Broken Bonds von Shinosuke ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Daniel Candle war sauer. Gut, das war jetzt grundsätzlich erstmal nichts neues, aber normalerweise hielt er sich damit sehr gut zurück. Er wusste sehr gut, wann es besser war, den Mund zu halten und dass er sich Mike oder Andy nicht in den Weg stellen sollte. In den meisten Fällen reichte es auch aus, Mike in die richtige Richtung zu lenken, doch seit Andy immer weiter aufgestiegen war, wurde das immer schwieriger und wenn diese stechenden pinken Augen ihn ansahen, ergriff in Daniel einfach alles die Flucht. Jetzt hatte er jedoch das Gefühl, eingreifen zu müssen. Mike war blind vor Wut und an dieser Stelle fühlte Daniel sich einfach verpflichtet, das geradezubiegen. Er musste Marianne helfen, das war er ihr- Nein, eigentlich war er es ihr nicht schuldig. Sie lag ihm nur zu sehr am Herzen, als dass er sie jetzt so hängen lassen konnte. Mike hatte sie eingesperrt und nachdem er nun wusste, dass sie mit Nicolas Z zusammen war, war er schier unberechenbar. Wenn er seine Wut nicht bald heraus ließ, würde der eh schon unausgeglichene Gangleader früher oder später explodieren und Daniel wollte einfach verhindern, dass Marianne hierbei die Leidtragende war. Klar war auch er nicht von ihrer Beziehung begeistert, aber davon abgesehen, dass sie sich den Erzfeind ihres Bruders ausgesucht hatte, hätte sie es wirklich schlimmer treffen können. Dass der Northsider es mit ihr ernst meinte, hatte Daniel ja aus erster Hand erleben dürfen und solange Marianne glücklich war, sollte Mike ihr das gönnen, aber das musste der natürlich erst einmal verstehen. Mike saß in der Haupthalle des Westside-Hauptquartiers und natürlich stand Andy an seiner Seite. Die Halle war zudem außerdem nicht ganz leer und Daniel wollte am liebsten wieder umdrehen oder sich einfach an seinen Platz setzen, den Gameboy zücken und einfach wie immer den Mund halten. Er musste Mike alleine erwischen und je näher er ihm kam, desto deutlicher sah er, dass er Mike auf jeden Fall außerdem nüchtern erwischen musste! Halleluhja, seine Pupillen hatten die Iris beinahe völlig verdrängt und plötzlich wurde jeder Schritt immer schwerer. „Mike?“ Bisher hatte ihn niemand beachtet –kein Wunder, immerhin gehörte Daniel Candle in dieser Halle praktisch zum spärlichen Mobiliar-, doch jetzt drehten sich die ersten Köpfe. Natürlich konnte jeder sehen, wie Mike drauf war, da sprach man ihn einfach nicht an! Wäre es nicht so dringend, würde Daniel sicherlich auch einen weiten Bogen um ihn machen, aber er musste einfach mit ihm reden. Es ging immerhin um Marianne und wenn es ein einziges Thema gab, das Mike wirklich ernst nahm und das ihm wirklich am Herzen lag, egal ob er bekifft, betrunken oder nüchtern war, dann war das seine Schwester. Mike Garden hob den Kopf und wandte Daniel seinen verklärten Blick zu. „Wat wills‘ du?“, fragte er genervt und Andy verengte die Augen. Diesen Blick kannte Daniel. Der Spanier machte sich kampfbereit, würde alles genau analysieren und einschreiten, wenn er es für nötig hielt. Diese ätzende Schlange! Irgendwann würde Mike erkennen, was er sich da für einen Widerling ins Haus geholt hatte, bis dahin musste er einfach versuchen, Andys Schaden auf ein Minimum zu begrenzen. „Ich muss mit dir reden.“, sagte Daniel mit fester Stimme. Er war erstaunt, dass Andy schon so früh eingriff. „Dann rede, Amigo.“, forderte er seelenruhig an Mikes Stelle. Daniel wandte sich von Mike ab und Andy zu. „Allein.“, verlangte er mit Nachdruck, doch es war zu spät. Mike hörte wie so oft auf den ersten Input, den er von Andy bekam. „Sach, wat du sagen wills‘ un‘ dann verpiss dich wieder.“, blökte Mike ihm entgegen und Daniel schluckte. Mike war dicht, er war schlecht gelaunt und er hing fest an Andys Fäden. Er sollte wirklich gehen! Ein kurzer Blick nach links und rechts bestätigte ihm die leise Vermutung, dass mittlerweile alle Augen auf ihn gerichtet waren und er zog aus Gewohnheit seine Cappie tiefer ins Gesicht. Nicht, dass er sich jetzt noch verstecken könnte, aber irgendwie fühlte er sich dadurch sicherer. „Es geht um Marianne.“, kündigte Daniel vorsichtig an und Mike reagierte sofort. Seine Hände ballten sich zu Fäusten und er sprang auf, sein leeres Gesicht verzog sich zu einer wütenden Grimasse. „Marianne geht dich gar nix an, kapiert?!“, rief er von seinem Thron aus Holzkisten aus entgegen. „Doch, Mike! Du kannst sie doch nicht einfach einsperren! Das ist Freiheitsberaubung und sie ist immerhin-“ Weiter kam er nicht, ehe Mike ihn unterbrach. „Ick hab‘ gesacht, dat geht dich nix an!“, donnerte er ihm entgegen. „Sie is‘ ‘ne Verräterin und ich kann hier machen, wat ich will! Verstanden?!“ Daniel sah Andys Grinsen und musste sich gehörig zusammenreißen. Es ging hier nicht um Andy, sondern um Marianne! „Mike, sie ist keine Verräterin! Das ist doch verrückt!“ Bevor Mike etwas erwidern konnte, hatte Andy bereits das Wort ergriffen. „Sag mal, du findest das scheinbar nicht so schlimm, dass unsere kleine Miss Westside hinterrücks die Seiten gewechselt hat, hm?“, fragte er mit einer oscarreifen Neugier in der Stimme. Ein kalter Schauer jagte Daniel über den Körper, wenn Andy so sprach und jetzt, wo er plötzlich auf der Anklagebank saß, noch mehr. „Du warst, wenn ich mich recht erinnere, außerdem ziemlich erleichtert, als Z entkommen ist, no? Danny, Danny… Da könnte man ja fast auf den Gedanken kommen, du hättest was mit seiner Flucht zu tun!“ Es war Mike ziemlich deutlich anzusehen, dass er ohne Andys zweifellos geplant spontaner Sorge um Daniels Loyalität nicht auf diesen Gedanken gekommen wäre, aber jetzt fielen die Groschen und Daniel ahnte bereits, dass auch sein Abstreiten sie nicht würde aufhalten können. „Das ist doch Quatsch! Nur, weil ich keinen Mord hier haben wollte, heißt das noch nicht-“ Wieder ließ Mike ihn nicht zu Wort kommen. „Du wars‘ dat?!“, knurrte er und sowohl seine Stimme als auch sein Blick waren eiskalt vor Hass. „Mike! Hör mir doch erstmal zu!“ Noch während Daniel das sagte, zog Mike seine Pistole aus der Tasche und richtete sie auf ihn. „Ich glaub dir kein Wort!“, ließ er ihn wissen und Daniel konnte sehen, was dieser feste Glauben mit ihm anstellte. Mike war verletzt und Daniel konnte das sogar verstehen. Er fühlte sich hintergangen und nun sicherlich auch von ihm verraten und das brachte die Verhandlungsbasis nun vollkommen zum Einsturz. Langsam hob Daniel die Hände und trat einen Schritt zurück. Das war nicht das erste Mal, dass er in den Lauf von Mikes Waffe sah und er wusste, dass Mike ihn nicht erschießen würde. Er drohte ihm einfach gerne, zeigte sich als skrupelloser Gangleader, der er in der Westside schlicht auch sein musste. Das einfachste war es, genau das zu tun, was Mike erwartete, denn im Gegensatz zu Andy plante Mike nicht voraus. Er wollte Daniel drohen und er wollte, dass Daniel sich vor allen Anwesenden hier ihm unterordnete. Zumindest hoffte Daniel, dass es so war. „Ich hab‘ damit nichts zu tun. Wirklich.“, beteuerte Daniel und sah seinem Freund fest in die Augen. Mike jedoch schien das nicht zu beeindrucken, denn mit den Worten „Halt einmal die Fresse, Candle! EIN Mal!“ entsicherte er die Waffe.  Jetzt durfte er keinen Fehler mehr machen, das war Daniel absolut klar. Sein Blick huschte zu Andy, der sich näher zu Mike lehnte und ihm etwas zuflüsterte und Daniel hatte das Gefühl, dass etwas zähes, dunkles aus diesem Kerl heraussickerte, direkt in Mikes Verstand und ihn zusätzlich zu den Drogen noch benebelte. So sehr er sich auch anstrengte, er verstand kein Wort von Andys Geflüster und das machte ihn nervös. Was hatte Andy gesagt? Mike sah sich im Raum um und für einen kurzen Moment meinte Daniel seine Hand zittern zu sehen. Wieder schluckte Daniel, seine Hände immer noch angehoben, um Mike zu demonstrieren, dass er sich nicht wehrte. „Mike? Bitte. Hör mir zu.“, versuchte er es noch einmal und wie in Zeitlupe sah er, was er nicht für möglich gehalten hatte. Andys Mund formte ein Wort, das er nicht verstehen musste und Mike drückte ab. Kapitel 2: ----------- Marianne hob den Kopf, als sie den Schlüssel in ihrer Zimmertür hörte und legte den Laptop beiseite. „Wart‘ mal kurz.“, tippte sie noch, dann wandte sie sich wieder der Tür zu und damit ihrem Bruder, der unentschlossen in das Zimmer lugte. „Biste da?“, fragte Mike zögerlich und Marianne verkniff sich ein Seufzen. So kannte sie ihn. Nicht so wie vor einigen Tagen noch, als er sie an die Wand gedrückt und ihr die Luft abgeschnürt hatte. „Wo soll ich denn sonst sein?“, fragte sie trocken und stand auf. „Ja, richtich…“, murmelte Mike und trat vollkommen ein. „Also, ich…“ Er räusperte sich und Marianne beobachtete, wie er ihrem Blick auswich und sich verlegen am Arm kratzte. Was auch immer er sagen wollte, es war ihm unangenehm und sofort löste es in Marianne Mitleid aus. Ihr Bruder war so niedlich, wenn ihm etwas peinlich war und sie wollte ihn am liebsten in die Arme nehmen, bis er wieder lachte, aber nachdem er sie so angegriffen hatte, traute sie sich kaum, sich ihm zu nähern –obwohl er scheinbar nüchtern war. „Ich wollt‘ dir sagen, dass… Dass es mir Leid tut.“, sagte er schließlich, doch sein Blick ging zur Seite und aus dem Fenster. Marianne merkte deutlich, dass er das nicht gerne sagte und mit sich kämpfte. „Ich mag Z nich‘ un‘ dat weißt du. Er is’n blödes Arschloch und ich will nich‘, dass du wat mit ihm has‘.“ Heiße Tränen stiegen ihr in die Augen und sie spürte, wie ihre Hände zitterten. Noch immer mied Mike ihren Blick, hatte selbst die eine Hand in der Tasche seiner weiten Hose vergraben, hielt die eingegipste Hand unentschlossen vor seinem Körper und senkte nun den Kopf, als wäre da irgendetwas auf dem Boden, was seine ganze Aufmerksamkeit forderte. „Micha, ich…“, begann Marianne leise und ihre Stimme zerbrach schon an diesen beiden kurzen Wörtern, doch Mike sah nun endlich zu ihr auf. Sie sahen sich einen Augenblick lang direkt in die Augen, als Mike weitersprach. „Aber du bis‘ meine Schwester. Ich will dir nich‘ wehtun un‘ ich will, dass du glücklich bis‘.“, sagte er schließlich. Plötzlich war Marianne gar nicht mehr nach Antworten zumute. Sie wischte sich die ersten Tränen von der Wange, doch sofort kamen neue nach. Wortlos schluchzend ging sie auf ihren Bruder zu und ließ sich von ihm umarmen, vergrub das Gesicht an seiner Schulter und weinte. Mike zog die Hände aus den Taschen und streichelte ihr über den Rücken. „Tut mir Leid.“, sagte er leise und Marianne schniefte. Es dauerte lange, bis sie sich beruhigte und so lange blieb Mike einfach mit ihr stehen, streichelte sie, hielt sie fest und kämpfte trotzdem innerlich noch mit der Tatsache, dass sie sich für Nicolas Z entschieden hatten und das vor ihm auch noch geheim gehalten hatte. Er wusste nicht, ob er das jemals vollkommen akzeptieren konnte, aber Johanna hatte Recht. Zumindest versuchen musste er es. Für Marianne. Kapitel 3: ----------- Daniel saß halb aufrecht in dem unbequemen Bett und hatte die Beine angewinkelt. An seinem Oberschenkel lehnte sein Gameboy, eingeklemmt zwischen zwei Falten in der steifen, kratzigen Decke und Daniel drückte lustlos mit der linken Hand darauf rum. Sein rechter Arm lag in einer Schlinge und der Arzt sagte, er müsse ihn ruhig halten und das fiel dem Westsider nicht schwer. Er hatte schon lange nicht mehr so viel Ruhe gehabt wie hier drin… Was ihn allerdings sorgte, war die Tatsache, dass er –obwohl er schon ein paar Tage hier war- immer noch kein richtiges Gefühl in den Fingern hatte. Der Arzt hatte es ihm erklärt, aber er hatte das Gefühl, dass die Worte nicht ganz zu ihm durchgedrungen waren. Yamato war gestern zu Besuch gekommen und hatte alles noch einmal analysiert, aber wirklich besser klang das auch aus seinem Mund nicht. Die beste Nachricht, die er bisher gehört hatte, war Andys Ausstieg. Wenigstens etwas, worüber er sich freuen konnte, aber ob er das auch genießen konnte? Yamato hatte ihn gefragt, wann er wieder zurückkäme und tatsächlich hatte Daniel keine Antwort darauf. Nunja, im Normalfall hätte er gesagt: „Sobald ich hier raus bin.“, aber jetzt? Im Augenblick war er sich nicht sicher, ob er überhaupt wieder zurückkehren sollte. Er kannte die Drohungen und Mikes Launen, immerhin waren sie seit dem Kindergarten befreundet, aber niemals hätte er gedacht, dass Mike wirklich auf ihn schießen würde. Niemals. Es klopfte, aber Daniel sah nicht auf. Wenn er den Bildschirm jetzt aus dem Blick ließ, hatte er die letzte Stunde umsonst gespielt. „Ja?“, fragte er daher nur. Er hörte wen auch immer eintreten und langsam näher kommen, doch er sah erst auf, als der Bildschirm schwarz wurde. „Shit…“, fluchte er und drehte sich seufzend seinem Besuch zu, woraufhin er plötzlich ernst wurde. „Mike.“, stellte er fest. „Hi.“, erwiederte Mike den Gruß und hob kurz die Hand. „Was machst du denn hier?“, fragte Daniel unsicher und setzte sich etwas gerader hin. Mittlerweile wusste er sich zu bewegen, ohne dass es noch mehr wehtat. Er wollte jetzt vor Mike keine Schwäche zeigen, auch wenn er wusste, wie albern das war. „Blöde Frage.“, murmelte Mike und zog den Stuhl heran, der an Daniels Bett stand. Mit einem erschöpften Seufzen ließ der Gangleader sich seinen Hintern fallen, ehe er Daniel wieder ansah. Für einen Moment fragte er sich, warum er so verändert aussah und es dauerte einen Moment, bis ihm auffiel, was denn so anders war. „Wo is’n deine Mütze?“, fragte er und Daniel sah ihn einen Augenblick lang verwirrt an. „Ähm… Keine Ahnung, die liegt wohl noch im Hauptquartier.“, sagte er verunsichert. Ernsthaft? Das war das erste, was Mike ansprach? „Oh. Ich bring se dir nächstes Mal vorbei.“, sagte Mike geschäftig und in Daniels Kopf begann die Analyse. Mike wusste, wie viel ihm die Cappie bedeutete und auch, warum er sie eigentlich nie ablegte und er war dankbar, dass Mike sie ihm bringen wollte. Außerdem hieß das, dass Mike scheinbar bereit war, ihm zu verzeihen und ihn noch ein weiteres Mal besuchen wollte. So weit, so gut. „Danke.“, sagte Daniel schließlich und nickte kurz. Für einen sehr gedehnten Moment trat Stille zwischen ihnen ein, die Mike dann endlich durchbrach. „Ich bin ein Idiot.“, gab er zu und Daniel schluckte. Sollte er ihm zustimmen? Ihm war sehr danach, aber er nahm diese Situation nicht genug auf die leichte Schulter, um Mike jetzt zu ärgern, also schwieg er. Vielleicht erklärte Mike es ihm von sich aus, bevor er nachfragen musste. „Ich hätt‘ nich‘ auf Andy hören dürf‘n. Der hat mich von Anfang an nur verarscht, ich hab‘ dat bloß nich‘ gemerkt.“ Wieder nickte Daniel. Er kannte die Geschichte, wie Andy schließlich aufgeflogen war und obwohl Mike ihn hierher geschickt hatte, so hatte er sich dennoch gewünscht, dabei gewesen zu sein. Er war dafür da, auf Mike aufzupassen. War er schon immer und er hätte es sein sollen, der Andy auffliegen ließ. Nicht Nicolas Z. Er hätte Mike beschützen müssen, aber vielleicht war es so besser gewesen? Mike verdankte ihm eine Menge, was er sicher nie wahrgenommen hatte und was er sicher längst vergessen hatte, aber das wäre präsent gewesen. Ob er ihn dann einfach so hätte gehen lassen? „Ja, ich weiß. Yamato hat mir alles erzählt.“, riss er sich selbst aus seinen Gedanken. Mike sah ziemlich gebeutelt aus und Daniel konnte sich zumindest ansatzweise zusammenreimen, woher das kam. Dafür hatten Yamato und auch Marianne am Handy ganz gut gesorgt. Mike war auf Entzug, seit Andy ausgetreten war und das setzte ihm natürlich zu. Zumindest dafür musste er Johanna wohl dankbar sein. Die beiden hatten ihm außerdem versichert, dass Mike sich nicht mehr an das … Gespräch erinnerte. Dass er ihnen zuerst nicht geglaubt hatte, wen er da niedergeschossen hatte und dass er das furchtbar bedauerte. Dass er sich kaum getraut hatte, hierher zu fahren, dass ihn wahnsinnige Schuldgefühle plagten und dass es ihm unheimlich Leid tat, aber so albern und pubertär das auch war… Daniel wollte das aus erster Hand hören. Mike hatte sich nach vorne gebeugt und stützte seine Unterarme auf seinen Oberschenkeln ab, während er den Kopf hängen ließ und Daniel sah, wie Mike sich unbehaglich an einem Fingernagel herumpulte. Er schwieg, während Mike nach den richtigen Worten suchte. Ja, der Gangleader der Westside war nicht für seine Eloquenz bekannt, aber Daniel rechnete es ihm schon hoch an, dass er es versuchte. Dass er sich vorher überlegte, was er sagen wollte und nicht einfach drauflos redete. Das hieß, dass ihm das hier wichtig war und das wiederum freute Daniel wirklich, obwohl er nicht wirklich wusste, ob es das sollte. „Ich bin echt nich‘ gut in sowas…“, seufzte Mike nach einer Weile. Daniel ließ das unkommentiert und löste seinen Blick von Mike, der nun wieder aufsah. „Sach du doch auch mal wat!“, verlangte Mike da überfordert und nun war es an Daniel, den Blick zu senken. „Was denn?“, fragte er ruhig und schluckte. Ihm schossen tausend Gedanken durch den Kopf, aber keinen davon wollte oder konnte er jetzt aussprechen. „Keine Ahnung! Irgendwat halt.“, drängte Mike und Daniel atmete durch. Er zwang sich, Mike wieder anzusehen, ehe er den Mund aufmachte. „Dann hab‘ ich eine Frage.“, sagte er und Mike blickte ihm wartend entgegen, obwohl selbst Mike sich mittlerweile sicher denken konnte, was das für eine Frage war. Daniel stellte sie trotzdem. „Wie konntest du abdrücken? Mike, du bist mein bester Freund. Wir haben so viel hinter uns, wie konntest du da auf mich schießen?“, fragte er schließlich. Er konnte sich nicht erinnern, Mike jemals etwas so persönliches gefragt zu haben, aber es gab ja für alles ein erstes Mal, nicht wahr? Mike suchte scheinbar selbst nach einer Antwort und Daniel war sich nicht sicher, ob das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war. Wollte er den Grund hören, wenn es einen gab? Einen, der nicht Andy oder Drogen hieß? Wollte er sich sagen lassen, dass Mike ihm doch nicht verzeihen konnte? Dass er ihn nun auch nicht mehr in seiner Gang haben wollte? Nein, das wollte er mit Sicherheit nicht hören, aber die Frage war gestellt und er würde sie nun nicht mehr zurücknehmen.  Wenn Mike sich nur nicht so viel Zeit mit seiner Antwort nehmen würde! Gerade als Daniel erneut nachfragen wollte, räusperte Mike sich. „Ich hab‘ keine Ahnung.“, sagte er schließlich. „Ich kann mich an nix erinnern und ich… Ich könnte dat nich‘ nochmal.“, schloss er. „Ich hab‘ dat auch niemandem geglaubt…“ Daniel nickte und wandte den Blick wieder ab, obwohl Mike ihm nun fest in die Augen sah. Er wog Mikes Blick und seine Worte genauestens gegen dieses Gefühl ab, das sich für immer in seine Seele gebrannt hatte. Als er den Schuss hörte, Mikes Finger am Abzug sah, als er realisierte, dass Mike ihn tatsächlich getroffen hatte… Irgendetwas in ihm war in diesem Moment zerbrochen und Daniel wusste nicht genau, ob er das ignorieren konnte. Bisher hatte er Mike ohne zu zögern aus jeder Situation fischen wollen, ihn immer verteidigen wollen und jetzt? Würde er jetzt jedes Mal Mikes hasserfülltes Gesicht vor sich sehen und sich daran erinnern, dass Mike nicht nur der sein könnte, für den er sich eine Kugel einfing, sondern auch der, der sie abschoss? Dass Mike nicht bereit war, das selbe für ihn zu tun? „Komms‘ du wieder in Ordnung?“, unterbrach Mike ihn und Daniel sah ihn mit einem gewissen Maß Überraschung an. Ein bisschen so, als hätte er vergessen, dass Mike ja noch da saß. „Hm?“, fragte Daniel –gänzlich aus dem Konzept gebracht. Als hätte Mike gewusst, worüber er gerade nachdachte. „Naja, die Wunde.“, erklärte Mike. „Dat wird wieder, oder?“ Er nickte zu dem Arm, der in der Schlinge um Daniels Hals lag und überflüssigerweise folgte Daniel seinem Blick. Als ob er nicht wüsste, wo die Kugel ihn getroffen hätte… „Denke schon. Ist noch nicht alles ganz klar.“, sagte er knapp und Mike nickte verstehend. Daniel merkte, dass ihm noch irgendetwas auf den Nägeln brannte und wieder kam Mike ihm zuvor, als er gerade fragen wollte. „Hab‘ ich… Ähm, also hab‘ ich das Tattoo…?“ Scheinbar brachte Mike es selbst kaum über die Lippen, dass er geschossen hatte. Daniel überraschte sich selbst, als er kurz schmunzeln musste. „Nein, das ist noch intakt. Hast es wohl um zwei Zentimeter verfehlt.“, sagte er ruhig. Irgendwie brachte das Ordnung in sein Gedankenchaos. Sollte er das so annehmen? Dass er noch immer ein rechtmäßiges Mitglied der Westside war? Dass die Kugel das Tattoo knapp verfehlt hatte, als sie ihn durchschlagen hatte? „Puh…“, machte Mike erleichtert und ob es nun die Antwort oder Daniels Schmunzeln oder die Kombination aus beidem war, aber Mike musste grinsen. „Dann kannste ja ohne Probleme wiederkommen, wenn du hier raus bis‘.“, verkündete er und Daniel quittierte das mit einem skeptischen Blick. „Ansonsten nicht?“ Mike hob schnell abwehrend die Hände. „Nee, so war dat nich‘ gemeint! Du… Ich hoffe, du komms‘ bald wieder.“, gab er zu und Daniel sah ihn einen Moment lang an und ließ sich von Erinnerungen überrollen. Er wusste wieder, warum er Mike damals in die Westside gefolgt war. Warum er zu Mike gehalten hatte, nachdem der sich an die Spitze der Westside gemordet hatte. Warum er ihm zu Nicos und Julians Duell gefolgt war. Warum er auch bei Mike geblieben war, als er Nicolas Z entführt hatte. Ein kleines Lächeln schlich sich auf seine Lippen. Er hatte es sich bisher immer nur gedacht und dieses Mal sagte er es. „Irgendjemand muss ja auf dich aufpassen.“  Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)