Foreshadowing - Playing Ouija von Dornentanz ================================================================================ Kapitel 1: Ich möchte ein Spiel spielen --------------------------------------- „Wenn du weiter so viel in dich hineinstopfst, wirst du irgendwann nicht mehr durch die Tür passen“, sagte Amane grinsend. Sie schaute über den Küchentisch hinweg ihren Bruder an, der enorme Mengen Essen auf dem Teller vor sich gestapelt hatte. Sie selbst war schon längst fertig. „Blödsinn. Ich hab eben Hunger. Und ich kann gar nicht zunehmen“, antwortete Ryou, ohne auch nur zu ihr aufzusehen. „Du wirst noch so dick wie Itou-sensei, dann rollst du durch die Schulflure.“ Sie kicherte. Jetzt sah Ryou doch zwischen zwei Bissen auf, und schenkte ihr ebenfalls ein breites Lächeln. „Was heißt hier rollen – er läuft doch eindeutig. Zumindest höre ich immer die Erde beben, wenn er im Stockwerk über uns ist.“ Er lehnte sich zurück. Der Teller war leer. „Jetzt noch einmal so eine Portion, dann wäre ich vielleicht satt. Nein, war nur ein Spaß.“ Er stützte die Ellenbogen auf dem Tisch auf, und beugte sich vor. „Und jetzt?“ Amane zuckte mit den Schultern. „Mama und Papa haben gesagt, wir sollen um zehn ins Bett gehen. Und es ist ja schon neun.“ Ryou winkte ab. „Und sie kommen erst morgen Mittag wieder. Und heute ist Freitag.“ Er zog eine Augenbraue in die Höhe. „Nicht nur irgendein Freitag.“ Seine Schwester warf ihm einen zweifelnden Blick zu und räumte die Teller in den Geschirrspüler. „Ach ja? Und was ist das für ein besonderer Freitag?“, sagte sie mit genervter Stimme, warf Ryou aber dennoch einen neugierigen Blick zu. Ryou senkte die Stimme und gab sich Mühe, geheimnisvoll zu klingen. Was gründlich misslang, da seine Stimme viel zu hoch war. „Der 31. Oktober natürlich.“ „Du Dummi. Das Datum weiß ich selbst. Was soll daran besonders sein?“ „Du hast einfach keine Ahnung von irgendwas! In Amerika feiert man da Halloween.“ Ryou stand auf und half ihr, auch die Töpfe in den Geschirrspüler zu stellen und die Arbeitsfläche aufzuräumen. „Du meinst, wo die Kinder sich verkleiden, von Tür zu Tür gehen und um Süßigkeiten betteln? Das werde ich mit Sicherheit heute nicht machen. Da gehe ich lieber um zehn ins Bett. Ich denke, ich werde noch ein bisschen lesen.“ Amane ging voran in ihr Zimmer, aber Ryou folgte ihr und erzählte weiter. „Ich sage doch, du weißt gar nichts! Das ist der Tag, an dem die Wand zwischen dem Diesseits und dem Jenseits verschwindet und die Geister in unsere Welt kommen.“ Er machte eine weitausholende Gesten und konnte die Begeisterung in seiner Stimme nur schwer unterdrücken. „So ein Quatsch. Es gibt überhaupt keine Geister“, sagte Amane nüchtern und machte vor ihrem Bücherregal halt. „Wenn keine Geister hier sind, müssen wir sie uns eben ins Haus holen. Ich habe mir einen tollen neuen Film gekauft. Da ruft ein Geist bei den Leuten an, und sie hören die letzten Minuten, bevor sie sterben, und als Anrufzeit wird angezeigt, wann sie sterben werden. Der ist total spannend!“ Amane brummte und nahm eines der Bücher aus dem Regal. „Und ein anderer, wo es um ein verhextes Video geht, wenn man das ansieht, dann stirbt man auch“, versuchte er es weiter. Amane schüttelte den Kopf. „Du weißt genau, ich mag keine Gruselfilme.“ Sie warf ihm einen verschmitzten Blick zu. „Aber gut zu wissen. Wenn ich das Mama und Papa sagen, nehmen sie dir die weg. Dafür sind wir doch noch zu jung ...“, sagte sie vielsagend. Ryou sah sie empört an. „Das ist gemein!“ „Naja, wenn du mir vielleicht die ein oder andere Hausarbeit abnehmen würdest ...“ „Du alte Erpresserin!“ Ryou piekste sie in die Seite, und Amane kreischte auf. Er kitzelte sie so gründlich durch, dass sie beide erschöpft vor Lachen auf dem Fußboden lagen. „Oder, wir spielen was“, schlug er vor. Amane stützte das Gesicht in die Hände. „Was denn?“ „Ich hab ein neues Spiel. Habe ich im Internet bestellt.“ Amane sah ihn nachdenklich an und warf noch einen Blick auf ihren Wecker. Viertel nach Neun. „Naja... Wenn wir ein bisschen später ins Bett gehen würden ...“ „Klasse! Ich bereite alles vor und hol dich gleich.“ Ryou sprang begeistert auf, noch bevor Amane etwas erwidern konnte. Seufzend legte sie sich ins Bett und schlug ihr Buch auf. Manchmal fragte sie sich, wer von ihnen tatsächlich der Ältere war. Ihr Bruder brauchte ungewöhnlich lange, über eine Viertelstunde, und gerade überlegte sie, ob sie ihm nicht sagen sollte, dass sie lieber morgen früh spielen sollten, als er bei ihr in der Tür stand. Sein sonst so blasses Gesicht war vor Aufregung ein bissen rosa angelaufen, und sie wollte ihm nicht den Spaß verderben. Also stand sie auf und wollte in sein Zimmer gehen. Ryou schüttelte den Kopf. „Wir spielen nicht in meinem Zimmer. Wir spielen im Keller.“ Amane bleib stehen. „Im Keller? Wieso das denn? Das ist blöd! Da unten funktioniert das Licht nicht mehr, und es gibt überall Spinnen. Und es riecht so komisch! Ich will nicht im Keller spielen.“ Ryou warf ihr einen traurigen Blick aus seinen großen, braunen Augen zu. „Aber ich habe schon alles aufgebaut ...“ Amane kniff die Lippen zusammen. „Na schön.“ Von einem Moment auf den anderen strahlte er, und Amane vermutete, dass er seinen Hundeblick nur aufgesetzt hatte, um sie zu überzeugen. Sie folgte ihm die Treppe in den Keller hinab. Die Luft dort unten war feucht und klamm, und die Betonstufen, die sie hinabstiegen, steil und schmal. Es war so dunkel, dass sie sich vorsichtig mit den Füßen vorwärts tasten musste, und weil es kein Geländer gab, fuhren ihre Hände über die kahle Wand. „Die Idee ist total blöd“, murmelte sie. Unten angekommen öffnete Ryou die Tür in den Abstellraum und sanftes Kerzenlicht schimmerte ihr entgegen. „Ich habe doch gesagt, ich habe alles vorbereitet.“ Zwischen vollgestellten Regalen und muffigen Kleidern, der alten Schneiderpuppe und ausrangiertem Spielzeug, hatte Ryou Kerzen gestellt. Natürlich nicht irgendwie, nein. Amane knurrte verärgert. Natürlich hatte er die Teelichter in Form eines fünfzackigen Sternes aufgestellt, eine Form, die sogar Amane erkannte. „Du hast eine totale Vollmeise, Bruderherz.“ Ryou grinste sie an und im schwachen Kerzenlicht sah sein Gesicht tatsächlich ein bisschen unheimlich aus. Amane strich sich über die Arme. „Es ist kalt“, sagte sie. Ganz automatisch hatte sie ihre Stimme gesenkt, als wäre sie in einer Bibliothek. Ihr Blick blieb an der Schneiderpuppe hängen, der ihre Mutter ihr Hochzeitskleid übergestreift hatte. In dem schwachen Licht sah sie gespenstisch aus. „Ich verstehe nicht, warum wir nicht woanders spielen können.“ „Setzt dich“, sagte Ryou mit übertrieben weihevoller Stimme und seine Schwester setzte sich im Schneidersitz in der Mitte des Kerzenpentagramms vor das Spielbrett, und sah es sich näher an. „So ein Spiel habe ich noch nie gesehen.“ Ouija stand in verschnörkelten Buchstaben oben auf dem Feld. Darunter standen die Buchstaben des römischen Alphabetes und die Zahlen von 0 bis 9. Außerdem Yes, No und Goodbye. Besonders dieses letzte Wort schien Amanes Blick magisch anzuziehen und ihr einen erneuten Schauer über den Rücken zu jagen. Es gab keine Spielfiguren oder Würfel, nur eine merkwürdige Plastikplatte mit Loch in der Mitte. „Das ist ja auch ein besonderes Spiel ...“, sagte Ryou leise. „Damit kann man Geister rufen.“ Amane stöhnte, aber er schnitt ihr mit einer Geste das Wort ab und sprach weiter. „Siehst du diesen Zeiger hier?“ Ryou ließ sich ihr gegenüber ebenfalls im Schneidersitz nieder und zeigte auf die Plastikplatte mit dem Loch. „Man legt die auf das Brett, und dann legen wir beide unseren Zeigefinger darauf, so hier ...“ Er legte den Zeiger in die Mitte des Spielbrettes und legte seinen Zeigefinger ganz sanft darauf. „Man darf die Hand nicht bewegen. Dann ruft man die Geister, und wenn einer da ist, dann wird er den Zeiger bewegen und so eine Botschaft senden. Ich habe das in einem Film gesehen, es funktioniert!“ Amane verschränkte die Arme und zog eine Schnute. Sie beugte sich über das Spielbrett und musterte es genau. „Das ist ein billiges Plastikteil. Da unten steht Made in China. Du willst mir doch nicht weismachen, dass man damit eine Geisternachricht empfangen kann?“ Ryou sah verlegen aus und kratzte sich am Hinterkopf. „Ist doch egal wo es herkommt ...“ „Und überhaupt: Es gibt keine Geister, Ryou. Muss ich dir sagen, dass du erwachsen werden sollst?“ Ryou sah etwas beleidigt drein. „Na, wenn es keine Geister gibt, dann musst du ja auch keine Angst haben, oder?“ Amane fand all das ziemlich blöd und kindisch, und sie hatte keine Lust darauf. Aber sie hatte auch keine Lust, sich in den nächsten Wochen von ihrem Bruder anhören zu dürfen, sie sei ein Feigling. Und weil es ohnehin keine Geister gab, hatte sie ja auch nichts zu verlieren. Sie atmete geräuschvoll durch und legte dann einen Finger auf den Zeiger, so wie Ryou es ihr gezeigt hatte. „Du darfst die Hand nicht bewegen, klar?“, schärfte er ihr ein und legte dann selbst seinen Finger ihrem gegenüber. Sie schauten einen Moment darauf, ohne dass irgendetwas geschah, außer, dass eines der Teelichter erlosch und einen rauchigen Geruch im Raum hinterließ. Dann sahen sie sich an. „Und jetzt?“, fragte Amane. „Rufst du jetzt die Geister?“ Sie ahmte eine tiefe Stimme nach und sagte in einem Singsang: „Oh, großer Geist, komm zu mir und schicke uns deine Nachricht!“ Ryou murrte unwillig. „Wie wäre es, wenn wir uns konzentrieren, vielleicht merken wir ja was?“ Amane und er konzentrierten sich. Sie merkten nichts. Die Minuten verstrichen. „Das ist das beste Spiel aller Zeiten“, sagte Amane. „Ich kann mich nicht daran erinnern, wann ich das letzte Mal so viel Spaß hatte.“ Auch Ryou wurde unruhig, vor allem, weil er befürchtete, dass seine Schwester gehen könnte, bevor sie eine Geisternachricht erhalten hatten. „Ich mach ja schon. Also ...“ Er räusperte sich und schloss die Augen. Mit leiser Stimme sagte er: „Ihr Geister, hört uns an. Wenn es einen unter euch gibt, der eine Nachricht überbringen will, sind wir bereit.“ Amane kicherte, und natürlich passierte noch immer nichts, außer dass es später wurde und damit im Keller kälter, als ohnehin. „Wie lange wollen wir hier noch sitzen? Die Kerzen gehen bestimmt gleich aus, die flackern schon so“, sagte das Mädchen. Ryou sah zu den Kerzen. Tatsächlich, ihr Licht war unruhig geworden, dabei waren sie gar nicht so weit abgebrannt. Amane gab ein merkwürdiges Geräusch von sich. Verblüfft sah sie auf das Brett, und Ryou folgte ihrem Blick. Sein Mund klappte auf. Der Zeiger bewegte sich, und landete auf dem D. Er sah seine Schwester mit großen Augen an. „Bist du das?“ Sie starrte weiter auf das Brett, ohne den Zeiger loszulassen. „Veralber mich nicht. Das machst doch du.“ Der Zeiger wanderte auf das U, und sie warteten ab, was geschehen würde. Dunkel. Der Zeiger kam zum Stillstand. „Dunkel? Was soll das denn heißen, Ryou? Du hältst dich wohl für witzig, was?“ Ryou schüttelte den Kopf. In dem schwachen, flackernden Licht der Kerzen konnte Amane seine Augen nicht sehen, aber seine Lippen waren ernsthaft zusammengekniffen. Hinter sich hörten sie ein Knarzen, und beide zuckten zusammen. Der Zeiger wurde schneller, und Ryou achtete darauf, dass er wirklich seinen Finger keinen Millimeter rührte. Es ist dunkel hier. Amanes Stimme zitterte. Sie fühlte, dass sie eine Gänsehaut auf den Armen bekam. „Wer bist du?“ Du. Ryou war nervös. Er konnte nicht entscheiden, ob er Angst hatte oder sich freute, er wusste nur, dass sein Herz schneller schlug als bei jedem Geisterfilm, den er bisher gesehen hatte. „Was meinst du damit?“, flüsterte er. Ich werde du sein. Bald. Amane gab ein leises Stöhnen von sich. „Hör auf mit dem Mist, Ryou. Das ist nicht witzig“, sie versuchte, ihre Stimme fest klingen zu lassen, aber es gelang ihr nicht. „Ich schwöre dir, ich bin es nicht.“ Es wurde immer kälter, und das hatte sicher nichts mit der Nacht oder dem Keller zu tun; so kalt, dass sich kleine Atemwolken vor ihren Mündern bildeten wie ausgehauchte Seelen. Ich bringe die Finsternis mit mir. Und dann spielen wir noch einmal dieses Spiel. Ouija. Hinter Amane zersprang eines der Einmachgläser, die im Regal standen, und sie zuckte so heftig zusammen, dass sich ihr Finger von dem Zeiger löste. Der sich noch immer weiter bewegte. „Ich wusste, dass du das bist!“, sagte sie aufgebracht. Ryou hob die Hände. „Das stimmt ni-“ Der Zeiger bewegte sich noch immer. Obwohl kein Finger mehr auf ihm lag. Hinter ihnen zersprang ein weiteres Einmachglas. Wir werden viel Spaß haben, wir zwei. Ryou griff Amane bei der Hand und zog sie vom Brett weg. Ihre eisigen Finger krallten sich in seine Hand und sie wimmerte leise. Er schob seine kleine Schwester hinter sich und trat mit zusammengekniffenen Augen vorsichtig näher an das Brett heran. Dann packte er entschlossen zu und wollte den Zeiger vom Brett nehmen, aber er schien tonnenschwer und wollte einfach nicht aufhören von Buchstabe zu Buchstabe zu huschen. Tod. Ryou griff nach dem Brett und wollte es aufheben, es umdrehen, damit sie das nicht mehr sehen mussten, aber es war wie festgeklebt. Hört ihr ihn nicht? Etwas schlug von außen gegen die Kellertür, und Amane kreischte auf. Die Teelichter flammten lodernd auf, sodass die Flammen die beiden Geschwister in orangerotes Glutlicht tauchten. Bald. Dann war es vorbei. Die Kerzen erloschen, und es wurde dunkel, der Zeiger erstarrte auf einem kleinen Totenkopfsymbol in der rechten Ecke. Ryou erlaubte sich zu atmen, und Amane begann zu weinen. „Raus hier!“, sagte Ryou und riss die schwere Kellertür auf, hastete die Stufen hinauf, die Schritte und das panische Geräusch von Amanes Atem hinter sich. Ein lautes Poltern ertönte und wieder schrie seine Schwester auf. „Amane!“ Ryou fuhr herum. Sein Ellenbogen traf sie mit aller Gewalt an der Schläfe. Wie in Zeitlupe wurde sie von den Füßen gerissen. Er streckte die Hand nach ihr aus - und verfehlte sie um Millimeter. Sie fiel, und schrie. Ein lautes Knacken, dann Stille. Ryou stand wie festgewachsen auf der Treppe. Seine Stimme klang brüchig. „Amane?“ Vorsichtig tasteten seine Füße hinab in die Finsternis, die nun wieder grabesruhig über den Keller herrschte. Seine Schwester lag reglos am Fuß der Treppe, die langen, weißen Haare um sich ausgebreitet wie einen Heiligenschein. Er beugte sich über sie, steif und wimmernd. „Amane?“ Ihre Augen blickten ins Leere. Sie würden nie wieder gemeinsam ein Spiel spielen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)