Herzschlag I von DieJESSYcA (Miss Paine) ================================================================================ 030 – Das Grammofon ------------------- „Kommst du?“, fragte Sofia, als erwartete sie mich dringend. Ich verließ Ezras Zimmer und wurde von Sofia in mein eigenes gewinkt. Irgendetwas hatte sie. „Was ist?“ „Ich wollte dir mitteilen, dass es so nicht geplant war.“ Sie griff mit den Fingern nach dem Kragen meiner Bluse, begutachtete ihn, und sah mir streng ins Gesicht. „Wäre es nach mir gegangen. Ezra war augenscheinlich anderer Meinung.“ Ich zog den Kragen ein Stück nach vorn, um ihn sehen zu können. Er war fleckig, genau wie der Rest meiner Bluse, was mich nicht wunderte, ich hatte Ezra die Treppen hinaufgetragen. „Was meinst du?“ Mir fiel auf, dass auf meinem Schreibtisch ein großer, hölzerner Würfel stand. „Amanda. Ich weiß, dass sie hier war. Ich kann sie noch an dir riechen“, klärte sie mich auf. „Ezra brachte sie her, um dir eine Lektion zu erteilen. Er meinte, das wäre der effektivste Weg.“ „Du warst wütend, dass er gegen deinen Willen gehandelt hat. Hast du ihn deswegen einfach niedergestreckt? Ist er dein Sklave?“ „Das verstehst du nicht.“ „Stimmt, ich verstehe es nicht. Du kannst jedoch gerne versuchen, es mir zu erklären.“ Es klang wütender, als ich eigentlich war. Umso besser.  Sofia konnte ruhig merken, dass mir ihr Vorgehen missfiel. „Na schön.“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust, ging ein paar Schritte und setzte sich auf meinen Schreibtischstuhl. Sah aus, als würde es länger dauern – ich wechselte zügig meine Bluse und nahm auf meinem Bett Platz. Sofia begann in ihrer ganz eigenen, bedeutungsvoll anmutenden Art zu erzählen: „Bevor ich dir erkläre, woher es kommt, dass Ezra hier nicht tun und lassen kann, wozu er Lust hat, musst du ein paar grundlegende Dinge wissen: Ein Vampir – und bei den Menschen ist es im Übrigen genauso –ohne Rückhalt und ohne Kontakte, kann beim kleinsten Fehler sehr schnell vor die Hunde gehen. Die Rechtslage“, sie sagte das mit imaginären Anführungszeichen, „ist in unserer Gesellschaft allerdings ein wenig ... lockerer, da es nur die eine oberste Regel gibt. Alles, was diese Regel nicht berührt, wird ohne den Rat geklärt. Das bedeutet, dass jede Strafe im Ermessen desjenigen liegt, der sie erteilt.“ „Was ist der Rat?“, warf ich dazwischen. „Der Rat ist ähnlich einem Gericht, aber es gibt nur eine Instanz, dafür hat jeder Staat seinen eigenen und man kann – wenn man mit einem Urteil unzufrieden ist – einen anderen Rat befragen. Meistens sind sich die Räte allerdings einig, also hat es wenig Sinn.“ „Wenn man also zum Beispiel, jemandem verbotenerweise in die Erziehung seines Schützlings hineinpfuscht, darf man ihn umbringen“, stellte ich nüchtern fest. Sofia schmunzelte unbeeindruckt und fuhr fort: „Zum Beispiel. Ich hätte ihn auslöschen können – das entspricht dem Töten eines Menschen – doch das hätte mir mehr Ärger eingebracht, als dass es mir geholfen hätte.“ Auslöschen. So nannte man es also, wenn tot nicht tot bedeutete. „Du hättest ihn einfach ausgelöscht?“, fragte ich ungläubig. „Ezra nicht. Jemand anderen vielleicht, das hängt davon ab, wer dahintersteht. Das Auslöschen oder Vernichten eines Vampirs ist kein Verbrechen. Verstößt jemand gegen die Regel, darfst du ihn vernichten, einfach so, darüber wird sich in den meisten Fällen niemand beschweren. Aus anderen Gründen ist es riskant, weil du nie weißt, ob jemand dafür Rache nehmen wird. Durch solche Konflikte wurde bereits manche blutige Fehde verursacht, deswegen unterlässt man es besser, bis zum Äußersten zu gehen.“ Ob jemand für Ezra Rache nehmen würde? Abgesehen von mir? „Ezra habe ich nicht ausgelöscht, weil ich ihn gerne um mich habe, falls du dich das fragst.“ Ich sollte mir angewöhnen, nicht jeden Gedankengang direkt auf meine Mimik zu projizieren. „Den Eindruck habe ich nicht unbedingt.“ „Weil du noch denkst wie ein Mensch. Das wird sich geben.“ „Aha. Deswegen schreibst du ihm vor, was er darf und was nicht.“ „Nun ... ja, zum Teil.“ „Also doch ein Sklave.“ Sie lachte trocken. „Nein, überhaupt nicht. Es steht ihm frei, jederzeit zu gehen. Anders, als bei Magdalena, bindet ihn keine Vereinbarung an mich. Trotzdem – und das ist nicht der einzige Grund – habe ich etwas gut bei ihm, denn sein Leben hätte bereits vor langer Zeit zu Ende sein sollen.“ Die Geschichte nahm eine unerwartete Wendung. Ich setzte die Puzzleteile schnell zusammen. „Er ist bei dir, weil du ihm vor vielen Jahren das Leben gerettet hast?“ „Deswegen und weil wir uns gut verstehen, auch wenn dir das womöglich nicht aufgefallen ist.“ Von Zeit zu Zeit hatte ich es vermutet und den Gedanken schneller verworfen, als er mir gekommen war, daran konnte ihre Beteuerung nichts ändern. Eine Beziehung auf Augenhöhe führten die beiden nicht, und dass sie ihn vor langer Zeit gerettet hatte – warum auch immer – änderte meine Sicht auf das Ganze ebenso wenig. „Du bist wütend“, stellte Sofia fest, nachdem wir uns einige Augenblicke angeschwiegen hatten. „Nein. Eigentlich bin ich schockiert über die Selbstverständlichkeit, mit der man hier Leben beendet.“ „Reden wir noch von Ezra, oder geht es um Magdalena und dich?“ So genau wusste ich das selbst nicht. „Ganz allgemein. Denke ich.“ Ich rutschte ein Stück nach hinten, um mich an die Wand zu lehnen und musterte Sofia ausgiebig. Ich war darauf gefasst gewesen, dass Vampire Menschen töteten. Sie waren Nahrung. Doch dass selbst untereinander eine solche Mordlust herrschte, wollte ich nicht begreifen. Ob Sofia schon immer über diesen Hang zur Brutalität verfügt hatte? Ob sie erst über die Jahre so geworden war, weil man es ihr vorgelebt hatte, weil die Gesellschaft so war? „Woran denkst du?“, fragte sie. „Ich denke, man verliert irgendwann das Gefühl für die Bedeutung eines Lebens, wenn man unsterblich ist. Wie du.“ Ich konnte sehen, dass meine Worte sie unerwartet trafen. Sofia runzelte die Stirn, verzog nachdenklich die Lippen und antwortete schließlich: „Du nimmst mir übel, dass ich dich ebenfalls getötet hätte, wärst du nicht zurückgekehrt.“ „Kannst du mir das verdenken?“ „Nein.“ Immerhin. Ich hätte ihr zugetraut, mir dieses Gefühl mit faden Erklärungen austreiben zu wollen. „War Magdalena die Erste, die du am Leben gelassen hast?“ „Ja.“ Ihre Antworten waren knapp geworden. Als wollte sie vermeiden, etwas Falsches zu sagen. „Und wie viele waren es?“ „Sechs vor Magdalena.“ Tatsächlich hatte ich mit einer höheren Zahl gerechnet. „Zwölf danach“, fügte sie hinzu. „Achtzehn?“, meine Stimme war entsetzt in die Höhe geschnellt. „Du hast achtzehn Menschen umgebracht, weil sie nicht bei dir bleiben wollten?“ Sofia ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. „Ich habe nicht allen eine solch lange Bedenkzeit eingeräumt.“ „Ah. Tja naja, dann danke.“ Ich war erschüttert. Sofias Methode, zuerst zu fragen, ob jemand ihr Schüler werden wollte, erschien mir plötzlich überhaupt nicht mehr nachsichtig. „In ein paar Jahren wirst du darüber nur noch müde lächeln können. Trotzdem kann ich verstehen, dass es dich im Moment schockiert und dass du wütend darüber bist.“ Ich glaubte nicht, irgendwann nur im Ansatz darüber lächeln zu können, doch wütend war ich nicht. „Ich bin nicht wütend deswegen.“ „Enttäuscht?“, fragte sie. „Nein, auch nicht. Wahrscheinlich sollte ich wütend sein, oder enttäuscht, oder beides, bin ich aber nicht. Ich bin angefressen, das ist alles.“ Es überraschte nicht nur Sofia. „Liegt wohl daran, dass ich diese Möglichkeit nie ganz ausgeschlossen habe. Nur dass so viele vor mir waren, das schockiert mich.“ Sofia hatte ihren prüfenden Blick aufgesetzt. Sie durchbohrte mich damit. „Ha“, sagte sie schließlich, als hätte sie nach Minuten endlich den Kern meiner Aussage erfasst. Es kam nichts mehr. Wir sahen uns schweigend an, bis Sofia den Blick neben sich auf den Schreibtisch gleiten ließ. „Ich habe dir etwas mitgebracht“, sagte sie. „Du wirst es brauchen.“ Ich lehnte mich ein Stück zur Seite und inspizierte den großen Holzkasten. „Was ist das?“ Sofia lüftete die Abdeckung „Ein Grammofon.“ Ein großes trichterförmiges Objekt glänzte im Schein meiner Lampe. Es war neben einer runden Scheibe auf einen Holzsockel montiert. Etwas wie das, hatte ich nie benutzt, es war unerschwinglich. „Ein Geschenk?“, fragte ich. „Eine Leihgabe. Du wirst hiermit an deiner Wahrnehmung arbeiten.“ „Mit Musik?“ „Ja. Es wird dir aufgefallen sein, dass dein Gehör sich enorm verbessert hat. Weil es jedoch nicht überall ebenso ruhig ist wie hier, wirst du einen Weg finden müssen, mit erhöhter Lautstärke umzugehen. Das hier soll dir helfen, dich langsam daran zu gewöhnen.“ Sie winkte mich heran. „Komm, ich zeige dir, wie es funktioniert.“ Ich schob mich aus dem Bett und kam zu ihr. Sie wies mich haarklein in die Bedienung dieses Instruments ein, danach legte sie eine Schallplatte auf und die Musik begann zu spielen. Die Züge meines Gesichts verspannten sich, ich hörte das Kratzen der Nadel auf der Platte, Scheppern, undefinierbaren Krach. Dazwischen erklang ein Orchester in ungeheurer Lautstärke. „Mach das aus!“ Sofia stellte es ab. „Das ist es, was ich meinte. Du wirst lernen, damit zurechtzukommen. Das ist unerlässlich.“ Mir war schleierhaft, wie ich mich an etwas gewöhnen sollte, das so massiv auf mich einwirkte. „Du willst mich foltern.“ „Überhaupt nicht. Es geht um Kontrolle“, klärte sie mich auf. „Du kannst – mit ausreichend Übung – viele Dinge in deinem Körper bewusst steuern. Deine Wahrnehmung zum Beispiel. Du kannst deine volle Aufmerksamkeit einem einzigen Geräusch widmen, oder du kannst sie streuen. Willst du etwas nicht hören, konzentriere dich auf etwas anderes, damit kannst du es ausblenden.“ Als müsste ich lediglich die richtigen Hebel in Bewegung setzen. Es klang einfach, wenn sie es sagte, bloß wusste ich nicht, wie diese Hebel zu betätigen waren und wo ich sie finden konnte, nicht einmal wie sie aussahen. Lange Zeit zu suchen, ließ Sofia mir nicht. Sie ließ die Platte weiterlaufen und ich zuckte zusammen. „Ist es außen zu laut, höre nach innen“, sagte sie. „Wie denn?“ „Konzentration und Übung.“ Ich suchte nach einem Geräusch, das erträglicher war, auf das ich mich konzentrieren konnte, doch der Lärm des Grammofons überdeckte alles andere. „Hör bitte auf!“, flehte ich. Sie schaltete es erneut aus „Es ist nicht immer möglich, laute Geräusche abzustellen. Du musst lernen, damit umzugehen.“ Sehr erbauend. „Wie machst du es?“ „Ich denke an einen leeren Raum. Dort gibt es keine Geräusche und dann lasse ich nur das hinein, was ich hören möchte. Aber jeder muss seine eigene Methode finden. Lass dir ruhig Zeit, nur kümmere dich darum.“ Ich nickte und Sofia verabschiedete sich. Inzwischen war es halb sechs am Morgen, längst Zeit, ins Bett zu gehen. Leerer Raum. Weiße Wände. Stille. Ein letztes Mal stellte ich die Musik an. Sie dröhnte ohne Rücksicht los, ich schaltete es sofort wieder ab und huschte unter meine Bettdecke. Für heute konnte mir das Grammofon gestohlen bleiben.   —   Ich stellte schnell fest, dass die Zeit des Müßiggangs vorbei war. Kontrolle – es war Sofias neues Lieblingswort – war die oberste Priorität. Ich sollte lernen mich selbst zu kontrollieren, meine Bedürfnisse, meine Empfindung, meine Gedanken. Ich hatte keine Ahnung, wie ich es anstellen sollte. Alle paar Tage brachte Sofia die Hunde in mein Zimmer, die ersten beiden Male hatte ich mich nach drei, dann nach fünf Minuten übergeben müssen. Es war widerlich, obwohl die beiden nicht einmal nass gewesen waren. Seitdem verließ ich stets den Raum, bevor es zu spät war – zehn Minuten waren der Rekord. Das Grammofon stellte ich von Tag zu Tag seltener an. Sofia störte sich nicht an meinem langsamen Fortschritt, sie hatte noch ausreichend andere Herausforderungen, mit denen sie mich – und ich war sicher, dass es ihr Spaß bereitete – pausenlos auf Trab hielt. Lies dieses Buch! Schreib auf, was du denkst! Bürste die Hunde! Mach Holz! Mach Feuer! Wasch die Wäsche! – Irgendjemand musste das jetzt schließlich tun. Konzentriere dich! Blende es aus! Kontrolliere es! Die schwierigste Übung war unbestritten der Kampf mit mir selbst. Jeden zweiten Abend erhielt ich eine Blutration. Im Glas, denn Sofia wollte mich langsam mit dieser neuen Lebendweise vertraut machen. Es war kein Menschenblut, sondern ihr eigenes, das mir, nachdem ich von Amandas Blut gekostet hatte, nicht mehr halb so schmackhaft erschien wie beim ersten Mal. Dennoch fiel es mir schwer, mich zu zügeln. Beim ersten Mal hatte ich es ihr direkt aus der Hand gerissen, beim zweiten Mal hatte sie es zumindest noch auf dem Küchentisch abstellen können. „Ich nehme das Tuch jetzt weg“, verkündete Sofia. Sie stand hinter dem Tisch, ich saß auf dem Stuhl und wartete darauf, dass sie meine Mahlzeit enthüllte. Auf dem Glas lag ein Untersetzer. Sofia hatte nachgebessert, sie konfrontierte mich nach und nach mit meinem Abendessen, so konnte ich länger widerstehen. Sehen, riechen, schmecken, erst dann durfte ich trinken. „Ist gut.“ Sofia lüftete das Tuch. Ich fixierte das Glas und atmete tief durch. Die zwei Tage ohne Nahrung wirkten sich nicht unbedingt positiv auf mein Durchhaltevermögen aus. Es war um einiges leichter, war man satt. Unruhig wurde ich erst, als Sofia den kleinen Deckel abnahm. „Woran denkst du?“, fragte sie. „Ding Dong Bell.“ Kinderlieder hatten sich als wirksamste Ablenkung erwiesen. Meine Großmutter hatte mir viele beigebracht, mein Repertoire war umfangreich. Ich hatte mich in meinem Stuhl weit zurückgelehnt, der Geruch lockte mich und ich hielt Stand. Sofia schob mir das Glas entgegen. „Gut, versuch es.“ Bis hierhin war ich bereits vor zwei Wochen gekommen, nur das Schmecken bereitete mir Probleme. Ich sollte nippen und es zurückstellen. Ein schwieriges Unterfangen. Es frustrierte mich, dass ich nicht vorankam. Sofia meinte, ich sei ungeduldig, ich solle keine Wunder erwarten, es war erst Mitte Februar. Ich hatte mir fest vorgenommen, meine Selbstbeherrschung bis Ende des Monats perfektioniert zu haben, doch davon war ich weit entfernt und das, obwohl der Reiz bei dieser Übung nur ein Bruchteil dessen ausmachte, was mich erwartete, sollte ich einem Menschen über den Weg laufen. Sofia hatte mir die Theorie ausführlich erklärt: Mein neuerdings erwachter Instinkt ließ mich jeden Menschen als Beute betrachten. Ihr Geruch spielte dabei eine wesentliche Rolle. Das, und das Bewusstsein, einem Menschen gegenüberzustehen, oder eben nicht, erklärte, weshalb ich keinerlei Bedürfnis verspürte, Sofia an die Kehle zu wollen – vorausgesetzt, sie war unverletzt. Auf die Frage nach dem Warum, hatte Sofia mich auf die zahlreichen Bücher verwiesen, die sie auf meinen Schreibtisch gestapelt hatte. Allesamt waren sie anstrengend zu lesen. Sie beinhalteten verschiedene Theorien zur Entstehung dieser ... unserer Art und warum wir ein solch starkes Bedürfnis nach Menschenblut verspürten. Warum das Verlangen, sie töten zu wollen, ganz natürlich war. Eines der Bücher hatte mich stark an die Bibel erinnert. Von Gott geschaffen, um auf Erden seinen Willen zu vollstrecken, um Menschen zu strafen und Chaos zu vermeiden. Andere Autoren waren neutraler an dieses Thema herangegangen. Eindämmung der menschlichen Population, begründete einer. Nahrungskette, biologisches Gleichgewicht. Alles sehr theoretisch und es half mir rein gar nicht, bei meinem überaus praktischem Problem: Das Glas mit Blut, das ich an meine Lippen gesetzt hatte und dessen Inhalt mich wahnsinnig machen wollte. Der erste Tropfen berührte meine Zunge und plötzlich war ich überzeugt, zugrunde zu gehen, trank ich es nicht. Als würde mir jeden Augenblick jemand das Glas aus der Hand nehmen und ich müsste verhungern. Mit einem Zug war es leer und ich war sauer. „Verdammt!“, fluchte ich und zerschlug das Glas auf dem Tisch. „Wieso geht es nicht?“ „Das braucht Zeit.“ Sofia blieb unverändert ruhig. „Das sagst du mir seit Wochen!“ „Und sieh, wie weit du gekommen bist“, versuchte sie mich zu beruhigen. Zwecklos. Ich war dünnhäutig geworden. Meine Toleranzgrenze war weit abgesunken und ich verlor zunehmend die Kontrolle über meine Nerven, obwohl ich daran arbeitete, das Gegenteil zu erreichen. Ich erhob mich zügig aus dem Stuhl und verließ die Küche, bevor ich platzte. Ich musste an die Luft, wieder abkühlen, mich zusammenreißen. Mit dem Fuß schob ich den Schnee von der Treppe, ließ meine Jacke auf die Stufe fallen und setzte mich. Ich fühlte mich wie ein Pulverfass, kurz vor der Explosion. Wollte schreien und um mich schlagen, am liebsten jemandem den Hals umdrehen und bemühte mich dennoch um Ruhe, da keine dieser Verhaltensweisen mir in irgendeiner Art entsprach. Mein Kopf hing weit nach unten, ich mahnte mich, langsam zu atmen und konzentrierte mich auf das Tropfgeräusch, das sich direkt vor mir stetig wiederholte. Ich zählte mit, bis zehn, bevor mir auffiel, dass ich es selbst verursachte. Auf der Stufe unter mir war der Schnee dunkel verfärbt. In meiner rechten Hand steckten Glasscherben, die ich bis eben nicht gespürt hatte. Jetzt spürte ich sie mehr als deutlich. Meine Hand brannte. Sie konnte nicht heilen, solange das Glas darin steckte, also zog ich die Scherben mit fest zusammengebissenen Zähnen heraus. Ein kurzer Schwindel überkam mich, als das Glas erneut durch meine Haut schnitt. Es tat nicht einfach weh, ich spürte, wie Fasern meines Körpers voneinander getrennt wurden – ein abartiges Gefühl. Ich atmete tief durch, nachdem alles entfernt war und ließ ich mich hinreißen das Blut von meiner Hand zu lecken. Es schmeckte ähnlich fad wie Ezras Blut, langweilig, trotzdem konnte ich mich nicht beherrschen. Ich biss in meine eigene Hand und trank mein Blut, ohne dass es mir schmeckte. Es beruhigte mich auf seltsame Art und Weise. Ich verlor die Zeit aus den Augen, die Menge, und hörte erst auf, als mir jemand die Hand aus dem Mund nahm. Ich war müde und Ezras Schulter kam mir sehr gelegen. „Es haben sich schon Vampire bis zur Bewusstlosigkeit an sich selbst betrunken“, sagte er und ließ mich an ihm lehnen. „Ja ...“, gab ich träge zur Antwort. „Hat Sofia dich geschickt?“ „Nein, ich habe gehört, was passiert ist.“ „Ah. Na dann.“ Ich wusste nicht, was das bedeutete. „Was ist denn passiert?“ „Ihr versucht gegen deine Natur zu arbeiten, das kann nicht funktionieren und es ist schädlich. Ich gehe davon aus, dass du früher oder später den Verstand verlierst, wenn ihr auf diese Weise  weitermacht.“ Eine Analyse, wie sie nüchterner nicht hätte sein können. „Ezra? ... Hast du Magda gefunden?“ Er antwortete nicht sofort und ließ sich schließlich auf den Themenwechseln ein. „Es geht ihr gut.“ „Schön.“ Sofia hatte ihr Wort gehalten. Mehr wollte ich nicht wissen, auch zu Magdalenas Schutz. Stattdessen lehnte ich noch eine Weile schweigend an Ezras Schulter. Es war angenehm. Seit Magdalena gegangen war, schien Ezra verständnisvoller geworden zu sein. Gesprächiger, freundlicher und vor allem weniger abweisend. Vielleicht lag es daran, dass wir seit Wochen nicht mehr trainiert hatten, dass er mich nicht mehr regelmäßig sah. Dass ich ihm weniger auf die Nerven ging, oder einfach daran, dass ich nun endgültig und unwiderruflich ein Teil seines Lebens war. Er hatte sich bei mir bedankt, als er am Tag nach Magdalenas Abschied wieder zurückgekehrt war, danach hatte ich ihn einige Zeit nicht gesehen und dann – als er wieder aufgetaucht war – war es, als wäre nie etwas gewesen. Offenbar nahm er es Sofia kein bisschen übel, was sie getan hatte. Er war nicht nachtragend und ich wollte mir ein Beispiel daran nehmen. „Trainieren wir eigentlich irgendwann wieder?“, fragte ich leicht benebelt. „Fürs Erste nicht.“ „Wieso?“ „Ich will mir nicht ins eigene Fleisch schneiden.“ „Oh ... verstehe. Ich muss mich erst im Griff haben.“ Sein Schweigen ließ sich zweifellos als Ja werten. „Wie lange wird das dauern?“, fragte ich. „Kann ich nicht sagen.“ „Es nervt mich ... Ich komme kein Stück voran.“ „Sofia wird irgendwann einsehen müssen, dass dieser Weg nicht der Richtige ist.“ „Und welcher wäre der Richtige?“ „Dich ins kalte Wasser zu werfen und abzuwarten, ob du von alleine schwimmen kannst.“ „Ich kann schwimmen! Fay hat es mir beigebracht.“ „Das war eine Metapher.“ „Weiß ich doch.“ Es fiel mir schwer, die Augen offen zu halten. Wie viel von meinem eigenen Blut hatte ich wohl getrunken? „Ich habe sie schon lange nicht mehr gesehen. Fay. Wann kommt sie wieder?“ „Überhaupt nicht.“ „Wie-?  ... wegen mir.“ Ich bedauerte diese Entwicklung. Nicht nur wegen Fay, auch für Ezra tat es mir leid. „Das ist wirklich ungerecht ...“, fügte ich hinzu. „Behänge dich nicht mit den Problemen anderer Leute. Du hast selbst genug.“ Wohl wahr. Eines davon, öffnete soeben die Tür hinter uns. „Megan, kommst du bitte wieder herein?“ Sofia wartete und ich rappelte mich auf. Meine Beine waren weich und Ezra half mir hoch. Danach verabschiedete er sich. Er wollte noch in die Stadt, vielleicht Fay besuchen. Ich wurde von Sofia empfangen, die mich zielstrebig in den Salon geleitete. „Bist du aufnahmefähig?“, fragte sie, nachdem sie in ihrem Sessel platzgenommen hatte. Ich bemühte mich um einen wachen Ausdruck und nickte. „Gut. Denn ich möchte offen mit dir sein und benötige eine ehrliche Antwort.“ Ein weiteres Nicken und Sofia begann. „Ezra hat dir erzählt, was er von meiner Erziehungsmethode hält und ich möchte nicht völlig von der Hand weisen, dass er unter Umständen recht haben könnte. Dieser Weg, den ich mit dir gehe, hatte bisher noch keinen Erfolg. Aber – und davon bin ich überzeugt – wir haben gegenüber allen anderen einen unschlagbaren Vorteil: Dein Kopf ist frei von Panik, frei von Angst. Keinem anderen Vampir war diese Klarheit zu Beginn seines neuen Lebens gegeben, nur dir, weil ich dich darauf vorbereitet habe, und ich glaube fest daran, dass es möglich ist, mithilfe dieser Klarheit einen Weg zu gehen, der sowohl für dich, als auch für mich und dein Umfeld bei Weitem ungefährlicher ist, als die Methode, die Ezra vorzieht. Es mag sein, dass dieser Pfad länger sein wird, dass wir mehr Geduld aufbringen müssen, doch ich bin sicher, dass es das wert ist.“ Sofia sprach mit solcher Überzeugung, dass ich kaum wagte, Widerworte zu geben. Möglicherweise konnte es funktionieren, ich hatte immerhin nicht die leiseste Ahnung, weder von der einen noch der anderen Methode. „Und nun möchte ich dich etwas fragen“, fuhr sie fort. „Wie genau fühlst du dich?“ War das die Frage? Sie erschien mir banal. „Müde.“ „Ich meine, wie du dich ganz allgemein fühlst.“ „... wie das Band einer Steinschleuder.“ „Kannst du es noch eine Weile festhalten?“ Ich zuckte mit den Schultern. „Vielleicht. Ich weiß es nicht.“ Sofia musterte mich prüfend, als könnte sie auf diese Weise herausfinden, wie lange ich es noch aushalten würde, ehe ich wahnsinnig wurde. „In Ordnung. Eine letzte Frage: Wie steht es mit dem Grammofon?“ Das hatte ich schon beinahe verdrängt. „Nicht gut. Jedes Mal, wenn ich es anstelle, fühlt es sich an, als hämmerte man mir Nägel in die Ohren.“ „In diesem Fall, möchte ich dir ein Geschäft vorschlagen: Du konzentrierst dich in den nächsten Wochen ausschließlich auf die Kontrolle über dein Gehör, und sobald du es kannst, verreisen wir.“ „Wohin verreisen?“ „Das überlege ich mir, sobald es soweit ist. Irgendwohin, wo es viele Menschen gibt und uns keiner kennt. Wo es nicht auffällt, sollte jemand verschwinden. Wir werden jagen gehen.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)