Sterben und Leben lassen von KradNibeid ================================================================================ Kapitel 1: Das Grab ------------------- Behutsam nahm Bryan den Pflanztopf in die Hand, packte das Veilchen an den Blättern und entfernte mit einer drehenden Bewegung den Plastikbehälter. Konzentriert setzte er die Blume in das Loch, das er für sie gestochen hatte, nahm etwas Erde auf und füllte den Rest der kleinen Kuhle, bevor er alles mit sanften Bewegungen festdrückte. Er lehnte sich zurück und betrachtete zufrieden sein Werk: Dort, wo vorher nur kahles, steiniges Erdreich zu sehen gewesen war, standen nun zwölf Veilchen ordentlich aneinandergereiht. Ihre blauvioletten Blüten nickten leicht in der sanften Brise, die über den Friedhof wehte, und schienen seine Arbeit ebenfalls gut zu heißen. Seine Nase juckte, und er rieb sich mit dem Ärmel über das Gesicht, bemüht, nicht zu viel Schmutz auf seine Haut zu bringen; dann stand er auf und streckte sich mit knackenden Wirbeln. Die letzte Woche hatte er damit verbracht, das alte Grab abzuräumen, Unkraut zu jäten, dörre Wurzeln auszugraben – natürlich nur in den obersten Erdschichten – und den Boden mit frischer Pflanzerde zu vermischen. Den neuen Bepflanzungsplan hatte er bereits in den Tagen davor skizziert, und heute hatte er endlich damit anfangen können, neue Blumen zu setzen. Bisher hatte er nur den vorderen Teil der Grabfläche bestückt, doch er konnte sich schon ausmalen, wie sie am Abend aussehen würde, und mit einem bestimmten Nicken kniete er sich hinter den Veilchen auf die Erde, um in der Grabmitte neue Mulden auszustechen; hier wollte er die Gänseblümchen hinsetzen, deren kräftiges Magenta im Licht der Sonne strahlte. Direkt vor dem Grabstein hatte er bereits zwei runde Marmorplatten in schwarz und weiß verlegt, um Platz für Vasen und Gestecke zu schaffen. Der Grabstein selbst bestand aus grauem Marmor, und seine rechteckige Form endete am oberen Ende in den Konturen eines einmastigen Segelschiffes. Reste eines Reliefs, das einmal wunderschön gewesen sein musste, zogen sich über den Stein, und ließen nur in der Mitte eine kleine Fläche frei, auf der ein Name eingraviert war, der nicht mehr entziffert werden konnte; vereinzelt hing noch etwas Blattgold in den Kerben, die einst Buchstaben gewesen waren. Eine ältere Dame kam auf dem geschotterten Weg an ihm vorbei, gestützt auf einen alten Gehstock. Sie blieb stehen, als sie ihn sah, und musterte mit einem beglückten Lächeln die Blumen, die um das Grab verteilt standen, bereit, eingepflanzt zu werden. „Das ist aber schön, einen so jungen Mann bei der Grabpflege zu sehen; das hat man heute ja selten, dass die jungen Leute noch so etwas machen.“ Bryan würdigte sie keines Blickes und gab auch sonst keinen Hinweis darauf, ob er die Frau bemerkt oder ihr zugehört hatte, doch sie störte sich nicht daran und redete munter weiter. „Ich komme ja jeden Samstag hierher, um meinen Mann zu besuchen, aber die Knochen machen eben nicht mehr mit, deshalb habe ich inzwischen einen Gärtner, der mir das Grab macht.“ Schweigend griff Bryan nach der Kiste, in der die Gänseblümchen in ihren Töpfen standen, und begann damit, sie in die Löcher zu setzen. „Aber gut, ich möchte Sie nicht weiter aufhalten. Ich wünsche gutes Gelingen, einen schönen Tag noch!“ Mit einem freundlichen Winken, das dezent ignoriert wurde, ging die Dame weiter den Weg entlang, und unmerklich entspannten sich Bryans Schultern unter dem alten Hemd, das er sich für die Arbeit angezogen hatte. Er hasste Menschen, er hasste Konversation, er hasste es, über belanglose Dinge zu reden, und deshalb hasste er es auch, am Tag unterwegs zu sein; früher oder später war man während dieser Zeit immer dazu gezwungen, Menschen zu begegnen und mit ihnen zu interagieren. Nachts dagegen hatte er seine Ruhe. Nachts war die Welt still und erlaubte es ihm, seine Umwelt mit allen Sinnen wahrzunehmen, anstatt nur an ihr vorbei zu rauschen und im Lärm der Menschen zu ertauben. Deshalb war er inzwischen auch fast nur noch nachts unterwegs, oder wenn das Wetter so furchtbar war, dass kein normaler Mensch auf die Idee käme, vor die Tür zu gehen; und er genoss es, bei den langgezogenen Spaziergängen, die er bei diesen Gelegenheiten unternahm, alleine zu sein. Aus diesem Grund war er schließlich auch vor einigen Monaten auf dem Friedhof gelandet. Sicher, der verschlafene Ort, in dem man sie, die Demolitionboys, zu ihrer eigenen Sicherheit untergebracht hatte, war nachts meistens ausgestorben – und trotzdem kamen ihm ein ums andere Mal andere Nachteulen entgegen, oder Betrunkene, die nach Hause torkelten und für seinen Geschmack viel zu viel Lärm machten. Doch auf dem Friedhof war er allein. Sobald die Dunkelheit hereingebrochen und die Friedhofstore geschlossen waren kletterte er an einer verborgenen Stelle über die Mauer und konnte endlich aufatmen. Inzwischen kannte er jedes Grab, jeden Baum, jede Bank in der geschützten Anlage auswendig. Viele der Denkmäler waren gepflegt und gut in Schuss gehalten, doch einige wenige schienen verwildert und verwahrlost – und dasjenige, das er an diesem Tag neu bepflanzte, war besonders heruntergekommen. Irgendetwas an diesem Grab hatte ihn berührt, auch wenn er nicht genau sagen konnte, was. Vielleicht war es die Tatsache, dass man trotz der starken Verwitterung noch sehen konnte, dass es einmal ein prächtiges Denkmal gewesen sein musste, dass hier jemand liegen musste, der offensichtlich etwas bedeutet und Geld besessen hatte – und dass es dennoch schon seit Jahren niemanden mehr gab, dem diese Person genug bedeutete, um ein paar Quadratmeter Erde in Schuss zu halten. Als diese Erkenntnis ihn vor Wochen eingeholt hatte, hatte er Mitleid empfunden für diesen Menschen, der niemanden mehr hatte. Und so hatte Bryan beschlossen, sich um das Grab zu kümmern. Am liebsten hätte er alle notwendigen Arbeiten nachts durchgeführt, doch in der Nacht wäre es zu auffällig gewesen, das Grab zu bepflanzen, und er wollte nicht riskieren, wegen einer Lächerlichkeit wie Vandalismus aufgegriffen zu werden. Die Bewährungsauflagen, an die er sich seit dem Fall der Biovolt halten musste, waren streng, und es war schon gefährlich genug, dass er sich überhaupt um das Grab kümmerte – denn immerhin hatte er keine Ahnung, wer hier eigentlich lag. Es war ihm selbst nicht ganz klar, warum er sich diese Arbeit machte, das alte Grab wieder herzurichten; es wäre bequemer gewesen, den überwucherten Stein und die verwilderten Pflanzen weiterhin zu ignorieren auf seinen nächtlichen Spaziergängen. Auch Tala hatte ihn mit einem skeptischen Blick bedacht, als er ihm von seinen Plänen erzählt hatte, das Grab neu zu bepflanzen, aber nichts weiter dazu gesagt. Stattdessen hatte er ihn dabei unterstützt, die passenden, traditionellen Pflanzen für die Neubepflanzung herauszusuchen und die richtige Behandlung eines verwilderten Stück Gartens zu recherchieren. So viel Aufwand für einen Toten, den er weder kannte noch vermisste. Und trotzdem fühlte er sich verantwortlich. Das letzte Gänseblümchen war gepflanzt, und Bryan klopfte sich die Erde von den Knien, als er sich aufsetzte. Unauffällig sah er sich auf der Friedhofsfläche um, konnte jedoch keine weiteren Menschen in seiner Nähe entdecken und ließ beruhigt die Schultern kreisen. Wieder kniete sich Bryan hin, um die noch freie Bodenfläche mit Vergissmeinnicht zu füllen. Eine kräftige Bö wehte über den Friedhof hinweg, und nachdenklich schweifte sein Blick in die Kronen der alten Trauereschen, deren Laub im Wind rauschte. Es war ein wunderschöner Frühlingstag, doch er sehnte sich danach, wenn endlich der Abend käme, und wenn mit der Nacht auch endlich die Ruhe wieder einkehren würde. Nach einiger Zeit hatte er schließlich alle Blumen verpflanzt und seine Werkzeuge und die Kisten zusammengeräumt. Stolz erfüllte ihn, als er die vielen Blüten in zartem Violett und kräftigem Magenta betrachtete, die sanft in der Brise schaukelten. Das hatte er geschaffen, ganz alleine, für einen anderen Menschen. Er fühlte sich gut. Schweigend zog er sein Handy aus der Tasche und schickte Tala eine Nachricht, dass er ihn mit dem Auto am Friedhof abholten konnte; dann ging er mit knirschenden Schritten den geschotterten Weg zum Haupttor entlang und wich den anderen Friedhofsbesuchern aus, so gut es ging. Bryan musste nicht lange auf dem Parkplatz warten, bis Tala vorfuhr. Stumm verstauten sie die Geräte im Kofferraum des dunklen Kombis, dann verschlossen sie das Auto und gingen gemeinsam in den Friedhof, zum frisch bepflanzten Grab. Anerkennend nickte Tala, als er sich die Blumen betrachtete, und auf seinem Gesicht erschien die Spur eines Lächelns. Es ist wunderschön geworden. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)