Sucht von Lunatik ================================================================================ Kapitel 1: Unsichtbar --------------------- Ich gehe durch die Straßen. Ich bin eine Puppe. Eine lebende Leiche. Ich kann schon lange nichts mehr spüren. Nur die Schatten der Vergangenheit. Nur die Spiegelbilder der Gefühle. Ich bin ein leeres Gefäß. Denn meine Seele treibt irgendwo in den Wolken. Denn meine Seele hat mich längst verlassen. Sie sonnt sich im Himmel und fällt manchmal in die Hölle runter, doch kehrt fast nie zu mir zurück. Ich habe längst verlernt zu lieben. Habe verlernt zu hassen. Ich spüre nur noch Schatten. Wo ist die Wirklichkeit? Gibt es sie? Ist alles nur ein Traum? Ich wandere in dieser Welt, ohne zu ihr zu gehören. Ich stehe am Abgrund, ich blicke hinein. Oder falle ich schon? Bin gefallen? Mein Herz schlummert, abgeschottet von der Welt. Nichts kommt mehr bis dahin. Nur Schmerz. Nur Schmerz kann ich noch spüren. Verletze mich selbst nur um zu leben, für einen einzigen Augenblick. Und dann, dann versinke ich wieder in einem tiefen Loch. Mein gläsernes Herz, versteckt in der Masse. In einem süßen Rauch. Ich warte immer noch auf das den Menschen, den einzig richtigen, der mich wieder beleben kann. Mir den tiefsten Schmerz bescheren kann, den ich sogar in meinem Herzen spüren würde. Gibt es diesen Menschen wirklich? Oder warte ich vergeblich? Bist du irgendwo da draußen? Zwischen all den grauen Menschen, die selbst nur noch Puppen sind. Oder bist du nur ein Märchen, das mein krankes Hirn sich ausgedacht hat? Eine Illusion, das letzte Geschenk meiner Seele? Eine Sehnsucht, die nicht einmal mehr zu spüren ist… Meine Porzellanhaut hat schon Risse. Ich bin nur noch eine kaputte Puppe ohne Seele. Bin ich überhaupt noch mir ihr verbunden? Sie hat mich doch schon längst verlassen. Betrogen, sich eine andere Puppe gesucht. Ich bin nicht mehr bei klarem Verstand. Gefangen in einem Traum. Einem Alptraum auf Ewigkeit. Wer braucht eine kaputte Puppe? Die Träume zerschmettert. Die Kraft ausgelaugt. Das Leben hergegeben. Einfach so… Wer braucht einen Künstler ohne einen Funken Talent? Ich gehe die Straßen, auf und ab. Kein Wesen dreht sich nach mir um. Ich bin unscheinbar mit dem leeren Blick. Mit einem erloschenen Licht. Wohin führt mich dieser Weg? In einen Keller. Zu einem süßlichen Duft. Auf ein Neues! „Hey!“ Jemand ruft, jemand ruft laut. Doch hier ist doch niemand. Er ruft vergeblich. Schläge an der Tür. Er will wohl rein. Doch muss er warten bis jemand kommt. Diese Wohnung des staatlichen Wohnheimes ist gerade leer. Es ist auch später Nachmittag. Es sind alle aufgestanden und gegangen. Die Tüchtigen sind bei ihren Jobs, die Verrotteten streifen durch die Straßen und versuchen das Sonnenlicht wenigstens für einen Augenblick einzufangen. Sich gut zu fühlen. Die Wärme zu fühlen. Zu fühlen überhaupt. Der Fremde gibt nicht auf. „Hey! Aufwachen!“ Alles dreht sich vor meinen Augen. In meinem Kopf. Nur der Sonnenstrahl bleibt unbeweglich auf meinem Bett liegen. Fest, als wäre er hin geklebt. Er ist mein einziger Bezug zu… zu was? Der Fremde hämmert gegen die Tür. Halt. Ich bin doch da. Ich könnte aufmachen. Wenn mein Körper sich noch bewegen kann, dann ist er noch in der Realität. Dann ist er immer noch Wirklichkeit. Dann kann sich meine Hand auf den Türknopf legen. Dann können meine Finger ihn umdrehen. Dann können sie dem Fremden helfen. Es dauert bis ich die Tür erreiche. Doch der Fremde ist immer noch da und seine Ausrufe werden immer wütender. Egal. Es ist nur wichtig, dass er immer noch da ist, als ich endlich aufmache. Dass ich etwas tun kann. „Wurde aber auch Zeit.“ Er sieht mich direkt an. Nicht an mir vorbei. Nicht durch mich hindurch. „Lässt du mich rein?“ Er geht nicht einfach an mir vorbei. Er nimmt mich wahr. Ich trete zur Seite und schließe automatisch die Tür, als er eintritt. „Übrigens, ich bin Mariku.“ Ich bin fasziniert. Mariku ist der neue Mitbewohner, hat er mir erzählt. Mir. Erzählt. Er hat mir auch Fragen gestellt. Mir. Wie ich heiße. Und so. Ich schaue auf meine Finger und versuche rauszufinden, ob das Sonnenlicht – wie es sonst immer tut – hindurch scheint. Ich bin mir nicht sicher. Mariku packt ein paar Sachen aus seiner Tasche. Kein großes Ding, sondern so eine zehn Kilo Tasche, die man normalerweise nutzt, wenn man für paar Tage verreist. Ich stehe im Türrahmen zu seinem Raum und er redet weiter. Davon, wie unfreundlich die Leute unten am Empfang sind. Klar, da dürfte um die Uhrzeit Eddie sitzen und der wird auch oft der Große Arsch Eddie genannt. Auch wenn er mich nie beachtet. Aber wer tut das schon. Schließlich gibt es mich gar nicht. Ich starre weiter auf meine Hände und dann wandert mein Blick wieder zu dem faszinierenden Fremden. Mariku. Glaube ich. „Ist der Typ immer so drauf?“ Ich glaube er meint immer noch Eddie. Ich bin mir nicht sicher. Ich habe den Faden verloren. Aber er schaut mich an. Mariku. Schaut mich an. Ich drehe meinen Kopf kurz nach hinten, aber da ist sonst niemand. Klar, um die Uhrzeit doch nicht. Schließlich nicke ich. „Oh man… du bist richtig zugedröhnt, was?“ Da ist es. Kopfschütteln. Gleich wird er sich wegdrehen und dann werde ich wieder unsichtbar. Etwas durchfährt meinen Körper. Ein Schauer jagt über meinen Rücken. Was ist das? Ich spüre wie meine Augen sich weiten. Meine Hand will nach vorne schellen, zu dem Fremden. Doch ich lasse sie nicht. Es ist anstrengend sich zu bewegen. Ich sehe keinen Grund darin. Doch Mariku sieht mich immer noch an. Wartet er auf eine Antwort? Was war die Frage… Zugedröhnt. Ich zucke leicht mit den Schultern. Keine Ahnung. Ich kann mich nicht an meinen letzten Schuss oder an meinen letzten Zug erinnern. Kann gestern gewesen sein, kann auch eine Woche her sein. Mariku hebt eine Augenbraue und dreht sich wieder zu der Schublade, in die er Dinge einräumt. T-Shirts. Socken. „Was du für Zeug nimmst, würd ich ja gerne wissen.“ Es klingt nicht als ob es an mich gerichtet wäre. Eher wie zu sich selbst gesprochen. Ist es schon passiert? Bin ich schon verschwunden? Mein Körper fängt an zu zittern und ich mache einen kleinen Schritt zurück. Mariku schließt die Schublade und dreht sich wieder Richtung Tür. Er betrachtet die Stelle einige Zeit lang, an der ich stehe. Stehen müsste. Er kommt näher. Ich weiche instinktiv zurück. Manche Dinge lassen sich nie ganz abstellen. Auch wenn ich weiß, dass er einfach an mir vorbei gehen wird. Oder durch mich hindurch. Er bleibt stehen. „Komm, wenn du mir die Küche zeigst, mache ich dir einen Kaffee. Hab gehört das hilft.“ Meint er…mich? Ich fühle, wie mein Körper sich entspannt. War ich denn angespannt? Für einen Augenblick glaube ich, dass meine Knie nachgeben werden und ich umfallen werde. Doch das passiert nicht. Stattdessen nicke ich und bringe den Neuen zur Küche. Ein relativ kleine Raum, vollgestellt mit Sachen und unordentlich. Aber nicht schmutzig. Einer, der hier wohnt, mag es zu Kochen. Er meint immer, deswegen kann er Dreck in der Küche nicht leiden. Mariku schaut sich um und findet schnell die kleine Kaffeekanne. Den Kaffee. Setzt einen auf. Ich sehe ihn. Ich betrachte ihn genauer. Er ist groß, größer als ich. Blond. Muskulös. Aber ich kann ihn nicht gut erkennen. Ich gehe ein paar Schritte zu ihm hin, doch immer noch ist ein großer Abstand zwischen uns. „Die Marke kenne ich. Gar kein schlechter Kaffee. Also arbeitet einer der anderen?“ Er meint wohl die anderen Bewohner der Wohnung. Ich nicke. Leo arbeitet. Tanaka treibt sich nur in der Gegend herum. Aber manchmal bringt er auch Geld mit. „Machst du auch was?“ Er schaut mich die ganze Zeit unverwandt an. Warum? Ich bin immer noch da. Aber sogar wenn er die Gabe besitzt mich wahrzunehmen…warum schaut er mich immer zu an? Ich möchte den Kopf schütteln auf seine Frage hin. Da fällt es mir auf. Klar, wenn ich nur Gesten mache, muss er mich ansehen. „…nicht.“ „Wie?“ Er klingt überrascht. War es falsch den Mund aufzumachen? Doch ich versuche es erneut. „Ich arbeite nicht.“ „Wow. Du kannst ja doch reden. Ich hatte schon Angst. Nichts für ungut.“ Auf einmal ist er nah bei mir. Wann ist er hergekommen? Er klopft mir auf die Schulter. „Bist du dann die ganze Zeit hier?“ Irgendwie sah es aus, als ob er sich gefreut hätte… das bilde ich mir ein. Aber anstatt zu nicken, sage ich wieder etwas. Wie dumm von mir. „Größtenteils.“ „Muss ganz schön langweilig sein.“ Langweilig. Ich versuche darüber nachzudenken. Mich zu erinnern, was das bedeutet. „Wenn man nichts zu tun“. Wer hatte das gesagt? Ich weiß es nicht mehr. Aber wenn das richtig ist, dann trifft es zu. Ich habe nichts zu tun. Ich bin für nichts gut. Also nicke ich. Er sieht mich komisch an. Mitleidig? Habe ich was falsch gemacht? Es fällt mir wieder ein. Ich hab vergessen zu reden. „Es ist langweilig“, sage ich schließlich. Oder ist das so nicht richtig? „Ich bin langweilig“, korrigiere ich mich. Er lacht. Das verwundert mich und ich fühle wie sich etwas rührt. Verwirrt schaue ich mich in der Küche um und sehe wieder das Sonnenlicht, das durch das Fenster reinstrahlt. Und die Gebäude draußen, die am Himmel kratzen. „Das glaube ich nicht. Aber gegen Langweile an sich können wir was unternehmen.“ Wir? Ich schaue ihn wieder an. Er sieht mich immer noch an. Dabei rede ich. Wenn er mich hört, muss er mich nicht sehen, oder? Doch das ist nicht wichtig. Er sagte wir. „Was?“, frage ich. „Du kannst mir ja die Gegend zeigen. Ich bin komplett neu hier. Du kannst mir ja zeigen was es hier alles gibt. Supermarkt oder so.“ Supermarkt? Da gibt es Essen, erinnere ich mich. Blau-gelbes Schild. Ich weiß wo das ist. „Ok. Ich weiß wo der Supermarkt ist. Jetzt?“ Ich bin mir immer noch nicht sicher ob er das alles ernst meint. Die Worte kommen mir so surreal vor. Die ganze Unterhaltung. So viel unwirklicher als wenn das Licht durch mich hindurchscheint. Ist das hier nur ein Trip? „Jetzt ist gut. Aber willst du dich nicht vorher umziehen? Und, äh, duschen wär vielleicht ganz sinnvoll. Nichts für ungut.“ Verständnislos blicke ich ihn an und dann an mir runter. Ich sehe Beine. Boxershots und meine Beine. So läuft niemand auf der Straße rum. Doch die anderen können mich eh nicht sehen. Also was spielt es für eine Rolle? Und dann fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Er weiß es nicht! Er weiß nicht, dass die anderen mich nicht sehen können! Also nicke ich und gehe mir Klamotten suchen. Wenn er es nicht weiß und nicht merkt, redet er vielleicht weiter mit mir. Also ziehe ich mir etwas anderes an. Duschen. Er sagte etwas von duschen. Wasser fühlt sich gut an. Ich ziehe die Jeans wieder aus und gehe ins Bad. Das Wasser fühlt sich echt an. Und angenehm. Wenn er es nicht weiß, wird er mich vielleicht auch weiterhin sehen. Ich merke, dass ich lächle. Als ich fertig bin, gehe ich wieder in die Küche. Er ist immer noch da und trinkt seinen Kaffee. Eine zweite Tasse steht auf dem Tisch. Warum braucht er zwei Tassen? „Schon viel besser“, sagt er nachdem er mich gemustert hat. „Setzt dich hin und trink erst mal deinen Kaffee bevor er ganz kalt ist. Wir können ja danach gehen.“ Oh. Der zweite Kaffee ist für mich. Ich gehorchte und setze mich hin. Die schwarz-braune Flüssigkeit ist lauwarm und schmeckt bitter. Ich mochte den Geschmack noch nie. Glaube ich. „Ist er dir zu stark? Hier, ich hab Zucker gefunden. Milch ist leider keine da.“ Er stellt einen Behälter vor mich hin. Verwundert blicke ich ihn an. Kann er Gedanken lesen? „Du bist ja immer noch völlig weggetreten. Ich dachte Duschen und Kaffee helfen bei so was.“ Er rührt mit einem Löffel in meiner Tasse. „Hier, das dürfte besser sein.“ Ich starre ihn an. Woher wusste er, dass mir der Kaffee nicht schmeckt? „Trink.“ Es hört sich wie ein Befehl an. Und genervt. Oh. So startet es immer. Danach werde ich langsam unsichtbar. Trotzdem trinke ich. Es schmeckt nicht mehr so bitter. Leicht süß. Das ist so viel besser. Ich schaue wieder hoch. Zu Mariku. Ja, Mariku ist der Name. Er lächelt. „Geht doch.“ Kapitel 2: Sichtbar ------------------- Ich lasse meinen Schlüssel auf Eddies Tresen liegen. Eddie hatte mich eine Woche nachdem ins Heim gekommen war, aufgehört zu sehen. Manchmal kann er mich trotzdem wahrnehmen. Dann macht er irgendeine bissige Bemerkung. Doch ich gehe selten raus und so ist es selten, dass er mit mir spricht. Ich freue mich immer, wenn er in meiner Gegenwart seinen Mund aufmacht. Das ist mehr als der Rest der Menschheit tut. Doch manchmal wird mir klar, dass er mit dem Schlüssel spricht. Nicht mit mir. Ich schiebe diesen Gedanken beiseite und laufe nach draußen. Mariku ist neben mir. Er sieht mich immer wieder von der Seite an und redet ziemlich viel. Er stellt mir auf dem Weg zum Supermarkt immer wieder fragen. Was für Getränke ich trinke. Oder was ich zu Essen mag. Oder was ich vorher gemacht habe. Es ist komisch. Ich kann mich nicht erinnern, dass jemand mir jemals so viele Fragen gestellt hat. Manche kann ich beantworten, manche nicht. Je weiter zurück eine Antwort liegt, desto schwerer wird es. Ich stoße auf eine dunkle Wand in meinem Kopf. Ich muss blinzeln und die Augen zusammenkneifen als wir rausgehen. Die Sonne ist ganz schön hell. Es ist überraschend, dass es mir etwas ausmacht. Ich erinnere mich an mein Dasein als ein Schatten. Sonne hat mir damals nichts ausgemacht. Menschen gingen durch mich hindurch. Niemand konnte mich hören. Doch Mariku redet munter weiter. Als ich hoch schaue, sehe ich ein Grinsen auf seinem Gesicht. Etwas rührt sich in mir. Ich spüre wie es in mir hochsteigt und durch meine Gliedmaßen strömt. Ich schüttele mich und die Empfindung zieht sich zurück. Ich atme auf. Ich hatte den Atem angehalten. Verwundert schaue ich wieder zu Mariku. Ich hatte den Blick abgewandt. Zugedröhnt. Das Wort hatte Mariku benutzt. Ja, das bin ich. Wir stehen vor dem Supermarkt. Ich zeige mit dem Finger auf den Eingang. Blau-gelbes Schild hängt darüber. „Supermarkt“, sage ich schlicht. Mariku lacht. Meine Augen weiten sich. „Ja, das sehe ich.“ „Reingehen?“ Ich sehe wie er den Kopf schüttelt. Sein Gesichtsausdruck sieht amüsiert aus. Hey, ich kann ihm Laune machen. Das ist erstaunlich. Er hat auch gelacht vorhin. Die Menschen um mich herum laufen an mir vorbei, ohne mich anzusehen. Auch ohne ihn anzusehen. Das ist komisch. Er ist groß, größer als ich. Und er ist nicht Abschaum, so wie ich. Warum sehen sie ihn auch nicht? Ist er…Ich schüttele den Kopf. „Komm, lass uns zurückgehen.“ Ich nicke als Antwort. Irgendwas stimmt nicht. Doch ich weiß nicht, was. Ich konzentriere mich auf meine Füße. Schritt für Schritt gehen wir zurück. Doch es fällt mir immer schwerer. Ich möchte wieder zu Mariku hochschauen, doch ich tue es nicht. Warum? Meine Füße müssen aus Blei sein. Vielleicht hat jemand meine Füße ausgetauscht? Mariku ist still. Das ist es, was nicht stimmt. Er redet nicht mehr. Hat er gemerkt, dass die anderen mich nicht sehen? Dass er mich nicht sehen sollte? Hat ihn jemand komisch angeschaut, als er geredet hat? Weil sie dachten, dass er zu sich selbst spricht? Ich fühle mich erleichtert. Jetzt ist es vorbei. Ich werde zurückgehen und mich hinlegen. Das Licht wird wieder durch mich durchscheinen. Alles wird wieder normal. Ich kann keinen weiteren Schritt machen. Es ist zu anstrengend. Also bleibe ich stehen. Ich will nicht hochschauen und sehen wie Mariku weitergeht ohne sich umzudrehen. Oh, warum macht mir das so viel aus? Die Straße vor meinen Augen fängt an zu wackeln. Ruckartig wende ich meinen Blick nach oben. Ich will nicht hinfallen. Mariku sieht mich an. Er steht vor mir und sieht mich an. Ich… Ich mache den Mund auf. Ich mache ihn wieder zu. Warum sieht er mich an? Warum sieht er mich? Was soll ich sagen? Ich erinnere mich wieder an die Fragen, die Mariku mir gestellt hat. „Was machst du gerne?“ Ich versuche es damit. War das richtig so? Mariku mustert mich. War das falsch? Er lacht wieder. „Kartenspielen.“ Er hat geantwortet! Ich kann Fragen stellen und er antwortet mir! Ich schaue ihn verwundert an und gehe weiter. Ich kann meine Füße bewegen. Sie fühlen sich leicht an. Wie mein ganzer Körper. Die Straße vor uns füllt sich immer mehr. Das Sonnenlicht ist nicht mehr so stark. Es muss Nachmittag sein. Feierabendzeit. Wir gehen gegen den Strom. Doch das ist ok. Niemand kann mich sehen. Niemand kann mich spüren. Die Frau, die zielstrebig auf uns zugeht, ihr Blick auf ihr Handy gerichtet. Sie wird Mariku ausweichen und dann durch mich hindurchge… Sie stößt hart an meine Schulter und geht weiter. Ich bleibe wie angewurzelt stehen. Meine Füße sind verwachsen mit der Erde. Ich blicke ihr hinterher. „Ziemlich unhöflich.“ Das war Mariku. Ich schaue auf meine Schulter. Es hat wehgetan. Ein bisschen. Wie kann das sein? Wie kann das nur passieren? Warum bin ich nicht mehr unsichtbar? „Was ist los?“ Ohne darüber nachzudenken packe ich Mariku am Arm und gehe weiter. Renne fast. Meine Füße bewegen sich immer schneller. Ich achte nicht mehr auf den Weg, doch plötzlich stehe ich vor Eddie. Er murmelt etwas. Ich starre ihn an. Wie sind wir so schnell hergekommen? Warum ist die Frau… „Tanaka ist schon zurück. Ihr müsst anklopfen.“ Eddis Stimme klingt genervt. Und ablehnend. So wie immer wenn er sprechen muss. Das erleichtert mich. Hier ist alles wie immer. Eddie sieht mich missmutig an. Er wartet auf eine Reaktion. Will er wissen, ob ich ihn verstanden habe? Warum? Oh, ich bin noch nicht weitergegangen. Ich stehe immer noch da. Ich nicke. Klar, wenn jemand schon daheim ist, gibt’s keinen Schlüssel. Das habe ich verstanden. Eddie dreht sich wieder zu seinem Kreuzworträtsel. Er scheint nichts anderes zu tun den ganzen Tag als diese dämlichen Dinger zu lösen. Ich habe noch nie gesehen, dass er eins fertig hatte. Ich drehe mich zur Treppe und höre Eddies Stimme. „Junkie.“ Ich nicke. Das ist Eddie. Er redet nicht wirklich mit mir. Eher mit der Luft. Aber das ist ok. Es ist mehr als alle anderen tun in seiner Gegenwart. Als Mariku klopft, dauert es nicht lange bis Tanaka aufmacht. Mariku verschwindet in der Wohnung. Ich höre seine Stimme als er mit Tanaka spricht. Doch ich höre keine Worte. Es ist wie Kopfhörer ohne Musik. Alles wird leiser. Man kann die Geräusche nicht mehr genau wahrnehmen. Die Tür fällt hinter mir ins Schloss. Das höre ich lauter als alles andere. Danach verschwinden die Farben und alles wird langsam grau. An den Rändern sehe ich Finsternis. Wie eine Seuchte breitet sie sich aus. Bald werde ich nichts sehen können. Danach wird auch die Zeit verschwinden. Früher konnte ich an diesem Punkt nicht mehr atmen. Ich erinnere mich an die kläglichen Versuche Luft zu holen durch die Wand aus brennendem Schmerz. Das Gefühl als ob meine Lungen gleich zusammenfallen würden. Früher brach ich zusammen und wimmerte, bis die Finsternis mich einnahm und alles verschlang. Bis die Zeit stehen blieb. Doch nun gehe ich einfach weiter. Ich muss nicht ans Atmen denken. Es ist schon ok. Es bringt mich nicht um. Und ich weiß, was ich tun muss. Ich schaue auf mein Bett. Es ist nur ein kleiner Kreis übrig, durch den ich sehen kann, doch das ist genug um die zwei Spritzen zu sehen. Meine Mundwinkel zucken als ich nach einer Spritze greife. Danke, Tanaka. Grün und Schwarz und Violett. Linien, die sich in der Mitte treffen. Es ist ein Stern. Danach ein Viereck. Sie kreisen. Näher. Dann weiter weg. Dann werden die Linien zu Kreisen. Ein schwarzer Kreis in mitten von dunklem Violett. Fast schwarz. Der Kreis ist grün. Er dreht sich immer schneller. Danach kommen noch mehr Muster. Sie verändern sich zu schnell um sie einzeln zu erkennen. Es sind zu viele. Und doch ist es wie in Zeitlupe. Als ob aus einer Sekunde eine Stunde wird. Die Linien bestehen aus Punkten. Tausende und abertausende Punkte. Jeder Punkt direkt neben dem nächsten. Die Punkte lösen sich voneinander. Sie schweben in unterschiedliche Richtungen. Raus aus dem Bild. Es ist alles weiß. Ein weißer Raum. Kalt. Ich drehe meinen Kopf und sehe nur weiß. Ich. Wer ist ich? Was ist ich? Ich bin ich. Was bin ich? Ich bin Panik. Ich versuche aus dem Raum zu fliehen, doch ich pralle an Weiß. Es ist noch kälter. Es wirft mich zurück in die Mitte. Ich sollte aufhören. Womit? Mit dem Fliehen? Nein. Hör auf zu sein. Ich weiß, dass es eine Stimme ist. Ich weiß, dass jemand gesprochen hat. Ich weiß, dass es in meinem Kopf war. Doch ich weiß nicht was ein Kopf ist. Ich fliege auf die Wände zu, immer schneller, immer öfter pralle ich ab. Bis ich zerbreche und zu Boden falle. In das Weiß falle. Einzelne Sandkörner, die immer mehr werden, sammeln sich in der Mitte. Bis alles eine Wüste ist. Was bin ich? Ein Sandkorn. Zwischen Millionen und Abermillionen anderen. Wer bin ich? Gleichgültigkeit. Ich warte. Ich sehe wie der Wind den Sand bewegt. Er wirbelt mich an eine andere Stelle. Es ist heiß und alles brennt. Ich warte. Hör auf zu sein. Ich versinke. Werde begraben von all den anderen Körnern bis das Licht verschwindet. Bis alles Licht verschwindet. Mit ihm geht auch die Hitze. Mit ihm geht jegliche andere Wahrnehmung. Sehen. Fühlen. Riechen. Hören. Konnte ich all diese Dinge zuvor? Ich? Wer bin ich? Was bin ich? Nichts. Die Zeit ist wieder da. Das weiß ich immer als erstes. Danach spüre ich immer nach meinen Gliedmaßen. So wie jetzt. Ich bewege meine Finger und balle sie dann zu einer Faust. Ich halte die Faust einige Sekunden lang und öffne sie wieder. Es gibt wieder Sekunden! Meine Hand fühlt sich warm an als ich die Finger wieder auf das Bett lege. Ich mache das gleiche mit meiner anderen Hand. Danach bewege ich meine Zehen und spanne die Füße an. Ich lasse los. Ich spüre das Bett an meinen Versen. Ich verfolge das Gefühl weiter nach oben. Unterschenkel. Oberschenkeln. Arschbacken. Rücken. Ich fühle wie mein Brustkorb sich leicht hebt und senkt mit jedem Atemzug. Ich atme. Das ist gut. Mein Körper ist noch da. Zumindest für mich ist er noch da. Ich öffne die Augen. „Gut, du bist wieder da. Ich steh nicht drauf wenn du wie eine Leiche da liegst.“ Ich blinzle als Antwort. Die Aussage stimmt nicht ganz. Manchmal steht Tanaka drauf. Doch heute scheint wohl nicht eines dieser Male zu sein. Heute will er meine Augen sehen. Er meint immer wieder, dass er es toll findet in meine Augen zu blicken. Klar, er steht es darauf mich zu unterwerfen und in meinem Blick abzulesen, dass ich weiß, dass er mich unterwirft. Manchmal hasse ich ihn dafür. Dann, wenn ich gerade von einem Trip komme. In den Paar Minuten danach bin ich klarer als sonst. Doch die Klarheit wird schnell verschluckt von einem Nebel aus Verwirrtheit und dann ist es mir egal, was er tut. Tanaka weiß nichts von diesen klaren Minuten. Ihm ist es egal was ich fühle. Er denkt wahrscheinlich, dass ich eh nicht kohärent genug bin um irgendwas wirklich zu begreifen. Was soll’s. Bezahlung ist Bezahlung. Tanaka krabbelt auf das Bett und fängt an meine Klamotten auszuziehen. Auch wenn er es schon so oft getan hat, ist er nicht sonderlich geschickt darin. Er zieht nur meine Hose und meine Boxershorts aus. Mein T-Shirt stört ihn nicht. Nunja, ich bin auch schon seit einigen Jahren nicht mehr in meiner Bestform. Es gibt nicht mehr viel zu sehen, was einem gefallen könnte. Ich spüre wie meine Lippen sich zu einem spöttischen Grinsen verziehen. Schnell unterdrücke ich diesen Impuls. Tanaka würde das nur falsch verstehen. Falls er mal in mein Gesicht schaut. Ich kann nur Spott und Hohn verspüren wenn ich an früher denke. An mein Motorrad. An mein Deck. An meine sogenannte Familie. Das Geräusch, wie Tanaka die Gleitgelflasche aufmacht, reißt mich aus meinen Gedanken. Wird Zeit den Stoff zu bezahlen. Und dies ist gar keine schlechte Art der Bezahlung. Der Stoff ist gar nicht billig. Ich spreize meine Beine um es Tanaka zu erleichtern. Er lässt etwas Gleitgel auf seine Finger tropfen. Dann reibt er die Finger einander, bevor er sie schließlich in meinen Arsch schiebt. Ich schnappe kurz nach Luft. Das Gleitgel ist kalt. Wie immer. Seine Finger bewegen sich und ich spüre Hitze, die sich hungrig in mir ausbreitet. Er lässt sich Zeit mit der Vorbereitung. Was ein weiterer Grund ist, warum ich diese Bezahlung vielen anderen bevorzuge. Tanaka ist nicht geschickt, aber er kümmert sich um mich. Er mag das Gefühl von Macht zwar, aber er tut mir nicht weh. Es ist immer nur der erste Moment, der… Tanaka zieht seine Finger heraus. Ich weiß, was jetzt kommt und dieses Wissen jagt mir einen Schauer über den Rücken. Das Feuer breitet sich von meinem Bauch aus und dringt bis in alle Gliedmaßen. Die verschlingende Lust und mit ihr das beklemmende Unwohlsein. Ich unterdrücke den Impuls mich vom Bett zu rollen. Ich hatte heute dieses Gefühl schon, wird mir klar. Draußen. Mit Mariku. Tanaka dringt in mich ein. Ein kurzer Schmerz, der schnell von Genuss verdrängt wird. Er stößt hart zu in einem gemächlichen Tempo. Als ob er jeden einzelnen Stoß auskosten möchte. Er wird wirklich nur ganz zum Schluss schneller. Zusammen mit der schmutzigen Lust und dem Vergnügen kommt auch der Nebel. Meine Minuten der Klarheit sind abgelaufen. Der Nebel reißt mich auseinander und wirbelt alles auf. Er zerstreut die Gedanken und würfelt alles neu aus. Der letzte Gedanke, der noch mit Gewissheit kommt eher er von dem Nebel verschlungen wird, ist, dass Mariku gefährlich ist. Das Gefühl, dass er in mir auslöst. Angst. Hoffentlich erinnere ich mich später daran. Kapitel 3: Durchsichtig ----------------------- Ich öffne meine Augen und muss sie gleich wieder zusammenkneifen. Es ist hell. Danach merke ich sofort, dass es laut ist. Ich presse meine Hände an meine Ohren, doch das dämpft das Gefühl nicht. Auf einmal kommt mir der Gedanke, dass meine Hände nicht echt sind. Kein Wunder helfen die nicht. "Was bringst du immer? Was ist das für ein Zeug?" Die Stimme ist mehr ein Grollen. Das Bild eines aufziehenden Gewitters malt sich vor meinen Augen. Schwarze Wolke auf einem dunkelblauen Hintergrund. Durchzogen von weißen Linien aus Licht. Aufkommend. In Sekunden wieder verschwindend. Wolken, die wie vom Himmel hängende Berge immer näher rücken. Ich öffne die Augen. Blonde Haare versperren mir die Sicht. Ich rücke zur Seite, damit mein Blick über die breite Schulter sehen kann. Ein wimmerndes Geschöpf liegt zusammengekauert auf dem Boden. Angewidert verzieht sich mein Gesicht. Die Gestalt ist zu einer Kugel zusammengerollt. Die Hände liegen schützend um den Kopf. Ein Finger steht unnatürlich nach außen ab. Gebrochen. Die Knie sind an den Körper gepresst. Es zittert. Ein Fuß in weiß-orangenen Turnschuhen trifft den Körper in die Seite. Ein hohes Jaulen entfährt der Gestalt. Ich will das nicht sehen oder hören. Ich will weg. Aber ich kann nicht. Wie man bei einem Autounfall nicht seine Augen abwenden kann, so kann auch ich mich nicht wegbewegen. Klebe an diesem einen Fleck. Mariku kniet sich hin und packt die Gestalt an einem Arm. Er zieht den Arm weg von dem Kopf. Die Gestalt versucht davon zu krabbeln oder sich loszureißen. Doch Marikus Griff ist eisern. Ich nicke wissend. Da gibt's kein Entkommen. Und später wird das mindestens violett-blaue Abdrücke hinterlassen. Oder angebrochene Knochen. "Sieh mich an" befiehlt der Blonde. Es dauert einige Momente, in denen die Gestalt lauter wimmert und etwas vor sich murmelt. Bitte? Ja, das Wort müsste es sein, dass den Lippen wie ein Mantra immer wieder entweicht. Er sollte einfach gehorchen, sonst wird es nur schlimmer. Ich seufze lautlos. Schließlich dreht sich der Kopf und zwei weit aufgerissene Augen blicken zu Mariku hoch. Blanke Angst liegt in diesen dunklen, fast schwarzen Augen, die wie zwei Brunnen in die Hölle aussehen. Oh, Tanaka. Jetzt wo ich das Gesicht sehen kann, ist es fraglos, dass es Tanaka ist. Wieso habe ich ihn nicht vorher erkannt? Schulterlanges schwarzes Haar, das fettig im Licht der Lampe glänzt, eine verwaschene Jeans und ein schwarzes T-Shirt mit irgendeinem Spruch drauf. Definitiv Tanaka. Ich schaue mir wieder sein Gesicht an. Ich habe noch nie solch einen Ausdruck darauf gesehen. Seine Oberlippe ist aufgerissen und blutet. Die Haut unter dem linken Auge ist schon am Anschwellen. Huch, das war vorhin im Bett noch nicht da gewesen. "Brav" lobt eine zuckersüße Stimme. Ein Schauer jagt mir über den Rücken. Doch das ist ok, ich kann es eh kaum spüren. Ich kann eigentlich kaum irgendwas spüren. Doch eins weiß ich: diese warme, unschuldige Stimme ist nur der Verbote eines noch stärkeren Gewitters oder eines Sandsturms, der den Körper mit Millionen von Körnern zerschneidet. "Also, was ist da drin?" Mariku hält eine Spritze direkt in Tanakas Gesicht. Oh, meine Spritze. Darum geht's? Ich öffne den Mund, um etwas zu sagen, doch kein Ton kommt heraus. Ehrlich gesagt weiß ich gar nicht was drin ist. Ich nehme einfach immer das, was Tanaka mir bringt. "DMT" die Stimme ist nicht mehr als ein Hauch und dafür fängt sich Tanaka eine Faust ins Gesicht. Ich höre ein Knacken und sehe wie die Nase zur Seite absteht. Blut fließt herunter und saugt sich in den Stoff des T-Shirts. Immerhin merkt man auf Schwarz kaum einen Unterschied. Und jetzt ist auch Tanakas Arm wieder frei. Er krabbelt einige Schritte nach hinten und hält seine Hände schützend vor sein Gesicht. "Rede laut und deutlich mit mir." Marikus Stimme klingt ruhig. Oh, oh. Das ist die letzte Warnung. Danach wird er schreien und schlagen. Unkontrolliert. Woher weiß ich das? Ich blinzle, mir ist als ob alles kurz schwarz geworden wäre. "Hast du verstanden?" Tanaka nickt eifrig und mehr Blut spritzt von seinem Gesicht. Manche Tropfen landen auf dem Boden. Wer soll das nachher aufräumen? "Also, nochmal: was ist das? Und was hast du sonst noch gebracht?" "DMT. Aber das ist reiner Stoff...Deswegen in der Spritze...Da ist guter und teurer Stoff. Ich hab dich nicht reingelegt!" Die Gestalt schreit fast während große Tränen die Wangen herunter kullern. Keine gute Idee. "Was sonst?" - ein tiefes Knurren. Ein Raubtier, das sich zum Sprung bereit macht. Heute ist Mariku ziemlich geduldig. Ich sehe wie sich Tanakas Kehlkopf bewegt, als er schluckt. Auch ihm muss der Ton aufgefallen sein. "Manchmal LSD. Heroin. Amphetamine. Ketamin. Meskalin. Aber in letzter Zeit hauptsächlich DMT." Wow, ich lebe noch bei all dem Zeug? Jegliche Emotion hat Tanakas Stimme verlassen. Hoffnungslos. Ich muss nicht hinsehen, um zu wissen, dass Marikus Augen zu Schlitzen zusammengekniffen sind. "Wie lange schon?" "Mann, du bist so krank." Das war ein Fehler. Eine Faust nach der anderen schlägt auf die Gestalt ein. Ich sehe wie der Kopf gegen die Wand prallt. Weitere Blutflecke bleiben daran kleben. Es ist kein Wimmern mehr, sondern jetzt sind es Schreie. Aber sie ersterben schnell. Dann hört man nur wie Fleisch verarbeitet wird. Wie Knochen brechen. "Zwei...zwei...Jahre! Bitte, tu mir nichts mehr. Bitte. Tut mir Leid. Bitte." Unaufhörlich wiederholt er die Worte. Das bringt nichts. Ich weiß, dass Mariku schon lange nicht mehr zuhört. Er ist aufgestanden und tritt nun zu. In die Seite - Rippen brechen. In die Arme - sie schlagen dumpf auf den Boden. Ich will nicht mehr. Ich will weg. Ich schließe die Augen. Vielleicht verschwindet alles in einem Traum. Ich höre wie etwas aufklappt und reiße die Augen auf. Ein Messer. Mariku beugt sich über das Geschöpf. Es kann sich nicht mehr bewegen. Es ist ganz leise. Die Augen starren nur noch ins Leere. "Keine Angst, da hol ich dich wieder raus." Die Stimme klingt fast liebevoll. Wie die eines Vaters, der seinem Kind die Hand reicht. Starke Hände zerreißen erst den schwarzen Stoff. Dann legt sich die kalte Klinge auf bare Haut und langsam zieht Mariku sie über die ganze Brust. Es bleibt nur ein weißer Strich zurück. Ich weiß, in wenigen Minuten wird die Haut gerötet sein. Mariku setzt oben neben dem Strich wieder an und zieht die Hand parallel nach unten. Diesmal quellen an einigen Stellen rote Tropfen hervor. Das könnte schon eine dünne Narbe geben. Beim dritten Schnitt bohrt sich das Metall tief in das Fleisch. Das Rot fließt. In der gleichen langsamen Geschwindigkeit führt Mariku seine Bewegung aus. Schließlich höre ich einen Schrei. Tanakas Stimme. Er ist wieder da. "So ist es besser." Mariku malt auf Tanakas Körper wie ein Künstler. Erschafft ein groteskes Meisterwerk. Bis man an einigen Stellen weiße Knochen sehen kann. Bis einzelne Nägel auf dem Boden verstreut liegen. Etwas zerbricht. Ein Knochen? Nein, etwas in mir. Eine dunkle Wand, die nun in Scherben liegt. Ich schließe die Augen.   Meine Hände tun weh. Müde versuche ich meine Augen aufzumachen, die sich verklebt anfühlen. Nach einiger Anstrengung gelingt es mir. Ich würde so gerne weiter schlafen. Was hat mich geweckt? Warum bin ich wach? Achja, Schmerz. Ich hebe meine Hände zum Gesicht. Da ist nichts. Ich drehe sie um und sehe gerötete Knöchel. Irgendwas regt sich in mir. Ich richte mich auf im Bett. Mein Hals kratzt. Durst. Wie spät es wohl ist? Der Gedanke wird gleich verschluckt von Gleichgültigkeit. Was spielt es schon für eine Rolle, wenn man eine zeitlose Existenz führt? Ich ergebe mich meinen körperlichen Bedürfnissen und schleppe meinen Körper aus dem Bett. Es ist verwunderlich, wie ein nicht mehr in der Realität existierender Körper noch Wasser und Nahrung braucht. Ich schüttele den Kopf. Was sollte das? Mein Körper ist echt und lebt. Natürlich braucht er gewisse Dinge. Ich gehe zur Küche und jeder einzelne Schritt ist eine Kraftanstrengung. Ich habe das Gefühl ich hätte ewig geschlafen, während meine Muskel degeneriert sind. Ich greife nach einem Glas und fülle ihn mit Leitungswasser. Das Wasser schmeckt nach Kalk, doch es lindert das Kratzen in meiner Kehle. In der Spüle steht noch die Kaffeetasse von gestern. Ich lasse das Wasser laufen und greife nach dem Spülschwamm. Ich stocke in der Bewegung. Warum ist da nur –   Er lachte laut auf und lief vor. Isis rief hinter ihm, er solle auf sie warten. Er gehorchte und blickte ihr lächelnd entgegen, als sie näher kam. Er fasste nach ihrer Hand und umklammerte diese fest, während sie zwischen den Ständen liefen. Er blieb jede Paar Schritte stehen und sie erklärte ihm all die Dinge, die sich seinem Blick eröffnete. Mit großen Augen saugte er das Wissen wie ein Schwamm auf. Es war so faszinierend!   Er blickte auf die Leiche seines Vaters. Die Augen waren immer noch weit geweitet in Schock. Wer hatte die Lüge erzählt Sterbende würden ihre Augen schließen? Arme legten sich um ihn und zogen ihn fest in eine Umarmung. Isis murmelte in sein Ohr. Doch er konnte kein einziges ihrer Worte wahrnehmen. Sie drehte ihn mit Kraft zu sich und er blickte in tränenerfüllte Augen. Ein Schatten stand hinter ihm und im nächsten Moment wurde sie zur Seite gedrängt. Odion kniete sich vor ihm und starrte mit einem intensiven Blick zu ihm. „Wer?“ flüsterte der Junge leise und erschrak als er seine eigene Stimme hörte. Sie klang gebrochen und zitterte. Er würde nicht so schwach sein!   Die Sonne brannte heiß. Seine Haare, die nicht alle vom Helm geschützt waren, wehten wild im Wind. Freiheit! Er lachte lautlos und seine Augen blickten nach vorne. Es war endlich vorbei! Das Wissen auf seinem Rücken wurde genutzt und nun gab es nichts mehr, was er beschützen musste! Nun konnte er die Pyramiden und den endlosen Sand hinter sich lassen. Er konnte einfach davon fahren und eine Arbeit finden, die ihm Spaß machte. Er konnte lernen zu singen, Instrumente zu spielen, zu zeichnen. Was auch immer er wollte! Der Pharao war endlich zu seinen Ahnen zurückgekehrt. Der Pharao –   Er blickte auf seinen eigenen Körper herab, der vor ihm stand. Eine Stimme – seine eigene, aber tiefer und grollender – lachte laut. Ihm gegenüber stand der Pharao. Über ihm schwebte sein kleineres Ebenbild durchsichtig in der Luft. Yugi, erinnerte er sich an den Namen. Wut durchströmte ihn als Teile seines Körpers von den Schatten gefressen wurden. Wut, die ihm Kraft gab gegen sich selbst zu kämpfen. Das da vorne war nicht er! Aber es war sein Körper. Er kämpfte wie gegen einen reißenden Strom oder Masse so fest wie Zement. Doch er biss seine Zähne zusammen. Auch wenn ich gerade keine habe. Er war viel mehr als sein zweites Ich! Er konnte mehr als wütend und mordlustig zu sein. Er konnte lieben und sich freuen und verzeihen und lachen und beleidigt sein. Der andere Geist war nicht er. Der andere Geist war Mariku. Er wehrte den fremden Mariku ab und überließ ihn den Schatten.   „Mariku“ flüsterte Malik leise und ließ den Spülschwamm wieder fallen. Seine Hände zitterten, als er das Wasser wieder abstellte. Die Erinnerungen fluteten sein Bewusstsein. All die Scherben seiner Vergangenheiten fügten sich wieder zusammen zu einem vollständigen Bild. Malik spürte ätzende Brühe von seinem Magen aufsteigen. Oh nein. Er erinnerte sich an gestern Abend. War das gestern? Tanaka! Malik schluckte, um das Gefühl von Erbrochenen wieder zurück zu drängen. Er stürmte in den Flur und untersuchte den Boden. Da war nichts – in einer Ecke an der Wand war ein brauner Fleck. Er war klein und er hätte alles Mögliche sein können. Doch er wusste genau, dass es das Blut aus Tanakas Nase war. Nicht fähig es länger zurückzuhalten, lief Malik ins Bad und beugte sich über die Kloschüssel. Er erbrach. Die Säure ätzte in seinem Rachen und der Geschmack ließ ihn erneut über die Kloschüssel hängen. Er hustete, während sein Gehirn ihm den Abend in allen Einzelheiten vor Augen führte. Tränen liefen seine Augen runter. In seinem Erbrochenen war Blut beigemischt. Er musste aufhören. In seinem Magen war nichts mehr da. Malik zwang sich einen tiefen Atemzug zu nehmen und ganz ruhige die Luft zwischen seinen Lippen wieder rauszupressen. Er achtete nur darauf, wie sich seine Brust hob und senkte. Er dauerte eine Weile, bis er aufstehen konnte, ohne das Bedürfnis zu haben sofort wieder seinen Magen ein weiteres Mal zu leeren. Er betätigte die Spülung. Er musste seine Zähne drei Mal putzen bis der bittere Geschmack dem von Minze endlich wich.   Malik setzte sich auf sein Bett. Daneben standen die Turnschuhe, wie er gedankenlos registrierte. Der Blonde vergrub seinen Kopf in den Händen und hoffte, dass dies sein Schluchzen dämpfen würde. Mariku würde ihn für diese zur Schaustellung seiner Schwäche auslachen. „Warum bist du wieder da? Wie kann das sein?“ brachte er hervor, während seine Wangen und Finger von Tränen nass wurden. Ein Schnauben. Malik sah auf und starrte an die Wand. Da stand er mit verschränkten Armen und betrachtete ihn missmutig. „Ich bin ein Teil von dir gewesen. Natürlich habe ich den Weg zu dir zurück gefunden.“ Die Stimme klang amüsiert und herablassend, doch gleichzeitig ruhig. Das erinnerte Malik an Bakura. Er konnte sich nicht erinnern Mariku jemals zuvor ohne Wut erlebt zu haben. „Wieso?“ Er fühlte sich wie das Kaninchen, als Mariku ihm näher kam und sich nach vorne beugte. Er kann mir nichts tun. Malik wiederholte die Worte in seinem Kopf, doch trotzdem verriet sein Körper ihn mit einem Zittern. Er wusste nun, wie sich all die Opfer immer gefühlt hatten. „Weil wir zurück nach Domino City müssen. Ich will meinen eigenen Körper.“ Die Sonne schien durch Mariku hindurch, während Maliks Augen sich in Schock weiteten. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)