Vergiss Mein Nicht von miss-always ================================================================================ Kapitel 4: Gewissheit --------------------- ------------- „Du bist doch echt manchmal nicht richtig im Kopf, Paul.“ James Lavernes Stimme hallte gerade zu in dem kleinen Sportwagen, in dem er und Paul saßen und gen Abendsonne fuhren; es war ein schwarzer Ferrari, den James geliehen hatte; Paul saß auf dem Beifahrersitz, während James mit ihm durch die allabendlichen Straßen fuhr. Es war wie immer; mindestens einmal die Woche trafen sie sich, um mit dem Auto umherzufahren. Meistens waren es geliehene Sportwagen. James hielt sich fast nie an die Geschwindigkeiten, die innerorts herrschten. Von außerorts ganz zu schweigen einmal. „Wieso? Ich bin ein Mann, ich bin frei, ich kann tun und lassen, was ich will“, entgegnete Paul, der gerade seinen rechten Fuß über sein linkes Knie gelegt hatte und entspannt im ledernen Sitz des Wagens saß. Er trank gekühlten Eistee, den sie gerade von der Tankstelle geholt hatten. „Paul, du bist verheiratet. Penelope will Kinder mit dir. Ich dachte, das war das, was du auch immer wolltest.“, schnarrte James, während er Paul einen kurzen Seitenblick zuwarf. Paul zuckte nur mit den Achseln. „Verheiratet ja, aber was sie nicht weiß... Ich kann es halt nicht anders. Wenn eine junge hübsche Frau bei mir ankommt, kann ich doch nicht nein sagen.“ „Du kannst nein sagen, und ob. Meinetwegen gib' den Ladys was zu trinken aus, flirte mit ihnen, solange und sooft du willst; aber mach' nicht so einen Scheiß, Paul. Das geht gar nicht.“ Paul seufzte leicht genervt; er hasste das Gesprächsthema, das James mindestens einmal die Woche auf den Tisch brachte: Paul und seine Frauen. Ja, er stand dazu. Er flirtete gerne und viel, und wenn eine junge und attraktive Frau ihm gewisse Angebote machte, sagte er eben nicht immer nein. Er war doch noch recht jung. Und auf den Autotreffen, die nachts stattfanden und von denen die meisten illegal waren, waren die schönsten Frauen der Stadt. „Ich entscheide das selbst. Solange Penelope nichts weiß, geht das in Ordnung. Und sie ist doch ziemlich prüde in der Beziehung, das weißt du auch.“, murrte Paul, während er sich noch einen Schluck kühlen Eistees gönnte. „Sie war aber nicht immer so. Ihr ward früher wie die Kaninchen. Und kaum werdet ihr etwas älter, über 30, geht es bergab. Nur weil dich mal ab und zu hübsche Frauen ansprechen...“, sagte James. „Ab und zu? Oft. Ich mag das. Wer kriegt nicht gern Komplimente...“ „Ja, ich weiß auch selbst, dass du ein sehr hübscher Mann bist. Aber das ist lange noch kein Grund.“ „Aber auch kein Hindernis.“ „Paul, ich weiß von der letzten, die du hattest. Sie war nicht mal 25. Das geht nicht.“, zischte James etwas schärfer; der Ferrari bog in eine scharfe Kurve, sodass Paul etwas Eistee auf seine Jeans schwappte. „Ja und?“ „Ja und? Die sind zu jung! Du bist keine 30 mehr, du bist 37! Das sind über zehn Jahre!“ „Ach.... James, lass gut sein. Ich werd' es ja lassen.“ „Hoffentlich! Das tut dir nicht gut, und das ist auch nicht gut. Diese jungen Mädels alle... Halt dich an Penelope.“ Einen Moment lang entstand Stille zwischen den beiden; Paul starrte in die untergehende Sonne, auf die spiegelnden, immer noch warmen Straßen, die sich vor ihnen ergaben und sich zwischen Häuserblocks schlängelten. Nach einer Weile stieß er James jedoch an. „He, James. Die letzte hatte gemachte Brüste.“, zwinkerte Paul, während sein Blick James fest fixierte. James sah einen Moment lang noch streng aus, bevor er plötzlich breit grinste. „Wie groß?“, stachelte er, während er Paul kurz ansah, der nur grinsend nickte. „Mindestens ein D.“ Die beiden Männer lachten; James drückte mehr auf das Gaspedal, da eine gerade gezogene Strecke kam. „Lass uns den Wagen mal so richtig auf Touren bringen!“, schnarrte er, und Paul lachte. Der Wagen beschleunigte binnen kurzer Sekunden auf ein sehr hohes Tempo. Fast gleitend befuhr er die Straßen, sehr flüssig. Es war ziemlich viel Verkehr, trotz der etwas späteren Uhrzeit. James jedoch ließ nicht ab und schnitt manche Wagen leicht. „James, pass' auf. Da hinten ist eine Kurve.“, sagte Paul. Er fixierte die scharfe Kurve schon von weitem; die kannte er selbst durch das Fahren nur zu gut. „Ja, ja!“, grinste James, nahm jedoch nicht den Fuß vom Pedal. Paul krallte sich etwas in seinen Sitz. Langsam wurde ihm unwohl. Die Kurve kam rasend näher. Sie war keine hundert Meter mehr entfernt. „James!“ Und plötzlich, ohne jede Vorwarnung oder irgendeinen Hinweis, scherte ein Motorrad direkt vor ihnen aus. James versuchte noch scharf zu bremsen, riss das Lenkrad herum, doch zu spät: er bekam den Wagen nicht mehr unter Kontrolle. Paul sah alles wie in einem Blitzschlag; alles ging zu schnell, zu raffend, zu brutal. Der Wagen geriet urplötzlich ins Schleudern, die Bremsen quietschten laut. Paul nahm noch den Geruch von verbranntem Gummi wahr, mehr jedoch nicht. Durch das heftige Schleudern verlor er jeglichen Orientierungssinn. Wo war oben, unten, links oder rechts? Er konnte James neben sich schreien hören, und dann.... Ein mächtiger, erdbebenartiger Aufprall zerstörte die komplette Vorderseite des Autos. Paul spürte nur noch, wie er mit aller Gewalt gegen seinen Airbag prallte, der durch ein hartes Hindernis kein richtiger Airbag mehr war; dass irgendwelche Knochen in ihm brachen. Sein Kopf schlug so heftig auf, dass er innerhalb von Millisekunden das Bewusstsein verlor. Dass der Wagen gegen einen Baum mit Verkehrsschild geprallt war, bekamen die beiden Männer schon nicht mehr mit. Das nächste, was Paul in einem dichten Nebel und nur verschwommen wahrnahm, war Rauch, überall Rauch, der ihm die Luft abschnitt. Er versuchte sich zu bewegen, doch er spürte seine Beine nicht mehr. Etwas hartes zwängte ihn ein wie einen Käfig. Alles roch verbrannt, nach geschrottetem Metall; die Karosserie knarzte noch unter der Last des schlimmen Aufpralls. Paul öffnete ein Auge; mit dem anderen ging es irgendwie nicht so ganz. Neben ihm saß James noch, angeschnallt, doch der Kopf war ihm tief auf die Brust gesunken. An der zertrümmerten Frontscheibe und an den Seiten war überall Blut. Paul konnte einen Fetzen Haut an einem dicken Riss in der Scheibe erkennen. „Ja...m … James...“, röchelte er, unterbrochen von einem Schwall dunklen Blutes, das er ausspie. Seine Lunge brannte. Jedes Denken, jedes Sehen tat so weh wie sonst noch nie gefühltes im Leben. Er drehte den Kopf soweit es ging; doch es waren nur Millimeter. Dennoch sah er es genau. Triefend und dick eingehüllt in Brocken aus Blut, Haut und etwas, das verdächtig weiß schimmerte, war James' Kopf zersplittert. Ein großer Riss klaffte an der Seite des Kopfes; der Knochen, die harte Schädeldecke, schien wie aufgeknackt zu sein; wie eine Schale, aus der es nun nur noch so floss. Paul konnte sogar durch all den Rauch ein Stück von James Gehirn sehen, das durch die klaffende Wunde im Kopf herausgepresst worden war, durch den mehr als heftigen Aufprall. Paul wusste sofort, dass James tot war. Doch in diesen Sekunden konnte er einfach nichts. Er war wie betäubt und so geschockt, dass er nicht wegsehen konnte. Wie ein Irrer starrte er auf die tote Hülle seines Freundes, der vor zwei Sekunden noch lebendig gewesen war. Starrte auf den Kopf, der so widerlich verletzt war, dass er sich fragte, warum er sich nicht übergeben musste. Und obwohl er wusste, dass James tot war, keuchte er ein zweites, leises Mal seinen Namen, fast so, als würde er erwarten, dass der Mann seinen verletzten Kopf drehen würde und ihn wieder angrinsen wurde. Es verging keine Sekunde mehr, da fing er an zu schreien. Er schrie so laut und markerschütternd, dass es Passanten, die sich dem Wagen wegen der Brandgefahr wohl nicht mehr genähert hatten, es hörten. Er konnte Schritte hören, aufgeregte Stimmen, und irgendwann fühlte er Hände, die ihn mit aller Kraft aus dem Wagen zogen. Alles, was er sah, war Rauch, das zertrümmerte Auto, dass so stark beschädigt war, dass er sich wunderte, dass er dort überhaupt lebend herausgekommen war. Er war nicht fähig, sich auch nur einen Millimeter zu bewegen; alles, was er tat, war Schreien, wie am Spieß, aus den letzten Kräften, fast so, als wäre er gerade in dem Wagen gestorben und nicht James. Das Auto qualmte immer mehr; lautes Knirschen von Metall war zu hören, und die schockierten, fast gellenden Stimmen irgendwelcher Menschen. „Das Auto, es brennt leicht...“ Kleine Zungen aus Feuer schlängelten sich an der Aufprallfront des Wagens entlang. Die Passanten legten ihn weiter weg vom Wagen in einen Streifen Gras; sie deckten ihn zu, beruhigten ihn. Er bekam vieles nur so mit, als sei dies alles ein schrecklicher Albtraum, der niemals enden würde. „Decken Sie ihn zu, oh mein Gott, und wir brauchen etwas zum zuhalten...“ „Er verblutet!“ „Halten Sie den Kopf gerade, er ist schwer verletzt...“ „Schnell, machen Sie Platz!“ „Was ist mit dem anderen Mann?“ „Der ist tot, sein Kopf ist zerquetscht worden, eine Gesichtshälfte ist komplett zertrümmert....“ Und mit einem Mal gab es einen ohrenbetäubenden, lauten Knall, und unglaubliche Hitze breitete sich mit einem Mal aus. Der Wagen, brennend, zertrümmert. James.... Paul spuckte Blut, röchelte, und stöhnte, schrie und versuchte, sich frei zu kämpfen. Doch es gelang ihm nicht mal, den Kopf zu heben. Er musste irgendwo auf einem Schoß liegen. Und plötzlich wurde alles weiß und hell; da waren andere Leute, er konnte auf einmal besser atmen, und etwas pikste ihn; danach wurde all der betäubende, lauernde Schmerz ganz weich, und zurück blieben nur die grausamen, verstörenden Bilder, die er gerade gesehen hatte, und die sich für immer in ihn einbrennen würden. Da war eine Trage, Menschen in weiß, mit Taschen, und die rannten, und auf einmal wurde alles, alles schwarz, und die Welt war keine Welt mehr, und die Gefühle starben ab so wie der Schmerz, selbst die Bilder gingen weg.... ------------------- Mit einem qualvollen, lauten Schrei riss es Paul so heftig aus dem Schlaf, dass er fast aus dem Bett gefallen wäre. Er war so verschwitzt, dass es ihm in den Augen brannte; er zitterte so heftig, dass er sich nicht einmal durch die Haare fahren konnte. Das war es also. Der Unfall, gepackt in einen grässlichen Albtraum. All die Bilder waren so tief in sein hinterstes Gedächtnis gepackt, dass sein Kopf sie anscheinend erst im Traum hervorholen konnte, als er in Sicherheit war; als der Körper wieder sicher war. Er wusste nicht, wie lange er dort saß und sich die grausamen, unwirklichen, brutalen Bilder durch den Kopf laufen ließ, immer und immer wieder, seine Erinnerung an sein fast da gewesenes Sterben. Es tat so weh, alles wieder zu wissen, dass er spürte, wie ihm ein heißer Schwall voll dicker Tränen die Wangen hinablief und in sein Shirt sickerten. Dass der ältere Mann neben ihm den Knopf mit der Schwester gedrückt hatte und ihn verstört ansah, störte ihn nicht. Alles, was er wusste, war, dass das Leben grausam war. Dass es nahm und austeilte, wann es wollte. Ein Unfall, und dabei kam so etwas Erschütterndes zustande... Eine Schwester kam sofort ins Zimmer gerannt, sie sah auf den ersten Blick, was mit Paul los war. Er brachte es noch nicht über sein Herz, jemandem von dem Unfall zu erzählen, er weinte einfach nur, weinte bittere Tränen um James, um den Unfall, um alles. Und er war zu keinem Wort fähig, nahm von der Schwester nur die Pillen zur Beruhigung, weinte sich an ihrer Schulter aus, bis er zu müde und erschöpft war, um noch weiter Tränen zu vergießen. Er sackte in sein Kissen, als wäre er Marathon gelaufen; der Traum und das darin verarbeitete Trauma hatten ihn so sehr erschöpft, dass es an seiner ganzen, wiedererlangten Kraft genagt hatte. Nun wusste er, wer gestorben war, wen er verloren hatte, wer sein Leben geben musste. Und so waren die Schreie, von denen er gedacht hatte, dass sie ein sterbender Mensch ausgestoßen hätte, von ihm gewesen. Von einer sterbenden Seele. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)