kyou no oyatsu von LennStar ================================================================================ Kapitel 1: Buchhalter, Rechnung, tödlich ---------------------------------------- “Die Rechnung, die Rechnung, wo ist die verdammte Rechnung?” Das war doch nicht zu fassen. Die Rechnung konnte sich doch nicht in Luft aufgelöst haben! Er hatte bereits drei Mal alles in seinem Zimmer durchsucht, aber völlig ergebnislos – abgesehen von dem halben Radiergummi, dass er unter dem Schrank gefunden hatte, und das er schon seit dem letzten Sommer vermisste. “Ich werde diese verdammte Rechnung finden, und wenn es mein Leben kostet, oder ich will nicht mehr Anton Merz heißen!” Anton Merz war seit siebenundzwanzig Jahren Buchhalter. Einundzwanzig davon in dieser Firma. Seit acht Jahren war er der Hauptbuchhalter, stets verlässlich - wie seine Chefs schwärmten - und selten krank. Er war ein Angestellter wie ihn sich jeder Unternehmer wünschte. Seine Kollegen waren von seiner Hingabe jedoch manchmal genervt, da Anton Merz nicht nur von sich, sondern auch von ihnen völlige Perfektion forderte. Hinter seinem Rücken tuschelte man über Anton Merz: Wenn Luft jemals einen Preis bekäme, würde er das Atmen einstellen, falls er mal den Preis für den nächsten Atemzug nicht kannte. Tödliches Genauigkeitsbedürfnis, sozusagen. Und genau dieses Genauigkeitsbedürfnis blieb unerfüllt, solange die Rechnung nicht da war. Anton Merz ließ ein Knurren hören, das ein wenig an einen Bären im Winterschlaf erinnerte, und ging erst einmal, um sich etwas zu trinken zu besorgen. Kühles Wasser aus dem Wasserspender, nur leicht gesprudelt. Nur nicht zu viel Aufregung, witzelten seine Kollegen immer. Er nahm einen tiefen Schluck und fühlte sich gleich wieder ruhiger. Er würde die Rechnung schon finden. Sie musste ja irgendwo sein. Er hatte sie mit eigenen Augen gesehen! Ein Buchhalter wie er kannte jede einzelne Rechnung mit Nummer! Er nahm noch einen Schluck Wasser… und spuckte ihn beinahe wieder aus. Eine Maus! Oder gar eine Ratte? Egal. Egal ob große Maus oder kleine Ratte, viel wichtiger war, was das Vieh in seinen Zähnen hatte. Ein Blatt Papier, aber nicht irgendeines! “Da soll mich doch die Steuerprüfung!”, fluchte Anton Merz. Das Papier, dass die Maus oder Ratte hinter sich herzog, war eine Rechnung. Und er war sich sicher zu wissen, welche! Um ein Haar hätte Anton Merz das Glas auf die Maus geworfen, doch im letzten Moment beherrschte er sich. Firmeneigentum. Sonderabschreibungen wegen unvorhergesehener Verluste. Nicht gut. Gar nicht gut. Das versaut die ganze Bilanz. Stattdessen stellte er das Glas sorgfältig ab und rannte dann der Maus mit der Rechnung hinterher. “Vorsicht!”, rief er jedes Mal, bevor er um eine Ecke rannte. Wo wollte die Maus nur hin? Warum lief sie auf einmal so schnell? Von ihr wollte er doch gar nichts, er wollte nur die Rechnung! Immer tiefer in das Gewirr der Gänge dieses alten Firmengebäudes ging es. Und dann huschte die Maus durch ein Loch in einer Tür zum äußeren Treppenhaus hindurch. Zumindest versuchte sie es. Doch das Loch war zu klein für das große Blatt Papier. Es knäulte sich, die Maus zerrte - und das Blatt zerriss! “NEIN!”, rief Anton Merz verzweifelt. Nicht das auch noch! Vorsichtig ergriff er das Blatt, und jawohl, genau wie befürchtet. Ein sauberer Riss ganz hindurch. Ohne den zweiten Teil war die Rechnung nutzlos. Anton Merz versuchte die Tür aufzumachen, aber es ging nicht. Klemmte sie? Das wäre nichts Neues, aber so schlimm war es noch nie. Doch Anton Merz hatte kein Zeit zu zögern. Er trat zwei Schritte zurück, nahm Anlauf, warf sich gegen die Tür - und brachte das Schloss dazu, aus dem Rahmen zu fliegen. Zu spät fiel ihm ein, dass die Tür nicht nur klemmte, sondern auch verschlossen war. Aus gutem Grund. Das alte Treppenhaus wurde erneuert, die alte Treppe abgebaut, eine neue errichtet. Bisher waren die Bauarbeiter bis zum Abriss der alten gekommen. Auf dem kurzen Weg die vier Stockwerke hinab wünschte sich Anton Merz, er hätte diese Woche seinen ausstehenden Urlaub genommen. Jetzt würde dieser verfallen. Kapitel 2: Illusion Wälder Vorgang ---------------------------------- Leise plitschten große Tropfen Wasser von den Bäumen in die kleinen Pfützen, die überall auf dem Waldboden verstreut waren. Plitsch, plitsch, plitsch. Dort, wo Laub lag, waren die Tropfen lauter, das Geräusch dumpfer. Platsch, Platsch, Platsch. Humpeldinx der Zauberer seufzte. Das Wetter war auch nicht mehr das, was es einmal war. In seiner Jugend, da hatte es noch richtige Sommer gegeben! Sommer mit viel Sonnenschein und wenig Regen. Jetzt schien es umgekehrt zu sein. Bestimmt war daran der unbesorgte Umgang mit der Magie schuld. Viel zu viel magische Kraft wurde verschwendet, um unnötige Dinge zu erledigen, und der ineffektive Einsatz der Magie führte zu magischem Fall-out, an dem Feuchtigkeit kondensieren und sich Regentropfen bilden konnten. Die Jungspunde, die in diesen Jahren die Akademie verließen, glaubten alle, dass sie die Magie und ihre Auswirkungen auf das Wetter im Griff hatten. Doch das war eine Illusion, wusste Humpeldinx. Das Wetter war nicht so einfach unter Kontrolle zu kriegen. Das Wetter auch nur in einem ganz kleinen Gebiet zu kontrollieren war ein Vorgang, der lange Vorbereitung, große Kenntnisse und ein gutes Fingerspitzengefühl erforderte. Nicht zuletzt spielte der Einfluss auf die umgebenden Wettergebiete eine große Rolle, wenn man den richtigen Einsatz der Magie plante. Doch zu glauben, dass die jungen Kerle auf einen altgedienten Magier wie ihn hören würden, war ebenfalls eine Illusion. Diese Dummköpfe pfuschten doch schon am Wetter herum, wenn sie im Freien von einem Regenschauer überrascht wurden. Mit leisem Stöhnen stand Humpeldinx von dem Stein auf, auf den er sich unter einen Überhang gesetzt hatte, um den Regen abzuwarten. Seine Gelenke knackten leise, als er sich streckte. Er wurde wirklich langsam zu alt für solche Sachen, aber er konnte es ja wohl nicht den jungen Kerlen überlassen. Zum Glück hatte er seine wasserdichten Stiefel an. Er braucht ein paar Meter, um wieder in Schwung zu kommen, doch dann schritt er zügig voran, die kleinen Hügel im Wald hinauf und hinab. Schließlich kam er an seinem Ziel an: ein kleines Dorf auf einer Lichtung, das hauptsächlich vom sammeln von Heilkräutern lebte. Er war schon einmal hier gewesen, vor vielen Jahren. Das Dorf hatte sich seitdem nicht verändert. Aber das war keine Überraschung. Die meisten Dörfer dieser Art veränderten sich im Lauf der Jahre wenig. Sobald er die Lichtung betrat, rief Humpeldinx die Aufmerksamkeit aller Dorfbewohner auf sich, die nicht im Wald Kräuter sammeln waren. Auch das war keine Überraschung. Die mit glitzernden Sternen besetzte Robe und sein spitzer Hut wiesen ihn eindeutig als Zauberer aus. Er war mit Sicherheit der erste Zauber seit einer langen Zeit, der in dieses Dorf kam, vielleicht war er vor vielen Jahren sogar der letzte gewesen. Auf jeden Fall ließen die Dorfbewohner alles stehen und liegen, als sie ihn sahen. Als er das Zentrum des Dorfes betrat, erwarteten ihn bereits die Menschen, einschließlich des Dorfoberhauptes. Humpeldinx hielt nicht viel von Zeremonien und so bat er den Dorfältesten nach der kürzesten Begrüßung, die die Höflichkeit zuließ, die Aufgabe, wegen der er gekommen war, zu besprechen. Der Dorfälteste lud ihn in sein Haus ein und kam wie gewünscht zur Sache. Auch er schien es eilig zu haben, diese Situation zu bereinigen. Die Schilderung des Ältesten unterschied sich nicht sehr von der, mit der Humpeldinx aufgebrochen war. In den Wäldern lief angeblich ein Einhorn herum, das die Dorfbewohner vom sammeln der Heilkräuter abhielt. Humpeldinx wusste, dass irgendetwas an dieser Geschichte nicht stimmen konnte. Einhörner waren scheue Tiere und würden sich nicht ohne Grund in der Nähe von Menschen zeigen, und bestimmt würden sie die Menschen nicht daran hindern, ein paar Blätter und Wurzeln im Wald zu sammeln. Doch eines nach dem anderen. „Bestimmt wisst ihr, dass jeder magische Vorgang im Auftrag der Akademie bestimmten Regularien unterliegt“, sagte Humpeldinx. „Ich habe hier die nötigen Formulare, in denen die Auftragsbeschreibung bereits eingetragen ist. Lest es euch noch einmal durch, und wenn alles zu eurer Zufriedenheit ist, unterschreibt bitte.“ Humpeldinx gab sich keiner Illusion hin. Selbst wenn der Dorfälteste lesen und schreiben konnte, was keine Selbstverständlichkeit war, würde er das Kauderwelsch der magischen Bürokraten kaum verstehen können. Aber wie üblich tat auch dieser alte Mann so, als würde er das Geschreibsel verstehen, für das man eigentlich eine ganze Spezialausbildung brauchte. Doch Humpeldinx konnte das egal sein. Er war hier um den Auftrag zu erfüllen, nicht um das Dorf hinter das Licht zu führen. Das taten schon genug andere. Er nahm die ausgefüllten und nun unterschriebenen Formulare entgegen, setzt auch sein magisches Siegel darunter und machte sich sofort daran, dieses Geheimnis aufzuklären. Humpeldinx wusste nicht, was er erwarten sollte. Illusionen in den Wäldern kamen durchaus häufiger vor. Meist waren es kleine Geister, die Wanderer durch ihre Illusionen davon abhalten wollten, zu nah an den Ort zu kommen, an dem sie lebten. Manchmal erschufen sie Wege, wo keine waren, und manchmal Bäume, wo keine standen. Auch Illusionen von Wölfen oder von Bären gab es häufiger. Einhörner jedoch waren eine Seltenheit. Das lag vor allem daran, dass Einhörner von vornherein magische Wesen waren, die in normalen Wäldern nicht lebten. Waldgeister kannten sie daher nicht. Mit der Zerstörung von immer mehr magischen Wäldern waren Einhörner auf dem Rückzug und vor ein paar Jahren von der Magierversammlung als gefährdete Wesen eingestuft worden. Es war schlichtweg unmöglich, dass hier ein echtes Einhorn lebte. Diese Vermutung wurde bestätigt, als Humpeldinx an den Orten, an denen das Einhorn angeblich aufgetaucht war, keine Spuren fand, die man von einem solchen vierbeinigen Wesen erwarten würde. Auch die Bäume ringsherum wiesen keine Spuren davon auf, von den Hörnern eines Einhorns getroffen worden zu sein, obwohl das das verlässlichste Zeichen dafür war, dass ein Einhorn in einem Wald lebte. Ihm blieb also keine andere Wahl als zu versuchen, den Ursprung des angeblichen Einhorns durch Magie ausfindig zu machen. Zuerst probiert Humpeldinx Fredas Magiekompass aus, doch dieser fand überhaupt nichts. Es schien also keine natürliche Magiequelle zu sein, die die Illusion des Einhorns ausgelöst hatte. Es schien auch keine Geistermagie zu sein, denn Bachmanns Magieverzerrer reagierte auf rein gar nichts in der Nähe. Natürlich wäre es möglich, dass der Geist gerade weitergezogen war, aber das war doch sehr unwahrscheinlich wenn man bedachte, wie lange das Einhorn hier aufgetaucht war. Humpeldinx wollte schon für diesen Tag Schluss machen, denn solche Suchmagie war sehr erschöpfend, doch dann entschloss er sich, zumindest noch einen letzten Versuch zu machen, der nicht allzu anstrengend war. Und tatsächlich: Des Magisters Magiefinder reagierte auf eine Quelle in der Nähe. Humpeldinx grummelt in seinen langen Bart. Das sah ja mal wieder nach magischer Umweltverschmutzung aus. Er ging ein paar hundert Meter weiter und zauberte noch einmal den Magiefinder. Die Richtung der Magiequelle unterschied sich fast durch einen Viertelkreis von seiner ersten Position. Gut. Das bedeutete, dass die Quelle in der Nähe sein musste. Humpeldinx ging dorthin, wo er nach einem raschen Überschlag die Quelle vermutete. Er musste den Magiefinder noch zweimal auslösen, aber beim zweiten Mal war er sich sicher, ganz dicht am Ziel zu sein. Ein paar Minuten stöbern und Laub beiseite fegen förderte schließlich einen länglichen Gegenstand zu Tage. „Wusste ich's doch!“, rief Humpeldinx. Der Gegenstand, der aussah wie eine übergroße Gabel mit acht Zacken, war ein Illusionserschaffer, wie er gern von reichen Adeligen verwendet wurde. Wahrscheinlich hatte sich einer dieser Schnösel gedacht, dass eine Jagd auf Einhörner eine tolle Abwechslung sein würde. Als der Illusionserschaffer dann anfing zu spinnen, hatten sie ihn einfach weggeworfen. Humpeldinx fluchte. Es würde sicherlich nicht allzu schwierig sein, die Jagdgesellschaft zu finden, die auf diese Idee gekommen war. Doch selbst wenn es zu einer Anklage kam, würden sich die Adligen problemlos freikaufen können. Verbindungen und Geld, beides zusammen war stärker als selbst die mächtigste Magie. Ob sich das wohl jemals ändern würde? Kapitel 3: Heute Waffen Voraussetzung ------------------------------------- „Sehr geehrte Damen und Herren, es ist mir eine Ehre, heute bei Ihnen zu sein! Ich habe mich schon lange auf diese Möglichkeit gefreut.“ Mit diesen Worten fing der Präsident seine Rede vor den versammelten Führern eines wichtigen Wirtschaftszweiges an. Er lobte ihre Entschlossenheit bei der Erschließung neuer Märkte, freute sich über die hohen Wachstumsraten und wünscht ihnen auch für die Zukunft glänzende Geschäfte. Die Wirtschaftsvertreter nahmen diese Ansprache natürlich mit großem Wohlwollen auf. In ihrer Branche war die Unterstützung durch die Politik noch wichtiger als in den meisten anderen. Staaten waren schließlich ihre Hauptauftraggeber und auch bei den besonderen Kompliziertheiten des Exports ihrer Güter war ein guter Draht zur Politik eine Voraussetzung für den erfolgreichen Abschluss des Geschäfts. Nach Abschluss der Rede des Präsidenten ging der Vorsitzende des Verbandes auf die Bühne und dankte dem Präsidenten für seine aufmunternden Worte. Außerdem lobte er die Rolle, die die Politik in der, wie er es formulierte, Überwindung der unnötig kritischen Ansichten in manchen Teilen der Bevölkerung gespielt hatte. Der Präsident dankte für den Dank. Der Vorsitzende wollte sich gerade für den Dank des Dankes bedanken, als die Türen aufflogen und eine Horde junger Menschen in den Saal strömte, sich verteilte und ein paar von ihnen sich auf die Bühne drängten. Alle im Saal, einschließlich der Sektgläserträger und der Bodyguards des Präsidenten waren überrascht. Erstere griffen in ihrer Überraschung zu den Gläsern und stießen einige davon auf den Boden. Die Bodyguards griffen in ihrer Überraschung nach ihren Waffen, ließen diese dann aber unbenutzt mit einer langsamen Geste auf den Boden sinken. Der Grund dafür war, dass die jungen Saalstürmer sich ausgiebig mit den Produkten der hier versammelten Industrieführer eingedeckt hatten. Wie sie das geschafft hatten, fragte keiner. Die eine Hälfte der im Saal befindlichen Leute wollte es nicht wissen, die andere Hälfte wusste das wahrscheinlich nur zu genau. „Was fällt Ihnen ein!?“, empörte sich der Präsident und zeigte somit für den aufmerksamen Beobachter ein deutliches Beispiel für einen Grund, warum die jungen Leute hier eingedrungen waren. Einer der jungen Menschen, der sich offenbar Anzug und gegeelte Haare extra für diesen Anlass angeschafft hatte, trat an das Mikrofon. „Sehr geehrte Damen und Herren, es ist mir eine Ehre, heute bei Ihnen zu sein! Ich habe mich schon lange auf diese Möglichkeit gefreut,“ begann auch er. Und wie der Präsident redete er über die neuen Märkte, die hohen Wachstumsraten und die Zukunft der Industrie in diesem Wirtschaftszweig. Abschließend sagte er folgenden Satz: „Nur dank dieser Entwicklung, nur dank Ihrem Eifer ist heute die Voraussetzung erfüllt, dass wir Ihnen die eigenen Produkte zum Geschenk machen können.“ Mit diesen Worten hob er das Sturmgewehr, das er bisher lässig im Arm gehalten hatte und richtete es in die Menge der versammelten Industrieführer. Seine Kameraden taten dasselbe. Dann sprachen einmal nicht nur die Zahlen zu den Managern der Waffenfirmen, sondern auch die von ihnen produzierten Waffen selbst. Kapitel 4: Donnerstag, kann, Niederländer ----------------------------------------- „Oh nein, das kannst du doch nicht tun!“, rief Eri mit erstickender Stimme. „Donnerstags kommt doch immer der Niederländer! Das kannst du einfach nicht tun!“ Der Niederländer – damit meinte sie den Käsewagen, der einmal die Woche pünktlich kurz vor Mittag mit einem recht beeindruckenden Sortiment an Milchprodukten in unser Dorf kam. Eigentlich war es gar kein Niederländer. Der quirlige Mittvierziger war gebürtiger Belgier aber zu Recht der Meinung, dass man als Belgier zwar gut Schokolade, aber nur schlecht Käse verkaufen konnte. Also hatte er seine Nationalität um ein paar wenige Kilometer geändert und war zum Niederländer geworden. Also eigentlich Holländer. Denn der Belgier wusste auch, dass wir Deutschen nicht imstande sind zu verstehen, dass zwar alle Holländer Niederländer sind, aber nicht alle Einwohner der Vereinigten Niederlanden aus dem ehemaligen Staat Holland kommen. Nur hatte er nicht mit Eri gerechnet, die immer darauf bestand diese Unterscheidung zu machen, obwohl sie aus keinem der betroffenen Staaten stammte, sondern in der Schweiz aufgewachsen war. Als Schweizerin wiederum legte sie durchaus Wert auf Käse, wobei es ihr egal war, ob dort besonders viele und große Löcher drin waren oder nicht. Auf jeden Fall bestand sie auf ihrer wöchentlichen Ration des in so vielfältiger Gestalt daherkommenden Milchproduktes. Von daher war sie sehr betrübt, dass ich diesen Donnerstag nicht wie üblich am Vormittag zu Hause sein würde, um den Käse zu besorgen. Ich weiß nicht, ob das bei allen Schweizerinnen so ist, aber meine hatte ein Talent zum Dramatischen, das durchaus für einen oder auch zwei Wilhelm Tells ausgereicht hätte. Das war einer ihrer Punkte, die ich so ganz besonders genoss. Es erforderte zugegebenermaßen ein wenig Übung, aber da schon unsere erste Begegnung recht dramatisch gewesen war, hatte ich davon inzwischen ausreichend. Ich gab ihr also ein paar Minuten Zeit, mir in schillernsten – Verzeihung für dieses Wortspiel – in schillernsten Farben den Untergang des gemeinsamen abendlichen Essens auszumalen, bevor ich zögerlich darauf hinwies, dass wir unsere Bestellung auch der Nachbarin überantworten könnten, so wie wir schon mehrere Male für die freundliche Rentnerin einen solchen Dienst erledigt hatten. Das nahm Eri so ziemlich den Wind aus den Segeln, doch raffte sie sich zumindest noch zu einer kleinen Tirade darüber auf, dass ich das nicht eher gesagt hat. Ich gab dies kleinlaut zu, verabschiedete Eri dann mit einem Kuss und wünschte ihr viel Glück und Geduld auf der Arbeit. Sie arbeitet bei einer Beschwerdehotline eines großen Telekommunikationsdienstleisters und muss dort viel Wut über sich ergehen lassen, ohne dass sie dabei selbst die Beherrschung verlieren darf. Dafür braucht sie einen gewissen Ausgleich. Ich arbeite zum Glück von Zuhause aus, und muss mich nur selten mit widerspenstigen Kunden herumärgern. Dafür sehr viel mit widerspenstigen Computern. Dann bin ich es, der gelegentlich mal etwas Dampf ablässt. Hier hat Eri gelernt, mit gelassener Ruhe meinem Geschimpfe zuzuhören und mir dann einen Entspannungstee zu reichen. Das ist etwas, das man in jeder Beziehung beherzigen sollte: Jeder kann sich mal aufregen, es bringt aber rein gar nichts, sich über das Aufregen aufzuregen. Kapitel 5: Auswirkungen, Votum, angegriffen ------------------------------------------- „Aber das können sie nicht tun!“ „Doch das können wir, denn wir wurden angegriffen. Es ist unser Recht, uns zu wehren, und genau das soll dieses Votum ausdrücken!“ Die beiden Kontrahenten sahen sich über die hilflos wirkende Moderatorin hinweg grießgrämig an. Eigentlich hatte diese Sendung über die Bewältigung der Flüchtlingsströme sein sollen, die sich in den letzten Wochen immer mehr verstärkt hatten. Doch der Überfall einiger Asylsuchender auf eine Botschaft hatte die Diskussion in eine der üblichen gegenseitigen Beschimpfungen ausarten lassen, wie sie in solchen Fällen häufig auftraten. Während ein Teil der Bevölkerung und der öffentlich auftretenden Politiker eine harte Bestrafung der Täter forderte, und ein Votum über einen Asylaufnahmestopp in die Diskussion einbrachte, vertrat die andere Seite nur noch vehementer ihre Forderung nach einer besseren Unterstützung der Menschen vor Ort. Dann würden diese sich auch nicht genötigt sehen, Geschäfte zu plündern und Botschaften zu überfallen. Denn wer nur die Wahl hat zwischen kriminellem Handeln oder Verhungern oder in einem Bürgerkrieg erschossen zu werden, der hat eben gerade nicht eine wirkliche Wahl. Und so wogte der Streit auch in dieser Talkshow hin und her, ohne irgendetwas zu verändern. Doch dann geschah etwas, das eher selten passiert. Die Flüchtlinge selber kamen zu Wort. Oder zumindest einer von ihnen, der auf der Schule Deutsch gelernt hatte und nun seine Erfahrungen schilderte. „Der Bürgerkrieg begann, als ich 14 Jahre alt war. Der erste, der aus meiner Familie starb, war mein großer Bruder. Er hatte nichts getan. Er war einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort und war anstelle des eigentlichen Zieles angegriffen und erschossen wurden. Die nächsten, die starben, waren meine Großeltern. Eine Granate zerfetzte sie und unser Haus. Danach begann meine Familie die Flucht. Wir haben acht Länder durchquert, sind dabei mehr als 1000 km zu Fuß gegangen und noch einmal so weit versteckt in einem Container transportiert worden. Wir wären in diesem Container beinahe verdurstet. Meine kleine Schwester musste, als wir entdeckt wurden, ins Krankenhaus. Es begann ein monatelanges hin und her zwischen den verschiedenen Lagern, von einem Amt zum nächsten und Kilometer von Formularen in einer Sprache, die in unserer Familie nur einer ein wenig sprechen konnte. Doch am Ende durften wir bleiben. Darüber sind wir sehr froh. Meine Eltern haben Arbeit gefunden und können ihre Kinder ernähren. Einige von den Zuschauern sind generell dagegen, dass Menschen aus anderen Ländern in dieses hier einwandern können. Diese möchte ich daran erinnern, dass unsere Vorfahren alle irgendwann einmal in das gegenwärtige Land eingewandert sind. Das ist normal in der Menschheitsgeschichte, und es gab nicht wenige Zeiten, in denen eine Region froh über jeden Einzelnen war, der hinzu zog. Andere in diesem Land glauben, dass solche Familien wie die meine das Recht haben hierher zu kommen, weil sie vor Gewalt geflohen sind, weil sie angegriffen worden sind. Andere dagegen, die nur vor Armut fliehen, sollten wegbleiben. Diese Zuschauer frage ich, was der Unterschied ist zwischen jemandem, der von einer Stadt in die andere zieht um dort Arbeit zu finden und jemandem, der von einer Stadt in die andere zieht um dort Arbeit zu finden und sich zufälliger Weise zwischen diesen Städten eine Linie auf einer Landkarte befindet. Und ich frage diese Zuschauer auch, ab wann es ein Angriff ist, der diese Menschen dazu treibt, ihre Heimat zu verlassen. Wenn Sie in Ihrem Industrieland die Landwirtschaft mit viel Geld subventionieren, damit diese Güter für so wenig Geld exportieren kann, dass in den Entwicklungsländern die Bauern vor Ort unmöglich für denselben Preis produzieren können, dann halte ich das durchaus für einen Angriff. Es ist kein Angriff mit Gewehren, mit Bomben und Soldaten. Es ist ein Angriff mit Geld, Verträgen und den angeblichen Gesetzen des Marktes. Aber das eine wie das andere ist ein Angriff, der die gleichen Auswirkungen hat: die Lebensgrundlage der Menschen wird vernichtet. Was also unterscheidet den Bauern, dessen Feld vom Krieg in Brand gesteckt wurde, von dem Bauern, dessen Feld von einem internationalen Konzern in Brand gesteckt wurde, damit dieser Konzern es in Besitz nehmen kann. Für Sie mag das einen Unterschied machen, für mich nicht. Denken Sie bitte darüber nach, wenn Sie das nächste Mal jemand um ihre Meinung fragt über Menschen, die schweren Herzens ihre Heimat verlassen um in einer unbekannten Fremde ein besseres Leben zu finden.“ Kapitel 6: Betrug, rasch, schlimmer ----------------------------------- „Das wird ja immer schlimmer!“, rief Kommissar Grau. Was am Anfang ausgesehen hatte wie eine kleine lokale Angelegenheit war unversehens zu einer großen Sache geworden. Was zuerst wie eine neue Masche eines Betrügerpärchens in seiner Stadt aufgetaucht war, schien tatsächlich so eine Art Franchise Unternehmen zu sein. Einmal darauf aufmerksam gemacht, kamen rasch immer mehr Meldungen aus immer weiter entfernteren Städten bei ihm an. Mittlerweile hatte der Fall nicht nur einen eigenen Aktenordner, sondern gleich einen ganzen Schrank bekommen. Dabei war die Betrugsmasche nicht einmal sonderlich neu. Schon vor Jahrhunderten, wahrscheinlich schon zu Zeiten der alten Römer, hatten sich Menschen als behindert dargestellt, um vom Mitleid anderer zu leben. Das Betrügerpärchen in seiner Stadt war dabei nicht einmal besonders gut gewesen. Wenn man genau hinschaute hatte man sogar das angeblich fehlende Bein des Mannes sehen können. Und um festzustellen, dass die Frau nicht blind war, hätte man einfach nur mal den berühmten Schlag-ins-Gesicht Test ausführen brauchen. Doch nein, stöhnte Kommissar Grau in Gedanken, die Menschen fühlten sich ja so viel besser, wenn sie jemand anderem Geld gaben, ohne zu überprüfen, ob deren Aussage überhaupt stimmen konnte. Jedes Mal das Wechselgeld nachzählen, aber hier die wildesten Geschichten glauben. Wirklich schlimm. Als Kommissar Grau daher von einem neuen Vorfall in seinem hübschen Städtchen erfuhr sprang er rasch auf, schnappte sich seinen Mantel und Dienstmarke und beeilte sich, zum Ort des Geschehens zu kommen. Dort angekommen glaubte er seinen Augen nicht. Ein Trio, das unter sich gerade mal zwei Arme hatte, war bettelnd durch die Stadt gezogen und hatte dabei eine dreistellige Summe ergaunert. Gauner waren sie, denn wenn man ihre Jacken öffnete kamen darunter vier zusätzliche, gesunde Arme hervor. Lediglich die Ärmel ihrer Jacken waren leer. Wahrhaft grauenvolle Laienschauspieler, schlimmer als die vom Theater. Dennoch hatten die Menschen den Betrug geglaubt. Dagegen musste rasch etwas getan werden. Kommissar Grau erwog, die umstehenden Schaulustigen mit der gesicherten Dienstwaffe ein paarmal auf den Schädel zu schlagen. Leichte Schläge auf den Hinterkopf sollten ja das Denkvermögen erhöhen, hatte sein Vater erzählt. Wenn er es rasch genug tat, half es vielleicht beim nächsten Betrüger. Doch leider hat jeder das Recht, sich zum Idioten zu machen, und er nicht das Recht, dagegen prophylaktisch einzuschreiten. "Nichts ist schlimmer als ein Polizist, der anderen vorschreiben möchte wie sie sich zu verhalten haben", hatte sein Ausbilder immer erklärt. Sein zweiter Lieblingsspruch lautete „Der effektivste Polizist ist immer noch Kommissar Zufall.“ Auch in diesem Fall kam dieser ganz spezielle Kollege Kommissar Grau zu Hilfe. Einer der angeblich armlosen Betrüger hatte sich auf einen Zettel eine Adresse geschrieben. Schlimmer noch für ihn, er hatte einen Namen hinzugesetzt, der ein kleines Glöckchen in Kommissar Graus Hinterkopf zum klingeln brachte. Konnte das sein? Es dauerte keine halbe Stunde und er hatte ein paar Kollegen zusammengetrommelt und ein altes, offiziell leerstehendes Haus umstellt. Auf seinen Wink hin stürmten sie das Gebäude und fanden rasch den tatsächlichen Urheber des Betrugs. „Aber Angela!“, rief Kommissar Grau halb verwundert, halb belustigt. „Wir haben uns schon seit drei Wochen nicht mehr gesehen! Genauer gesagt, seit dem Tag deiner Entlassung. Hätte nicht gedacht, dass du so schnell wieder etwas Neues auf die Beine stellst!“ „Ach, du weißt doch Mäuschen, ich langweile mich so schlimm, wenn ich nicht rasch etwas mit meiner Zeit anstelle.“ Kommissar Grau ließ die Handschellen klicken. „Jetzt wirst du jedenfalls wieder einmal sehr viel Freizeit haben. Ich hoffe, sie haben deine Zelle noch nicht wieder neu belegt.“ Kapitel 7: Herstellung, Schwarzen, Telefonnummer ------------------------------------------------ “Schneller, schneller, ihr lahmen Gnome!”, rief der Aufseher der 68. Produktionshölle für telekommunikative Sündenerleichterungen. Seit die ersten Manager der neoliberalen Generation von oben gekommen waren, war die Hölle nicht mehr der schöne Arbeitsplatz, der sie einmal gewesen war, dachte sich Anton, Gnom Klasse 3. Verschlankung der Verwaltung, Flexibilisierung der Arbeitszeiten von sechundsechzig auf achtundachtzig Wochenstunden, Abbau von Entlassungshindernissen (eine einzige gute Tat konnte den Rauswurf bedeuten) und und und… Katzbuckelnd reichte er dem peitschenschwingenden Aufseher die Anweisung. “Waaaaaaaasssss???”, keifte der, als hätte Anton ihm vorgeschlagen, statt den schwarzen Messen Gottesdienste mit weißen Gewändern abzuhalten. “Noch mehr schwarze Telefonnummern mit einer 88 darin? Was denken die sich im Management denn?” “Kundennähe. Das ist wegen den ganzen Rechten, die jetzt aus ihren Löchern kommen.” “Pah, Rechte! Lassen ihre Mitmenschen im Ausland verhungern und zerbomben und machen die Grenzen dicht, damit niemand entkommen kann. Aber selbst mit anpacken, dazu sind sie zu faul!” “Daran ist nur das Fernsehen Schuld”, meinte Anton bedauernd. “Keine richtigen Rollenvorbilder mehr. Nur noch Weicheier, die es für böse halten, ein paar AKW Gegner mit Steinen zu beschmeißen. Auf jeden Fall sollt ihr die Herstellung der bösen Telefonnummern um dreißig Prozent steigern.” Falls jemand nicht wissen sollte, was es mit den bösen Telefonnummern auf sich hat: Das ist ein Service, den die Hölle seit einigen Jahren über diverse Firmen ausgewählten Kunden anbietet. Diese erhalten deutliche Rabatte auf den Preis, müssen aber dafür bei jeder bösen Tat, über die sie am Telefon sprechen, einen winzigen Teil ihrer Seele abliefern. Das war viel einfacher als eine ganze Seele zu bekommen, bei viel weniger Gegenleistung. Die Herstellung war allerdings nicht einfach und die Handwerker rund um die Uhr beschäftigt. Doch Kleinvieh machte auch Mist, und die zusätzlichen Seeleneinkommen aus den eingestreuten kleinen Störungen waren ein netter Bonus. Wenn sich nur das Management nicht alles davon einverleiben würde, so dass für den kleinen Gnom fast nichts mehr übrig blieb! Eilig machte Anton sich auf den Weg zurück an seinen Schreibtisch, während hinter ihm der Aufseher die nach oben korrigierten Produktionszahlen auf die neue elektronische Anzeige schrieb und dann verärgert Segen ausstieß, als die Kreide wieder nicht hielt. Anton hatte sich die letzten Umfrageergebnisse angesehen und war sich sicher, dass er nach den nächsten Wahlen noch einmal mit einem ähnlichen Zettel hierher kommen würde. Die “einfachen” Menschen! Sie waren inzwischen das Einzige, was seine Arbeit noch leicht machte. Kapitel 8: Meister, hundert, Import ----------------------------------- Meister hundert Import Hunderte Splitter flogen durch die Luft, als die hölzerne Trainingspuppe laut krachend in ihre Einzelteile zerlegt wurde. „Hervorragend!“, meinte die Stimme eines älteren Mannes trocken. „Hervorragend, wenn wir noch mehr Anmachholz für den Kamin bräuchten.“ Die Junge im weißen Trainingsanzug fuhr sich verlegen durch das Haar. „Entschuldigung Meister. Ich habe es wieder nicht geschafft.“ „Du schaffst uns noch“, meinte eine dritte Stimme und ein Bierflaschen haltender Mann schaute um die Ecke. „Hast du eine Ahnung, wie teuer die Dinger sind? Wenn du so weiter machst muss unser Dojo noch in die Holzindustrie wechseln, oder wir gehen pleite.“ „Daran ist wohl eher deine Sauferei Schuld“, meinte der als Meister angesprochene Mann mit leisem Spott und lachte. „Eh? Wie gemein! Das ist erst meine dritte Flasche heute, und es ist schon fast Mittag!“ „Nicht nur fast“, berichtigte der Meister. „Ich bin eigentlich gekommen um euch zu sagen, dass das Essen gleich auf dem Tisch steht.“ „Was, schon?“ Erschrocken rannte der Schüler davon, um sich schnell zu waschen und den verschwitzten Trainingsanzug auszuziehen. Missmutig deutete der Trinker auf die Puppe. „Das Aufräumen hat der Junge total vergessen.“ „Dann kannst du das ja erledigen.“ „Ah, mir fällt gerade ein, ich wollte ja die Blumen gießen. Lassen wir es liegen, der Junge kann ja auch nach dem Essen aufräumen.“ Der Meister lachte, als sich der Mann aus dem Staub machte. „In einem hat er aber Recht, der Junge muss lernen, unsere Geräte nicht immer kaputt zu machen.“ Wie immer zum Essen war der Junge kaum zu bremsen, sein intensives Training verbrauchte jede Menge Energie und so schaufelte er das Essen immer voller Eifer in sich hinein. Doch diesmal stockte er, als er die Summe hörte, die eine Trainingspuppe kostete. „Das ist doch verrückt! So viel?“ „Naja, sie sind aus massivem Holz einer besonders robusten Art, die deshalb nicht besonders schnell wächst. Es wird von weit her bis hier importiert. Und auch dieser Import ist recht teuer. Das Holz wird verwendet, damit Puppen nicht kaputt gehen. Unser Training scheint allerdings zu effektiv zu sein, denn die Trainingspuppen halten deinem Eifer leider nicht stand.“ „Selbst wenn Ihr das sagt, Meister, wüsste ich nicht, was ich dagegen machen soll. Wenn ich mit aller Kraft trainiere, passiert das eben.“ „Mir ist es schon seit Jahren nicht passiert“, meinte der Mann und stand vom Tisch auf, um sich ein weiteres Bier zu holen. „Und egal wie gut du geworden bist, ich bin immer noch ein gutes Stück stärker als du.“ Der Junge stutzte. „Das ist wahr. Aber warum gehen nur bei mir die Trainingspuppen kaputt?“ Der Meister strich sich durch den Bart, in dem ein paar Reiskörner stecken geblieben waren. „Weil du nie gelernt hast, dich zurückzuhalten. Wir haben bisher deine Kraft trainiert, damit du überhaupt in der Lage warst, dich zu wehren. Dann haben wir dir Techniken beigebracht, wie du deine Angreifer besiegen kannst. Wir haben dir aber nie gezeigt, wie du sie nicht besiegen kannst.“ „Wie ich sie nicht… aber was ist das denn für ein Unsinn? Wenn ich sie nicht besiegen kann, bin ich bald tot!“ „Man kann auch ohne einen Sieg gewinnen. Und ohne den Gegner ins Krankenhaus zu bringen. Oder ist das dein Ziel? Willst du deine Gegner völlig vernichten?“ „Das nicht aber… was soll ich denn tun?“ „Hm… ja, ich denke, es ist an der Zeit, dass du etwas Neues lernst. Komm in den östlichen Schuppen, wenn du fertig bist.“ Der Mann horchte auf, als er das hörte, aber der Meister hatte keine Absicht, sich zu erklären und blieb den Rest des Essens schweigsam. Das Rätsel wurde gelöst, als der Schüler nach dem Essen in den Schuppen kam. „Das Holz ist heute morgen gekommen, als du beim Lauftraining warst“, erklärte der Meister dem erst überrascht dreinschauenden, dann Übles ahnenden Schüler, dessen Blick über die Reihen von Baumstämmen wanderte. „Es ist das selbe Holz, aus dem die Trainingspuppen sind, und du wirst es jetzt bearbeiten und deine eigenen Puppen bauen. Vielleicht lernst du so, sorgsamer mit ihnen umzugehen.“ „Und es spart sicherlich eine Menge Geld“, mutmaßte der Schüler. „Das auch“, bestätigte der Meister lachend. „Also los, frisch ans Werk. Bis zum Abend musst du mindestens hundert Zweimeterstücke gesägt haben. Morgen zeige ich dir dann, wie man aus dem Rohstück eine Puppe macht. Kapitel 9: Nachfrage, Sein, Nimmt ----------------------------------- Der kleine, weißhaarige Mann mit der getönten Schutzbrille stieß einen gotteslästerlichen Fluch aus, als das Ventil, an dem er herumschraubte, dem Druck nicht mehr länger stand hielt. Wie eine erboste Schlange schoss zischend heißer Dampf, sprichwörtlich um Haaresbreite, an seinem Ohr vorbei. Der alte Mann ließ sich fluchend auf den Boden fallen und arbeitet mit langen Armen weiter, jeden Gott verfluchend, der ihm einfiel. Schließlich ließ das Zischen nach und verstummte. Eine letzte Lästerei ausstoßend stand der Mann auf. „Du kannst jetzt loslassen!“, rief er und winkte seinem unfreiwilligen Assistenten mit dem Schraubenschlüssel zu. Jason hörte auf, den verrostetet Hebel im Zaum zu halten und ließ ihn los. Während er seine rostverschmierten Hände an seiner Hose abwischte konnte er das Wasser hören, das jetzt wieder durch das Rohrsystem floss. „Gut, dass du im rechten Augenblick gekommen bist. Ich weiß nicht, ob ich die Reparatur ohne dich geschafft hätte.“ Das fand Jason gar nicht erheiternd. „Soll mich das aufmuntern, dass du uns um ein Haar mitten über dem Ozean treibend gelassen hättest, nur weil du unbedingt immer und überall mit den Maschinen rumspielen musst, Henry?“ „Aber Jason!“, rief der alte Mann erstaunt. „Warum bist du so gemein? Du weißt doch, dem Dampft gehört mein Leben, er ist der Kern meines Seins! Wenn du ihn mir wegnimmst, nimmst du mir mein Leben selbst!“ „Darüber würde ein Richter wahrscheinlich anders urteilen“, meinte Jason mürrisch. Ganz verletzter Stolz fing Henry an aufzuzählen. „Wer war es denn, der unbedingt in die Kolonien reisen wollte? Wer wollte unbedingt die neu entdeckten Vorkommen an Magmasteinen erkunden, um die Nachfrage bestimmen zu können und die Auswirkungen, die das auf den Markt haben wird? Du warst das. Du warst der Meinung, wir müssen dorthin, um eine Katastrophe wie die von Flottenheim zu verhindern. Du hast gesagt, ich bin die beste Person, wenn es darum geht, die Steine zu bewerten und dass ich unbedingt mitkommen muss. Nicht zuletzt war es meine Erfindung, die die Schwachstelle der Magmasteine zum Vorschein gebracht hat! Und jetzt tust du so, als hätte ich mit Absicht eine Maschine gebaut, die gefährlich ist, obwohl mir nichts ferner liegt.“ „Ich weiß, ich weiß!“, unterbrach ihn Jason genervt. „Ich weiß, dass es nicht deine Absicht ist, dich und uns umzubringen. Aber bitte, sei wenigstens etwas vorsichtig. Ich weiß, ich war derjenige, der auf Eile gedrängt hat, aber auch ich will mich doch nicht umbringen!“ Die beiden ungleichen Verbündeten sahen sich ein paar Momente lang an, dann seufzten sie gleichzeitig. „Lass uns das vergessen“, schlug Jason vor. „Ich war eigentlich gekommen um dir zu sagen, dass Ellie das Essen bald fertig hat. Inzwischen dürfte es schon auf dem Tisch stehen und kalt werden, was heißt, Ellie ist so unter Dampf wie eben noch die Leitungen.“ Henry machte große Augen. „Warum hast du das nicht gleich gesagt, Junge?“, rief er und rannte los. „Lass mich dir eines sagen: Eine explodierte Maschine kannst du immer noch reparieren, aber bei einer explodierten Frau ist alle Mühe vergeblich!“ Kapitel 10: Versicherung gehörende Inflationsrate ------------------------------------------------- „Meine Damen und Herren, wir haben ein Problem“, eröffnete der Vorstandsvorsitzende die Sitzung. „Unsere Kunden werden zu alt.“ Die Stimmung im Raum, die sich bei der Eröffnung spürbar angespannt hatte, sankt auf ein behaglicheres Level der Aufmerksamkeit zurück. Das war ein Thema, das alle Anwesenden bereits kannten. Der ein oder andere lächelte seinem Gegenüber am Tisch sogar leicht zu. Erwartet hatten sie ganz andere Kaliber. Unabgesprochene gesetzliche Regelungen zum Beispiel bei der Aufklärung bei Vertragsabschlüssen oder Enthüllungen von Geschäftsgebaren oder gar privatem Verhalten auf Plattformen wie Blogleaks. „Die Prognosen sehen traurig aus. Wenn es mit der Gesundheit und damit der Lebenserwartung so weiter geht, werden die zu unserem Konzern gehörenden Versicherungen nur noch sieben oder gar nur sechs Prozent Gewinn im Jahr machen. Unser Aktienkurs wird ins Bodenlose fallen, wenn das so weiter geht, wir sind schließlich kein produzierendes Gewerbe. Ich erwarte Vorschläge, was wir tun können.“ Herr Schmidt, der als Versicherungsmathematiker angefangen hatte, lehnte sich zurück und ließ seinen Geist wandern. Er hatte seine Kontakte genutzt und das Thema schon vorher gekannt, deshalb konnte er sich für den Moment zurücklehnen. Solche Sitzungen kannte er schon. Jeder Einzelne von ihnen würde einen Standpunkt wiederkauen, den jeder andere schon kannte, nur um etwas gesagt und damit sein Geld verdient zu haben. Was Anette wohl morgen zum Mittagessen machen würde? Würde der BVB es dieses Jahr schaffen, Meister zu werden? Was war eigentlich aus Julius geworden, den hatte er schon lange nicht mehr… „Herr Schmidt, sie haben bisher noch gar nicht beigetragen. Was sagen Sie denn zu den bisherigen Vorschlägen?“ Schmidt holte seine Gedanken in die Gegenwart zurück. Jetzt war es Zeit, den Ball ins Rollen zu bringen. Wenn sein Vorschlag ankam, war ihm der Posten im Vorstand sicher. „Bei allem Respekt den vielen guten Vorschlägen und Argumenten gegenüber“, er nickte zufällig ein paar Gesichtern zu „halte ich es für angebracht, einen deutlich aggressiveren Kurs zu fahren.“ „Was meinen Sie damit?“, fragte der Vorstandsvorsitzende neugierig geworden. „Ich meine damit, wir sollten ein neues Versicherungsmodell einführen. Die gegenwärtigen Lebens- und Rentenversicherungen basieren alle auf alten Vorstellungen, die einer modernen und dynamischen Welt, die sich immer mehr globalisiert und dennoch lokal im einengenden Griff der Überalterung gefangen ist, nicht mehr angemessen.“ Ein bisschen Bullshit lohnte sich immer, hatte Herr Schmidt schon früh gelernt. „Wir müssen daher ein neues Modell erschaffen, eines, das Kapitalströme abfängt, die bisher an unseren Unternehmen vorbeigehen. Ich habe daher (um ein Haar hätte er „meine Abteilung“ gesagt) ein Modell ausgearbeitet, das genau das erlaubt.“ Unter der aufmerksamen Blicken der Anwesenden öffnete er seine Mappe und holte die Übersichten hervor, die er vorbereitet hatte. „Das Hauptproblem für unser Unternehmen, oder eher die gesamte Branche, ist fehlender Kapitalzustrom. Außerdem gibt es ein extremes Abschöpfungsproblem, bedingt durch die Konkurrenzsituation und gesetzliche Vorgaben. Wir müssen daher ein neues Versicherungsmodell vorantreiben, eines, das politisch gesehen auf der demografischen Entwicklung beruht und uns neue Möglichkeiten des Umsatzes bietet. Wie sie auf Abbildung zwei erkennen können, schwebt mir eine Umverteilung der Rentenversicherungsausgaben von der gesetzlichen zu unserer neuen Rente vor. Als Argument können wir hier den steigenden Rentneranteil anführen, der bei einer einfachen Fortschreibung zu einer starken prozentualen Zunahme der Rentenbeiträge führt und damit zur Zunahme der sogenannten Lohnnebenkosten. Das können wir als Überzeugungspunkt nutzen. Wir erklären, dass dies Arbeitsplätze kostet (leises Lachen an dieser Stelle von einigen der versammelten Herrschaften, die wussten, mit Arbeitsplätzen konnte man alles verkaufen). Das muss natürlich verhindert werden, weshalb es nötig ist, diesen Zuwachs zu begrenzen. Dadurch fließt natürlich weniger Geld in die Kassen. Und hier kommen wir ins Spiel. Da der Staat nicht mehr für die Rente sorgen kann, muss es der Einzelne tun. Wir nennen das Selbstverantwortung und eine Stärkung der individuellen Freiheit. Wir nehmen die zukünftigen Rentner in unsere starken Arme – und ihr Geld in unsere Hände.“ „Aber wie bringen wir die Leute dazu, das auch zu tun?“, fragte der Vorstandsvorsitzende, der wusste wie störrisch die Menschen sein konnte, wenn es um ihr Geld ging. „Werbung hat auch ihre Grenzen. Warum sollte uns jemand sein privates Geld geben, nur weil die Sozialkassen weniger haben?“ „Ganz einfach. Weil der Staat ja weniger Geld hat, muss er das Rentenniveau senken, was wiederum die Begründung dafür ist, unser Rentenprodukt anzunehmen. Denn der Graben, der entstanden ist, muss ja gefüllt werden.“ Ein Murmeln zu seiner Rechten ließ ihn aufmerken. „Ja, Herr Meier? Sie haben etwas zu sagen?“ Der alte Mann mit den immens dicken Brillengläsern klopfte auf das Blatt vor ihm und richtete eine Frage in die Runde. „Ihr Vorschlag klingt sehr interessant, aber wie wollen sie in der Politik eine Rentensenkung durchsetzen? Das ist vergifteter Boden!“ Herr Schmidt war beeindruckt. Meier machte immer den Eindruck eines senilen alten Kerles, der nicht einmal mehr an Frauen, sondern nur noch an das nächste Essen dachte. Doch wiedereinmal war er direkt zum Kernproblem vorgestoßen. „Das ist in der Tat ein harter Brocken. Aber wir können es schaffen. Wir haben eine einzigartige Gelegenheit dazu. Die meisten von ihnen haben sicherlich schon von der Agenda 2011 gehört, die gerade ausgearbeitet wird. Viel ist ja noch nicht bekannt, aber es ist wohl jetzt schon klar, dass es viele Einschnitte im Sozialbereich geben wird. Das wiederum wird zu Protesten führen. Die maßgebliche Politik ist jedoch wild entschlossen, die Reformen durchzusetzen. Da diese offiziell unter dem Stichwort der demografischen Entwicklung laufen, könnten wir uns einfach einklinken, denn mit dieser Begründung handeln wir ja auch. Da die Politik diese Agenda durchsetzen wird, ist alles, was einmal im Paket ist, auch am Ende umgesetzt.“ „Und wie stellen Sie sich es vor, diese neue Versicherung in die Agenda zu bekommen?“ Hier musste Herr Schmidt lachen. „Das ist sogar der einfachste Teil. Hier spielt wieder die Demografie die entscheidende Rolle. In Zukunft wird der prozentuale Anteil der Rentner an der Bevölkerung deutlich zunehmen. Deshalb wird innerhalb das Reformpaketes ja auch die Einführung der Besteuerung der Renten enthalten sein. Das ist etwas, das schon feststeht, wenn man den Insidern zuhört. Gleichzeitig wird aber auch die Anzahl der Sozialrentner steigen, zum einen wegen der hohen Anzahl der Arbeitslosen nach der Wende, zum Anderen wegen der Zunahme des Niedriglohnsektors, die ebenfalls schon in der Agenda festgeschrieben steht. Und hier kommt unser Punkt, mit dem wir das Herz eines jeden Finanzministers zum Glühen bringen werden: Entweder, er kann unser Produkt im Alter voll besteuern, wenn diese Änderung umgesetzt wird, oder bei der großen Anzahl Sozialrentner alle Auszahlungen komplett als Einkommen anrechnen.“ Wäre Herr Meier fünfzig Jahre jünger, würde er wohl leise vor sich hin gepfiffen haben. So putzte er stattdessen die dicken Brillengläser. „Es sollte mich nicht wundern, wenn wir es unter diesen Umständen schaffen, sogar noch eine gesetzliche Zulage zu bekommen. Das wäre hervorragende PR für beide Seiten. Wir erscheinen seriöser und die Politik kann sagen: Seht her, wir sorgen uns um eure Arbeitsplätze und begrenzen die Rentensätze. Aber wir sorgen auch dafür, dass es auch nicht schlechter geht, indem wir auch etwas für eure private Vorsorge geben. Wenn wir die Minimumzahlungen dafür gering halten, motivieren wir gerade diejenigen, unser Produkt zu nutzen, die dann in die Sozialrentenfalle tapsen werden, was den Zuschuss zu einem Gewinngeschäft für den Staatshaushalt macht – und natürlich auch für uns.“ Der Vorstandsvorsitzende, für seine Impulsivität bekannt, schlug mit der Hand auf den Tisch. „Das klingt fantastisch. Aber wie hoch werden unsere Gewinne sein, da sie diesen Punkt schon einmal angesprochen haben?“ „Ich bin überzeugt, wir werden eine gute Rendite erzielen. Die Verträge erfordern nach dem Abschluss sehr wenig Arbeit, und den Abschluss selbst können wir uns ja in gewohnter Weise vergüten lassen, wir sind ja nicht der Staat. Außerdem können wir die Gelder in unsere eigenen Produkte stecken, für die natürlich die gewohnten Gebühren anfallen. Drittens sollten wir nicht vergessen, wir sind eine Versicherung. Wir sind konservativ. Wir rechnen also vorsichtig und damit, dass die Lebenserwartung weiterhin stark ansteigt. Das entspricht zwar nicht dem aktuellen wissenschaftlichen Stand, der von einer deutlichen Verlangsamung des Anstiegs ausgeht, aber wie ich soeben sagte, wir sind eine Versicherung und rechnen mit sicheren Zahlen. Das verringert die monatlichen Auszahlungen. Uns verbleibt mehr Geld mit dem wir arbeiten können, denn natürlich wird der Auszahlungsbetrag vom Kapitalstand beim Renteneintritt berechnet. Und falls der Rentenbezieher den Weg alles irdischen nimmt bleibt das Geld bei uns, denn schließlich ist der Rentenvertrag eine persönliche Versicherung zum Wohl des Betroffenen, und nicht etwa eine Vorsorge für die Hinterbliebenen. Das ist übrigens ein Punkt, auf den wir besonders achten müssen, denn natürlich gilt das zu jedem Zeitpunkt des Vertrages.“ Der Vorstandsvorsitzende runzelte die Stirn, doch dann schien ihm ein Licht aufzugehen. „Sie meinen, wenn jemand vierzig Jahre bei uns einzahlt und sich auf seiner Renteneintrittsfeier zu Tode säuft...“ „verlieren wir nicht einen Cent“, vollendete Herr Schmidt den Satz. „Genauso, wenn er mit fünfzig einen Autounfall hat oder mit sechzig einen Schlaganfall. Und so etwas trifft auf mehr Menschen zu, als es die meisten wahrhaben wollen. Allein das sollte unser Produktergebnis erheblich verbessern.“ „Genial!“, rief der Vorstandsvorsitzende begeistert. „Das ist genial! Wenn alles normal abläuft, kassieren wir kräftig an Gebühren, passiert dem Versicherten etwas, haben wir zwar weniger zukünftige Einnahmen, können aber alles bisherige behalten.“ „In diesem Fall sollten wir es auch umgekehrt machen“, warf Herr Plotzek in den Raum. „Wie bitte?“ Der Vorstandsvorsitzende war die scheinbar zusammenhanglosen Einwürfe seines obersten Werbeverantwortlichen gewöhnt, konnte seine Irritation aber nicht verbergen. „Ich meine“, erklärte Herr Plotzek „wir sollten den Versicherten eine Beitragsgarantie geben. Was auch immer sie einzahlen, sie bekommen es als Rente wieder ausgezahlt – sofern sie nicht vorher sterben, natürlich. Da wir sicher sein können, dass eine ganze Anzahl tatsächlich vor Renteneintritt stirbt und die Überlebenden oft auch vor dem prognostizierten Lebensalter, ist das Risiko für uns äußerst gering. Ohnehin machen Einzahlungen nach mehreren Jahrzehnten nur noch einen Bruchteil des Kapitalstocks aus. Dafür sorgen zum einen der Zinseszins, der immer unterschätzt wird, und zum anderen die Inflationsrate. Im Grunde werden wir gar kein Risiko haben, sofern wir Laufzeiten von sagen wir mal unter zehn Jahren verhindern. Der Werbeeffekt könnte allerdings enorm sein, wenn wir das richtig verpacken.“ „Wie ich sehe, nutzen sie die Situation gleich als Begründung für ihre Forderung, ihrer Abteilung mehr Mittel zu verschaffen“, meinte der Vorstandsvorsitzende lächelnd. „Ich habe die Botschaft vernommen. Auf jeden Fall finde ich Herrn Schmidts Vorschlag sehr vielversprechend, wir sollten dem unbedingt nachgehen. Nur eines fehlt mit da noch, ein Name. Wie sollen wir es nennen? Neue Rente klingt doch etwas zu kommunistisch in meinen Ohren.“ Herr Plotzek zuckte mit den Schultern. „Nehmen sie einfach den Namen eines Ministers, der damit zu tun hat. Das macht das Durchbringen durch die Politik einfacher und alle negativen Schlagzeilen werden mit diesem Politiker in Verbindung gebracht, nicht mit uns Versicherungen. Wie heißt der Neue Arbeitsminister? Raster oder so ähnlich?“ Kapitel 11: Kirchengemeinde organisieren Reisen ----------------------------------------------- Wie hatte es nur so weit kommen können, fragte sich Michael und versuchte, nicht an seinen höllisch schmerzenden Rücken zu denken. Womit hatte er das verdient? Dabei hatte die Beschreibung doch so einfach geklungen, geradezu angenehm. „Kirchengemeinde organisiert religiöse Reisen, Tester gesucht!“ Alles, was sie verlangt hatten war eine gute Beobachtungsgabe und genaue Berichte. Dafür würde er auf der ganzen Welt unterwegs sein und die diversen Reiseangebote, die vielleicht in das Sortiment aufgenommen würden, nach einem Dutzend Kriterien beurteilen. Urlaubsreisen machen und mit einer halben Stunde Schreibarbeit bezahlen. Das klang zu schön um wahr zu sein, oder? Das hatte er sich auch gedacht. Deshalb war Michael sehr vorsichtig an die Sache herangegangen. Doch die ersten beiden Reisen waren im Grunde ganz normal gewesen. Gut, dass eine davon eine Fastenreise war hatte ihm nicht sonderlich gefallen, aber schließlich waren es religiöse Reisen, da war so etwas zu erwarten. Als Anfänger musste man halt diese Dinge über sich ergehen lassen, hatte er sich gesagt, und Arbeit war niemals Vergnügen allein. Die Reise zu den berühmtesten Kathedralen Deutschlands war da schon etwas ganz anderes und selbst für ihn, der er nichts von Architektur verstand, sehr beeindruckend gewesen. Als es daher hieß, er würde die wichtigsten Stätten von Jesu Christi besuchen, hatte er sich gefreut. Jerusalem! Ein Hautnahes Erlebnis wurde ihm versprochen. Wenn er gewusste hätte, was damit gemeint war… Er blinzelte, als jemand vor ihn trat. „Hervorragend!“, rief der Mann mit dem auf die Stirn tätowierten Kreuz begeistert. „Der letzte Tester ist bei der Auspeitschung ohnmächtig geworden. Wirklich schade, denn damit hat er das Beste verpasst. Hier, sehen sie!“ Michael versuchte sich auf die Gegenstände in der Hand des Mannes zu konzentrieren. Als er erkannte, um was es sich handelte und was dies bedeutete, schrie er auf. Vergeblich zerrte er an den Seilen, die ihn an das Kreuz fesselten. „Oh, keine Sorge“, versuchte der Mann mit dem Stirnkreuz Michael zu beruhigen. „Wir haben die Nägel vorher gründlich desinfiziert. Sie brauchen keine Angst vor einer Infektion zu haben, wenn wir sie in ihre Hände schlagen.“ Die Augen des Mannes funkelten in religiöser Begeisterung. „Nur noch einen Augenblick Geduld, gleich kommt der Höhepunkt unseres kleinen Festes!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)