Höllenfeuer von Feldteufel ================================================================================ Kapitel 6: Kapitel 06 --------------------- Kapitel 06 Nachdem er sich etwas Besseres angezogen hatte, hatte Ethos dem Befehl des Prälaten sofort Folge geleistet und sich in dessen Büro eingefunden. Neben ihm saß Artemis, der sich offenbar weniger Mühe mit seiner Garderobe gegeben hatte. In einem viel zu weiten T-Shirt mit schwarz-grauem Muster, einer dünnen Stoffhose und Schlappen an den Füßen, hatte er seine Beine überkreuz auf dem Schreibtisch aus Mahagoni vor sich abgelegt. Dazu verschränkte Artemis seine Arme hinter dem Kopf mit den noch immer nassen Haaren, wodurch er mit dem Stuhl leicht nach hinten kippeln konnte. Ethos' Blick fiel auf die Narben, die sich auf Artemis' Unterarm befanden. Er wusste, dass der Priester solche Narben an seinem gesamten Körper aufwies, nur sein Gesicht war bisher wie durch ein Wunder verschont geblieben. „Wenn du nicht aufpasst, wirst du noch mal hinten über fallen und dir den Kopf aufschlagen“, brummte Ethos genervt. Das leise Ticken der riesigen Standuhr hinter den beiden trug nicht gerade zur Besserung seiner Laune bei. Genauso wenig wie der mangelnde Respekt, den er immer wieder bei Artemis sah. „Marcus Dominic würde sich darüber sicherlich freuen.“ „Das ist ein Argument.“ Sofort hörte Artemis auf, die Beine des Stuhls über ihr Limit hinaus zu belasten uns setzte sich gerade hin. Kurz darauf erschien Nikolas in seinem Büro. „Entschuldigen Sie die Verspätung, ich habe Steve sofort los geschickt, als ich das Telefonat in meiner privaten Kammer entgegen genommen hatte. Der schnelle Weg aus der Bibliothek hatte doch etwas an meinen Kräften gezerrt und ich habe erst vor ein paar Minuten auflegen können.“ Nikolas setzte sich in den großen, mit purpurnen Samt bearbeiteten Stuhl hinter dem Schreibtisch, während Ethos überlegte, seit wann Nikolas einen eigenen Anschluss in seiner Kammer besaß. Anscheinend ging die Modernisierung wesentlich schneller vonstatten, als er dies für möglich gehalten hätte. Der Prälat atmete ein paar Mal kräftig ein und aus, sammelte sich und schaute in die fragenden Gesichter der beiden Priester. „Es kam zu einem Zwischenfall in England. Einer meiner Kollegen hat uns angerufen, nachdem eines der Museen in London überfallen worden ist.“ „Was haben wir mit einem gemeinen Museumsraub zu tun?“, fragte Artemis skeptisch. „Wenn Sie mich ausreden lassen, werde ich Ihnen die Frage gerne beantworten“, entgegnete Nikolas, diesmal wesentlich barscher, als Ethos oder Artemis es von ihm gewohnt waren. „Das Victoria and Albert Museum wurde überfallen. Nachdem sich jemand gewaltsam Zugriff zu dem Museum verschafft hat, wurden zwei der Nachtwächter getötet. Ein dritter schaffte es, die Polizei zu verständigen, wurde allerdings schwer verletzt und schwebt nach wie vor in Lebensgefahr. Er ist nicht ansprechbar. Zwei Streifenpolizisten, die gerade in der Nähe waren, trafen ein und versuchten, den Eindringling festzunehmen. Bei dem Versuch wurde ein weiterer Polizist getötet. Nachdem der Einbrecher verschwunden war, wurden die Teile des Gebäudes besichtigt, in denen er sich aufgehalten hatte. Es wurde nur ein einziger Gegenstand entwendet. Dabei handelt es sich um eine handgeblasene Glaskugel aus dem 17. Jahrhundert, die zwar keinen besonders hohen Geldwert besitzt, aber aus einem anderen Grund extrem wertvoll ist. Sie wissen sicher, wie der Vatikan es zu verhindern versucht, dass Diebstähle besonders wertvoller Gegenstände getätigt werden oder?“ Artemis und Ethos nickten wissend. Es gab einige Gegenstände, die Priester der vergangenen Jahrhunderte angefertigt hatten, um besonders mächtige Dämonen bannen und somit fangen zu können. Ethos war einer der Wenigen, die mit solchen Gegenständen umgehen konnten, was seine Persönlichkeit für den Vatikan nahezu unbezahlbar machte. Er war dazu in der Lage, den Geist eines Dämons in einen solchen Fänger, wie er im Vatikan genannt wurde, zu zwingen und so zu verschließen, dass er ihn mühelos durch die Welt transportieren konnte, ohne dass noch eine Gefahr von dem jeweiligen Dämon ausging. Meistens führten ihn seine Reisen direkt in den Vatikan zurück, um den Dämonen dort, in dem von den Priestern „Höllenfeuer“ genannten Schrein, zu vernichten. Einen anderen Ort, die Stärksten unter den Dämonen aus der Welt zu schaffen, gab es nicht. Wurde der Gastkörper eines schwachen Dämons (wie etwa der von Leonce) getötet, starb auch dessen Geist. Das waren die einfachen und die wesentlich häufigeren Fälle. Von den Dämonen, die nur durch das Höllenfeuer endgültig getötet werden konnten, gab es nur wenige Exemplare und nicht wenige Priester, die über die gleichen Fähigkeiten wie Ethos verfügt hatten, waren gestorben, ohne jemals einen Dämon solcher Stärke zu Gesicht bekommen zu haben. Um zu verhindern, dass sich sämtliche Dämonen auf den Vatikan stürzten, um diese Fänger zu zerstören, waren sie über die gesamte Welt verstreut worden. Meistens wurden sie in Museen aufbewahrt, da sie dort kaum von den anderen epochentypischen Gegenständen zu trennen waren. Anscheinend hatten sie es hier mit einem besonders schlauen Dämon zu tun, der seine Hausaufgaben durchaus zu machen wusste. „Nun, das scheint nicht wirklich geholfen zu haben. Es ist das erste Mal, dass einer unserer Fänger aus einem Museum gestohlen wurde.“ „Gibt es irgendwelche Besonderheiten an den Leichen? Möglicherweise können wir Hinweise auf die Fähigkeit des Dämons daraus ziehen“, meinte Ethos. „An den Toten wurden Brandspuren festgestellt. Gestorben sind sie alle durch den Einsatz eines Messers oder einer messerähnlichen Waffe. Doch die einzige Überlebende, einer der beiden Polizisten, die den Täter noch sehen konnte, ist wie durch ein Wunder ohne einen einzigen Kratzer davon gekommen. Momentan befindet sie sich unter psychologischer Beobachtung. Sie meint, dass in dem Augenblick, in dem der Einbrecher die Haut der Menschen berührt habe, diese zu rauchen anfing und sobald der Angreifer seine Opfer losgelassen hatte, habe sie nur noch verbrannte Haut gesehen. Wenn die Opfer noch am Leben waren, hätten sie entsetzliche Schmerzensschreie von sich gegeben.“ „Eine "Sie"?“ Artemis' Aufmerksamkeit für den nächsten Auftrag war spätestens jetzt geweckt. „Eine Polizistin? Das ist selten.“ „Da gebe ich Ihnen Recht. Es soll sich bei der Frau allerdings um eine sehr fähige Polizistin handeln. Ebenso soll ihr Kollege ein guter Mann gewesen sein.“ „Was einem im direkten Kampf mit Dämonen jedoch nicht unbedingt etwas nützt.“ „Sie wussten nicht, dass es sich um einen Dämonen handelte. Deshalb sitzt die junge Frau nun in einer Psychiatrie. Niemand glaubt ihr die Geschichte, die sie erzählt. Nachdem unser Geistlicher vor Ort von der Angelegenheit gehört hat, hat er die Polizistin besucht und sie befragt. Das war nicht leicht zu bewerkstelligen zu dieser Uhrzeit, aber dringend nötig. Die Beschreibung, die sie gab, passt auf den Mann namens Blackcage, von dem Sie erzählt haben, Artemis.“ Auch wenn es keinen Anlass zur Freude gab, konnte sich Ethos ein Grinsen gerade so eben verkneifen. Zu sehr amüsierte es ihn, dass dieser Blackcage sich so schnell selbst verraten hatte. Das ersparte ihm und auch den Kollegen eine lange Suche mit entsprechendem Aufwand an Recherche. Außerdem hatte er noch etwas Persönliches mit diesem Dämon zu klären, denn niemand sammelte ungestraft Informationen über ihn und den Vorfall mit seinem Stiefvater. „Das passt zusammen“, stellte Artemis fest. „Dass die Opfer Brandwunden aufweisen. Der Kerl hatte sich durch Rauchschwaden materialisiert, da liegt es nahe, dass seine besondere Fähigkeit etwas mit Feuer zu tun hat.“ „Wann sollen wir nach London aufbrechen, Monsignore?“ „Leider habe ich noch keine Bestätigung vom Papst erhalten. Weder zu diesem Auftrag, noch zu dem Vorschlag, von nun an alleine darüber zu bestimmen, was Sie wann, wo und wie machen. Aus diesem Grund schlage ich vor, dass Sie sich morgen zu Chino Estevez begeben und mit ihm sprechen. Senior Estevez weiß bereits Bescheid, dass Sie kommen werden. Noch hat er seine Unterstützung nicht zugesagt, ich hoffe, dass Sie beide etwas daran ändern können. Für den Auftrag könnte er sehr nützlich sein, als leitender Arzt einer Psychiatrie wird er Ihnen bestimmt helfen können, mit der Polizistin zu reden. Vielleicht schafft er es sogar, sie da heraus zu holen. Unser Geistlicher konnte das leider nicht. Besagter Priester wird Sie übrigens vom Flughafen abholen, sobald Sie in London eintreffen. Weitere Einzelheiten werde ich Ihnen per Auftrag entgegen kommen lassen. Haben Sie noch weitere Fragen?“ Beide Priester verneinten und Nikolas stand auf, um das Ende der Besprechung anzukündigen. Ethos half dem alten Prälaten beim Aufstehen und reichte ihm seinen Stock. „Haben Sie dank, Pater Ethos. Sie sehen müde aus, es tut mir leid, dass ich Ihre Nachtruhe gestört habe.“ Anstatt etwas darauf zu erwidern, lächelte Ethos den alten Mann an und half ihm durch die Tür auf den Gang. Nikolas wusste, wie stark Ethos manchmal von seiner Vergangenheit eingeholt wurde und versuchte, sich seine Sorge nicht anmerken zu lassen. Dafür war Ethos überaus dankbar. Das letzte, das er gebrauchen konnte, war die tiefere Auseinandersetzung mit anderen Menschen darüber, was ihn beschäftigte. Ethos verabschiedete sich von dem Prälaten und ging nach draußen. Auch Artemis war bereits verschwunden, er wusste, wann er Ethos lieber in Ruhe lassen sollte. Seufzend schaute Ethos hinauf in den Nachthimmel. Einige Sterne waren am schwarzen Firmament zu erkennen, wenn auch nur schwach. Die Lichter des umliegenden Rom nahmen jedem, der die weit entfernten runden Himmelskörper beobachten wollte, die Möglichkeit, diese richtig wahrzunehmen. Als er meinte, eine Sternschnuppe gesichtet zu haben, setzte sich Ethos wieder in Bewegung. Die Hände in die Hosentaschen gestützt, schlenderte er die Via dell'Aquilone herunter. Einsam gab er sich seinen Gedanken hin und fragte sich dabei einmal mehr, warum das Schicksal gerade ihn auserwählt hatte, Dämonen bannen zu können. Jeder andere Mann - oder von ihm aus auch jede Frau - wäre genauso gut gewesen wie er. Ab und zu litt Ethos unter seinen Fähigkeiten, doch niemand konnte es wirklich nachvollziehen. Alle dachten, er wäre gesegnet mit dieser Fähigkeit, er wäre der einzige, der auserkoren worden wäre, Gottes weniger geliebte Aufträge auszuführen. Der einzige, der echtes Verständnis für ihn aufbringen konnte, war Artemis. Durch seinen eigenen Fluch hatte Artemis Ethos in einigen Momenten Trost spenden und die richtigen Worte finden können, um ihn wieder etwas aufzumuntern. Natürlich konnte man ihrer beiden Leiden nicht miteinander vergleichen, während es sich bei Ethos' Fluch eher um etwas Gutes handelte, war das, womit Artemis sich herumzuschlagen hatte, alles andere als erstrebenswert. Als Ethos auf seine Uhr schaute, beschleunigte er seine Schritte. Es würde nicht mehr lange dauern, bis der nächste Morgen anbrechen würde und da er einen Auftrag zu erledigen hatte, sollte er sich noch etwas Ruhe gönnen. Bei Chino würde er sein Bestes an Überredungskünsten geben müssen, wenn er nur den Hauch einer Chance haben wollte, den Arzt zu der Reise nach London zu bewegen. Ethos bezahlte noch schnell den Fahrer des tassisti mit einigen Scheinen, danach kehrte er neben Artemis zurück. Die beiden waren schon des Öfteren hier gewesen, doch noch immer hatte das Gelände eine eigenartige Wirkung auf Ethos. Sobald er vor dem großen Eingangstor aus Eisen stand, das nur elektronisch geöffnet werden konnte und links und rechts die hohen Mauern sah, fühlte er sich nahezu erdrückt. An den beiden Enden der Mauern, die mit dem Tor verbunden waren, hockten auf zwei Säulen graue Wasserspeier, dessen steinerne Gesichter mit einer verzogener Fratze nach unten schauten. Zusammen mit den Flügeln, den Hörnern, dem lang gezogenen Maul und der Schlangenzunge erweckten sie einen äußerst morbiden Eindruck. Weder Ethos, noch Artemis konnten sich vorstellen, dass es jemals einer der Patienten wagen würde, bis hierher zu fliehen, ohne vor Angst zu erstarren. Wobei keiner von den beiden behaupten konnte, einen Geistesgestörten wirklich einschätzen zu können. Ethos ging zu der Klingel an der rechten Seite und betätigte sie. Einige Sekunden später hörte er eine Frauenstimme, die sich nach den Namen der beiden Priester erkundigte. Nachdem diese sich zu erkennen gegeben hatten, schwang das schwere Tor auch schon zur Seite. Der Blick auf das Innere wurde freigegeben und Ethos und Artemis standen nun in einer weitläufigen Parkanlage. Auf den ersten Blick wirkte die Anstalt nicht mehr ganz so unheimlich. Einige Bäume standen vereinzelt auf den großzügig angelegten Wiesen, die von einem Netz aus Sandwegen durchzogen wurden. An einer Stelle befand sich eine kleine Freifläche, als Ethos sich einmal danach erkundigt hatte, hatte Chino ihm gesagt, dass sich dort einmal ein Teich befunden hätte. Allerdings war einer seiner Patienten darin ertrunken, weshalb er ihn hatte zuschütten lassen müssen. Ethos hatte sich damals gefragt, was einen dazu veranlassen würde, einen Teich auf dem Gelände einer Irrenanstalt zu errichten, doch nachdem er Chino besser kennen gelernt hatte, verwunderte ihn fast nichts mehr. Nicht, dass Chino kein guter Arzt gewesen wäre, doch in einigen Fällen waren sein Zynismus und der Sinn für das Morbide eine äußerst gefährliche Kombination. Zumal es auch ganz deutlich zeigte, was er eigentlich war. Nach einem längeren Fußmarsch und vielen perfekt gepflegten Grünflächen sowie phantasielosen braunen Parkbänke später, erreichten Ethos und Artemis das Herz der Anstalt. In einem alten Anwesen befand sich das Büro von Chino, seine Patienten brachte er weit davon entfernt unter. Ethos wusste bis heute nicht, ob er es bereuen oder gutheißen sollte, dass Chino ihm noch nie die Unterkunft gezeigt hatte, in der er seine Patienten versorgte. Als Ethos an die Tür des unteren Stockwerkes klopfte, meinte er ein leises Knirschen zu vernehmen. Das Anwesen war bereits sehr alt. Chino hatte es nie für nötig gehalten, mehr Renovierungsarbeiten hinein zu stecken als unbedingt notwendig, so dass es noch immer wirkte, als würde es jeden Augenblick auseinander fallen. Von Innen war ein "Einen Moment bitte!" zu hören, wenig später öffnete sich die Tür. Die Holztür schwang in einer so großzügigen Bewegung auf, dass sie beinahe wieder zugefallen wäre, hätte Ethos sie nicht mit seiner Hand aufgehalten. Ein kühler Luftzug war zu spüren, anscheinend war Chino bereits schon wieder verschwunden. Damit er ebenfalls eintreten konnte, hielt Ethos seinem Kollegen die Tür auf. Wie immer roch es recht muffig in dem Anwesen, dass Chino einen schlechten Geschmack hatte, konnte diesem allerdings nicht nachgesagt werden. Auf Podesten und Hockern befanden sich teuer aussehende Vasen und Statuen. In einem Regal aus edlem Tropenholz stapelten sich alte in Leder eingeschlagene Bücher, die allesamt einen äußerst gepflegten Eindruck machten. Hier und da lugte eine grüne Topfpflanze hervor, die dem Inneren des Anwesens ein wenig Leben einhauchten. Auf dem Boden wies ein länglicher Perserteppich den Weg in Chinos Büro, das gleichzeitig die Rezeption darstellte. Sofort legte Artemis seine Hand auf das rechte Auge. Unterhalb seiner Augenklappe fühlte es sich an, als würde seine Haut gerade verbrennen. Ein leichtes Stechen gesellte sich hinzu, doch als Ethos zur Seite schaute, hatte Artemis seine Hand wieder entfernt und zeigte keinerlei Anzeichen, dass es ihm schlecht gehen könnte. Der einzige Hinweis auf das, was gerade in Artemis vorgehen mochte, lieferte der angespannte und strenge Blick des Priesters. Wenig später wurde jedoch auch dieser aus seinem Gesicht verbannt. Artemis sah nun aus, als käme er gerade von einem entspannten Spaziergang durch die Gärten des Vatikans. „Willkommen, Señor Ethos und Señor Artemis. Kann ich euch etwas zu Trinken oder zu Essen anbieten?“ Vor Ethos und Artemis erstreckte sich eine lange Theke, die ihnen bis zur Hüfte reichte. Auf diese Theke mit den Ellenbogen aufgelehnt, grinste sie ein junger Mann an. Seine braunen Augen blinzelten über den Rand einer Lesebrille von unten herauf, die braun-roten Haare waren zu einem kleinen Zopf gebunden, dennoch standen einige Haare unkontrolliert zu allen Seiten hin ab. Die Haut des Mannes war leicht gebräunt, was allerdings nur seine Hände und sein Gesicht verrieten, da der Rest seines Körpers in die für Ärzte typische weiße Kleidung gehüllt war. Ein Kittel machte den Eindruck, es mit einem professionellen Arzt zu tun zu haben, perfekt. Chino erhob sich wieder, wodurch seine schlanke Statur sichtbar wurde, die unter dem Kittel verborgen gewesen war. Er war ungefähr einen Kopf kleiner als Ethos, doch wusste dieser, dass Chino seine geringe Körpergröße durch Schnelligkeit durchaus wieder wettmachen konnte. „Wohnst du immer noch an deinem Arbeitsplatz?“, fragte Artemis, während er sich umsah. Unweit der Theke entfernt stand ein einfacher runder Tisch mit genauso einfachen Stühlen. Bevor er sich setzte, streckte Artemis Chino, der inzwischen herum gekommen war, die Hand zu. Ethos machte es ihm gleich. „Mit den ganzen Verrückten um dich herum? Ich glaube, ich könnte keine Nacht ruhig schlafen.“ „Sagt jemand wie du...“, winkte Chino ab. „Und wie geht es dir, Ethos? Du siehst aus, als hättest du nicht gerade viel geschlafen.“ „Als wir unseren nächsten Auftrag bekommen haben, war es schon mitten in der Nacht.“ „Kommt ihr deshalb zu mir?“ Da keiner der beiden Priester einen Wunsch bezüglich seiner Nachfrage geäußert hatte, setzte Chino sich zu ihnen, anstatt in die nahegelegene Küche zu gehen. „Ihr habt einen neuen Auftrag und wollt sicherlich etwas von mir wissen. Schießt los.“ „Also, das trifft es nicht ganz“, begann Artemis kleinlaut. „Diesmal geht es um ein bisschen mehr als deine Kontakte zu den Dämonen. Wir brauchen dringend deine Hilfe. In London kam es zu einem Überfall auf ein Museum. Einer der Fänger wurde entwendet. Einer der Zeugen hat den Angriff überlebt, wahrscheinlich steckt ein Dämon dahinter.“ „Schön, aber was habe ich mit der Sache zu tun?“ „Nun ja, die eben genannte Zeugin sitzt leider in einer Psychiatrie.“ Artemis machte eine kurze Pause. Ethos dagegen schwieg vollkommen, er wusste, dass Artemis einen etwas besseren Draht zu Chino besaß, als er selbst. „Wir denken, dass du sie vielleicht da herausholen kannst.“ „Das kann ich nur, wenn ich persönlich dort vorspreche, ein einfaches Schreiben wird nicht ausreichen, um eine Patientin zu verlegen.“ „Eben, das ist der Punkt.“ Insgeheim hegte Artemis keine großen Hoffnungen, Chino dazu zu bewegen, mit ihnen zu kommen. Weder hatte er einen Grund, noch ließ Chino seine Patienten gerne in den Händen einer Vertretung oder seiner Assistentin. Wenn er sich tatsächlich nicht überreden lassen würde, mit nach London zu kommen, würden er und Ethos zwar sicherlich auf Chinos gute Kontakte zurückgreifen können, was aber lediglich einem Teilerfolg gleichgekommen wäre. Sie brauchten Chino unbedingt. „Ich kann hier nicht so einfach weg, wenn es das ist, was ihr wollt“, sagte Chino schließlich zögerlich. „Wir wissen das. Deshalb kommen wir auch nicht wegen einer Kleinigkeit zu dir, sondern weil wir wirklich deine Hilfe brauchen, Chino. Diese Zeugin ist extrem wichtig für uns. Nur wenn wir ihre Aussage haben, können wir den Fänger vielleicht zurückbekommen.“ „Warum redet ihr nicht vor Ort mit ihr? Ich bin mir sicher, dass der Vatikan genügend Kontakte besitzt, damit ihr zu ihr gelassen werdet.“ „Das mit Sicherheit, aber ich denke, dass sie viel mehr erzählt, wenn wir es schaffen, sie aus der Psychiatrie zu holen.“ „Ihr wollt ihr also helfen, damit sie euch im Gegenzug Informationen gibt. Wo sind nur die selbstlosen Priester hin, die noch für das Gute gekämpft haben?“ Obwohl Chino weiterhin vor sich hin grinste, merkten die beiden Priester, dass ihr Gegenüber angestrengt über die Sache nachdachte. „Es gibt Momente, da zweifle ich an den guten Absichten eurer Abteilung. Ganz ehrlich, Artemis.“ „Das sagt jemand wie du?“ Artemis musste laut lachen und auch Ethos konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. „Du bist ein Dämon, der noch dazu seine eigene Sippschaft verrät. Wer von uns sollte an wessen Absichten zweifeln? Ich glaube nicht, dass du dich da allzu weit aus dem Fenster lehnen solltest.“ „Was soll ich sagen. Ich versuche auch nur zu überleben.“ „Dann hast du dir mit Rom aber einen sehr schlechten Platz dafür ausgesucht. Im direkten Einflussgebiet des Vatikans und unter so vielen Katholiken. Wüsste ich nicht, dass wir uns auf dich verlassen können, würde ich sagen, dass du uns verarscht. Aber ganz gewaltig.“ Nun brach auch Chino in lautes Gelächter aus und erhob sich, um doch Kaffee und zwei Tassen aus der Küche zu holen. Dankbar nahmen seine beiden Gäste das heiße Getränk an. Dazu stellte er etwas Gebäck in die Mitte des Tisches. Auch Chino war nun wohl bewusst, dass das Gespräch länger dauern könnte. „Also, um wieder auf das Wesentliche zurück zu kommen... Es tut mir sehr leid, aber ich werde meine Anstalt nicht verlassen.“ „Aber du hast doch eine gute Vertretung. Und es sind nur wenige Tage. Die Verrückten werden nicht mal merken, dass du weg warst.“ „Das mag alles sein, aber ich werde trotzdem nicht gehen. Ich wohne nicht umsonst hier, Artemis. Ich habe mich meinen Patienten mit Leib und Seele verschrieben. Ich habe etwas wieder gut zu machen, aus meinem alten und meinem neuen Leben.“ „Wer hätte gedacht, dass ihr Dämonen ein so ausgeprägtes Gewissen haben könnt“, sagte Artemis, nahm sich einen Keks und lehnte sich zurück. Dieser Satz war keinesfalls als Beleidigung gemeint gewesen, was glücklicherweise auch Chino so aufnahm. Zwar wussten Ethos und Artemis nicht, was vorgefallen war, als der Dämon den menschlichen Körper übernommen hatte, der sich fortan Chino Estevez nannte, doch es musste etwas wirklich Grausames gewesen sein. Bei Chino handelte es sich um einen ziemlich starken Dämonen, obwohl seine Fähigkeiten jene Merkmale aufwiesen, die eher schwachen Dämonen zu eigen waren. Deshalb mochte er es wohl auch nicht mal im Scherz, wenn er "Vampir" genannt wurde, aber Chino unterschied sich deutlich von seinen Artgenossen. Seinen Blutdurst hatte er weitestgehend unter Kontrolle. Chino trank nur, wenn es wirklich nötig war und achtete darauf, seine Opfer dabei nicht zu töten. Dies klappte zwar nicht immer, war aber immer noch besser als die Einstellung, die Chinos blutrünstigen Artgenossen an den Tag legten. Er lebte wohl schon sehr lange unter den Menschen, war von Barcelona nach Rom gekommen und vegetierte so unauffällig vor sich hin, dass der Vatikan erst sehr spät auf Chino aufmerksam geworden war. Vom ersten Aufeinandertreffen an hatte Chino eingewilligt, eine Art Kontaktmann zu spielen. Er konnte sich seit mehreren Jahren unter den Dämonen bewegen, ohne jemals einen Verdacht auf sich gezogen zu haben und erwies sich somit als treuer und wertvoller Verbündeter. Was genau dabei seine Beweggründe waren, darüber äußerte sich Chino allerdings nicht. Ethos hatte einmal die Vermutung geäußert, dass er sich dafür vollen Schutz von der Kirche versprach, was noch die wahrscheinlichste aller Möglichkeiten war. Doch diesmal sollte Chino mehr tun, als einfach nur einen Kontaktmann zu spielen, was diesem sichtlich unangenehm war. „Hör zu, Chino“, ergriff Ethos zum ersten Mal das Wort. „Wir respektieren es, dass du für die Patienten da sein willst. Aber ich muss dir auch sagen, dass mich das, was sich da gerade zu entwickeln scheint, extrem beunruhigt. Den Rest des Vatikans ebenso. Wer auch immer hinter dem Diebstahl steckt, scheint sehr viele Informationen über uns und den Vatikan zu besitzen. Es würde mich nicht wundern, wenn derjenige sogar wüsste, dass du einer unserer Kontaktmänner bist.“ Für den Bruchteil einer Sekunde meinte Ethos, ein erzürntes Glitzern in Chinos sonst so freundlichen Augen erkannt zu haben. „Genau wissen tue ich das natürlich nicht. Als Artemis und ich in Frankreich waren, haben wir einige Dokumente gefunden, in denen nahezu unsere gesamte Vergangenheit aufgezeichnet war. Dazu kommt, dass sie anscheinend wissen, wo sich Fänger befinden. Daher liegt die Vermutung nahe, dass sie wirklich alles über uns wissen könnten.“ „Und wer ist dafür verantwortlich, dass solch vertrauliche Informationen an die Außenwelt gelangen können?“ „Das ist eine berechtigte Frage. Prälat Nikolas kümmert sich gerade darum, das herauszufinden. Mehr kann ich dir zurzeit leider nicht sagen, da wir selbst nicht mehr wissen. Sobald wir etwas herausfinden, werden wir es dir selbstverständlich sofort mitteilen. Aber du kannst uns dabei helfen, dass genau das schneller passiert.“ Chino verschränkte die Arme vor der Brust und schaute seine Besucher skeptisch und abschätzend an. Sein Blick huschte kurz unruhig zwischen Ethos und Artemis hin und her, dann stieß er einen tiefen Seufzer aus und senkte leicht den Kopf. „Selbst wenn ich wollte, ich kann euch nicht begleiten. Dass Informationen nach außen sickern, ist eine Angelegenheit des Vatikans. Mir wurde versprochen, dass niemand erfahren würde, welche Rolle ich als Doppelagent spiele. Wenn wirklich Informationen über mich im Umlauf sein sollten, dann werde ich meine Dienste bald zurückziehen, um mich selbst schützen zu können. Sollten einige schwache Clans vor meinem Anwesen auftauchen, ist mir das relativ schnuppe. Aber die Chance, dass einer der stärkeren unserer Art mal vor meiner Tür steht, ist dann ebenso groß.“ Zerknirscht schaute Artemis auf den Boden. Er hatte nicht wirklich damit gerechnet, dass Chino sich großartig kooperativ zeigen würde in dieser Angelegenheit, aber Ethos' Geständnis hatte es nahezu unmöglich gemacht, ihn zu überreden. Obwohl sie Chinos Hilfe definitiv gebraucht hätten, würden sie ohne ihn nach London aufbrechen müssen, so viel stand fest. „Ich kann deinen Standpunkt absolut nachvollziehen. Trotzdem muss ich zugeben, dass ich mir mehr erhofft hatte von diesem Treffen“, gab Ethos zu und trank von seinem Kaffee. „Vielleicht kannst du uns aber anderweitig weiter helfen.“ Er würde es zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal versuchen, den Dämonen zu einer Kooperation zu überreden. „Gerne.“ Chino nahm die Kanne und verschwand in der Küche, um neuen Kaffee zu holen. Artemis nannte daraufhin den von ihnen gesuchten Dämonen. „Blackcage ist sein Name. Hast du diesen Namen schon einmal irgendwo gehört?“ „Nein“, rief Chino aus der Küche hinaus. „Verdammt.“ „Höre ich da etwa einen Priester fluchen?“ Chino war mit einer zweiten Kanne in der Hand zurückgekehrt und schenkte Ethos eine weitere Tasse Kaffee ein. „In einigen Fällen kommt es vor, dass Dämonen ihre Identität wechseln. Sag mir doch einfach mal, wie der Typ aussieht. Vielleicht habe ich ihn schon mal irgendwo gesehen und mir nur seinen Namen nicht gemerkt oder ihn unter einem anderen Namen kennen gelernt.“ „Der Dämon, dem wir auf den Fersen sind und in London aufgetaucht ist, hat schwarze Haare, die er mit einer Pomade zurück kämmt. Die Haare sind ganz leicht gelockt, seine Augen braun und besitzen sie einen kalten und abweisenden Ausdruck. Schmaler Mund und schmales Gesicht mit einer leichten Hakennase. Außerdem scheint er meistens in dünnen schwarzen Trenchcoats herum zu laufen. Er ist ungefähr einen Meter achtzig groß, trägt ansonsten wahrscheinlich normale Kleidung. Auch die ist vollkommen schwarz. So habe ich ihn zumindest gesehen, als wir in Frankreich gewesen waren.“ Chino war bei Artemis' Tasse angekommen und füllte auch diese mit dem heißen Getränk aus der Kanne. „Den Berichten zufolge, die wir aus England erhalten haben, muss die spezielle Fähigkeit dieses Dämons irgendetwas mit Feuer zu tun haben. Sämtliche Leichen, die gefunden wurden, wiesen Brandwunden auf. Außerdem hat er... Chino?“ Mitten in seinem Satz hielt Artemis plötzlich inne. Obwohl die Tasse vor Artemis bereits gefüllt war, hielt der Dämon noch immer die Kanne gesenkt, so dass der Kaffee über die Ränder getreten war und mittlerweile einen großen Teil des Tisches beschmutzt hatte. Dazu starrte Chino Artemis mit weit aufgerissenen Augen an. „Chino? Alles in Ordnung mit dir?“ „Was?“ „Ob alles in Ordnung ist. Ich habe deinen Kaffee schon fast auf meinem Schoß.“ „Wie... Oh, entschuldige.“ Sofort hob Chino die Kanne an und holte einen Lappen, um das Missgeschick aufzuwischen. Ethos schenkte Artemis unterdessen nur einen fragenden Blick, woraufhin Artemis unwissend mit den Schultern zuckte. „Feuer, sagtest du? Und Opfer mit Brandwunden?“ „Genau das sagte ich.“ Artemis holte ein Taschentuch hervor, um Chino beim Wischen zu helfen und um zu verhindern, dass der vom Tisch herunter tropfende Kaffee auf seine Hose kam. „Was war denn vorhin mit dir los? So schockiert habe ich dich noch nicht einmal gesehen, als wir dir erzählt hatten, dass Dominic Nikolas' Posten übernehmen will.“ Direkt nach dem Ziel, Artemis aus dem Vatikan zu werfen, kam für Dominic das Vorhaben, sämtliche dämonisch geprägte Kontaktmänner, die der Vatikan besaß, zu vernichten. Chino ließ sich mit seiner Antwort Zeit, bis er alle hässlichen Kaffeeflecken von seinem Tisch entfernt hatte. Danach verfrachtete er den dreckigen Lappen in die leere Kanne. „Wann gedenkt ihr abzureisen?“ „Das wissen wir noch nicht. Nikolas wartet nur noch auf die Bestätigung des Papstes." „Bis Morgen werde ich meine Vertretung eingewiesen haben. Señora Mariposa weiß glücklicherweise bereits Bescheid, wie sie mit meinen Patienten umzugehen hat. Ich hoffe, dass euer Prälat sich noch so lange gedulden kann. Ich komme mit euch und werde dafür sorgen, dass die Patientin aus der Anstalt heraus kommt und bei Bedarf sogar nach Rom verlegt werden kann.“ Ethos und Artemis erhoben sich und schauten sich erneut fragend an. „Woher der plötzliche Sinneswandel?“, wollte Ethos wissen. „Das ist etwas Persönliches. Ich muss mir sicher sein, dass es sich auch wirklich um ihn handelt.“ Artemis hatte bereits den Mund für eine Frage geöffnet, verstummte jedoch, bevor er diese stellen konnte. In diesem Augenblick wirkte Chino nicht wie sonst. Irgendetwas Bedrohliches schien von ihm auszugehen, von dem beide Priester wussten, dass es nicht gegen sie gerichtet war, aber jederzeit dazu führen konnte, dass Chino völlig in Rage geraten würde. Seine Atmung wirkte schwer, seine braunen Augen funkelten wie wütende Flammen. Eine Weile lang standen sich die drei nur gegenüber, keiner sagte ein Wort. Unter Artemis' Augenklappe regte sich sein Fluch immer heftiger. Das zuvor nur noch als leichtes Jucken wahrzunehmende Gefühl wandelte sich in stechende Schmerzen. Sein rechtes Auge schrie geradezu danach, von der Augenklappe befreit zu werden, um es mit der feindlichen Aura, die den Raum inzwischen erfüllte, aufzunehmen. Plötzlich, als es für Artemis kaum noch auszuhalten war, ließ Chino entspannt die Schultern sinken und legte ein freundliches Lächeln auf. „Also dann, ich schätze, wir hören spätestens morgen voneinander. Es hat mich gefreut, dass ihr mal wieder vorbei geschaut habt. Leider habe ich noch so einiges zu tun, weshalb ich meine Gastfreundschaft nicht länger anbieten kann. Ich hoffe, dass ihr dafür Verständnis habt.“ Von dem neuerlichen Wandel seiner Stimmung sichtlich verwirrt, verabschiedeten sich Ethos und Artemis von Chino. Als die beiden den Hauptweg so weit herunter marschiert waren, dass sie sich außerhalb der Reichweite des Anwesens befanden, drehte sich Artemis zu Ethos um. „Das war... etwas merkwürdig. Weißt du, was Chino meinte, als er sagte, dass er sichergehen müsse, dass es sich um ihn handelt?“ „Ich habe absolut keine Ahnung. Aber ich habe das Gefühl, dass zwischen Chino und diesem Blackcage eine Verbindung bestehen könnte.“ „Was du nicht sagst“, murmelte Artemis sarkastisch. „So langsam frage ich mich, ob es wirklich eine gute Idee war, Chino dazu zu bringen, uns zu begleiten.“ Ethos sagte nichts dazu. Nachdem Chino sich so seltsam benommen hatte, war ihm zwar der gleiche Gedanke gekommen, andererseits stiegen ihre Chancen, zu einem brauchbaren Ergebnis zu kommen, durch Chino gewaltig. Das konnte und wollte Ethos nicht aufs Spiel setzen. Er würde seinen Auftrag in jedem Fall zu Ende bringen, komme was da wolle. Wer auch immer Informationen über ihn zusammen trug, würde er sicherlich nicht ohne weiteres davonkommen lassen. An dem Tor angekommen, hatte Artemis bereits ein tassisti gerufen, so dass die beiden Priester sofort einsteigen und fahren konnten. Die gesamte Zeit der Fahrt lang wechselten die beiden nicht ein einziges Wort miteinander. In dem fahlen Licht seiner Kammer stand Artemis vor einem Spiegel, den er oberhalb der ausladenden Kommode angebracht hatte. Einen Arm auf die obere Platte gestützt, fingerte er in den Schubladen herum, bis er eine kleine weiße Dose zu fassen bekam. Mit einem leisen Ausruf des Triumphs hob Artemis die Dose vor sein Gesicht, nur um kurz darauf resigniert erkennen zu müssen, dass sie leer war. Wütend schleuderte er den kleinen Plastikgegenstand in die entgegengesetzte Ecke seiner Kammer. Als er den Kopf wieder gehoben hatte, konnte er sich in dem Spiegel sehen. Unter seinem linken Auge hatten sich inzwischen tiefe Augenringe gebildet, seine Lippen waren vor Trockenheit bereits an einigen Stellen aufgerissen. Seine Haut wirkte zudem blasser als sonst, einzelne Strähnen seiner langen Haare klebten ihm nass auf der Stirn. Seufzend drückte sich Artemis von der Kommode weg, stemmte die Hände in die Hüften und schaute sich um. In seinem aus dunklem Holz bestehendem Schrank bewahrte er keine Medikamente auf, dieser half ihm also schon mal nicht weiter. In den Kisten unter seinem sauber gemachten Bett mit der Bettwäsche aus rotem Satin befanden sich allenfalls noch einige Schlucke Alkohol. Dass er in seinem Schreibtisch oder unter dem Teppich etwas hätte lagern können, schied von vorne herein aus. Seufzend stellte Artemis fest, dass er wohl oder übel dazu gezwungen war, in die Stadt zu gehen und sich dort neue Medikamente zu holen. Sein Schädel pulsierte so stark, dass es ihm vorkam, als würde er jeden Augenblick zerbarsten. Hinzu kam, dass sein Auge noch immer keine Ruhe gab, seit er vor wenigen Stunden mit Chino gesprochen hatte. Wann immer sich das Auge unter seiner Klappe meldete, waren nur allzu häufig unerträgliche Kopfschmerzen mit ihm verbunden. Nur wenn Artemis dazu bereit war, die Augenklappe zu entfernen und so dem Fluch freien Lauf zu lassen, konnte er Milderung erwarten. Doch das war die letzte aller Möglichkeiten, die Artemis in Betracht zog. Er schnappte sich eine leichte und unauffällige Stoffjacke, die in seinem Schrank hing und ging nach draußen. Wenn er es noch in eine Apotheke schaffen wollte, musste er sich beeilen. Auf seinem Weg zum Haupteingang des Vatikans traf Artemis einige Priester, die er flüchtig grüßte. Mit dem Großteil seiner Kollegen hatte er nicht viel zu tun, denn auch, wenn er im Allgemeinen gemocht wurde, arbeiteten Leute wie er eher selten mit den übrigen traditionellen Geistlichen zusammen. Als Artemis den Vatikan schon fast verlassen hatte, erregte allerdings jemand seine Aufmerksamkeit. Vor dem Ausgang stand eine kleine Traube an Frauen, deren Körper in das schwarze Gewand der Nonnen gehüllt waren, dazu trugen alle die Haube, die ihre Haare verschleierte. Zwar konnte so keine der Nonnen auf den ersten Blick identifiziert werden, doch Artemis war in der Analyse einer bestimmten Nonne bereits geübt genug, um diese als die Frau zu erkennen, die sein Interesse auf sich zog. Artemis blieb stehen und änderte die Richtung, in die sein Weg ihn führte. Die Nonnen schwatzten gut gelaunt miteinander und lachten, bis die erste von ihnen Artemis bereits in der Ferne erkennen konnte. Sofort verschränkten drei der fünf Nonnen ihre Arme vor der Brust, eine zeigte mit dem Finger auf ihn und die letzte im Bunde lehnte sich zur Seite, um ihrer Schwester etwas in das Ohr flüstern zu können. Kaum war Artemis bei der kleinen Versammlung angekommen, strömte diese auch schon auseinander, bis nur noch eine Frau übrig blieb. Es verstrichen einige peinliche Atemzüge, bis Artemis sich dazu durchringen konnte, etwas zu sagen. „Lydia... Hallo, wie geht es dir?“ „Ein noch plumperer Spruch ist dir wohl nicht eingefallen, was? Sprichst du deine billigen Mädchen auch immer so an?“, giftete die Nonne in einem aggressiven Tonfall. Ihre grünen Augen blickten Artemis zornig an, die Haltung ihres schlanken Körpers ließ Abneigung erkennen, trotz der weiten schwarzen Robe. Die Haare waren zu einem strengen Zopf zurück gebunden, damit diese nicht unter Haube hervorschauen konnten. Sie wirkte angespannt, ihre zarten rosa Lippen presste sie so hart aufeinander, dass sie nur noch einen dünnen Strich zu bilden schienen. Ihr rundes Gesicht mit der kleinen Nase und den leichten Sommersprossen verhinderten allerdings, dass die Nonne allzu bösartig aussah, obwohl ihre Stirn sich durch den zornigen Blick stark zusammen gezogen hatte. Artemis versuchte, die Nonne namens Lydia durch ein warmes und herzliches Lächeln zu erweichen. „Du siehst schön aus.“ „Danke. War es das?“ Wieder schien Artemis zu zögern. Er wusste nicht genau, was er sagten sollte. Wobei, das stimmte nicht wirklich, er wusste ganz genau, was er sagen wollte, nur erschien ihm dieser Platz dafür nicht der richtige zu sein. In seinen Händen bildete sich kalter Schweiß, was er erst bemerkte, als er anfing nervös mit den Fingern zu spielen. „Vielleicht möchtest du dich ja mal auf einen Kaffee mit mir treffen? So ganz unverbindlich? Ich habe dir noch eine ganze Menge zu sagen“, säuselte Artemis und hoffte, dass ihm seine Verzweiflung nicht in das Gesicht geschrieben stand. Lydia überlegte kurz, was Artemis Hoffnungen bereitete, dass sie zusagen würde. „Nein. Was auch immer du zu sagen hast, kannst du auch genauso gut für dich behalten. Es interessiert mich nicht mehr. Lass mich einfach in Ruhe.“ Mit erhobenem Haupt schritt Lydia davon und noch bevor Artemis ihr hätte nachrufen können, war sie bereits wieder bei den anderen Schwestern, die ein paar Meter weiter auf sie gewartet hatten. Es dauerte noch eine Weile, bis Artemis seinen Blick von der Stelle, an der Lydia noch vor wenigen Sekunden gestanden hatte, abwenden konnte. Nachdenklich nickte er stumm vor sich hin, als stünde die Nonne noch vor ihm, um ihr zu bedeuten, dass er ihre Entscheidung akzeptierte. Mit leerem Blick setzte Artemis sich wieder in Bewegung und verließ den Vatikan mit gesenktem Haupt, so dass er nicht bemerkte, dass Ethos ihn aus einiger Entfernung beobachtet hatte. Für den Bruchteil einer Sekunde überlegte Ethos, ob er Artemis nachgehen sollte, entschied sich dann jedoch dagegen. Immerhin wusste er, was Artemis nun die nächsten Stunden über tun würde und abhalten konnte er ihn davon ohnehin nicht. Wenn die Erkenntnis, dass exzessives negatives Verhalten nicht darüber hinweg trösten konnte, was mit Lydia geschehen war, nicht von ihm aus kam, würde es nichts bringen, auf Artemis einzureden. In seinem tiefsten Inneren hoffte Ethos, dass Artemis seinen Weg noch finden konnte, er selbst hatte ihn immerhin noch nicht aufgegeben. Nachdem Artemis sein Rezept eingelöst und sich ein paar der Tabletten einverleibt hatte, war er noch ein wenig durch die Straßen Roms gewandert. Die meiste Zeit über hatte er die Hände in den Hosentaschen vergraben und mit düsterem Blick die ihm entgegen kommenden Menschen effektiv auf Abstand gehalten. Seitdem der Große Krieg vorbei war, herrschte ohnehin eine trübe Stimmung und die wenigsten Menschen waren darauf aus, mit anderen großartig ins Gespräch zu kommen. Mit Ausnahme des Ortes, an den es Artemis nun verschlug. In einer der vielen Seitengassen entdeckte Artemis ein unauffälliges herabhängendes Schild, das den Kunden der kleinen Kneipe den Weg weisen sollte. So, wie es quietschend in dem leichten Windzug hin und her baumelte, besaß es etwas kindlich Ironisches, stellte Artemis kurz fest, bevor er sich in das Innere der hinter einer brüchig wirkenden Hausmauer versteckten Kneipe begab. Die Fenster waren von außen nicht einsehbar, so dreckig waren sie bereits. Kaum war Artemis eingetreten, wurde er auch schon von einem einsilbigen und ungepflegt wirkenden Barmann begrüßt, der ihm einen Drink einschenkte und ohne weitere Fragen von dannen ziehen ließ. Um an seinen Stammplatz zu gelangen, passierte Artemis mehrere durch Holzplatten voneinander getrennte Kabinen. An den Wänden in den Kabinen hingen glitzernde Automaten, die den Spielern, die auf kleinen unbequemen Hockern davor Platz genommen hatten, lautstark verkündeten, dass sie verloren hatten. Oft hörte man sich die Männer mindestens genauso lautstark über eben diesen Umstand beschweren. Artemis suchte jene Kabine auf, die sich im hintersten Teil der Kneipe befand, ließ sich auf den Hocker sinken und stellte sein Glas auf einer kleinen Ablage aus Holz ab, die sich zu seiner linken befand. Die rechte Hand benötigte er, um den Einarmigen Banditen bedienen zu können. Hinter Artemis befand sich ein weitläufiger Raum, der eine große Sitzecke beherbergte, an dem einige Männer Poker spielten. Ein paar Frauen saßen entweder neben den Herren oder auf ihren Schößen, um sie anzufeuern. Als Artemis sich kurz umsah, da er den Vorhang hinter seinem Rücken zuzuziehen gedachte, zwinkerte ihm eine der Damen zu. Sie hatte schwarze Haare, die sie säuberlich hochgesteckt hatte und auch ihre Kleidung bestand ausschließlich aus schwarzem Stoff. Artemis grinste seine neue Bekanntschaft vielsagend an, dann zog er ruckartig den billigen gelben Stoff zur Seite und versperrte damit die Sicht auf ihn. Nun konnte er seine Privatsphäre genießen, nahm einen tiefen Schluck von dem Scotch und machte sich daran, einige Münzen aus seiner Hosentasche zu fischen. Das linke Bein lässig über das andere gelehnt, machte es sich Artemis in seiner Kabine gemütlich. Die erste Münze wurde von ihm in den Schlitz geworfen und die bunten Räder begannen sich wild zu drehen. Nachdem er ein paar Sekunden gewartet hatte, zog Artemis an dem Hebel des Automaten, verlor diese Runde allerdings. Der Priester wiederholte diesen Vorgang noch einige Male, verlor aber auch weitere zwanzig Runden. Nichts, das ihn beunruhigte oder davor abgeschreckt hätte, es noch ein weiteres Mal zu versuchen. Münze um Münze landete in dem Automaten, ohne dass Artemis auch nur einen einzigen Gewinn hätte erzielen können. Dann, bei dem fünfzigsten Versuch, nahm das Klingeln zum ersten Mal einen anderen Ton an und spuckte blinkend einige Münzen aus. Artemis zählte sie Münzen und stellte fest, dass es sich lediglich um einen kleinen Gewinn handelte, also musste er wohl noch einige Male weiter spielen. Gerade, als er einen Teil seines gerade erst erworbenen Geldes erneut investieren wollte, hörte er ein leises Kratzen. Er drehte sich um und sah die Frau von dem Pokertisch neben dem Vorhang stehen. Ihr einfaches schwarzes Kleid reichte ihr auch im Stehen nicht weiter, als knapp über die Knie, der Effekt ihrer nahezu unendlich langen Beine wurde durch die hochhackigen Schuhe, die sie trug, noch verstärkt. Mit ihren braunen Augen schaute sie Artemis kokett grinsend an. Das starke Make-Up, das sie trug, ließ ihre Mimik manchmal etwas unecht aussehen, doch das war nichts, woran sich Artemis störte. Er hatte gewusst, dass die Frau noch zu ihm herüber kommen würde. Immerhin war er der am besten gekleidete Mann in der Kneipe und vermutlich auch der jüngste. Dazu wohl auch der mit dem geringsten Potential an ansteckbaren Krankheiten. „Und du bist...?“ „Mein Name ist Violetta, wenn es das ist, was du hören möchtest.“ Garantiert nicht ihr richtiger Name, dachte sich Artemis, breitete aber trotzdem wohlwollend seinen rechten Arm aus. „Komm doch rein in meine bescheidene Kabine. Vielleicht bringst du mir ja noch etwas Glück heute Abend.“ Obwohl Artemis sich dessen gewahr war, dass seine Anmache mehr als dürftig war, schlüpfte Violetta am Vorhang vorbei und setzte sich auf Artemis' Schoß, wie sie es wenige Minuten zuvor bei dem anderen Mann getan hatte. Eine billige Anmache für ein billiges Mädchen. Es sollte Artemis nur recht sein, wenn er sich an diesem Abend keine besonders große Mühe mehr zu geben brauchte. „Möchtest du etwas trinken?“ „Gerne.“ Lächelnd nahm die Schwarzhaarige Artemis sein Getränk ab und nippte vorsichtig daran. Nur mit Mühe konnte sie es unterdrücken, das Gesicht zu verziehen. Etwas verunsichert daraufhin, reichte sie das Glas an Artemis zurück und konzentrierte sich darauf, das Geschehen am Einarmigen Banditen zu verfolgen. Nachdem Artemis die nächste Münze eingeworfen hatte, drehten sich die Räder ein weiteres Mal und der Priester schien an Glück dazugewonnen zu haben. Wieder rieselten einige Münzen aus dem Automaten heraus, die er sich sofort schnappte und einsteckte. „Ich glaube, du bringst mir Glück, Süße.“ „Das hoffe ich doch“, antwortete die Angesprochene grinsend und legte beiläufig die Hand auf Artemis' Brust ab. Dazu stütze sie sich mit ihrem Kopf auf seine Schulter. „Müde?“ „Ein wenig vielleicht.“ Auch die geringe Bereitschaft zur Unterhaltung der jungen Frau, die garantiert dem Gewerbe der Prostitution nachging, störte Artemis nicht weiter. Bei dieser Art von Frau legte er Wert auf andere Dinge. Er ließ den Banditen noch einige Runden lang rotieren, dann wand er sich an Violetta, die auf seinem Schoß schon fast einzuschlafen drohte. „Wollen wir vielleicht irgendwo hin gehen, wo wir ungestört sind?“, fragte Artemis, dazu fasste er Violetta vorsichtig unter das Kinn und hob ihren Kopf an, damit er ihr in die Augen sehen konnte. Anscheinend war die Frau völlig zu gedröhnt, so wie sie ihn anstarrte. Nicht einmal eine Sekunde lang die Augen geradeaus halten konnte sie, ihre Pupillen sahen aus wie zwei riesige schwarze Löcher. Violetta nickte kurz und ließ sich dabei helfen aufzustehen. Schnell sammelte Artemis einige seiner Münzen ein und gab dem Barmann Bescheid, dass er sich in eines der oberen Quartiere zurückziehen würde. Dieser nickte nur grimmig, warf Artemis einen Schlüssel zu und widmete sich schnellstmöglich wieder seinen Kunden, die direkt am Tresen saßen. Oben angekommen, schloss Artemis die erste Tür auf, schubste die Prostituierte hinein und verriegelte die Tür danach wieder. Als er sich umdrehte, rekelte Violetta sich bereits in einigen lasziven Posen auf dem Bett, jedenfalls versuchte sie es. In ihrem Zustand sah sie dabei eher lächerlich als anreizend aus. Das Zimmer war identisch mit den anderen Räumlichkeiten dieser Etage, die Artemis kannte - ein Bett, ein Nachtschrank und ein Stuhl reichten anscheinend aus, um auch die Stammkunden dieser zwielichtigen Kneipe abzufertigen. Bei der nächsten Gelegenheit würde Artemis sich darüber beschweren. Momentan hatte er allerdings besseres zu tun. Er zog sich seine Jacke und die Schuhe aus, dann legte er sich zu Violetta auf das Bett. Während er sie küsste, streichelte er über ihre glatten Beine, schob dabei den Saum ihres Kleides immer höher. Als er an der Hüfte der jungen Frau angekommen war, hielt Artemis plötzlich inne. „Leg dich auf den Bauch“, flüsterte er und Violetta gehorchte. Er wollte diesen Abend nicht in das Gesicht der Frau sehen. Er wollte ihren Namen nicht wissen, nicht erfahren, woher sie kam oder wer sie überhaupt war. Das einzige, das er wollte, war den Körper der Frau mit einer Erinnerung füllen, die ihm vor Jahren abhandengekommen war. Die Erinnerung an Lydia. „Manchmal mache ich mir ernsthafte Sorgen um Pater Artemis, Monsignore“, seufzte Ethos, während er neben Prälat Nikolas einen Spaziergang machte. Die beiden waren sich zufällig über den Weg gelaufen und ins Gespräch gekommen. „Warum?“ „Wegen Schwester Lydia. Die beiden begegnen sich häufig auf diesem Gelände und ich weiß nicht, wie lange das noch gut gehen soll.“ „Was beunruhigt Sie denn an dem Verhalten von Pater Artemis?“, fragte der Prälat und setzte sich auf eine Bank, da er eine kurze Pause benötigte. Ethos nahm ebenfalls Platz und blinzelte der untergehenden Sonne entgegen. „Immer, wenn er auf Lydia trifft, verlässt er den Vatikan für längere Zeit. Wenn er wiederkommt, ist er meistens betrunken, kann sich nur noch an die Hälfte erinnern und hat entweder all sein Geld verspielt oder es in Frauen investiert.“ „Machen Sie sich Sorgen um seine Einsatzfähigkeit?“ Aufgrund dieser Frage wirkte Ethos leicht empört. Er hatte mit einer ganz anderen Reaktion gerechnet. „Nicht direkt. Pater Artemis ist überaus zuverlässig. Meistens gönnt er sich solche Ausfälle nur, wenn am nächsten Tag kein Auftrag ansteht.“ „Das Privatleben meiner Leute sollte auch privat bleiben, Ethos. Mich interessieren nur die Einschnitte, die die Ausführung unserer Aufträge bedrohen.“ „Auch, wenn einer Ihrer Leute gerade dabei ist, sein Leben zu zerstören?“, fragte Ethos mit einem provozierenden Unterton und schaute Nikolas mit ernstem Blick in die Augen. Für einen kurzen Augenblick wusste der Prälat nicht, was er antworten sollte. Er fuhr sich mit der Zunge einige Male über die Lippen, dann sprach er weiter. „Es ist nicht so, dass mich das Leben von Pater Artemis nicht interessieren würde. Allerdings muss ich über einige Dinge hinweg sehen, um garantieren zu können, dass der eine oder andere Priester weiterhin in unserer Abteilung arbeiten kann. Bei Ihnen genauso, wenn ich Sie daran erinnern darf. Auch mir fällt es nicht leicht zu ignorieren, was in Artemis' Inneren vor sich geht. Was mich bisher aber ungemein beruhigt hat, ist, dass Sie ihm zur Seite stehen, Ethos. Sie und Artemis unterstützen sich gegenseitig. Kein anderer Priester hier kann diese beiden Aufgaben übernehmen. Sie selbst lassen niemanden an sich heran und Artemis ist ohnehin ein sehr spezieller Fall.“ Als hätte sich das Gespräch somit für ihn erledigt, schaute nun auch Prälat Nikolas dem Sonnenuntergang entgegen. Ein leichtes Zittern durchfuhr ihn, als ein Windstoß aufkam. Noch zeigte sich der Spätsommer von seiner besten Seite, bald würde der Herbst jedoch die Überhand gewinnen, das war bereits spürbar. Ethos schwieg eine Weile, bis er aufstand und Nikolas anbot, ihn in seine Kammer zu begleiten. Dankbar nahm dieser das Angebot an und ließ sich beim Aufrichten helfen. „Verstehen Sie mich nicht falsch, Ethos. Könnte ich es, würde ich Ihnen beiden nur zu gerne helfen. Aber das kann ich nicht. Artemis braucht Sie und Sie brauchen Artemis. Vielleicht ist das einer der Gründe, der sie zu dem effizientesten Team meiner Abteilung macht, was nur einen weiteren Beweis darstellen dürfte, dass Sie sich um den jeweils anderen kümmern müssen.“ „Ich verstehe Sie nicht ganz...“ „Sie und Artemis sind die einzigen beiden Priester, die den Versuch einer Übernahme durch einen Dämonen überlebt haben. Dieses Ereignis hat Sie, auch wenn Sie es zu verschiedenen Zeitpunkten und an verschiedenen Orten, sowie durch verschiedene Dämonen erlebt haben, dennoch zusammen geschweißt. Trotz meiner jahrelangen Erfahrung in diesem speziellen Metier könnte ich weder nachvollziehen, was in Ihnen vorgeht, wenn Sie in die Fänge Ihrer alptraumartigen Trance geraten, noch was Artemis durchlebt, wenn er sein Auge von der Klappe befreit.“ Inzwischen waren die beiden Geistlichen vor dem Gebäude, das die Kammer des Prälaten beherbergte, angekommen. Steve wartete bereits geduldig, um Nikolas hinein zu geleiten. „Was ich damit sagen möchte, ist, dass es niemanden gibt, der Pater Artemis besser auf den richtigen Weg zurück leiten kann, als Sie.“ „Oder Lydia.“ „Vergessen Sie Lydia.“ Die Nonnen, die sich im Vatikan aufhielten, besaßen keinen besonders guten Ruf. Das lag weder an ihren Fähigkeiten, noch daran, dass sie die männlichen Priester in irgendeiner Art ablenken würden. Doch Frauen hatten, in den Augen der meisten Priester, nichts in dem brutalen Kampf gegen die Dämonen zu suchen. Sooft sie auch das Gegenteil bewiesen, sie stiegen in ihrem Ansehen kaum auf. Bei Lydia kam hinzu, dass sie ohnehin gespalten betrachtet wurde. Artemis hatte seine Vision der Dinge und da es mehr Männer als Frauen im Vatikan gab, somit auch die größere Anzahl an Leuten auf seiner Seite. „Sie kann nichts tun, sie redet doch noch nicht einmal mit Pater Artemis. Passen Sie auf ihn auf und versuchen Sie ihm das eine oder andere beizubringen. Lernen Sie im Gegenzug dazu einige Dinge von Pater Artemis, das würde Ihnen ebenso wenig schaden. Gute Nacht, Pater Ethos.“ „Gute Nacht Hochwürdigster Prälat Nikolas.“ Ethos vollführte eine leichte Verbeugung, verabschiedete sich von Steve und machte sich auf den Weg in sein eigenes Quartier. Er war ausnahmsweise müde und hatte erfahren, dass ihr Flugzeug nach London am nächsten Tag in aller Frühe gehen würde. Zum Glück hatte auch Chino daran nichts auszusetzen gehabt, so dass der Auftrag mit etwas Zutun von Fortuna vielleicht innerhalb eines Tages abgeschlossen werden konnte. In seiner Kammer angekommen, warf sich Ethos direkt mit dem Rücken auf das Bett und starrte mit hinter dem Kopf verschränkten Armen an die Decke. Das, was Nikolas zu ihm gesagt hatte, ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Irgendwo hatte der Prälat sicherlich Recht, aber er konnte doch nicht einfach so wegsehen, wie Artemis sich verhielt. Viele fanden den Priester mit der Augenklappe unheimlich sympathisch, lachten, wenn er Witze machte, erfreuten sich an seiner Offenheit oder seinen Geschichten und respektierten ihn für seine Stärke. Und dennoch war Artemis in Situationen wie dieser völlig allein. Im Gegensatz zu Ethos hatte er sich diese Einsamkeit allerdings nicht gewünscht. Einmal hatte Artemis Ethos gestanden, dass die meisten Menschen Angst vor dem hatten, was sich da unter seiner Augenklappe abspielte. Solange es sich nur um flüchtige Bekanntschaften handelte, konnte er diese damit noch beeindrucken, aber jeder, der wirklich wusste, was sich darunter verbarg, begegnete ihm mit einem mulmigen Gefühl. Ethos war es nicht anders ergangen, als er das erste Mal auf Artemis getroffen war. Irgendwann hatte er jedoch erkennen müssen, dass er mit Artemis einiges gemein hatte. Während sein Stiefvater ihn zu dem schlimmsten genötigt hatte, das Ethos sich vorstellen konnte, war Artemis von seinem Vater über Jahre hinweg auf eine seelische Art misshandelt worden, an die er sich jedes Mal erinnerte, sobald ihn jemand bei seinem Namen rief. Auch die Dämonen haben, wenn auch nicht gewollt, mehrfach einen großen Teil dazu beigetragen, dass Ethos eine Freundschaft zu seinem Kollegen hatte aufbauen können. Ein Auftrag, der völlig aus dem Ruder lief, war dafür verantwortlich, dass sich die beiden inzwischen so gut verstanden. Wäre Artemis damals nicht gewesen, wäre Ethos vermutlich tot. Andersherum hatte auch Ethos die Lebensspanne von Artemis bedeutend erhöht, wodurch sie irgendwann in ein tieferes Gespräch über die prägenden Erlebnisse ihres Lebens gestolpert waren. Alle beide waren an jenem Tag fürchterlich betrunken gewesen, da sie einen besonders nervenaufreibenden Auftrag abgeschlossen hatten und dies gebührend hatten feiern wollen. Ein Lächeln huschte über Ethos' Gesicht, wenn er sich an diesen Abend zurück erinnerte. Es war der wohl ausgelassenste Tag seines Lebens gewesen, den er damals mit Artemis verbracht hatte und auch der, der ihm eine große Last genommen hatte. Zugegebenermaßen konnte es wirklich gut tun, mit jemandem darüber zu reden, was einem im tiefsten Inneren belastete. Allzu häufig verweigerte Ethos dennoch die Zusammenarbeit mit den meisten Kollegen, da ihm an ihnen nicht besonders viel lag. Nur wenige Menschen bildeten Ausnahmen, auf die Ethos sich einlassen konnte. Vielleicht hatte Nikolas wirklich Recht mit dem, was er vorhin Ethos gegenüber erwähnt hatte. Beim nächsten Mal würde er Artemis nachgehen und versuchen, mit ihm zu sprechen, bevor er ihn seinen Süchten überließ. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)