Das kalte Gericht von misspe ================================================================================ Kapitel 4: Das Abendessen ------------------------- Die lange Autofahrt nach Baltimore war eine verschwommene Erinnerung in seinem Kopf. Die Hälfte der Zeit hatte er verschlafen, eingelullt von unaufdringlichen Orchesterklängen aus dem Radio und dem dumpfen Dröhnen des Bentley-Motors. Erst Hannibals Finger an seiner Wange, und später in seinen Haaren, weckten ihn auf. Im Halbschlaf lehnte er sich in die Berührung, gab sich dem Bedürfnis nach Wärme und Nähe hin, ohne darüber nachzudenken und war im Nachhinein von sich selbst überrascht. „Wir sind da“, murmelte Hannibal, die Stimme irgendwie üppiger im Akzent. Und es fühlte sich auch so an, als seien sie endlich angekommen, nach einer Reise, die viel länger gedauert hatte, als eine Stunde Autofahrt. Wir sind da „Ich wünschte, du könntest dich durch meine Augen sehen.“ Eine Aussage, auf die Will nur mit Zynismus reagieren konnte, wenn er eine Antwort formulieren würde. Es lag ihm bereits eine schnippische Phrase auf der Zunge, die er wieder runter schluckte. Nach dem Aufwachen war er am empfindlichsten, wenn die Schutzmauern noch nicht standen und sämtliche Emotionen ungefiltert in ihn eindringen konnten. Statt zu antworten, öffnete er die Autotür mit der Hand, hinterließ unweigerlich Blutspuren am Griff und am teuren Leder des Beifahrersitzes. Frank Underwoods DNA. Hannibal musste klar sein, dass er den Wagen loswerden musste. Und wenn er schon dabei war, das Leben, das er gerade führte. Ich ebenfalls, dachte Will und erschauerte. ** Seine Lider waren geschlossen, während Hannibal seine Kopfwunde behandelte, desinfizierte und säuberte. Er fühlte sich matt, betäubt – eine Folge der Schmerzmittel, die Dr. Lecter ihm verabreicht hatte. Zumindest wollte er das glauben. Hannibals Esszimmer wurde nur durch Kerzen und indirektes Licht beleuchtet, angenehm und unaufdringlich. Im Hintergrund lief ein sanftes Klavierstück aus versteckten Lautsprechern. „Will, ich fürchte, die Wunde muss genäht werden.“ Will nickte, er hatte verstanden. Er öffnete die Augen und sah auf seine Hände, die immer noch blutbesudelt Frank Underwoods Herz umklammerten, während sie auf dem polierten Esstisch lagen. Es bereitete ihm ein unbestreitbares Vergnügen, die Tischplatte mit dem Blut ruiniert zu haben. Aus dem Augenwinkel bemerkte Will, wie Hannibal eine Spritze vorbereitete. Ohne ihn anzusehen sagte er: „Keine weiteren Betäubungsmittel.“ Hannibal hielt inne, bedachte Will mit einem prüfenden Blick und legte die Spritze schließlich zur Seite, jedoch nicht ohne anzumerken, dass er ohne sie Schmerzen haben würde. „Gut“, sagte Will und meinte es so. Er wollte so wach und klar im Kopf wie möglich sein. Obwohl er wusste, was kommen würde, traf ihn der erste Stich unerwartet hart. Er stöhnte und biss sich in die Unterlippe, schmeckte Blut, als die Haut unter seinen Zähnen aufriss. „Das war Nummer eins. Es folgen noch sechs.“ Und jeder einzelne war unangenehm, besonders dann, wenn Hannibal den Faden festzog. Will konzentrierte sich auf die flackernden Schatten an der Wand, die das Kerzenlicht warf. „Wie fühlst du dich, Will?“ Der dritte Stich tat nicht weniger weh als seine Vorgänger. „Abgesehen von der Nadel in meinem Kopf?“ „Abgesehen davon.“ Er glaubte, ein Lächeln in Hannibals Stimme zu hören. Will atmete scharf ein, während sich der Faden durch sein Fleisch zog. „Ich habe Schmerzen im ganzen Körper.“ „Schmerzen, auf die du zum großen Teil selbst bestehst.“ Dazu konnte Will nichts sagen, weil es stimmte. Er schluckte ein Ächzen runter, als die Nadel zum fünften Mal seine Haut durchstach. „Selbstgeißelung?“ fragte Hannibal. „Eine Erinnerung“, antwortete Will, „daran, dass ich am Leben bin.“ „Ganz im Gegensatz zu Frank Underwood“, sagte Hannibal leichthin und verknotete die Naht über Wills Augenbraue. Er lehnte sich zurück als er fertig war, betrachtete das Organ in Wills Hand. „Hast du dich bereits entschieden, wie du ihn zubereitet haben möchtest?“ „Roh.“ Will fühlte, wie sich ein freudloses Lächeln in seinem Gesicht ausbreitete. „Ich will ihn schmecken. Unverfälscht.“ Und dann wie ein Nachtrag, der beinah vergessen wurde, aber nicht unwichtig war: „Ich will ihn mit dir teilen.“ Hannibal beobachtete Will lange. Er konnte fast spüren, wie die Blicke, die er nicht erwiderte, über sein Gesicht krochen. Die Nackenhaare stellten sich ihm auf. „So sei es“, sagte Hannibal. Er stand auf von seinem Platz, ging um Will herum, öffnete die Hand und streckte den Arm aus. „Gib ihn mir, bitte. Ich werde ihn säubern.“ Will fiel es schwerer als gedacht, ihn los zu lassen. Er wollte, aber seine Finger hatten sich zu tief in das Fleisch eingegraben, wie Haken, die sich verkeilt hatten. Hannibal löste den verkrampften Griff mit sanfter Gewalt, öffnete jeden Finger einzeln, massierte mit dem Daumen die Knöchel und machte sich selbst die Hände schmutzig, als er ihm Franks Herz abnahm. Mit der freien Hand drehte er Wills Kinn in seine Richtung, hob es an, zwang ihn dazu, den Blick zu erwidern. „Vor dem Essen wirst du dir die Hände waschen.“ ** Hannibal halbierte das Herz, wässerte es, entfernte die Adern und Blutreste und schnitt den Klappenapparat heraus, der zu hart und unverdaulich war. In der Zwischenzeit hatte Will sich gewaschen und umgezogen. Er trug Kleidung, die Hannibal ihm gegeben hatte. Ein schlichtes, weißes Hemd und eine schwarze Stoffhose, die ihm beide besser passten, als er angenommen hatte. Er saß rechts von Hannibal, der am Kopf der Tafel Platz genommen hatte. Auf dem weißen Teller lag nichts weiter, als das rohe Fleisch – keine Soßen, keine Beilagen, keine aufwändigen Dekorationen, ganz seinen Wünschen entsprechend. Will fragte sich, ob es Hannibal schwer gefallen war, sich zurückzuhalten. „Hast du schon ein mal Herz gegessen, Will?“ „Kein menschliches jedenfalls.“ Hannibal lächelte milde. „Es ist kräftig im Geschmack und reich an Vitaminen und Mineralstoffen.“ „Dafür ist der Cholesterin-Gehalt sehr hoch, wie ich annehme.“ Hannibals Lächeln vertiefte sich. Es gab Rotwein. Sie stießen an und tranken einen Schluck. Danach betrachtete Will das Besteck. Eine Gabel, deren Zinken ihm ungewöhnlich spitz vorkamen und ein Messer, das ohne Zweifel scharf genug war. Will aß zuerst, zerteilte das feste Fleisch mit dem Messer in mundgerechte Stücke, bevor es zwischen seine Lippen gelangte und er es zerkaute, langsam, vorsichtig. Er wurde dabei beobachtet. „Herb, würzig“, sagte Will und schloss die Augen, während er weiter kaute. „Erinnert mich an Wild.“ Er öffnete die Augen und begegnete Hannibals Blick, zwei dunkle Brennsteine, die im Kerzenlicht schimmerten. „Wie Reh.“ „Ja“, sagte Hannibal, der sich nun seinem Teller annahm. „Das dunkle Fleisch ähnelt normalem Muskelfleisch eher als der glatten Muskulatur anderer, innerer Organe.“ „Weil es ständig in Bewegung ist.“ Sie aßen schweigend weiter, während im Hintergrund Bachs Goldberg Variationen klimperten. Will genoss die stille Verbundenheit, die Hannibal ebenfalls spüren musste. Vielleicht sogar mehr als er selbst. Oder er verwechselte das, was Hannibal fühlte, mit seinen eigenen Gefühlen. Und spielte es überhaupt eine Rolle? Die Grenzen waren schon lange schwammig, ineinander übergreifend, hoben sich gegenseitig auf. Um eins zu sein. Erst als der letzte Bissen durch Wills Hals wanderte, ergriff Hannibal wieder das Wort. „Wie fühlst du dich jetzt, nachdem du deine Rache ausgekostet hast?“ Will lehnte sich mit dem Weinglas im Stuhl zurück und trank den letzten Schluck, bevor er sagte: „Gut.“ Er dachte kurz nach und ergänzte mit einem halben Lächeln: „Ausgefüllt.“ Hannibal lehnte sich ebenfalls zurück, nicht ganz so leger, immer noch gerade sitzend. „Verfolgt Winston dich immer noch?“ „Winston wird immer bei mir sein.“ Es schmerzte, seinen Namen auszusprechen, es schmerzte an ihn zu denken und Will wusste, dass das nie ganz aufhören würde. „Doch er wird mich nicht verfolgen, er wird mich begleiten.“ Hannibal nickte. „Auf Winston!“, sagte er und trank nun seinerseits den letzten Tropfen Wein. Auf Wiedersehen, alter Freund. ** Will räumte den Tisch ab, während Hannibal in der Küche an der Spüle stand und das Geschirr einweichte. Dazu hatte er sich das Jackett ausgezogen und die Ärmel seines Hemdes hochgekrempelt. Will brachte ihm die Teller, gesellte sich zu ihm und half beim Abtrocknen. Die Narben an Hannibals Unterarmen waren deutlich zu sehen. Brown hatte seinen Job gut gemacht, wenn man vom Endergebnis absah – die Schnitte verliefen nicht quer, sondern gerade, immer der Ader nach. Hässliches, unansehnliches, rosarotes Narbengeflecht, tief genug in die Haut geschnitten, dass es niemals ganz verblassen würde. Ein Gedanke, der Will gefiel. „Du darfst sie anfassen.“ Er hatte nicht gemerkt, dass er beim Starren erwischt worden war, oder dass Hannibal längst kein Geschirr mehr abwusch und ihn stattdessen betrachtete – aufmerksam, neugierig, merkwürdig lauernd. Will streckte die Hand aus, berührte die vernarbte Haut mit den Fingerspitzen. Sie war seidig und weicher als die Haut daneben. Er folgte der Linie, rauf und runter und wieder rauf. Hannibals Lippen teilten sich, als Will den Druck seiner Finger verstärkte und Nägel zum Einsatz kamen. „Willst du sie wieder öffnen?“ Ein verlockender Gedanke, der schnell Gestalt annahm. Er wusste bereits, wie er es tun würde – mit seinen Händen, immer mit den Händen. Ein chaotisches Bild entstand in seinem Kopf, das in den schillerndsten Rottönen leuchtete. Ein Bild, das man nicht ansehen wollte. Und wenn man es doch tat, ließ das Durcheinander jeden sprachlos zurück. Jeden bis auf Hannibal, der Schönheit in Dingen sieht, die andere Menschen in Schrecken versetzen. „Nein“, sagte Will schließlich. Der Schatten eines Lächelns flackerte über sein Gesicht. „Manchmal will ich dir einfach nur weh tun.“ Darauf erwiderte Hannibal nichts, einzig seine Augen funkelten amüsiert. Er streckte die Hand nach ihm aus und Will widerstand dem Drang, zurückzuweichen. Die Finger landeten sanft auf seiner Wange, der Daumen lag auf Wills Unterlippe. „Du hast da noch Blut.“ Eine Lüge. Eine Einladung. Hannibal sagte nichts, als Will den Mund öffnete und seine Zunge warm und feucht über seinen Daumen gleiten ließ. Eine Spiegelung der Szene aus dem Wald. Hannibal versteifte sich, atmete hörbar durch die Nase ein, doch anstatt den Daumen wegzuziehen, drückte er ihn weiter in den Mund, langsam, streifte die Zähne, zwang den Kiefer, sich weiter zu öffnen. Eine Provokation. Will schluckte ein Stöhnen hinunter, während sich seine Lippen unaufgefordert um Hannibals Daumen schlossen. Und einem oralen Urinstinkt folgend, fing er an, daran zu lecken, an ihm zu saugen und zu lutschen. Sein Puls ging hoch, hämmerte in seinen Ohren, pumpte Adrenalin durch seinen Körper. Er zwang sich, den Blick von Hannibals Augen nicht abzuwenden, der ihn anstarrte, als wäre er ein exotisches Insekt, das sich auf seine Hand verirrt hatte. Wunderschön, aber tödlich. Das war gut, doch es genügte noch nicht, Will wollte mehr. So biss er ohne Vorwarnung in den Daumen, verletzte die Haut, schmeckte Blut. Ein Teller ging mit einem lauten Klirren zu Bruch, als er vergessen aus Wills Hand glitt. Hannibals Blick war noch immer mit Wills blauen Augen verwoben. Hannibal zog die Hand weg, nicht abrupt, immer noch kontrolliert, aber der aufmerksame Beobachter konnte erkennen, dass seine Lippen halb geöffnet waren und er durch den Mund atmete. Vielleicht ein bisschen schneller als zuvor. „Du hast mich gebissen.“ Will leckte sich über die Lippen, die bereits ein wenig geschwollen waren. „Ich weiß.“ Ein Schritt, ein Wimpernschlag, ein Atemzug und Will war bei ihm, fing das Gesicht ein und presste einen Kuss auf Hannibals geöffneten Mund. Ihre Körper kollidierten schwungvoll, taumelten, stolperten gegen die Anrichte. Hannibal schnappte nach Luft, als sich die Kante der Arbeitsplatte in seine Wirbelsäule bohrte und Will gönnte ihm nur diese Sekunde, bevor seine Lippen erneut Hannibals Mund ganz und gar beschlagnahmten. Seine Hände wanderten über Hannibals Gesicht, vorbei an den Wangenknochen, durch die Haare – wühlten, zogen an der akkuraten Form, bis sie ihm unordentlich vom Kopf ab standen. Dieser Anblick war befriedigend, aber noch befriedigender war Hannibals gedämpftes Stöhnen. Dieser war es nun, der den Kuss abbrach und sich gegen Will lehnte, Stirn an Stirn, die Nasenspitzen streifend, atemlos. „Will...“ Ein Schauer rieselte in prickelnden Schüben durch seinen Körper, als er seinen Namen hörte, den nur Hannibal mit so viel Bewunderung aussprach. Wertschätzung. Es gab noch ein anderes Wort, das wahrscheinlich besser passte. Über das er nicht nachdenken wollte. Hier ging es nur um Körperlichkeiten. Hier ging es darum, diese seltsame, sexuelle Spannung, die zwischen ihnen herrschte, seit sie sich zum ersten Mal begegnet sind, endlich auszuleben, aus dem System zu kriegen. Mehr nicht. Will erneuerte den Kuss und Hannibals Zähne nagten an seiner Unterlippe, scharfe Kanten, die sich in das empfindliche Fleisch gruben, ihn nach Atem schnappen ließen. Unter Hannibals Hemd zu gelangen, erwies sich als schwieriges Unterfangen. Zunächst musste die Weste weg und Will fummelte lange an den Knöpfen, wie ein Teenager, ungeduldig und ungeschickt. Hannibal tat nichts, um es ihm leichter zu machen, im Gegenteil, seine Lippen und Zähne bearbeiteten Wills Hals, saugten und bissen in die Haut, um sie gleich darauf tröstlich ab zu lecken. Die Hitze seines Mundes verbrannte Will, rieselte in erschauernden Schüben über ihn hinweg, sammelte sich in seinem Schoß. Ich werde markiert, dachte Will. Endlich ein Durchbruch, die Weste war offen und Will konnte das Hemd aus der Hose ziehen, Kontakt aufnehmen mit der erhitzten Haut. Seine Hand fuhr über den Bauch hoch zur Brust, bis er weiches Haar unter seinen Fingern spürte. Das war anders als alles, was er kannte. Keine weichen Kurven einer Frau, stattdessen virile Maskulinität, die neu war und aufregend, genau das, was er brauchte, was er wollte. Doch es mangelte ihm an Erfahrung auf diesem Gebiet. „Du hattest nur Frauen“, murmelte Hannibal, platzierte einen Kuss in Wills Mundwinkel. Ein Schlucken, ein Klicken im Hals und dann ein Nicken. „Nur Frauen.“ „Sag mir, wie du es dir vorstellst.“ Will schloss die Augen und ächzte, als Hannibal die Beule in seiner Hose mit der Hand einfing und zudrückte, sämtliche Zweifel und Unsicherheiten aus seinem Kopf spülte. Der direkte Griff an sein Geschlecht löste etwas in ihm aus, ein Feuer, einen Hunger, der bisher nur indirekt bedient wurde – Will wollte nehmen, ergreifen, besitzen. Diesen Mann vor ihm, der für so viele andere eine lebensbedrohliche Gefahr darstellte. Er wollte der Grund dafür sein, dass seine Fassade in ihre Einzelteile zerbröckelte, unter seinen Händen dahin schmolz, wie Butter in der Sonne. Will lachte zwischen den fahrigen Küssen, die er über Hannibals Gesicht verteilte, in das er seine Hände vergrub, als wollte er es verschlingen. Wenn er gerade einmal nicht damit beschäftigt war, an den aristokratischen Lippen zu saugen, dachte er daran, seine Lungen wieder mit Luft zu füllen, bevor das Brennen in seiner Brust ihn erstickte. „Genau so“, sagte Will, nicht mehr als ein raues Flüstern an Hannibals Ohr und registrierte zufrieden, wie der ältere Mann erschauerte, als er ihn mit der flachen Hand auf der Brust gegen die Arbeitsplatte drückte. „Unter mir.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)