Herzschlag I von DieJESSYcA (Miss Paine) ================================================================================ 012 – Reibereien ---------------- Ich griff seine Hand, wich zur Seite und riss ihn mit Schwung zu Boden, noch bevor er etwas dagegen unternehmen konnte. Ezra blies erschöpft die Luft aus und blieb im Sand liegen. "Hat Magdalena dir etwas ins Essen gemischt?" "Nichts anderes als sonst auch." Ich half ihm auf die Beine. Es hatte lange gedauert, bis ich es geschafft hatte, Ezra zu Fall zu bringen. Über drei Jahre lang hatte er mich jeden zweiten Abend trainiert. Ausdauer, Stärke und Schnelligkeit und heute hatte ich ihn zum ersten Mal zu Boden gehen sehen. Ein unbeschreiblicher Triumph. Ich wischte den Schweiß von meiner Stirn und konnte mir das Grinsen nicht verkneifen. Es war auch nicht nötig, Ezra konnte es sowieso nicht sehen. "Gratuliere, damit können wir das Training für heute beenden." "Danke." Er nickte und wand sich schließlich von mir ab, um den Keller zu verlassen. In mir rauschten die Glücksgefühle wie wild. Es war ein fabelhafter Tag. Nicht nur wegen meines Sieges, nein, ich hatte Lauras Geschichte letzte Nacht beendet und sie Sofia zum Lesen gegeben. Es war ein dickes Buch geworden, ganz anders, als ich es ursprünglich geplant hatte und ich war zufrieden mit dem Ergebnis. Pete hatte zu seiner Schwester zurückgefunden und gemeinsam hatten sie sich ihre eigene Welt erkämpft. Ich war gespannt, was Sofia dazu sagen würde. Es war längst weit nach Mitternacht, als ich aus dem Badezimmer kam. Nach meinem Sieg über Ezra hatte ich ein ausgedehntes Bad verdient und das brauchte nun mal Zeit. Gewöhnlich ging ich nicht so früh zu Bett, heute gab es jedoch nichts mehr zu tun. Die Schreibmaschine, die ich vergangenes Jahr zu meinem zwanzigsten Geburtstag bekommen hatte, durfte heute ruhen und ich schloss mich dem an. Ich hatte keine Angst mehr vor dem Schlafen. Meine Alpträume hatten sich längst verzogen und auch tagsüber fühlte ich mich fast wie vor meinem Absturz, nur stärker. Ich war nicht mehr das kleine, schwache Mädchen, dass man herumschubsen konnte. Ich verfügte inzwischen sowohl körperlich, wie auch mental über die nötige Stärke, die es brauchte, um in dieser Welt zu überleben. Sofia hatte einiges dazu beigetragen, sie war eine ebenso gute Lehrerin, wie Ezra, nur auf eine andere Art. Sie hatte meinen Geist neu aufgebaut, mich motiviert und bestärkt in allem was ich tat. Du bist stärker, als du selbst weißt. Das hatte sie gerne gesagt. Besonders im ersten Jahr hatte sie mich immer wieder auffangen müssen. Es war kein leichtes Jahr gewesen. Der Tiefpunkt meiner Depression war ein mehr oder minder beabsichtigter Sturz im Treppenhaus gewesen. Ich hatte etwas spüren wollen, etwas, das nicht mit meinen Erinnerungen zusammenhing. Es war dumm gewesen und ich war nicht stolz darauf, nur konnte ich es sowieso nicht mehr  ändern, also verbuchte ich es unter Dämlicher Aussetzer und dachte nicht weiter darüber nach. Ich dachte generell nicht mehr viel über Vergangenes nach. Es schmerzte noch, also hatte ich es verschlossen. Ich segelte gerade allmählich hinüber ins Land der Träume, als es an meiner Tür klopfte. "Megan? Bist du noch wach?" "Ja, komm herein." Meine Tür öffnete sich und Fay trat ein. "Hast du schon geschlafen?" "Nein, noch nicht. Was gibt es?" Sie schloss die Tür hinter sich und kam an mein Bett. "Kann ich eine Weile hier bleiben?" Ich sah sie fragend an. "Was ist denn los?" Normalerweise kam Fay nicht des Nachts in mein Zimmer und bat mich um Unterschlupf. Wir hatten uns angefreundet und ich verbrachte gerne Zeit mit ihr, ungewöhnlich war dieser nächtliche Besuch dennoch. "Ich fühle mich nicht gut und ich will heute nicht bei Ezra schlafen", erklärte sie mir ihre missliche Lage. "Meine Kutsche kommt erst um 10 Uhr morgen früh ..." "Dann willst du hier schlafen?" "Wenn ich darf." Es war ein wenig unkonventionell, trotzdem ließ ich sie unter meine Decke schlüpfen. Das Bett war groß genug für uns beide und wegschicken wollte ich sie nicht. "Versteht Ezra es denn nicht, wenn du keine Lust hast?" Sie seufzte. "Doch, sicher. Ich kann mich aber nicht einfach neben ihn legen und schlafen." "Ach so." Gewöhnlich sprachen wir nicht über die Dinge, wegen derer sie Ezra besuchte. Es war kein Thema, über das man so offen sprechen konnte, jedenfalls nahm ich das an, denn bisher hatte mir niemand gesagt, welche Art Beziehung die beiden führten. Vielleicht war jetzt genau der richtige Moment, das herauszufinden. "Darf ich dich etwas fragen?" "Sicher, frag ruhig." Ich war nervös. Es war eben anders, als über eine neue Frisur zu sprechen. "Was ist das zwischen euch beiden?" Fay hatte sich in meine Richtung gedreht und sah mich nachdenklich an. "Das ist ein bisschen kompliziert", begann sie schließlich zögerlich, "Er braucht mich, weißt du." "Brauchen? Wozu?" "Das kann ich dir nicht sagen. Er würde mich steinigen, wenn ich es dir verrate!" Sie lachte. "Schlaft ihr miteinander?" Die Frage brannte mir schon lange unter den Nägeln. "Megan!", fuhr sie mich entgeistert an. "Nein, tun wir nicht. Ich bin doch keine Dirne!" "Nun ... ich dachte nur, weil ... na ja, du immer erst abends hierher kommst und über Nacht bleibst und meistens verschwindest du am Morgen wieder." "Jetzt wo du es sagst ..." Fay ließ sich meine Worte durch den Kopf gehen. "Man könnte auf den Gedanken kommen, aber so ist es nicht. Und jetzt frag bitte nicht weiter, du bringst mich sonst in Schwierigkeiten." "Ist gut. Dann gute Nacht." "Gute Nacht." Meine Gedanken kreisten noch eine ganze Weile um die merkwürdige Verbindung, die Fay mit Ezra hatte. Er brauchte sie also, nur wozu, wenn nicht zum Vergnügen? Ich konnte mir keinen Reim darauf machen. Es war eigenartig, doch heute würde ich das Rätsel gewiss nicht mehr lösen. Ich fand mich damit ab und drehte mich zur Seite. "Weiß er, dass du hier bist?", fragte ich leise. "Ich denke schon, er weiß fast immer wo ich bin." Ihre Antwort stiftete mehr Verwirrung, als dass ich schlau daraus werden konnte. Mir blieb nur zu hoffen, dass Ezra es uns nicht übel nehmen würde, wenn er erfuhr, dass Fay die Nacht über bei mir gewesen war.   —   Wenig später wurde ich geweckt. Jedenfalls fühlte es sich so an. Fay wälzte sich unruhig hin und her und ich bekam einen ihrer Arme ins Gesicht geschlagen. "Au! Was? Fay ..." Sie schien zu träumen und ich beschloss sie davon zu erlösen. "Wach auf, du träumst!" Es war befremdlich, dass nun ich diejenige war, die jemanden aus einem Alptraum wecken musste. Es fühlte sich gut an. Fay blinzelte mich verblüfft an. Draußen wurde es langsam hell und ich konnte ihr Gesicht gut erkennen. Sie trug Schweißperlen auf der Stirn und sah erschöpft aus. Ich hatte ein ungutes Gefühl, während sie mich orientierungslos anstarrte, und legte meine Hand auf ihre Stirn. Sie war heiß. "Fay, du hast Fieber." Ich schlug meine Decke zurück und stand auf. "Ich bringe dir etwas zu trinken und ein kühles Tuch." Dann verließ ich mein Zimmer und eilte ins Bad. Auf dem Flur kam mir Ezra entgegen. Er wirkte verstimmt. "Sie ist bei dir, nicht?", fragte er, während ich ein Tuch unter den laufenden Wasserhahn hielt. "Ja, es geht ihr nicht gut. Sie braucht Ruhe." "Verstehe." Ezras Tonfall war trocken und distanziert, so wie er früher oft mit mir gesprochen hatte. Für gewöhnlich pflegte er einen neutraleren Ton, wenn er mit mir sprach. Heute war seine Laune offensichtlich getrübt. "Sag ihr, sie soll morgen wieder kommen." "Das wird nicht gehen. Sie ist krank." Er schnaubte entnervt. "Schön, dann nicht." "Du könntest dich ruhig etwas um sie sorgen." Vielleicht hätte ich das nicht sagen sollen, schließlich war ich noch weit davon entfernt, ihm solche Vorwürfe machen zu dürfen, es war mir nur sehr missfallen, wie wenig Fays Gesundheit ihn interessierte. "Ein Sieg und schon wirst du überheblich? Kleine Megan, misch dich nicht in Dinge ein, die dich nichts angehen, sonst wirst du es bereuen." Er wandte sich ab, als ich nichts mehr dazu sagte, und ging in sein Zimmer. Sogar für seine Verhältnisse war das eine ungewöhnlich barsche Antwort gewesen. Ich schob den Gedanken schnell beiseite und ging zurück in mein Zimmer, um Fay mit Wasser zu versorgen und ihre Stirn zu kühlen. Sie hatte die Unterhaltung zwischen Ezra und mir mitbekommen und sah mich entschuldigend an. "Tut mir leid, dass du wegen mir Ärger hast." "Nein Blödsinn, das ist nicht deine Schuld. Ezra ist schlecht drauf." Fay sagte nichts mehr, sie trank ein paar Schlucke und lehnte sich zurück. Ich legte ihr das feuchte Tuch auf die Stirn und begab mich zurück in mein Bett. Ich bemühte mich, noch eine Weile wach zu bleiben, um Fay im Auge zu behalten, doch die Müdigkeit hatte mich schnell eingeholt. Ich schlief ruhig weiter, als wäre nichts gewesen und wurde erst sehr viel später von ganz alleine wach. Fay war verschwunden. Ich sah auf die Uhr und es war bereits früher Nachmittag. Als ich nach unten in die Küche ging, fand ich diese verlassen vor. Auf dem Tisch lag eine Notiz von Magdalena: Bin mit Fay in die Stadt gefahren. Essen steht im Backofen. Wenigstens hatte Fay nicht alleine in ihrem Zustand nach Hause fahren müssen. Ich hoffte sehr, dass es ihr bald besser gehen würde. Nach einem kleinen Mittagessen zog ich mich um und ging nach draußen. Hosen fand ich gar nicht mehr so unbequem, im Gegenteil, sie waren sehr praktisch. Ich rief die Hunde herbei und nahm sie mit zum Laufen. Yasha und Isaak trieben sich bei gutem Wetter draußen auf den Wiesen herum und sie folgten mir inzwischen aufs Wort. Ich lief mit ihnen zum Waldrand, der etwa drei bis vier Meilen entfernt war. Das tat ich immer, wenn ein Tag ohne abendliches Training mit Ezra anstand. Ich hatte diesen ungeheuren Bewegungsdrang entwickelt, der mir dabei half meinen Kopf freizubekommen. Am Anfang war es fast eine Sucht gewesen, inzwischen war es reine Routine und ich konnte mir meine Tage nicht mehr ohne diese schweißtreibende Unternehmung vorstellen. Im Winter war es zuweilen unangenehm, aber jetzt, im August, machte es unheimlich Spaß. Ich hatte mich schnell an die neuen Temperaturen gewöhnt, schneller als ich das erwartet hatte, und nach dem ersten Winter war der Zweite nur noch halb so schlimm gewesen. Neben meiner stark verbesserten Ausdauer war ich auch deutlich schneller geworden. Nicht so schnell wie die Hunde, aber das lag wohl in der Natur der Sache. In weniger als einer Stunde erreichten wir den Waldrand. Wir pausierten im Schatten der Tannen, ich setzte mich ins hohe Gras und lauschte der Natur, die mich umgab. Vögel zwitscherten vergnügt in den Wipfeln über uns und die Luft duftete nach Wald und Wiese. Ich fühlte mich hier sehr wohl, als wäre ich angekommen, wo ich hingehörte. Dieses Stückchen Land war mehr Heimat, als jedes vorherige zu Hause es je gewesen war. "Isaak, komm hier her!" Sein kurzes Fell glänzte in der Sonne, als er eilig zu mir herüberkam. Ich benutzte ihn als Kopfkissen und genoss noch eine ganze Weile die lebhafte Ruhe, weit ab jeglicher Zivilisation. Für den heutigen Tag hatte ich mir keine Pläne zurechtgelegt, ich würde mich treiben lassen und sehen, was er bringen würde. In den letzten Monaten hatte mein Zeitgefühl, wegen genau dieser Tage, sehr gelitten. Meine Tagesabläufe waren, bis auf die Trainingseinheiten, immer sehr flexibel in ihrer Gestaltung. Es gab keine Termine, keinen Druck und überhaupt konnte ich tun und lassen, wonach mir der Sinn stand. Manchmal las ich die ganze Nacht, dann verbrachte ich eine Woche an der Schreibmaschine oder ich war stundenlang draußen unterwegs. Es war fast zu schön, um wahr zu sein und tatsächlich war Sofias einzige Anforderung, dass ich sie mit neuen Geschichten versorgte und das tat ich. Ich erfüllte ihr jeden Wunsch. Wenn sie eine Liebesgeschichte lesen wollte, schrieb ich eine Liebesgeschichte. Wenn es ein wildes Abenteuer sein sollte, so bekam sie auch das. Es gab nur eine einzige Geschichte, die ich bisher noch nicht hatte niederschreiben können, obwohl sie mich schon so oft darum gebeten hatte. Es ging nicht. Aus heiterem Himmel fiel mein Kopf auf den Boden. "Hey! Isaak! Was soll das?" Er war aufgesprungen und hatte blitzartig den Heimweg angetreten. Yasha hatte die Verfolgung aufgenommen und beide rannten zurück nach Hause. Ich sah den Zweien ratlos hinterher, bis mir ein Regentropfen auf den Arm fiel. Über mir hatten sich einige dicke Wolken zusammengetan. Jetzt verstand ich Isaaks Aufregung, er hasste Regenwetter. Yasha hatte das Jagdfiebergepackt, als sein Freund so plötzlich davonstob. Ein weiterer Tropfen. Noch einer. Ich beeilte mich, davonzukommen, um einigermaßen trocken zu bleiben. Es war aussichtlos. Der aufkommende Wind blies mir die Wolken so schnell hinterher, dass ich eine Stunde später tropfnass ins Haus flüchtete. Alles klebte an mir. Ich verschwand eilig in mein Zimmer, um die nassen Sachen abzustreifen und warf mich in eines der neuen Kleider, die Sofia mir aus der Stadt mitgebracht hatte. Es war nachtblau, knielang und wunderschön. Sofia hatte mir schon häufiger Kleider, Hosen und Blusen gekauft, mein Kleiderschrank war voll davon und trotzdem brachte sie ständig neue Sachen. Als wäre ich die Tochter, die sie nie hatte. Vielleicht war ich das sogar, denn Kinder hatte sie nicht, das hatte sie mir erzählt.  Es war kurz nach halb sechs, als ich mich auf den Weg in die Bibliothek machte. Am Fenster standen zwei Sessel, einer gehörte mir. Ich hatte ihn schon im ersten Jahr bekommen, da ich mich geweigert hatte, auf Sofias altem Erbstück Platz zu nehmen. Ich nahm das Buch vom Beistelltisch und fuhr fort. Eine Tragödie von Shakespeare. Macbeth. Kurz nachdem ich den vierten Akt beendet hatte, öffnete sich die Tür und Sofia trat ein. "Guten Abend", grüßte sie mich und ich erwiderte den Gruß. Sie kam herüber und nahm in ihrem Sessel Platz, in der Hand hielt sie die Seiten meines Romans. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, schlug sie es in der Mitte auf und begann zu lesen. Es war nicht ungewöhnlich, dass wir zusammen in der Bibliothek saßen und uns in die Geschichten vertieften, die uns in Händen lagen, nur war es aufregender, wenn ich wusste, dass es meine Geschichte war, die sie gerade las. Es fiel mir schwer, Shakespeares Worten zu folgen. Meine Gedanken schweiften ständig ab und ich musste alles dreimal lesen, um es wahrzunehmen. "Wie findest du es?", fragte ich nach einigen quälenden Minuten. Sofia blickte mich nüchtern an. "Es ist düster." Ich war nicht sicher, ob das etwas Gutes oder etwas Schlechtes war. Ihrem Gesicht konnte ich es nicht entnehmen. "Als du mir das letzte Mal davon erzähltest, klang es noch weitaus fröhlicher." "Ja, ich habe meinen Plan ein wenig umgeschrieben. So gefällt es mir besser." "Pete will seine Mutter töten?" Ich schwieg einen Augenblick. Fand sie das schlimm? "Nun ... ja. Sie war doch überhaupt erst schuld an der ganzen Sache." "Verstehe." Endlich lächelte sie. "Ich bin gespannt, ob er das in seinem Zustand schafft." "Sein Zustand?" Er war bei bester Gesundheit. "Er kommt mir ein wenig zerrissen vor. Nicht fokussiert genug." "Oh ... ach das. Ja, er ist ... nein, ich sage nichts." Sofia schmunzelte vergnügt. Ich mochte es, wenn sie mich mit dieser Mischung aus Neugierde und Stolz betrachtete. Es ließ mich wachsen. Sie wandte sich wieder meiner Geschichte zu und auch ich konnte meine Konzentration zurück zu Macbeth lenken. Als ich fertig war, stellte ich fest, dass dieses nicht zu meinen Lieblingswerken zählen würde, und lehnte mich abwartend zurück. Sofia war noch lange nicht fertig. Vermutlich würde sie es heute nicht mehr schaffen, bis zum Schluss zu gelangen. Auf ein kurzes Zwischenfazit konnte ich mich dennoch einstellen. Es dauerte noch eine halbe Stunde, bis sie mich wieder ansah. "Ich möchte dir eine Frage stellen." "Ja, was möchtest du wissen?" Ich rechnete mit einer Frage zum Inhalt meiner Geschichte, doch das war es nicht, was Sofia beschäftigte. "Wie kommt es, dass du in dieser Geschichte so viele Dinge ansprichst, die dich verletzt haben, und du dich trotzdem noch immer weigerst, deine eigene Geschichte zu erzählen?" "Weil es etwas anderes ist." Ich hatte es ihr schon mehrfach erklärt und sie versuchte es dennoch immer wieder. "Du weißt, dass es inzwischen dreieinhalb Jahre her ist, dass ich dich mitgenommen habe." "Das ist mir bewusst." Sie legte mein Buch zur Seite und fuhr fort: "Ich weiß sehr wohl, dass ich dich nicht zwingen kann und doch möchte ich dich erneut darum bitten, endlich damit anzufangen." "Warum? Wie du siehst, geht es mir auch ohne diesen Blödsinn hervorragend!" Ich wurde wütend. Sofia konnte es einfach nicht lassen. Ich verstand nicht einmal, warum ihr so viel daran lag, dass ich es aufschrieb. Kein Mensch würde das lesen wollen. Und überhaupt war es mir sowieso viel lieber, wenn es niemand wusste. Es war meine Geschichte und sie ging niemanden etwas an! "Du brauchst nicht zornig werden." "Ich bin es aber! Und das ist nicht meine Schuld!" Ich erhob mich zügig aus meinem Sessel. "Gute Nacht!" Dann stürmte ich aus der Bibliothek und ging nach unten, um mir mein Abendessen abzuholen. Ich atmete tief durch, bevor ich die Küche betrat, um mich abzukühlen. Magdalena saß mit ihrer Lesebrille über ein kleines Heft gebeugt und hob den Kopf, als ich eintrat. "Ist etwas passiert?" "Nein", antwortete ich barsch. Ich spürte ihre Blicke in meinem Nacken, während ich mir meinen Teller belud. "Sofia quält mich", fügte ich schließlich hinzu und bemühte mich, dabei wieder freundlicher zu klingen. "Was tut sie denn?" "Sie will noch immer, dass ich es aufschreibe. Was ich erlebt habe." Ich setzte mich zu ihr an den Tisch und begann zu essen. "Und du willst nicht." "Natürlich nicht! Das ist längst vergangen!" Magdalena sah mich so mütterlich an, dass mein Zorn sich unter ihren sanften Augen in Rauch auflöste. Sie musste nicht einmal etwas sagen und ich wurde ruhiger. "Entschuldige." Es tat mir leid, dass ich sie so grob angefahren hatte. "Nicht bei mir. Entschuldige dich lieber bei Sofia, sie will dir nur helfen." "Ich weiß ... ich bin undankbar." Sie lachte. "Nein, das habe ich nicht gesagt. Du bist nur noch lange nicht so weit darüber hinweg, wie du vielleicht denkst." Ich zog die Gabel zwischen meinen Lippen hervor und sah Magdalena prüfend an. "Was soll das heißen?" "Dass du es erfolgreich verdrängst." "Ach ja?" "Du wirst schon wieder unruhig." Sie hatte recht. In mir köchelte es und ich wollte es nicht einmal abstellen. Ich konzentrierte mich auf meinen Teller, bevor ich ein böses Wort verlor, und ließ es weiter brodeln. Auch Magdalena verhielt sich still, sie hatte sich erneut dem kleinen Heft zugewandt und notierte etwas darin. "Wie geht es Fay?", fragte ich schließlich, als mein Teller leer war. "Sie ist in Ordnung." Magdalena hob den Blick von ihrem Heft. "Der Arzt meinte, dass sie eine Erkältung hat. In ein paar Tagen wird es ihr besser gehen." "Ein Glück." Ich brachte meinen Teller ans Waschbecken und stützte mich dagegen. Von hieraus konnte man die Straße Richtung Stadt sehen. Draußen regnete es noch immer in Strömen. Am Horizont zuckten Blitze durch den Himmel und ich hörte das Donnergrollen, das sie begleitete. Wenn der Wind sich nicht drehte, würde es in kurzer Zeit unser Haus erreicht haben. "Wieso ist es Sofia überhaupt so wichtig, dass ich es aufschreibe?" Ich war ruhiger geworden. Eine Antwort benötigte ich dennoch. "Damit du es verarbeiten kannst." "Und was hat sie davon?" Magdalena sah mich nachdenklich an. "Wie kommst du darauf, dass sie sich etwas davon verspricht?" "Weil niemand derart beharrlich versuchen würde, jemanden davon zu überzeugen, etwas zu tun, was er nicht möchte, wenn er daraus keinen Nutzen ziehen könnte. Wäre es nicht so, hätte sie es längst akzeptiert ... Glaubt sie, dass die Geschichte sich gut vermarkten lässt? Kleines, naives Mädchen stolpert durch einen Tiefschlag nach dem anderen, um letztendlich von der barmherzigen Miss Volkova aus der Gosse gerettet zu werden ... Wieso sollte ich das der breiten Masse zugänglich machen?" Ich seufzte schwer und senkte den Blick. Ich war lauter geworden, als ich es gewollt hatte. "Tut mir leid ... Ich will das einfach nicht." Ein lautes Grollen drang von außen ins Haus. Das Gewitter kam näher. Ich sah Magdalena entschuldigend an. "Verstehst du mich?" Sie nickte. "Natürlich. Aber ich denke du irrst." Welche Möglichkeit gab es sonst? Ich erwartete ihre Erklärung. "Ich glaube nicht, dass Sofia deine Geschichte auf den Markt bringen wird, wenn du ihr sagst, dass du das nicht möchtest", fuhr Magdalena fort. "Sie ist zwar eine gute Geschäftsfrau, aber ich bin mir sicher, dass es ihr hierbei nicht um den Profit geht." "Sondern?" Sie sagte nichts mehr, stattdessen antwortete mir Sofia persönlich: "Ich möchte, dass du deine Schwächen ablegst." Sie stand in der Tür und musste uns gehört haben, ich war nicht sicher wie viel davon. "Oh ... Sofia. Verzeihung, ich wollte nicht schlecht über dich sprechen." "Das hast du nicht. Ich verstehe deine Bedenken." Sie kam in die Küche und nahm neben Magdalena Platz, die sich wieder abwandte und der Herrin dieses Hauses das Feld überließ. Sofia fuhr fort: "Ich verspreche dir, dass ich kein einziges Wort davon veröffentlichen werde, wenn du es nicht willst." Ich ließ es mir schweigend durch den Kopf gehen. Wenn sie es nicht veröffentlichen durfte, warum sollte ich meine Zeit damit verschwenden? "Was heißt 'Schwächen ablegen'? Welche Schwächen?" "Du wirst schnell ungehalten, wenn man dich auf deine Vergangenheit anspricht. Das alles ruht in dir hinter verschlossenen Türen und ich möchte nicht, dass jemand deine wunden Punkte gegen dich verwendet." Eine eigenwillige Erklärung. Es klang nach einer fadenscheinigen Ausrede, die mich von ihren guten Absichten überzeugen sollte. "Und wer soll das sein? Niemand weiß davon. Nur ich ... und die, die selbst darin verstrickt waren." "Man muss die Geschichte nicht kennen, um zu wissen, wo du verletzlich bist." "Ist das so?" Ich war skeptisch. Sie nickte. "Bin ich nicht viel verletzbarer, wenn ich meine Geheimnisse offenlege?" "Vertraust du mir nicht?" "Nein." Sofia lächelte. Sie lehnte sich entspannt zurück und strich mit einer Hand die roten Strähnen aus ihrem Gesicht. "Du bist so klug", sagte sie schließlich. Ich war überrascht, dass sie nicht versuchte, meine Zweifel zu zerschlagen. Stattdessen erhob sie sich und kam zu mir herüber ans Waschbecken. Sie blieb vor mir stehen, streckte ihre Hände nach mir aus und strich mit den Daumen über meine Wangen. Ich verharrte stumm, während sie mir fest in die Augen sah. Die Blitze ließen ihre Haut weiß leuchten. Es sah gespenstisch aus. "Ich hoffe, dass du eines Tages stark genug sein wirst, um über deine Ängste zu stehen. Bis dahin werde ich mich in Geduld üben." Sie schloss die Augen und ließ mich los. Ein schwaches Lächeln zuckte über ihre roten Lippen und sie drehte sich von mir fort. Sie wünschte mir eine gute Nacht, bevor sie die Küche verließ und nach oben verschwand. Ich wollte mich Magdalena zuwenden, doch sie war nicht mehr da. Wahrscheinlich war sie ins Bett gegangen, es war schon spät, und ich hatte es nicht mitbekommen. Sofias Worte hallten noch in meinen Ohren, als ich mein Zimmer betreten hatte. Auf dem Schreibtisch stand meine Schreibmaschine und funkelte mich bei jedem Blitzschlag an. Das Gewitter musste nun genau über uns sein, denn es blitzte und donnerte beinahe ununterbrochen. Ich zog meine Vorhänge zu. Wenn ich eines Tages stark genug bin ... War ich denn so schwach? Ich kam mir nicht mehr schwach vor, doch offenbar war ich es noch immer. Je länger ich darüber nachdachte, desto mehr wollte ich Sofia vom Gegenteil überzeugen. Ich war nicht schwach! Ich hätte meine Geschichte längst schreiben können, wenn ich einen Sinn darin gesehen hätte. Schwäche war nicht das Problem ... oder doch? Ich entzündete die Lampe auf meinem Schreibtisch, nahm Platz und spannte das erste Papier in die Maschine. Ich war nicht schwach.  Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)