Sünde von Labrynna ================================================================================ Kapitel 6: Melanie ------------------ Ich beobachtete Greg über den Rand meines Löffels hinweg, bevor ich mir meine Frühstücksflakes in den Mund schob. Seit gestern Abend war er noch merkwürdiger als in den letzten Wochen. Er vermied jede Situation, in der ich mit ihm hätte allein sein können, und zuckte vor meinen Berührungen zurück, als ob ich ihn verbrennen würde. Auch jetzt saß er mir schräg gegenüber am Kopfende unseres Küchentischs und schien ins Nichts zu starren. Man konnte das Gefühl gewinnen, Greg würde seit dem vergangenen Abend in seiner eigenen Welt leben. Er schien kaum etwas von dem, was um ihn herum passierte, mitzubekommen. Er war regelrecht autistisch. Hilfesuchend warf ich einen Blick auf meine Mutter, die Greg mit ebenso sorgenvoller Miene musterte wie ich selbst. Was auch immer passiert sein mochte, es hatte meinen Bruder bis in seine Grundfeste erschüttert. Seit er aus der Aula gerannt war, hatte er kein Wort mehr gesprochen. Stattdessen hatte er reglos im strömenden Regen auf einer Holzbank gesessen, als wir ihn gefunden hatten. Sein Verhalten machte mir allmählich ernsthafte Angst und ich nahm mir vor, ihn spätestens am nächsten Tag zur Rede zu stellen. Warum ich das nicht gleich tat, konnte ich nicht sagen. Vielleicht hatte ich Furcht vor dem, was er mir hätte sagen können. Ich konnte mir einfach nichts vorstellen, das sein merkwürdiges Benehmen erklärt hätte. „Gregor, bist du sicher, dass du nicht frühstücken möchtest?“ In Mamas Stimme waren die stummen Tränen, die ihr über die Wangen liefen, deutlich zu hören, doch Greg blickte weiterhin dumpf an ihr vorbei ins Nirgendwo. Ich hatte das Gefühl, jemand würde mir mit einem dünnen Draht den Brustkorb abschnüren. „Gregor? Gregor, sieh mich an, bitte...“ Mama ballte immer wieder ihre schmalen Hände zu Fäusten. Offenbar fiel es ihr sehr schwer, meinen Bruder nicht zu nehmen und zu schütteln, damit er endlich irgendwie reagierte. Ganz, ganz langsam ließ Greg seinen Blick hoch ins Gesicht unserer Mutter wandern. Für einen kurzen Moment machte mein Herz einen kleinen Freudenhüpfer, doch dann sah ich, dass der stumpfe, irgendwie tieftraurige Ausdruck in seinen Augen geblieben war. „Was hat Papa eigentlich zu seinem Zustand gesagt?“ Als mir bewusst wurde, dass ich über meinen Bruder sprach, als wäre er gar nicht anwesend, lief mir ein Schauer über den Rücken. Aber eigentlich war er ja auch gar nicht wirklich da... Mama zuckte die Schultern und seufzte schwer. „Nur, dass es keine körperlichen Ursachen hat. Und du weißt wirklich nichts?“ Sofort schossen mir heiße Tränen in die Augen, als ich den Kopf schüttelte. Ich fühlte mich schuldig, weil ich nichts wusste. Was hatte ich gestern Abend übersehen? Hielt ich den Schlüssel zu Gregs offenbar vollkommen tauben Geist in den Händen und merkte es einfach nicht? Hätte ich irgendetwas anders machen können? War es womöglich meine Schuld, dass er jetzt so war? Schluchzend wandte ich mich wieder meinem Bruder zu, der in diesem Moment von seinem Stuhl aufstand und wortlos Richtung Haustür schlurfte. Irgendwie wirkte er müde und ausgelaugt. „Moment mal. Wo willst du hin, junger Mann?“ Mama klang beinah zornig, dass er sich anscheinend ihrer schützenden Hand entziehen wollte. Wie in Zeitlupe wandte Greg seinen langen, schlaksigen Körper und mir fielen zum ersten Mal an diesem Morgen die dunklen Ringe unter seinen Augen auf. Offenbar hatte in der vergangenen Nacht kaum geschlafen. Was war nur mit ihm los? Er wirkte wie ein Zombie. Mein Bruder, die lebende Leiche... Gruselig. „Constantin.“ Es war nur ein einziges Wort, doch trotzdem freute ich mich irrsinnig, seine leicht krächzende Stimme zu hören. Doch dann bemerkte ich dieses eigenartige Schimmern in Gregs Augen, das langsam durch die dumpfe Taubheit brach. Verachtung... Aber für wen? Für Mama? Für mich? „Ich hätte es lieber, wenn du hier bliebest, Gregor.“ Ja, Mama war definitiv verärgert. Ich fragte mich, was für einen Grund sie hinter seinem Verhalten vermutete. Ob sie mir auch die Schuld gab, so wie ich selbst? Mein Bruder zuckte einfach nur gelangweilt mit den Schultern und drehte sich wieder um. Bevor Mama angesichts dieses offensichtlichen Ungehorsams ihre Fassung wiedererlangt hatte, fiel die Haustür auch schon krachend ins Schloss. Ich sah ein wenig ängstlich zu meiner Mutter hinauf und rechnete beinah damit, dass sie mich noch einmal löchern würde, was am Abend passiert war, doch sie schüttelte nur stumm den Kopf und wischte sich ein paar Tränen von der Wange. Bevor sie sich zu dem Küchenfenster umwandte, murmelte sie ein leises: „Was ist nur mit dem Jungen los?“ Ich fühlte mich plötzlich sehr alleine. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)