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Despaired Fate

The Awakened Fate Ultimatum
von

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Despair


 

Verschwinden.
 

Das war der einzige Wunsch, dank dem mein Kopf die Arbeit noch nicht vollständig eingestellt hatte. Dieser kleine Funke bildete den kläglichen Rest von meinem ehemaligen Verstand, der mir noch geblieben war. Er wanderte hin und wieder durch das Labyrinth der Hoffnungslosigkeit, aus dem meine Gedanken niemals mehr entkommen konnten. Meine Seele existierte nur noch als ein endloses Geflecht aus Wegen und ich war dazu verdammt, auf ewig in diesen kahlen Gängen herumzuirren.

Gab es in mir überhaupt noch so etwas wie eine Seele? Hatte ich jemals eine besessen?

Jetzt war ich nur noch eine Hülle für die Verzweiflung und nicht mehr Shin Kamikaze. Ein Beispiel dafür, was passieren konnte, wenn jemand als künstlich erschaffener Gott auf ganzer Linie versagte und nie etwas Gutes hervorgebracht hatte. Alles, was ich wollte, war, andere zu retten, aber meine Entscheidungen hatten immer nur Schmerz verursacht. Jedes Mal gab es Opfer und Leid. Wie konnte ich das nur so lange ertragen?

Durch all diese schweren Entscheidungen wurde ich nach und nach von innen heraus zerstört. Früher oder später hätte es also so kommen müssen, das war bloß eine Frage der Zeit gewesen. Eri hatte den Prozess nur beschleunigt, ohne dass sie sich diese Rolle selbst aussuchen konnte. Auch den Tod hatte sie nicht selbst gewählt, dafür war ich allein verantwortlich. Sie war meinetwegen auf grausame Weise gestorben, nur weil ich die falsche Entscheidung getroffen hatte. Nur weil sie mir begegnet war und ich ihr Schicksal bestimmen musste.

Als einer der ersten Menschen war sie besorgt um mich gewesen und zum Dank hatte ich sie einfach im Stich gelassen. Hätte ich sie retten können? Vermutlich nicht. Wie sollte man unter solch einem Druck nicht verzweifeln? Lag es nur an mir oder waren Menschen allgemein nicht dafür geschaffen, Gott zu werden? Nein, diese Schuld sollte ich nicht auf andere abschieben.

Trotzdem ...
 

Alles muss verschwinden.“
 

Darin lag die einzig wahre Lösung verborgen und daran würde ich mich weiterhin halten. Auf diesen Gedanken reagierte der Kristall in mir und stieß einen weiteren Stromschlag, bestehend aus ungezügelter Kraft, durch meinen Körper. Ein süßer Schmerz, durch den ich zu schreien anfing. Über die Ruinen von Celestia fegte das Gebrüll einer furchteinflößenden Bestie hinweg, nicht das eines Menschen oder eines Gottes. Aus mir war letztendlich doch noch ein Monster geworden, genau wie Ariael damals gesagt hatte und Jupiel würde mich nun als leibhaftigen Teufel bezeichnen.

Jupiel. Ariael. Eri. Alle tot. Meinetwegen.

Erneut rauschte ein Stromschlag aus purer Macht durch jede Region meines Körpers und ließ mich ein weiteres Mal laut aufheulen. Dieser sogenannte Körper war alles, was mich noch als Gott auszeichnete. Engel und Teufel, beide Kräfte vereint, hatten mich zu dieser unkontrollierbar monströsen Form gewandelt. Rote Flüssigkeit rann aus den dunklen, tiefen Schlitzen, wo eigentlich meine Augen sein sollten, doch mein Kopf bestand nur noch aus einer gepanzerten Maske. Die eine Hälfte weiß, die andere schwarz.

Ich stand mitten in den Trümmern der ehemaligen Himmelsstadt, wo ich mir wieder und wieder die Seele – oder eher das, was noch in mir war – aus dem Leib brüllte. Etwas hielt mich an diesem Ort fest, beinahe als gäbe es unsichtbaren Ketten, durch die ich hier gefangengehalten wurde. Sicher wäre es ein Kinderspiel für mich, auch die gesamte Netherwelt mit einem Schlag zu zerstören, aber das interessierte mich gar nicht. So groß war meine Verzweiflung, dass ich nicht mal an Rache denken konnte für das, was die Teufel Eri angetan hatten. Was ich wollte, war nur ...
 

Ich muss verschwinden.“
 

Während dieser Gedanke erneut einsam durch das Labyrinth in mir schlich, bemerkte ich in meiner Verzweiflung gar nicht, dass ich Besuch bekommen hatte. Schon lange wagten sich keine Truppen aus der Netherwelt mehr hierher, um die Ruinen zu erkunden. Jede einzelne Gruppe hatte ich ausgelöscht. Diesmal kam eine Person, von der ich direkt angesprochen wurde.

„Shin Kamikaze“, hörte ich plötzlich eine tiefe, selbstsichere Männerstimme sagen. Ihr Klang bezwang sogar mein lautes Gebrüll. „Das ist also aus dir geworden?“

Abrupt brach mein Schrei in sich zusammen und ich fuhr schwerfällig herum. Dort stand er, nur wenige Meter von mir entfernt: Hien Inugami, der Gott der Netherwelt.

Sein langes, weißes Haar tanzte elegant im Wind und das violette Augenpaar musterte mich mit einem scharfen Blick. Von seinem Stolz schien er nichts verloren zu haben, so wie er dastand, völlig furchtlos und entschlossen. Obwohl er auf der Seite der Teufel stand, gab er einen viel besseren Gott ab als ich. Bestimmt gab es nichts, was Hien bereute und er besaß einen klaren Geist, der genau wusste, was er wollte. Wie sehr ich ihn darum beneidete.

„Tragisch“, kommentierte Hien meinen Anblick kühl, doch in seinen Augen lag etwas, was mich glauben lassen wollte, dass er es tatsächlich auch so meinte. „Es ist eine Schande, dass aus dir so etwas geworden ist. Du hättest so viel mehr werden können.“

Du meinst, ein würdiger Gegner für dich? Ein Krieger? Selbst wenn ich das gewollt hätte, wäre ich doch nur dort gelandet, wo ich jetzt war. Jemand wie ich konnte nur versagen. Egal, was ich auch tat, es endete stets im Unglück.

Als könnte Hien meine Gedanken lesen, verzog er das Gesicht. „Hör auf damit, dich selbst zu bemitleiden, Gott. Wie tief willst du dich mit solch erbärmlichen Gedanken noch runterziehen?“

Es war seltsam. Statt Hien wie die anderen Soldaten voller Wut anzufallen und zu zerfetzen, hörte ich ihm aufmerksam zu. Ich verstand sogar genau, was er sagte. Zum ersten Mal seit Celestia durch meine Hand zerstört worden war, fühlte ich mich vollkommen ruhig. Woran lag das nur? Warum war er überhaupt hier?

„Nun, mir kann es egal sein“, sagte Hien und nahm eine strammere Haltung ein. Noch immer fixierte er mich mit seinem Blick, ohne auch nur ein einziges Mal zu blinzeln. „Kämpfen wir, Kamikaze.“
 

Kämpfen?
 

Ein völlig neuer Gedanke erwachte ihn mir. Kämpfen. Das war typisch für Hien, zumindest soweit ich es beurteilen konnte. Gab es für ihn nichts anderes, als zu kämpfen und seine Stärke zu beweisen? Nun, das konnte mir egal sein.

Hiens Körper wurde von einer düsteren Aura eingeschlossen, die der Farbe seiner Augen glich. Kurz darauf änderte er ebenfalls seine Gestalt zu einer Bestie, durch die nur teuflische Energie gepumpt wurde. Vor mir stand ein gepanzertes Wesen, das mich herausforderte und ich zögerte nicht. Brüllend sprang ich ihm entgegen und beim Zusammenprall unserer Körper entstand eine Druckwelle, die all den Staub zwischen den Trümmern aufwirbelte.

Er konnte mir standhalten? Nachdem ich vor Verzweiflung dazu fähig gewesen war, Celestia untergehen zu lassen, blieb ich ihm selbst jetzt unterlegen? Oder war er in der Zwischenzeit noch stärker geworden? Aus irgendeinem Grund fachte das etwas in mir an, von dem ich bis gerade eben nicht mal wusste, dass es existierte. Diesen Kampf wollte ich unbedingt gewinnen.
 

Kämpfen!
 

Der Gedanke zu kämpfen überflutete schnell die leeren Gänge, bis nichts mehr von dem Labyrinth zu sehen war. Jegliche Verzweiflung konnte einfach ertränkt werden, so schwach war sie. Endlich spürte ich wieder etwas, das die Leere in mir ausfüllte. Verlor ich mich gerade wieder in dem Wunsch, stärker zu werden? Es fühlte sich ganz anders an, nicht wie damals. Im Moment wollte ich nur kämpfen, nichts anderes. Einfach nur kämpfen.

Weitere Druckwellen entstanden und unsere Schläge klangen in der Ferne sicher wie Donnerschläge. Unsere Bewegungen, nein, meine waren wild und unkontrolliert, während die von Hien den kontrollierten Gegensatz zu mir bildeten und einem Tanz glichen. Völlig blind versuchte ich ihn mit jedem Schlag einfach zu zerstören, so wie ich es zu gern mit der Verzweiflung in mir getan hätte, die dank diesem Kampf in die Ferne gerückt war.

... Moment.

Hieß das nicht, ich müsste mich wieder mit diesem schrecklichen Gefühl auseinandersetzen, sobald ich Hien besiegte? Allein die Vorstellung ließ meine Glieder schwer und meine Bewegungen träger werden. So lebendig wie jetzt fühlte ich mich schon lange nicht mehr, das wollte ich nicht verlieren. Ich wollte nicht nochmal daran denken, was ich verloren und falsch gemacht hatte. Kämpfen. War das die Antwort?

„Shin Kamikaze!“, dröhnte Hiens Stimme in meinen Kopf. „Konzentriere dich gefälligst, oder du wirst verlieren!“

Noch während diese Worte in meinem Geist verhallten, spürte ich plötzlich einen starken Druck, der von außen auf meine Brust einwirkte. Ein leises Knacken mischte sich unheilvoll in die Atmosphäre, untermalt von meinem schwerfälligen Keuchen, als kurz darauf auch der Schmerz einsetzte.

„Hör auf, so jämmerlich zu sein!“, redete mein Gegner weiter auf mich ein und schlug dabei nochmal zu.

Erneut war ein Druck gegen meine Brust zu spüren und ließ mich diesmal ein wenig zurücktaumeln. Zurückschlagen. Ich sollte zurückschlagen, aber ich konnte nicht. Meine Glieder, mein gesamter Körper, alles fühlte sich so schwer an.

Hiens Stimme brach nicht mehr ab. „Wach endlich auf, Gott!“

Das Knacken wurde lauter, als er mir noch einen Schlag verpasste und sich der Schmerz ausweitete, geradewegs zu meinem Herzen. Zu dem Kristall, der mich zu einem Gott gemacht hatte. Dem Fate Awakening Crystal.

Diesem Ding, das mein Leben gerettet und verändert hatte.

Das, was ich inzwischen mehr als alles andere verfluchte – und gleichzeitig war es das einzige, was mir geblieben war. Die letzte Erinnerung an Jupiel und Ariael.

Jupiel.

Ariael.
 

„Verschwinden ... nein, das darf nicht auch noch verschwinden.“
 

Knack! Wieder ein gezielter Hieb von Hien, der mir einen qualvollen Schrei entlockte und gleichzeitig etwas in mir entfachte, das mich endlich dazu antrieb zurückzuschlagen. Statt weiter nach hinten zu taumeln, warf ich mich nach vorne und stieß mich mit dem Körper gegen meinen Feind, doch der gab nur einen unbeeindruckten Laut von sich und hielt dem locker Stand.

„Zu schwach, so kannst du mich nicht besiegen, Kamikaze!“

„Halt den Mund!“, knurrte ich unverständlich und mit kratziger Stimme.

Mit meiner ganzen Kraft rammte ich Hien beide Fäuste seitlich gegen seinen Körper und noch während er darüber nur amüsiert schmunzelte, bildete sich glühende Hitze in meinen Handflächen. Zwei Energiekugeln, die eine blau und die andere rot. Innerhalb eines Atemzuges wuchsen sie rasend schnell heran, vermischten sich miteinander und schlossen uns beide in sich ein.

Es folgte ein ohrenbetäubender Knall, eine Explosion. Selbst durch die Panzerung meines Körpers hindurch konnte ich die Hitze spüren. Das Licht blendete mich. Violett. Eine Mischung aus Blau und Rot. Engel und Teufel.

Mir wurde schwarz vor Augen und ich versank in der Hitze, zusammen mit Hien.

Fate

„... Hey.“

Jemand sprach zu mir. Es war nicht Hien, die Stimme gehörte einem Mädchen. Sie klang ruhig, schon fast monoton, aber auch zerbrechlich und zielstrebig zugleich. Ich kannte das Mädchen, dem diese Stimme gehörte – obwohl von kennen nicht wirklich die Rede sein konnte, denn eigentlich wusste ich gar nichts über sie.

„Wie schön, du bist wieder bei Verstand“, bemerkte sie, scheinbar zufrieden. „Wir haben uns jetzt schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen, Shin.“

„Hm ...?“

Langsam öffnete ich die Augen und tauchte aus der Schwärze auf, auch die Hitze war verschwunden, dafür fühlte sich mein Körper nun angenehm leicht an. Meine Füße standen nicht mehr auf irgendwelchen Trümmerteilen einer Ruine, sondern auf einem Pfad aus blauem Kristall, der sich zu vielen weiteren aufteilte und ein Labyrinth aus Wegen bildete, die allesamt in der Luft schwebten. In einem eigenen, kleinen Universum, dem Bewusstsein von Letecia Liveradeus.

Alle Lebewesen besaßen eine eigene Welt in ihrem Geist, das hatte sie mir damals erklärt. In ihrer war ich schon einige Male gewesen, wenn ich schlief oder nicht bei Bewusstsein war. Was war geschehen? Hatte ich am Ende jetzt auch Hien getötet? Und mich selbst gleich mit?

„Nein, ihr seid noch am Leben“, antwortete sie mir, ohne dass ich diese Fragen laut aussprechen musste.

Zögerlich wandte ich mich in die Richtung, aus der ich ihre Stimme vernahm. Nur wenige Meter entfernt, auf einem anderen Kristallpfad, zwischen dem ein Abgrund ins Nichts lag, konnte ich sie entdecken. Letecia, ein Mädchen, das so aussah, als hätte man zwei verschiedene Personen miteinander verschmolzen. Eine Hälfte von ihr hatte schwarzes Haar, die andere dagegen war blond, jeweils mit einem violetten und einem blauen Auge. Auch ihre Kleidung wirkte wie eine Mischung aus zwei Stücken, schwarz und weiß. Was es mit ihr überhaupt auf sich hatte, wusste ich nicht, weil sie es bevorzugte nur in Rätseln mit mir zu sprechen und auf klare Aussagen zu verzichten.

Mit ihr hatte ich erst Kontakt, seit ich zum Gott gemacht wurde.

„Hey ...“, entgegnete ich etwas unbeholfen, wobei meine Stimme sich heiser anhörte. „Was ist passiert?“

Sie verschränkte die Arme hinter ihrem Rücken und neigte den Kopf ein wenig. „Weißt du das denn nicht mehr?“

„Doch“, antwortete ich zögernd und senkte den Kopf. „Ich hatte nur gehofft, dass vielleicht alles nur ein Traum war.“

Ich warf einen Blick auf meine Hände, die wieder menschlich aussahen. Ob es daran lag, dass ich jetzt gerade doch nur träumte oder ich es geschafft hatte, mich zurückzuverwandeln, wusste ich nicht so recht. Jedenfalls konnte ich mich nicht darüber freuen, denn mit diesen Händen hatte ich Zerstörung angerichtet, die nicht mehr gutzumachen war. Niemals. Mir wurde schlecht.

„Du musst dich nicht schuldig fühlen“, meinte Letecia, womit sie direkt auf meine Gedanken einging. „Du hast gezeigt, über wie viel Macht du verfügst. Damit kannst du zu einem der größten Götter von allen heranwachsen.“

„Was?“ Fassungslos hob ich den Kopf wieder und starrte sie an. „Meinst du das Ernst? Was soll ein Gott, der völlig den Verstand verloren hat, denn schon wert sein? Ich habe alles vernichtet, was ich hätte beschützen müssen!“

Sacht schüttelte sie den Kopf. „Es ist nicht Gottes Aufgabe, zu beschützen, sondern das Schicksal zu bestimmen. Entscheidungen zu treffen. Das hast du getan und dabei die volle Kraft deines Potenzials erweckt, was als Erfolg zu betrachten ist.“

Am liebsten hätte ich sie gepackt und durchgeschüttelt, aber momentan fühlten sich meine Beine viel zu schwach an, um dafür über den Abgrund zwischen uns springen zu können. Deshalb konnte ich nur weiter dastehen und sie anstarren. Völlig schockiert von dem, was sie mir zu vermitteln versuchte. Sollte ich etwa ernsthaft stolz auf das sein, was ich getan hatte?

„Am liebsten wäre ich gestorben, wenn das all die Opfer verhindert hätte, die ich verursacht habe!“, schrie ich ihr aus heiserer Kehle entgegen, da ich sie nicht durchschütteln konnte. „So ein Schicksal wollte ich nicht heraufbeschwören! Ich wollte die beschützen, die mir wichtig sind und meinem Leben so einen Sinn geben!“

„Dein Leben hat doch noch einen Sinn“, wandte sie ein.

Wozu gab ich mir Mühe? Offenbar verstand sie nicht, warum ich so verzweifelt war. Was sollte ich denn jetzt noch für einen Sinn im Leben haben? Als Gott der Engel hatte ich versagt, alle von ihnen waren tot. Wessen Schicksal sollte ich da bestimmen? Diese Aufgabe wollte ich nicht mehr übernehmen, selbst wenn noch jemand leben würde.

„Du musst aber noch dein eigenes Schicksal erfüllen“, sprach Letecia weiter und wippte leicht auf ihren Füßen hin und her. „Hab keine Angst, ich helfe dir dabei, Shin.“

Mir entglitt ein schweres Seufzen. „Ich brauche keine Hilfe ... die anderen hätten Hilfe gebraucht. Einen richtigen Gott, nicht jemanden wie mich.“

Letecia gab einen nachdenklich Laut von sich. „Also wärst du nicht mehr verzweifelt, wenn noch jemand da wäre, den du beschützen kannst?“

„Ich ... ich weiß nicht.“

Hätte ich eine zweite Chance verdient? Letztendlich konnte ich doch nur wieder versagen, so wie all die Male davor. Der Kristall war an mir vollkommen verschwendet, Ariael. Instinktiv legte ich mir eine Hand auf die Brust, als ich an sie dachte. Bestimmt wäre sie empört darüber, dass ich so schwach war und aufgab. Was sollte ich tun?

„In Ordnung, ich kümmere mich darum“, sagte Letecia auf einmal, was mich irritierte.

„Wie meinst du das? Um was willst du dich kümmern?“

„Darum, dass dein Schicksal weiter seinen Lauf nehmen kann.“ Sie schloss die Augen. „Vergiss nicht, Shin, als Gott findet man für alles einen Weg. Also kämpfe weiter. Für dein Schicksal und das Schicksal aller anderen.“

„Bitte, gib mir doch einfach mal eine Antwort, mit der ich auch etwas anfangen kann“, bat ich sie, doch vergeblich.

Ihr Bewusstsein wurde von einem grellen Licht überflutet, das mich packte und von diesem Ort verbannen wollte. In meinem Kopf hörte ich nur noch, wie Letecia sich verabschiedete und mein Körper seine Leichtigkeit verlor, stattdessen kehrte ein stechender Schmerz in meiner Brust zurück und weckte mich auf.

Ich musste husten, als ich eine Menge Staub einatmete. Mein Körper zitterte vor Schmerzen und ich konnte mich kaum bewegen, dennoch gelang es mir irgendwie mich aufzurichten, wofür ich viel Mühe aufbringen musste. Vor meinen Augen erstreckte sich wieder die Ruine aus Trümmern von Celestia, verschleiert von einer Nebelwand aus Staub. Also war ich tatsächlich zurück in der Wirklichkeit – es war bittere Realität, kein Traum.

Schnell bemerkte ich auch, dass mein Körper noch menschlich war, keine monströse, unkontrollierbare Gestalt mehr. Darüber sollte ich mich spätestens jetzt wohl freuen, aber es tröstete mich kein bisschen, solange man die Opfer nicht mehr ungeschehen machen konnte. Ariael würde mir mit Sicherheit Nudelsuppe ins Gesicht schütten und mir sagen, dass ich mich nicht so anstellen sollte, immerhin waren andere gestorben und nicht ich.

„Das wurde ja auch Zeit“, ertönte eine Stimme in meiner Nähe. „Wieder unter den Lebenden, Shin Kamikaze?“

Erschöpfte blickte ich über die Schulter und sah Hien, der ebenfalls in seine menschliche Form zurückgekehrt war. Mit verschränkten Armen stand er auf einer erhöhten Position zwischen den Trümmerteilen und musterte mich aufmerksam. Seine Haare waren zerzaust und er sah mitgenommen aus, vermutlich hing das mit unserem Kampf zusammen, den wir beide überlebt hatten. Irgendwie.

„Ich muss sagen, dass ich beeindruckt von dem Ausmaß deiner Kräfte bin“, gestand er mir offen. „Nur nützt dir das nichts, wenn du nicht weißt, wie man sie richtig nutzt.“

Erst Letecia und nun auch noch er. Warum sprachen sie alle nur davon, wie mächtig ich doch wäre? Sollte mir nicht mal jemand Vorwürfe machen? Oder war ich hier der einzige, dem bewusst war, was er angerichtet hatte, obwohl ich Menschen nicht mal besonders mochte? Hien ging es aber offenbar wahrlich nur um das eine: Kämpfen.

„Lass mich in Ruhe“, murmelte ich leise, zwischen den Hustenanfällen. „Such dir deine würdigen Gegner woanders. Du siehst doch, dass ich zu nichts zu gebrauchen bin.“

Diese Worte unterstrich ich, indem ich mit einer ausholenden Handbewegung auf die zerstörte Umgebung hinwies. Das ließ Hien aber völlig kalt, was zu erwarten war. Als Gott der Teufel war man an Zerstörung und Tod wohl schon so sehr gewohnt, dass es zum Alltag dazugehörte, was auch seine folgende Aussage nur bestätigte.

„Na und? Glaubst du es wird alles besser, nur weil du deswegen jetzt verzweifelst?“

„Hör auf über mich zu urteilen, wenn du das nicht verstehst.“ Bedrückt wandte ich den Blick ab. „Wie gesagt, ich bin kein würdiger Gegner für dich. Was willst du also noch von mir?“

Wollte Hien mich töten? Nur zu, ich würde mich nicht wehren, damit täte er mir sogar einen Gefallen, da ich für Selbstmord nicht geschaffen war. Für mich gab es nichts mehr. Keine Aufgabe, keinen Grund und auch kein Schicksal, das ich erfüllen müsste. Niemanden würde es kümmern, wenn ich verschwand. Nicht mal mehr Eri, die tot war.

Nach einer Weile, in der Hien geschwiegen hatte, sagte er auf einmal etwas, das mich hellhörig machte. „Wenn man verzweifelt ist und es nichts mehr gibt, was einen am Leben hält, kann man nur eins tun: Kämpfen.“

Etwas an der Art, wie er das sagte, war anders. Nicht mehr so stolz und selbstsicher, sondern eher verständnisvoll. Ich traute mich nicht, meinen Blick nochmal in seine Richtung zu lenken, aus Angst, mich sonst doch nur zu irren. Daher sah ich ziellos in die Ferne vor mir und hörte mir weiter an, was Hien zu sagen hatte.

„Kämpfe, so lange und mit aller Kraft, bis du dir selbst wieder in die Augen schauen kannst. Damit du deinen Verstand nicht verlierst, dir ein Ziel bewahrst, und so irgendwann vielleicht einen Weg findest, der dir das gibt, wonach du suchst. Dann, eines Tages, kann auch für dich vielleicht alles wieder besser werden.“

Dazu sagte ich nichts, aber ich glaubte, deutlich spüren zu können, dass Hien hier etwas Persönliches von sich preisgab, obwohl er das vermutlich nicht mal wollte. Ob ihm auch einst etwas geschehen war, wegen dem er sich so schrecklich nutzlos und schuldig gefühlt hatte wie ich? War er deswegen zu mir gekommen, weil er so etwas wie Mitleid empfand?

„Also kämpfe, Shin Kamikaze“, fuhr Hien mit fester Stimme fort. „Statt dich nur schuldig zu fühlen, tue lieber etwas, weil du es dir selbst und anderen schuldig bist.“

Daraufhin waren Schritte zu hören, die nach und nach leiser wurden, bis sie verstummten. Hien war gegangen, ohne dass ich noch ein Wort an ihn richten konnte. Mir wäre auch nicht eingefallen, was ich zu ihm sagen sollte. Danke? Dafür war ich noch zu durcheinander und betroffen von den Ereignissen.

Kämpfen. Sollte das die Antwort auf meine Probleme sein?

„Es wäre ein Weg ...“, hörte ich mich selbst sagen. „Zu einer möglichen Antwort.“

Auf jeden Fall war es Hien mit einem Kampf gelungen, mich aus meinem Wahnsinn zu befreien. Statt mich der Verzweiflung weiter hinzugeben, hatte ich mich mehr auf das Kämpfen konzentriert und mich kurze Zeit besser gefühlt. So sah also die Lebensweise von Hien aus. Wie lange existierte er schon auf diese Weise? Ihm schien es zu helfen. Warum nicht auch mir?

„Mit einer Sache hat er recht: Ich bin es den anderen schuldig, es wenigstens zu versuchen.“

Am Anfang dürfte es schwer werden. Jetzt war ich alleine und hatte niemanden mehr, der mich unterstützte oder aufbaute, wenn es mir nach einer Fehlentscheidung schlecht ging. Mit dem Kristall in der Brust war ich aber immer noch ein Gott und sobald ich aufgab, war wirklich alles verloren.

Ich sollte es versuchen.

Versuchen, einen Sinn in meinem Leben zu finden, indem ich dafür kämpfte.

So lange, bis ich ein Ziel fand – oder es mich am Ende doch noch umbrachte.

Also versuchte ich aufzustehen, sackte jedoch kraftlos in mich zusammen und wollte tief durchatmen, was mich nur nochmal schwer husten ließ. „Nützt nichts, erst muss ich mich ausruhen ...“

Währenddessen könnte ich überlegen, wohin ich gehen sollte. In diesen Ruinen konnte ich nicht bleiben, besonders falls hier noch einmal Teufel auftauchen sollten, um die Gegend auszukundschaften. Nicht alle waren so wie Hien, der einzig und allein seinen eigenen Weg ging. Kaum zu glauben, dass er mir geholfen hatte. Womöglich steckte aber auch irgendein hinterhältiger Plan dahinter.

Egal, mehr außer mich konnten die Teufel nicht mehr zerstören und ich wollte versuchen mich zu wehren, damit sie es zum Schluss nicht doch zu leicht hatten. Müde legte ich mich zurück auf den harten Untergrund und schloss die Augen, eine Hand ruhte dabei auf meiner Brust, damit ich die Wärme des Kristalls spüren konnte.

Es tut mir so leid, Jupiel. Ariael, dachte ich. Ich werde mich bemühen, meinen Weg zu finden. Versprochen.
 

***
 

Es gab viele Dinge, über die Shin noch nicht Bescheid wusste. Zum Beispiel darüber, dass es nicht nur ein einziges Celestia gab. Die Engel verfügten über mehrere solcher Hauptquartiere, die unbemerkt dank ihrer speziellen Tarnung ihre Bahnen am Himmel zogen. Sie trafen nur nicht oft aufeinander, waren in Notfällen jedoch füreinander da.

Solange er durchhielt, fand er sicher einen neuen Platz und vielleicht traf er dort dann auch die Personen wieder, von denen er glaubte, sie seien tot. Solange Jupiel und Ariael nötig waren, um sein Schicksal zu erfüllen, von dem Letecia gesprochen hatte, gab es Hoffnung, dass sie irgendwo, irgendwie noch lebten. Erst recht wenn er dafür kämpfte.



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Kommentare zu dieser Fanfic (2)

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Von:  Flordelis
2016-06-10T15:18:01+00:00 10.06.2016 17:18
So, Kapitel 2~. <3

Letecias Bewusstsein ist so wunderschön. Es wundert mich heute noch, dass sie so böse sein konnte. D:
Aber die Monster in ihrem ersten Dungeon waren auch super-heavy. Hab den damals immer zum Leveln genutzt, weil allein die Drachen dir schon 120 EXP gaben. XD
[/Anekdote]

> Letecia, ein Mädchen, das so aussah, als hätte man zwei verschiedene Personen miteinander verschmolzen.
Und deswegen ist sie ultra-cool! X3
Ich mochte ihr Design immer total. Aber es war schon heftig, was ihre Hintergrundgeschichte anging und dass sie dann am Ende den Antagonisten bildete. Hatte eigentlich immer gehofft, Hien wäre der letzte Feind ... oder Phyllis, damit die endlich abkratzt. =_=

> Was soll ein Gott, der völlig den Verstand verloren hat, denn schon wert sein?
Ladon: Mir fallen da viele Dinge ein, die man in diesem Zustand als Gott machen kann. =D
Russel: Also gibst du es zu?
Ladon: Nein. Aber ich weiß trotzdem viele Dinge. =D
Russel: =_=

Ich frage mich ja, ob Letecia schon früher immer so un-emotional war oder ob das erst mit der Zeit oder durch ihre Umwandlung geschehen war. Aber ich mochte das irgendwie an ihr. Liegt vielleicht aber auch daran, dass ich das im Großen und Ganzen eben mag, wenn kleine Mädchen in Anime/Spielen so sind. XD
Und ich mochte ja auch ihr Design~.
Ich hätte es daher besser gefunden, wäre sie "wirklich" Gott gewesen, aber das wäre dann wahrscheinlich zu sehr in die religiöse Schiene rein.

> „Bitte, gib mir doch einfach mal eine Antwort, mit der ich auch etwas anfangen kann“
Alo (als Letecia): Ich bin doch klar und deutlich, deswegen verstehe ich dein Problem nicht.
Kieran: Also ich kann ihn da gut verstehen. =_=
Alo: ;b

> Ariael würde mir mit Sicherheit Nudelsuppe ins Gesicht schütten
Ich frage mich immer, ob das nicht furchtbar schmerzhaft gewesen sein muss. >_<
Aber dann denke ich auch immer an den Caramel-Ramen und mir wird schlecht und ich muss das Thema wechseln. :,D
Aber ich fand es so süß, dass Ariael so auf Ramen abfuhr. <3

> Mit verschränkten Armen stand er auf einer erhöhten Position
Ein Hien Inugami sitzt nie! NIE! X3

> Seine Haare waren zerzaust
Ich will sie bürsten. *o*

Hien tut mir trotzdem leid. Wie lange muss er wohl noch kämpfen, bis er wieder friedlich und trotzdem zufrieden sein kann? :<

Ich hoffe ja mal, dass Shin andere Celestias findet und dass dort alles wieder gut wird für ihn. >_<
Go, Shin! X3

Also, ich mochte diese kleine Geschichte. Die hat selbst dem Bad End noch ein wenig was Gutes verliehen und dein Stil war wie üblich schön, fließend und eigentlich immerzu passend. Es ist immer schön, etwas von dir zu lesen, besonders zu einem so seltenen Fandom wie diesem.
Danke dir dafür. <3
Von:  Flordelis
2016-06-10T14:59:13+00:00 10.06.2016 16:59
Ich habe gerade durch Zufall den perf- ... idealen OC für TAFU gefunden und bin deswegen ganz mild geflasht - und deswegen dachte ich, dass ich mal diese FF endlich kommentieren könnte. >_<
Und darum bin ich jetzt hier~. (Yay, gleichzeitig aufarbeiten, dass ich noch viele Kommentare bei dir schreiben kann.)
Ich weiß schon gar nicht mehr, ob ich Worte über die Aufmachung deiner FFs verlieren muss, denn sie sind immer awesome. <3

> die Überhand
Oh, hab gar nicht gewusst, dass man das auch benutzen kann. Normalerweise heißt es ja "Oberhand", aber eine kurze Suche hat gezeigt, dass man auch Überhand sagen kann, wenngleich es wesentlich seltener vorkommt.

Ich war damals von dem "Ende" ja voll erschrocken. Damit hatte ich nämlich absolut nicht gerechnet, deswegen war ich aber auch voll "Wutt?", weil ich es echt eigenartig fand, dass das plötzlich passierte.
Aber schön, dass es dich zumindest zu einer FF animiert hat. <3

Du schreibst aus der Ich-Perspektive, jaaaaa~. Q_Q
*an der FF kleb*

> Er wanderte hin und wieder durch das Labyrinth der Hoffnungslosigkeit, aus dem meine Gedanken niemals mehr entkommen konnten. Meine Seele existierte nur noch als ein endloses Geflecht aus Wegen und ich war dazu verdammt, auf ewig in diesen kahlen Gängen herumzuirren.
Alter, das ist SO DAMN AWESOME
Beste Metaphern-Nutzung ever! Alle anderen können einpacken! X3
Nein, im Ernst, erst einmal ist die Metapher an sich schon großartig und dann ist da natürlich noch die Anlehnung an das Spiel, die es noch großartiger macht.

> als gäbe es unsichtbaren Ketten
Das ist auch so toll. >_<

Shins Verzweiflung kommt hier wirklich wahnsinnig gut rüber. Das ist einerseits großartig, andererseits aber auch traurig, wenn man bedenkt, dass es möglicherweise aus eigener Erfahrung herrührt.
*an dich flausch*

Hach, Hien. *_________*
*mich auf seine Schulter schleich*
Er ist so awesome und du schaffst ihn so IC. <3

Owww, Shin liebt diesen Kristall. :<
Aber klar, es ist auch seine letzte Erinnerung an die beiden Frauen, mit denen er einmal dadurch verbunden gewesen ist. >_<

> Mir wurde schwarz vor Augen und ich versank in der Hitze, zusammen mit Hien.
Faren: Oho~, sieh an, sieh an. >:3
Kieran: Nicht alles hat immer damit zu tun. =_=
Faren: Dann sollte sich nicht alles so lesen. ù_û
Kieran: *facepalm*


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