gelangte. Ich wollte ein wenig fernsehen und mich ablenken. Doch bevor ich auch nur einen Schritt tun konnte, fuhr mir der Schreck in alle Glieder. Dort, am Esszimmertisch, saß jemand. So unbewegt und ruhig, dass ich ihn bisher nicht bemerkt hatte, obwohl Küche und Esszimmer nur durch eine Theke getrennt wurden. Die Person hatte flachsblondes, verwuscheltes Haar, so als wäre sie gerade erst aus dem Bett gefallen, eine gerade, schlanke Nase und kräftige, leicht gebräunte Arme mit heller Behaarung. Sie trug ein altes, ausgeleiertes, graues T-Shirt und trotz der Hitze Jeans. Die ganze Zeit über hielt sie den Kopf gesenkt und saß so still da, als wäre sie nur eine besonders real wirkende Statue oder vielleicht eine von Madame Tussauds Wachsfiguren. Greg. Erleichterung erfasste mich wie eine Flutwelle und plötzlich fühlte ich mich von innen heraus irgendwie kuschelig warm und plüschig. Glücklich. Doch sofort krochen mir wieder leise, bohrende Zweifel den Rücken hinauf. Warum hatte er mich nicht begrüßt? Warum reagierte er auch jetzt noch nicht? Schlief er womöglich in dieser unbequemen Position – Ellbogen auf den Tisch gestützt und das Gesicht fast in den Händen vergraben? Ich stellte meine Schorleflasche ab und näherte mich langsam und vorsichtig meinem Bruder. Falls er wirklich schlafen sollte, wollte ich ihn nicht wecken. Ich rechnete jeden Moment damit, dass er plötzlich den Kopf herum reißen und mich erschrecken würde, doch er rührte sich selbst dann nicht, als ich direkt neben ihm stand. Dabei hatte er nicht einmal die Augen geschlossen. Oder irrte ich mich? Gänsehaut machte sich auf meinen Unterarmen breit und ein kalter Schauer lief mir über den Rücken. Hätte man nicht so deutlich sehen können, dass Greg ruhig und gleichmäßig atmete, hätte ich vermutlich einen Panikanfall bekommen. Wieso nur war er so weggetreten? Es schien, als hätte er sich vollkommen in sich selbst zurückgezogen. Blöderweise hatte er dabei anscheinend die Welt um ihn herum ausgeschlossen. Ich beugte mich ein wenig herab, um ihm ins Gesicht sehen zu können. Ich hatte mich nicht getäuscht! Seine Augen standen offen, starrten jedoch mit einem völlig leblosen, leeren Ausdruck auf den Tisch. Eisenketten legten sich um meinen Brustkorb und ich schaffte es nur mit Mühe und Not, die langsam aufkeimende Panik herunter zu schlucken. Dafür liefen mir schon wieder die Tränen übers Gesicht. Manchmal nervte es mich selbst, dass ich so nah am Wasser gebaut war, aber ich konnte einfach nichts dagegen tun. Für einen kurzen Augenblick hatte ich das Gefühl, dass Gregs Augen blitzschnell zu mir huschten und sein Kiefermuskel zuckte. Doch als ich genauer hinsah, war es schon wieder vorbei. Hatte ich es mir eingebildet oder war mein Bruder doch nicht so weggetreten wie er mich glauben machen wollte? Zum ersten Mal fiel mein Blick auf die Tischplatte vor ihm. Dabei fiel mir auf, dass er gar nicht die Holzmaserung anstarrte, wie ich gedacht hatte, sondern ein Din-A-4 großes Stück leicht vergilbtes Papier. Neugierig verrenkte ich mir den Hals, um zu lesen, was darauf geschrieben stand, doch es hatte keinen Sinn. So wie Greg es mit seinen Armen abschirmte, konnte ich nicht einmal ein ganzes Wort entziffern. Achselzuckend wandte ich mich wieder meinem Bruder zu. Tat er nur so apathisch? Wenn ja, warum? Mit kurzen Schritten ging ich um ihn herum, bis ich direkt hinter ihm stand. Ich wusste, dass er es nicht leiden konnte, wenn jemand in seinem Rücken stand. Dann fühlte er sich irgendwie schutzlos und bedroht. Vorsichtig legte ich ihm meine Hände auf die Schultern, wo sich seine Muskeln unter meiner Berührung sofort verkrampften. Irritiert schob ich die Augenbraunen zusammen. Lag diese Reaktion an mir, meiner Position oder daran, dass er momentan generell nicht angefasst werden wollte? Zaghaft begann ich die betroffenen Muskelstränge zu massieren. Mit dermaßen harten Verspannungen musste er geradezu höllische Schmerzen haben. Oder war er so sehr in seiner eigenen Welt, dass er davon gar nichts mehr bemerkte? Langsam bekam ich ernsthafte Angst um meinen Bruder. Finchen hatte sich geirrt. Hier war mehr im Spiel als eine peinliche oder unglückliche Liebe. Irgendetwas machte Greg vollkommen fertig. Er wirkte so zerbrechlich und irgendwie ausgehöhlt, dass es mir beinah das Herz zerriss, ihn so zu sehen. Würde er da jemals wieder von alleine heraus kommen? Oder verlor ich meinen Bruder an ein dunkles Irgendwas, von dem ich nicht einmal wusste, was es war? „Greg?“ Meine Stimme war kaum mehr als ein zögerliches Flüstern und ich musste mich räuspern, bevor ich mich verständlich wiederholen konnte. „Greg?“ Ich musste ihn einfach ansprechen. Angst und Sorge, die sich langsam vermischten und zu Panik steigerten, verknoteten meinen Magen zu einem winzigen Knäuel und ließen meine Handinnenflächen schwitzig werden. Ich knetete seine steinharten, ungesund verspannten Muskeln und schluchzte immer wieder seinen Namen, doch er reagierte kein winziges bisschen. Kein Muskelzucken mehr, kein Kopfschütteln, kein Wort. Langsam wurde ich wütend. Warum schloss er mich so aus und ließ mich mit meiner Furcht um ihn allein? Ich riss ihn grob am Saum seines T-Shirts, doch auch das führte zu nichts. Er gab nur einmal einen keuchenden Laut von sich, weil der Kragen gegen seinen Kehlkopf drückte. Resigniert ließ ich den Stoff los und setzte mich auf den nächsten Stuhl. Greg starrte noch immer dumpf auf den Zettel vor sich, doch für einen kurzen Moment blitzte etwas in seinen verschleierten Augen auf. Wut? Nahm er es mir etwa übel, dass ich ihn gewürgt hatte? Gerade als ich mit dem Gedanken spielte, ihm zu drohen, dass ich das wieder tun würde, wenn er nicht endlich mit mir sprechen würde, schloss jemand die Haustür auf. Nur wenige Augenblicke später erschienen Papa und Mama in der Tür, beide mit großen Tüten voller Leckereien. Plötzlich war Greg wieder voller Leben. „Hattet ihr eigentlich vor, mir das hier auch irgendwann mal selbst zu erzählen?!“ Ich zuckte heftig zusammen. Gregs Stimme war vor Wut ganz verzerrt, als er von seinem Stuhl aufsprang und unsere Eltern aus vollen Lungen anbrüllte. So langsam verstand ich. Er hatte sich in sich selbst zurückgezogen, um sich für das kommende Gespräch zu wappnen. Ich hätte zu gerne gewusst, was auf dem Blatt Papier stand, das er Mama und Papa nun unter die Nase rieb. Papa stellte seine Tüten auf der Theke ab und sah Greg aus fragenden Augen an. „Dir was zu erzählen?“ „Stell dich nicht dumm!“ Greg war rasend vor Zorn. So hatte ich ihn noch nie gesehen. Und von was redete er überhaupt? Verwirrt ließ ich meinen Blick zwischen meinem Vater und meinem Bruder hin und her huschen, während Mama ihre Tüten zur nächsten Arbeitsfläche trug. Anscheinend wollte sie sich aus dem Gespräch raus halten. „Was hast du da eigentlich für einen Zettel?“ Ich spürte die Anspannung bis in die Haarwurzeln, als Papa die Hand nach dem ominösen Papier ausstreckte. „Das solltest du eigentlich wissen.“ Greg schleuderte ihm das Blatt entgegen, sodass es mit einem knatternden Flattergeräusch durch die Luft segelte. Papa schien nur einen kurzen Blick zu brauchen, um zu erfassen, was auf dem Zettel stand, und erbleichte leicht. Oder war es nur das Licht, das ihn blasser wirken ließ? Als er das Blatt aufgefangen hatte, hatte er einen kaum merklichen Schritt gemacht – raus aus dem Schatten des Flurs, rein in eine breite Bahn hellen Sonnenlichts, das durch die hohen Fenster fiel. Er ließ die Arme hängen und sah Greg mit leidender Miene an, doch bevor er etwas sagen konnte, brüllte mein Bruder bereits wieder: „Ihr hattet kein Recht, es mir zu verschweigen. Ihr hattet einfach kein Recht dazu!“ Nun schaltete sich auch Mama aus der Küche heraus ein: „Jetzt mach aber mal einen Punkt, Gregor. Es spielte doch gar keine Rolle. Das war vollkommen irrelevant für uns. Wir haben es einfach vergessen.“ Scheinbar wusste sie, um was es ging, ohne den Zettel gelesen zu haben. Ich beneidete sie darum und versuchte, möglichst unauffällig einen Blick auf den Text zu werfen. Doch so wie Papa das Papier hielt, konnte ich nur den Anfang eines großen, in geschwungenen Lettern geschrieben Wortes erkennen: „Ado...“ „Vollkommen irrelevant?!“ Gregs Stimme überschlug sich fast, als er ungläubig Mamas Worte wiederholte. Um was zum Teufel ging es hier eigentlich? Ich stieß gerade einen genervten Laut aus, weil ich überhaupt nicht folgen konnte, da brachte Greg Licht ins Dunkel: „Du hältst also die Tatsache, dass ich überhaupt nicht euer Sohn bin, für irrelevant?“ Erschrocken starrte ich meinen Bruder an. Nicht ihr Sohn? Wie meinte er das? Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen, was auf dem ominösen Zettel stand: Adoptionsurkunde! Ich fühlte mich wie vom Donner gerührt, vollkommen sprachlos und bewegungsunfähig. Greg war nicht mein Bruder? Sofort schüttelte ich den Kopf über mich. Natürlich war Greg trotzdem mein Bruder. Das Band zwischen Geschwistern bestand aus sehr viel mehr als einer Blutsverwandtschaft. „Du drehst deiner Mutter die Worte im Mund um.“ Papa versuchte, einen beruhigenden Tonfall anzuschlagen, doch auf Greg schien es eher den gegenteiligen Effekt zu haben. „Diese Frau ist nicht meine Mutter!“ Mama schnappte verletzt nach Luft und Papa versuchte, Greg eine Hand auf die Schulter zu legen, um ihn endlich zu besänftigen. Doch dieser schlug den Arm unseres Vaters einfach zur Seite. „Fass mich nicht an!“ Wie bei einem gehetztes Tier jagte sein Blick zwischen uns umher, dann schüttelte er beinah fassungslos den Kopf. „Ich... Ich kann hier nicht bleiben – bei Leuten, die es nicht für nötig halten, mir zu sagen, wer ich wirklich bin. Die mich zwingen, eine Lüge zu leben.“ Der latente Ekel, der sich nun in seine Stimme schlich, war fast schlimmer als die unkontrollierte Wut, die er bisher gezeigt hatte. Ohne sich noch einmal umzudrehen, drückte er sich an Papa vorbei und schnappte sich seinen Rucksack, den er offenbar schon vorher gepackt und im Flur deponiert hatte. Warum war mir die Tasche nicht bereits bei meiner Ankunft aufgefallen? Ich wusste es nicht. Doch ich wusste, was das Gepäck zu bedeuten hatte. Schnell stürzte ich meinem Bruder hinterher, der bereits an der Tür war. „Greg!“ Ich war fast erstaunt, wie viel Verzweiflung man in ein einziges Wort stecken konnte. Greg hatte die Klinke bereits in der Hand, zögerte dann aber doch. Für einen Moment schien er einen inneren Kampf auszufechten, dann wandte er sich langsam um. Er betrachtete mich mit einem unglaublich traurigen und gequälten Gesichtsausdruck und streckte den Arm nach mir aus. Irgendwo hinter mir sog Mama scharf Luft ein. Fürchtete sie etwa, Greg könnte mich ohrfeigen? Stattdessen legte er mir liebevoll die Hand auf die Wange und schaute mir lange und intensiv in die Augen, wobei mir die Wehmut, die ich in seinem Blick sah, das Herz brach. „Es tut mir leid.“ Mit diesen Worten strich er mir ein letztes Mal zärtlich über die Wange, riss dann die Haustür auf und stürmte hinaus. Dicke Tränen kullerten mir die Wange hinab und ich hatte das Gefühl mein Brustkorb müsste unter dem heftigen Schluchzen bersten. Auch als Greg schon lange nicht mehr zu sehen war, blickte ich ihm noch immer hinterher. Ich fühlte mich unglaublich leer, entzwei gerissen. Plötzlich legte mir jemand die Hand auf die Schulter. Überrascht sah ich auf und entdeckte Papa, der ebenfalls noch immer in die Ferne sah. Als er bemerkte, dass ich zu ihm hoch schaute, lächelte er mich warm an. „Mach dir nicht zu viele Gedanken, Mel. Greg kommt schon wieder, wenn er sich wieder abgeregt hat. Du kennst ihn doch.“ Ja, ich kannte meinen Bruder und wusste, dass er dazu neigte, grenzenlos überzureagieren, wenn er wütend oder gar verletzt war. Trotzdem zweifelte ich irgendwie daran, dass ich ihn so bald wiedersehen würde. Ich wusste nicht einmal genau, warum. Es war einfach so ein Gefühl. Es fühlte sich an, als hätte ich ihn für immer verloren. Schaudernd wandte ich mich endlich von der Straße ab und ging zurück ins Haus, während ich mir einredete, dass Papa vermutlich doch Recht hatte. Greg würde bestimmt bald wieder hier auftauchen und ziemlich beschämt um Vergebung für seinen heftigen Gefühlsausbruch bitten. So war es bisher immer gewesen. Warum sollte es dieses Mal anders sein? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)