Deepest Dark von Flordelis (Miracle II) ================================================================================ Kapitel V – Sterben ist gar nicht so schlimm -------------------------------------------- „Fuck!“ Faren war die ganze Heimfahrt über damit beschäftigt, zu fluchen. Da er nun allein fuhr, gab es auch niemanden, der sich daran stören könnte, dass er das tat. Außerdem hatte er, nur um sicherzugehen, die Musik aufgedreht. Die Bässe dröhnten in seinen Ohren, vibrierten durch seinen Körper und ließen sicher den ein oder anderen Bewohner der Häuser, an denen er vorüberfuhr, aus dem Schlaf erwachen. Darum kümmerte er sich aber auch nicht. Warum sollte er auch? Es gab wichtigere Dinge, auf die er sich im Moment konzentrieren musste, wie etwa seinen Zorn. Warum genau er so wütend war, wusste er dabei nicht. Zuerst glaubte er, dass es einfach daran lag, dass Kieran ihn nicht ernstnahm, ja, er bezweifelte sogar, dass Faren ein schlechtes Leben führen könnte. Sicher, das war gleichzeitig ein großes Kompliment an seine Fähigkeit, eine Maske aufzusetzen und sich nichts von dem anmerken zu lassen, was ihn immer noch heimsuchte. Aber es war eben auch ein Geständnis von Kieran, dass er Faren niemals als ebenbürtig betrachten könnte. Doch je länger er darüber nachdachte, desto klarer wurde ihm, dass sein eigentliches Problem darin lag, dass er es gerade geschafft zu haben glaubte, Kieran einigermaßen zu knacken und ihn dann mit dieser Geschichte glattweg wieder verscheucht hatte. Ihm lag etwas an dem anderen, nicht nur weil er ein Jäger und damit indirekt eine Bestätigung für seine Ängste und eine neue Hoffnung war, nein, da war noch mehr. Bis vor kurzem war Kieran für ihn einfach nur ein langweiliger Eigenbrötler gewesen, der jeden anderen auf Abstand zu halten versuchte und auf Berührungen geradewegs allergisch und teilweise sogar mit Gewalt reagierte. Doch seit jener Nacht, in der es ihm möglich gewesen war, Kieran beim Kampf gegen einen wahrhaftigen Dämon zu beobachten, war er interessant geworden – und das eben nicht nur als Kämpfer, sondern auch wegen vielen anderen Gründen. Er redete nicht viel, das stimmte immer noch, und Kieran war auch der Überzeugung, dass er absolut nichts von sich preisgab. Dabei war seine Körpersprache, der er sich offensichtlich nicht bewusst war, so überaus vielsagend, dass Faren ihn inzwischen genau zu kennen glaubte. Und vielleicht war es dieser Glaube, der ihm die Illusion vorgegaukelt hatte, dass auch Kieran ihn so kennen müsste, obwohl dieser eigentlich nicht dazu neigte, Menschen zu beobachten und dementsprechend einschätzen zu können. Nur weil jemand gut darin war, Dämonen einzuschätzen, um ihn sie möglichst effektiv zu bekämpfen, bedeutete das nicht, dass sich das auch auf Menschen umsetzen ließ. Kieran kannte Faren nicht im Mindesten und hatte immer an seinen Vorurteilen ihm gegenüber festgehalten. Genau das hatte der andere erkannt und deswegen war er, vermutlich aus Scham, wenn er ihn richtig einschätzte, geflohen. Ihn zu schützen war in dieser Instanz nur ein Vorwand für Kieran gewesen, sich schnell aus der Affäre zu ziehen – aber womöglich glaubte er auch noch selbst daran, um sich den anderen Grund nicht eingestehen zu müssen. Faren verzog sein Gesicht. Wann immer er all diese Gedanken spann, fiel ihm nur wieder auf, wie viel Zeit er auf der Straße verbracht hatte. Dort war es überlebenswichtig gewesen, Menschen innerhalb kürzester Zeit einschätzen zu können. Verschwendete man nur seine Zeit oder konnte man etwas Geld oder sogar Lebensmittel schnorren? War der angebliche Drogendealer wirklich ein solcher oder doch nur ein Polizist in Zivil? War der nette Kerl, der oft mit einem ins Plaudern kam vielleicht nur ein Freund seines Vaters, der für diesen spionieren sollte? Mit der Zeit hatte Faren einen sechsten Sinn dafür entwickelt, wann einer Person zu vertrauen war und wann nicht. Lediglich Kieran war ihm früher aufgrund seiner Auffälligkeit immer wieder durch die engen Maschen geschlüpft. Inzwischen hatte er ihn durchschaut, erkannt was für ein guter und aufregender Mensch war und hatte eigentlich nichts anderes wollen, als für diesen dasselbe zu sein, damit sie sich ebenbürtig sein könnten – und dann vermasselte er es wegen eines Dämons durch diese Erzählung. Er müsste am nächsten Tag unbedingt mit Kieran noch einmal in Ruhe darüber sprechen. Vielleicht könnte er diese Situation doch noch retten. So tief wie er in Gedanken versunken war, fuhr er vollkommen automatisch – weswegen er die Gestalt auf der Straße erst bemerkte, als sie von seinen Scheinwerfern erfasst wurde. Erschrocken riss er das Steuer herum und trat gleichzeitig auf die Bremse. Mit einem lauten Quietschen schlitterte das Auto zur Seite, zog an der Gestalt vorbei und kam schließlich, ohne jede Kollision, zum Stehen. Faren hielt weiter das Lenkrad umklammert, atmete tief durch, wies sein wie wild schlagendes Herz an, sich zu beruhigen. Die einzige Geräuschquelle war weiterhin seine Musik, die ohne das Dröhnen des Motors plötzlich noch wesentlich lauter zu sein schien und sogar seine Haut zum Vibrieren brachte. Er drehte die Musik ein wenig leiser, als das Kreischen des Sängers einsetzte – und erinnerte sich wieder an die Gestalt. „Oh, fuck ...“ Hastig warf er einen Blick über seine Schulter und entdeckte die Person immer noch auf der Straße stehen. Sie war vollkommen in Schwarz gekleidet, ein Umhang verhüllte ihren Körper, aber immerhin war sie nicht getroffen worden und konnte noch stehen. Dennoch musste er sichergehen, dass es ihr wirklich gut ging. Ein rhythmisches Piepsen erinnerte ihn, kaum hatte er die Fahrertür geöffnet, daran, dass das Licht immer noch an war, aber das interessierte ihn gerade nicht. Mit großen Schritten lief er zu der Gestalt hinüber. „Ist alles okay? Sind Sie verletzt?“ Es erfolgte keine Reaktion, was Farens Frustration des Abends nur ein wenig in die Höhe beförderte. „Was machen Sie denn auch mitten in der Nacht auf der Straße? Das ist echt gefährlich.“ Selbst wenn man in einer so verlassenen Gegend herumstand, in der um diese Zeit sonst niemand mehr unterwegs war. Da immer noch keine Reaktion folgte, schwand Farens Geduld allmählich. „Hey, Mann, bist du Teil einer Sekte oder sowas? Ich hab da echt keinen Nerv dafür.“ Wäre dies ein Horrorfilm und er der Zuschauer, hätte er dem Protagonisten nun geraten, schnellstens in sein Auto zu steigen und die Flucht zu ergreifen. Dummerweise war dies das wahre Leben und er war genervt und zunehmend frustriert, weswegen ihm dieser Gedanke im Moment vollkommen fremd blieb. Er griff nach der Schulter seines Gegenübers. „Das ist jetzt nicht mehr lustig.“ Im selben Moment, in dem seine Hand Kontakt mit dem anderen fand, hob dieser seine eigene und packte damit blitzschnell Farens Unterarm. Erschrocken wollte er zurückweichen, sich losreißen, doch etwas anderes hielt ihn wie elektrisiert an seinem Platz. Vor seinem inneren Auge sah er wieder Lucasta vor sich, doch ihm blieb nur genug Zeit, um sie zu erkennen, dann wurde sie von einem Dämon zu Boden gerissen. Die kräftigen Kiefer schlossen sich um sie, zermalmten mühelos ihre Knochen, das Knirschen fuhr ihm durch Mark und Bein. Während er das untätig beobachten musste, unfähig, einfach die Augen zu schließen, spürte er wieder die Schläge seines Vaters. Er fühlte, wie seine eigenen Knochen brachen, wie seine Glieder taub vor Schmerz wurden, wie ihm das Atmen schwerfiel. Und inmitten all dieser Erinnerungen, die auf ihn einströmten, hörte er plötzlich eine ihm unbekannte Stimme. Eine, die voller Mitleid zu sein versuchte und eigentlich doch vor Hinterlist triefte: „Wäre es nicht besser, gar nicht zu existieren?“ Er wollte sofort vehement widersprechen, aber ihm fehlte die Kraft dafür. Die Schmerzen und Lucastas spritzendes Blut nahmen ihm jede Fähigkeit zu handeln oder auch nur an etwas Positives zu denken. „Sterben ist gar nicht so schlimm“, fuhr die Stimme einschmeichelnd fort. „Man hört einfach nur auf zu existieren.“ Da war etwas Wahres daran. Jeder Mensch stirbt einmal, das wusste Faren natürlich. Also warum, fuhr ihm durch den Kopf, diesen Moment nicht einfach selbst in die Hand nehmen und vorziehen zu einem Zeitpunkt, der einem besser gefiel? Und wann könnte dieser Zeitpunkt besser sein, als am nächsten Tag? Aber dann wäre Kieran wieder ganz allein unterwegs, ohne jemanden, der ihm half. Der Gedanke an den Jäger, seinen Freund, wollte ihm wieder Optimismus einflößen, ihn davon abhalten, auch nur an den Tod zu denken, ungeachtet dessen, was er hier vor sich sah und spüren konnte. „Er wird auch sterben“, erwiderte die Stimme, beinahe hasserfüllt. „Er hat dich allein gelassen. Er nimmt dich nicht ernst. Auf ihn musst du nicht zählen.“ Richtig. Kieran wollte ihn ohnehin nicht als Freund haben. Mit Sicherheit wäre es ihm egal, wenn Faren aufhörte zu existieren. Er bedeutete ihm nichts und deswegen sollte auch Kieran ihm nichts bedeuten. Vergessen waren all seine Überlegungen von vorhin. Kieran war kein guter Mensch, er war überhaupt kein Mensch. Kieran war ein Jäger, etwas, das es gar nicht geben dürfte. Seine Existenz war wider der Natur und würde über kurz oder lang – eher kurz – auch noch enden. Aber vorher könnte er zusehen, wie Faren starb. Unwiderruflich. Vielleicht überdachte die kalte, herzlose Kreatur, die Kieran genannt wurde, ihre Meinung zu ihm dann noch einmal, auch wenn es dann bereits zu spät war. „Ja“, wiederholte er wie in Trance, „es wäre besser, zu sterben.“ Mit diesen Erinnerungen, die ihn belasteten, war leben keine Option mehr. Es wurde Zeit für ihn, loszulassen, endgültig. Die Stimme wirkte zufrieden – obwohl sie nichts mehr sagte, war das zu spüren –, die lebhaften Erinnerungen kehrten in die Tiefen seines Gedächtnisses zurück, aber nicht ohne ihn mit einem leisen Stechen zu verstehen zu geben, dass sie immer noch da waren und bei Bedarf jederzeit an die Oberfläche zurückkehren könnten. Als Faren wieder klar sehen konnte, war die Gestalt verschwunden, seine Hand wieder frei. Nichts hielt ihn mehr davon ab, wieder einzusteigen und nach Hause zu fahren. Alles in seinem Inneren war angenehm ruhig, gelassen, keine seiner Sorgen belastete ihn mehr. Wer ihn hätte sehen können, wäre über das unheimliche Lächeln auf seinem Gesicht, das so ungewöhnlich für ihn war, erstaunt gewesen. Genau wie über seine folgenden Worte: „Morgen ist ein guter Tag zum Sterben.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)