Sucht von Lunatik ================================================================================ Kapitel 1: Unsichtbar --------------------- Ich gehe durch die Straßen. Ich bin eine Puppe. Eine lebende Leiche. Ich kann schon lange nichts mehr spüren. Nur die Schatten der Vergangenheit. Nur die Spiegelbilder der Gefühle. Ich bin ein leeres Gefäß. Denn meine Seele treibt irgendwo in den Wolken. Denn meine Seele hat mich längst verlassen. Sie sonnt sich im Himmel und fällt manchmal in die Hölle runter, doch kehrt fast nie zu mir zurück. Ich habe längst verlernt zu lieben. Habe verlernt zu hassen. Ich spüre nur noch Schatten. Wo ist die Wirklichkeit? Gibt es sie? Ist alles nur ein Traum? Ich wandere in dieser Welt, ohne zu ihr zu gehören. Ich stehe am Abgrund, ich blicke hinein. Oder falle ich schon? Bin gefallen? Mein Herz schlummert, abgeschottet von der Welt. Nichts kommt mehr bis dahin. Nur Schmerz. Nur Schmerz kann ich noch spüren. Verletze mich selbst nur um zu leben, für einen einzigen Augenblick. Und dann, dann versinke ich wieder in einem tiefen Loch. Mein gläsernes Herz, versteckt in der Masse. In einem süßen Rauch. Ich warte immer noch auf das den Menschen, den einzig richtigen, der mich wieder beleben kann. Mir den tiefsten Schmerz bescheren kann, den ich sogar in meinem Herzen spüren würde. Gibt es diesen Menschen wirklich? Oder warte ich vergeblich? Bist du irgendwo da draußen? Zwischen all den grauen Menschen, die selbst nur noch Puppen sind. Oder bist du nur ein Märchen, das mein krankes Hirn sich ausgedacht hat? Eine Illusion, das letzte Geschenk meiner Seele? Eine Sehnsucht, die nicht einmal mehr zu spüren ist… Meine Porzellanhaut hat schon Risse. Ich bin nur noch eine kaputte Puppe ohne Seele. Bin ich überhaupt noch mir ihr verbunden? Sie hat mich doch schon längst verlassen. Betrogen, sich eine andere Puppe gesucht. Ich bin nicht mehr bei klarem Verstand. Gefangen in einem Traum. Einem Alptraum auf Ewigkeit. Wer braucht eine kaputte Puppe? Die Träume zerschmettert. Die Kraft ausgelaugt. Das Leben hergegeben. Einfach so… Wer braucht einen Künstler ohne einen Funken Talent? Ich gehe die Straßen, auf und ab. Kein Wesen dreht sich nach mir um. Ich bin unscheinbar mit dem leeren Blick. Mit einem erloschenen Licht. Wohin führt mich dieser Weg? In einen Keller. Zu einem süßlichen Duft. Auf ein Neues! „Hey!“ Jemand ruft, jemand ruft laut. Doch hier ist doch niemand. Er ruft vergeblich. Schläge an der Tür. Er will wohl rein. Doch muss er warten bis jemand kommt. Diese Wohnung des staatlichen Wohnheimes ist gerade leer. Es ist auch später Nachmittag. Es sind alle aufgestanden und gegangen. Die Tüchtigen sind bei ihren Jobs, die Verrotteten streifen durch die Straßen und versuchen das Sonnenlicht wenigstens für einen Augenblick einzufangen. Sich gut zu fühlen. Die Wärme zu fühlen. Zu fühlen überhaupt. Der Fremde gibt nicht auf. „Hey! Aufwachen!“ Alles dreht sich vor meinen Augen. In meinem Kopf. Nur der Sonnenstrahl bleibt unbeweglich auf meinem Bett liegen. Fest, als wäre er hin geklebt. Er ist mein einziger Bezug zu… zu was? Der Fremde hämmert gegen die Tür. Halt. Ich bin doch da. Ich könnte aufmachen. Wenn mein Körper sich noch bewegen kann, dann ist er noch in der Realität. Dann ist er immer noch Wirklichkeit. Dann kann sich meine Hand auf den Türknopf legen. Dann können meine Finger ihn umdrehen. Dann können sie dem Fremden helfen. Es dauert bis ich die Tür erreiche. Doch der Fremde ist immer noch da und seine Ausrufe werden immer wütender. Egal. Es ist nur wichtig, dass er immer noch da ist, als ich endlich aufmache. Dass ich etwas tun kann. „Wurde aber auch Zeit.“ Er sieht mich direkt an. Nicht an mir vorbei. Nicht durch mich hindurch. „Lässt du mich rein?“ Er geht nicht einfach an mir vorbei. Er nimmt mich wahr. Ich trete zur Seite und schließe automatisch die Tür, als er eintritt. „Übrigens, ich bin Mariku.“ Ich bin fasziniert. Mariku ist der neue Mitbewohner, hat er mir erzählt. Mir. Erzählt. Er hat mir auch Fragen gestellt. Mir. Wie ich heiße. Und so. Ich schaue auf meine Finger und versuche rauszufinden, ob das Sonnenlicht – wie es sonst immer tut – hindurch scheint. Ich bin mir nicht sicher. Mariku packt ein paar Sachen aus seiner Tasche. Kein großes Ding, sondern so eine zehn Kilo Tasche, die man normalerweise nutzt, wenn man für paar Tage verreist. Ich stehe im Türrahmen zu seinem Raum und er redet weiter. Davon, wie unfreundlich die Leute unten am Empfang sind. Klar, da dürfte um die Uhrzeit Eddie sitzen und der wird auch oft der Große Arsch Eddie genannt. Auch wenn er mich nie beachtet. Aber wer tut das schon. Schließlich gibt es mich gar nicht. Ich starre weiter auf meine Hände und dann wandert mein Blick wieder zu dem faszinierenden Fremden. Mariku. Glaube ich. „Ist der Typ immer so drauf?“ Ich glaube er meint immer noch Eddie. Ich bin mir nicht sicher. Ich habe den Faden verloren. Aber er schaut mich an. Mariku. Schaut mich an. Ich drehe meinen Kopf kurz nach hinten, aber da ist sonst niemand. Klar, um die Uhrzeit doch nicht. Schließlich nicke ich. „Oh man… du bist richtig zugedröhnt, was?“ Da ist es. Kopfschütteln. Gleich wird er sich wegdrehen und dann werde ich wieder unsichtbar. Etwas durchfährt meinen Körper. Ein Schauer jagt über meinen Rücken. Was ist das? Ich spüre wie meine Augen sich weiten. Meine Hand will nach vorne schellen, zu dem Fremden. Doch ich lasse sie nicht. Es ist anstrengend sich zu bewegen. Ich sehe keinen Grund darin. Doch Mariku sieht mich immer noch an. Wartet er auf eine Antwort? Was war die Frage… Zugedröhnt. Ich zucke leicht mit den Schultern. Keine Ahnung. Ich kann mich nicht an meinen letzten Schuss oder an meinen letzten Zug erinnern. Kann gestern gewesen sein, kann auch eine Woche her sein. Mariku hebt eine Augenbraue und dreht sich wieder zu der Schublade, in die er Dinge einräumt. T-Shirts. Socken. „Was du für Zeug nimmst, würd ich ja gerne wissen.“ Es klingt nicht als ob es an mich gerichtet wäre. Eher wie zu sich selbst gesprochen. Ist es schon passiert? Bin ich schon verschwunden? Mein Körper fängt an zu zittern und ich mache einen kleinen Schritt zurück. Mariku schließt die Schublade und dreht sich wieder Richtung Tür. Er betrachtet die Stelle einige Zeit lang, an der ich stehe. Stehen müsste. Er kommt näher. Ich weiche instinktiv zurück. Manche Dinge lassen sich nie ganz abstellen. Auch wenn ich weiß, dass er einfach an mir vorbei gehen wird. Oder durch mich hindurch. Er bleibt stehen. „Komm, wenn du mir die Küche zeigst, mache ich dir einen Kaffee. Hab gehört das hilft.“ Meint er…mich? Ich fühle, wie mein Körper sich entspannt. War ich denn angespannt? Für einen Augenblick glaube ich, dass meine Knie nachgeben werden und ich umfallen werde. Doch das passiert nicht. Stattdessen nicke ich und bringe den Neuen zur Küche. Ein relativ kleine Raum, vollgestellt mit Sachen und unordentlich. Aber nicht schmutzig. Einer, der hier wohnt, mag es zu Kochen. Er meint immer, deswegen kann er Dreck in der Küche nicht leiden. Mariku schaut sich um und findet schnell die kleine Kaffeekanne. Den Kaffee. Setzt einen auf. Ich sehe ihn. Ich betrachte ihn genauer. Er ist groß, größer als ich. Blond. Muskulös. Aber ich kann ihn nicht gut erkennen. Ich gehe ein paar Schritte zu ihm hin, doch immer noch ist ein großer Abstand zwischen uns. „Die Marke kenne ich. Gar kein schlechter Kaffee. Also arbeitet einer der anderen?“ Er meint wohl die anderen Bewohner der Wohnung. Ich nicke. Leo arbeitet. Tanaka treibt sich nur in der Gegend herum. Aber manchmal bringt er auch Geld mit. „Machst du auch was?“ Er schaut mich die ganze Zeit unverwandt an. Warum? Ich bin immer noch da. Aber sogar wenn er die Gabe besitzt mich wahrzunehmen…warum schaut er mich immer zu an? Ich möchte den Kopf schütteln auf seine Frage hin. Da fällt es mir auf. Klar, wenn ich nur Gesten mache, muss er mich ansehen. „…nicht.“ „Wie?“ Er klingt überrascht. War es falsch den Mund aufzumachen? Doch ich versuche es erneut. „Ich arbeite nicht.“ „Wow. Du kannst ja doch reden. Ich hatte schon Angst. Nichts für ungut.“ Auf einmal ist er nah bei mir. Wann ist er hergekommen? Er klopft mir auf die Schulter. „Bist du dann die ganze Zeit hier?“ Irgendwie sah es aus, als ob er sich gefreut hätte… das bilde ich mir ein. Aber anstatt zu nicken, sage ich wieder etwas. Wie dumm von mir. „Größtenteils.“ „Muss ganz schön langweilig sein.“ Langweilig. Ich versuche darüber nachzudenken. Mich zu erinnern, was das bedeutet. „Wenn man nichts zu tun“. Wer hatte das gesagt? Ich weiß es nicht mehr. Aber wenn das richtig ist, dann trifft es zu. Ich habe nichts zu tun. Ich bin für nichts gut. Also nicke ich. Er sieht mich komisch an. Mitleidig? Habe ich was falsch gemacht? Es fällt mir wieder ein. Ich hab vergessen zu reden. „Es ist langweilig“, sage ich schließlich. Oder ist das so nicht richtig? „Ich bin langweilig“, korrigiere ich mich. Er lacht. Das verwundert mich und ich fühle wie sich etwas rührt. Verwirrt schaue ich mich in der Küche um und sehe wieder das Sonnenlicht, das durch das Fenster reinstrahlt. Und die Gebäude draußen, die am Himmel kratzen. „Das glaube ich nicht. Aber gegen Langweile an sich können wir was unternehmen.“ Wir? Ich schaue ihn wieder an. Er sieht mich immer noch an. Dabei rede ich. Wenn er mich hört, muss er mich nicht sehen, oder? Doch das ist nicht wichtig. Er sagte wir. „Was?“, frage ich. „Du kannst mir ja die Gegend zeigen. Ich bin komplett neu hier. Du kannst mir ja zeigen was es hier alles gibt. Supermarkt oder so.“ Supermarkt? Da gibt es Essen, erinnere ich mich. Blau-gelbes Schild. Ich weiß wo das ist. „Ok. Ich weiß wo der Supermarkt ist. Jetzt?“ Ich bin mir immer noch nicht sicher ob er das alles ernst meint. Die Worte kommen mir so surreal vor. Die ganze Unterhaltung. So viel unwirklicher als wenn das Licht durch mich hindurchscheint. Ist das hier nur ein Trip? „Jetzt ist gut. Aber willst du dich nicht vorher umziehen? Und, äh, duschen wär vielleicht ganz sinnvoll. Nichts für ungut.“ Verständnislos blicke ich ihn an und dann an mir runter. Ich sehe Beine. Boxershots und meine Beine. So läuft niemand auf der Straße rum. Doch die anderen können mich eh nicht sehen. Also was spielt es für eine Rolle? Und dann fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Er weiß es nicht! Er weiß nicht, dass die anderen mich nicht sehen können! Also nicke ich und gehe mir Klamotten suchen. Wenn er es nicht weiß und nicht merkt, redet er vielleicht weiter mit mir. Also ziehe ich mir etwas anderes an. Duschen. Er sagte etwas von duschen. Wasser fühlt sich gut an. Ich ziehe die Jeans wieder aus und gehe ins Bad. Das Wasser fühlt sich echt an. Und angenehm. Wenn er es nicht weiß, wird er mich vielleicht auch weiterhin sehen. Ich merke, dass ich lächle. Als ich fertig bin, gehe ich wieder in die Küche. Er ist immer noch da und trinkt seinen Kaffee. Eine zweite Tasse steht auf dem Tisch. Warum braucht er zwei Tassen? „Schon viel besser“, sagt er nachdem er mich gemustert hat. „Setzt dich hin und trink erst mal deinen Kaffee bevor er ganz kalt ist. Wir können ja danach gehen.“ Oh. Der zweite Kaffee ist für mich. Ich gehorchte und setze mich hin. Die schwarz-braune Flüssigkeit ist lauwarm und schmeckt bitter. Ich mochte den Geschmack noch nie. Glaube ich. „Ist er dir zu stark? Hier, ich hab Zucker gefunden. Milch ist leider keine da.“ Er stellt einen Behälter vor mich hin. Verwundert blicke ich ihn an. Kann er Gedanken lesen? „Du bist ja immer noch völlig weggetreten. Ich dachte Duschen und Kaffee helfen bei so was.“ Er rührt mit einem Löffel in meiner Tasse. „Hier, das dürfte besser sein.“ Ich starre ihn an. Woher wusste er, dass mir der Kaffee nicht schmeckt? „Trink.“ Es hört sich wie ein Befehl an. Und genervt. Oh. So startet es immer. Danach werde ich langsam unsichtbar. Trotzdem trinke ich. Es schmeckt nicht mehr so bitter. Leicht süß. Das ist so viel besser. Ich schaue wieder hoch. Zu Mariku. Ja, Mariku ist der Name. Er lächelt. „Geht doch.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)