Herzschlag I von DieJESSYcA (Miss Paine) ================================================================================ 010 – Kaminfeuer ---------------- Zum ersten Mal, seit dem Zwischenfall in der Schusterei, träumte ich in dieser Nacht von etwas anderem. Als ich erwachte, waren es nur noch flüchtige Erinnerungen, aber ich wusste, dass es etwas Gutes gewesen sein musste, denn ich war ruhig und mein Kissen war trocken. Die goldene Wanduhr, deren Zeiger sich wie zarte Blütenblätter über die Ziffern legten, verrieten mir, dass es kurz nach ein Uhr war. Nachmittags. Mein Schlafrhythmus war völlig durcheinander. Ich wickelte mir die Bettdecke fest um die Schultern und setzte mich ans Fußende meines Bettes, von wo aus ich einen guten Rundumblick hatte. Neben meinem Bett erhob sich ein großer dunkler Schrank, dessen Türen mit hölzernen Blumenranken verziert waren. Sie erstreckten sich über die gesamte Höhe und endeten in großen Lilienblüten. Ich fand dieselben Schnitzereien auch an meinem Nachttisch, an einer Kommode und einem Schreibtisch, sowie dem dazugehörigen Stuhl. Alles aus dunklem Holz gearbeitet, vor hellen Wänden, an denen golden gerahmte Bilder hingen. Selbst der Fußboden glich den Möbeln in Material und Farbe, nur fehlten ihm die Verzierungen, wofür ein großer runder Teppich mit hellen Mustern in Mitten des Zimmers lag. Es war atemberaubend schön und ich konnte mich kaum daran sattsehen. Allein meine Neugier auf den Rest des Hauses trieb mich schließlich aus dem Bett und in den Flur. Ich war zurück in den dicken Mantel geschlüpft, den mir Magdalena gegeben hatte, um dieses Gebäude in halbwegs warmem Zustand erkunden zu können. Bei Tageslicht wirkte alles noch viel eindrucksvoller. Hell und lebendig, eine in Stein gehauene Waldlichtung. Zu meiner Rechten erstreckte sich ein sandfarbener Läufer in einen langen Flur, von dem aus man drei weitere Zimmer erreichen konnte. Links lag die Treppe, die sich in ein zweites Obergeschoss wand. Meine Besichtigung sollte oben beginnen. Ich hoffte Sofia oder Magdalena dort zu finden, doch mein Weg endete abrupt an einer verschlossenen Türe. Nur ein einziges Zimmer lag im zweiten Stockwerk und zu diesem war kein Zugang möglich. Es wunderte mich nicht sonderlich, schließlich hatte Sofia einen fremden Gast in ihrem Haus und da war die eine oder andere Sicherheitsmaßnahme nicht überraschend. Ich ging über die helle Treppe zurück in den ersten Stock, um mich den anderen Zimmern zuzuwenden. Die Türe, die sich direkt neben dem Gästezimmer befand, führte in ein kleines Bad. Auf weiß und braun gekacheltem Boden stand eine Badewanne mit goldenen Füßen und ein kleiner Ofen knisterte munter vor sich hin. Ich war also nicht die erste, die auf den Beinen war. Der zweite Raum, der sich etwas weiter hinten einreihte, war ebenfalls abgeschlossen. Ich bedauerte es ein wenig, doch sicher hatte es einen Grund, warum auch diese Türe sich nicht öffnen ließ. Als ich mich der letzten Türe zuwandte, die ganz am Ende des Flures auf mich wartete, hielt ich inne. Bitte geh' auf! Ich drückte den Griff hinunter und die Tür gab den Weg frei. Noch ehe ich eingetreten war, fiel mir die Kinnlade herunter. Ein Schatz von überwältigender Größe lag in diesem Zimmer. Meterlange Regale zogen sich durch den gesamten Raum. An seinen Wänden entlang und mitten hindurch. Alle waren bis zum letzten Platz mit Büchern bestückt. Sie reichten vom Boden bis zur Decke und ich stand fassungslos vor diesem Anblick. Nicht einmal im Kloster hatte es eine solch enorme Menge an Büchern gegeben. Nur eine einzige Ecke des Raumes war frei von Regalen. Hier öffnete ein großes Fenster den Blick hin zu einem entfernt gelegenen Wald. Davor erstreckte sich meilenweit freies Feld. Ein paar einzelne Bäume und sonst unberührte Wiesen im friedlichen Winterschlaf. Vor dem Fenster stand ein kleiner Tisch und ein prunkvoller Sessel. Barock. Ich hatte Bilder solcher Möbel in Büchern gesehen. Eine Kunstepoche von vor etwa hundertdreißig bis dreihundert Jahren. Wenn er echt war – und er sah stark danach aus – war dieser Sessel sehr alt und sicher auch ebenso teuer. Ich vermutete ein Familienerbstück, denn er passte nicht zum übrigen Interieur, das so detailverliebt aufeinander abgestimmt war. Was auch immer seine Geschichte war, ich würde mich hüten, darauf Platz zu nehmen. Noch interessanter als das alte Möbelstück waren ohnehin die zahllosen Bücher. Auch wenn es unmöglich war, sich einen Überblick zu verschaffen, so wollte ich es doch wenigstens versuchen. Man würde mehrere Tage benötigen, um alle Titel zu überfliegen und bis ich beim Letzten angekommen wäre, hätte ich den ersten wieder vergessen. Vielleicht durfte ich sie mir nacheinander borgen, wenn ich dafür Zeit bekommen konnte. Ich musste Sofia unbedingt fragen, sobald ich sie gefunden hatte. Während ich noch darüber nachdachte, ob ich lieber Bücher betrachten oder Sofia suchen wollte, bewegte sich etwas in meinem Augenwinkel. Ich sah zur Türe und konnte ohne Hindernis in den Flur blicken. Dort war niemand. Vielleicht war es auch nur der Schatten eines Vogels gewesen, der am Fenster vorbeigeflogen war. Ich konzentrierte mich wieder auf die Bücher und studierte ihre Rücken, bis mir wie aus dem Nichts spitze Nadeln in die Wade gejagt wurden. Ich sprang schreiend zur Seite. Mein Puls war haltlos in die Höhe geschnellt und Tränen schossen mir vor Schreck in die Augen. Ich warf einen Blick zurück und wieder war dort nichts als Luft und Bücher. Eilig verließ ich die Bibliothek und schloss die Türe sorgfältig hinter mir ab. Irgendetwas war dort, dessen war ich sicher, denn meine rechte Wade brannte noch immer. Ich entfernte mich einige Meter, bis ich wagte anzuhalten und mein Bein zu betrachten. Vier kleine rote Punkte bestätigten mir, dass es nicht meine Fantasie gewesen war, die mir einen Streich gespielt hatte. Ich wischte sie weg und sie bildeten sich neu. Jemand musste mir sagen, was mich angegriffen hatte. "Hallo? Magdalena? Sofia?" Ich wagte nicht, besonders laut zu sprechen. Da ich keine Antwort bekam, ging ich nach unten ins Erdgeschoss. Je weiter ich mich von der Bibliothek entfernte, desto besser. Ich rief noch einmal. Wieder keine Antwort. Waren sie alle noch im Bett? Nein. Jemand hatte den Ofen im Bad entzündet und auch hier brannte ein Feuer im Kamin. Ich stand in einem großen Salon, mit weiteren ausgefallenen Sitzmöbeln, doch gerade im Moment interessierte mich die hochwertige Einrichtung nicht übermäßig. "Ist denn niemand da?" Ich knibbelte nervös an meinen Fingern, während ich auf Antwort wartete. "Kann mir jemand helfen? Ezra..? Bitte!" "Der ist nicht da." Es war Magdalenas Stimme. Sie schleppte einen Korb voll Holz in den Salon und mir fielen unzählige Steine vom Herzen. "Oh... Magdalena, ich bin so froh, dass du hier bist! Ich wurde angegriffen." Sie stellte den Korb neben den Kamin und sah mich ungläubig an. "Wer hat dich angegriffen?" "Ich weiß es nicht, ich... ich habe niemanden gesehen, aber irgendetwas hat mir ins Bein gestochen", schilderte ich ihr, was vorgefallen war. "Ein Insekt?" Ich schüttelte heftig den Kopf. "Nein, sieh doch!" Sie nahm meine Wade in Augenschein und nickte wissend. "Ich weiß, welches Ungeheuer das war. Betty. Sie ist eigentlich ganz freundlich." "Wer ist das?" "Ezras Katze." "Eine Katze?" Fast wären mir die Augen aus den Höhlen gefallen. Wie konnte mir eine harmlose Katze solche Furcht einjagen? "Wo hat sie dich denn gefunden?" Ich schob meine Verblüffung beiseite. "Oben in der Bibliothek." Als hätte sie ein Gespenst gesehen, änderte sich Magdalenas Gesichtsausdruck schlagartig. "Das ist nicht gut!" Ohne es zu erklären, stürmte sie an mir vorbei und rannte die Treppe hinauf. Ich folgte ihr ahnungslos. "Los, runter da!", rief Magdalena in Richtung Fenster, kaum hatte sie die Bibliothek betreten. Ein braunes Knäul huschte an mir vorbei, als ich ebenfalls den Raum betrat. Ich sah ihm kurz hinterher. Betty hatte mittellanges, hellbraunes Fell und trug dunkelbraune Fellstrümpfe. Sie hatte es eilig, davonzukommen und war schnell nach unten verschwunden. In der Bibliothek stand Magdalena über den barocken Sessel gebeugt und las Katzenhaare vom Polster. "Ist alles in Ordnung?" "Ja. Alles gut. Sie hat nur ein paar Haare verteilt. Das macht nichts." Ich atmete erleichtert aus. Meine Vermutung, dass dieser Sessel wertvoll war, sah ich bestätigt und Magdalena verriet mir, dass das gute Stück tatsächlich knappe dreihundert Jahre alt war. "Nächstes Mal musst du die Türe hinter dir schließen, wenn du in die Bibliothek gehst. Wenn Betty sich die Krallen wetzt, überleben wir das nicht." Sie lächelte, doch ich wurde das Gefühl nicht los, dass diese Warnung gar nicht aus der Luft gegriffen war. Ich versprach ihr, dieses Detail zukünftig zu berücksichtigen und schloss mich ihr an, auf dem Weg nach unten in die Küche. Sie hatte bereits einige Leckereien zubereitet und ich durfte mich bedienen, wo ich wollte. Magdalena war eine gute Köchin. Ihr Eintopf schmeckte überragend und da mein Magen wieder zur Aufnahme normaler Mengen bereit war, konnte ich mir noch eine kleine Pastete gönnen. "Ich kann dir heute leider nicht allzu viel Gesellschaft leisten", beendete Magdalena unsere gemeinsame Mahlzeit. "Ich muss das Haus wieder in Schuss bringen. Wir waren drei Monate nicht hier und alleine der Staub wird mich die nächsten Tage beschäftigen." "Ich kann dir helfen." Sie sah mich verwundert an, dann schlug sie mein Angebot aus. "Nein, das geht nicht. Du bist für andere Arbeiten hier." "Zum Geschichtenschreiben, aber ich habe keine Schreibmaschine mehr..." "Nun... trotzdem geht es nicht. Das wäre nicht in Sofias Sinn." Sie blieb bei ihrer Meinung. "Du kannst dir ein Buch holen und dich vor den Kamin setzen. Da bist du sicher am besten aufgehoben." Ich widersprach ihr nicht und ging hinauf. Nachdem ich mich frischgemacht hatte, besorgte ich mir eine Kurzgeschichtensammlung von Nathaniel Hawthornes, mit der ich mich im Salon niederließ. Wahrlich war der Platz vor dem warmen Feuer ein guter Ort, doch Magdalenas Gesellschaft hätte mich ebenso erfreut. Nach nur drei der Geschichten schlug ich das Buch wieder zu und atmete tief durch. Sie hatten mich weit hineingezogen und es war zu düster und zu beklemmend, als dass ich es länger ertragen konnte. Ich wollte überhaupt nicht schon wieder weinen, doch mein Körper tat, was er wollte und mein Geist war nicht stark genug, es zu unterbinden. Mir war nicht einmal klar, warum ich weinte. Wegen dem Schuster oder wegen Christina, vielleicht beides oder etwas völlig anderes. Ich rollte mich auf dem Sofa zusammen, versuchte dieses erstickende Schluchzen abzustellen, doch je mehr ich es versuchte, desto schlimmer wurde es. Ein Stein, der versuchte vom Grund des Meeres an die Oberfläche zu schwimmen und dabei immer tiefer sank. Ich konnte nicht auftauchen. Nicht ohne Hilfe und Magdalena wusste offenbar, wie man Steine fischte. Sie nahm wortlos neben mir Platz, legte eine Hand auf meinen Kopf und war da. Ihre Hand fühlte sich schwer an, kühl und bestimmt lag sie auf meinem Kopf und beruhigte mich. Auf mir völlig unerklärliche Weise entspannte ich unter ihrer Berührung. Sie teilte ihre Ruhe mit mir und ich nahm sie gerne an. "Geht es wieder?" Ich konnte nicht sprechen, doch ich nickte. Es war besser, jetzt da Magdalena hier war. "Wusstest du, dass Katzen zwanzig Jahre und älter werden können?" Wieso? "Was?" "Ja, das ist erstaunlich. Man meint es gar nicht, aber ich habe gelesen, dass es schon Katzen gegeben haben soll, die ein solches Alter erreichten." Ich ließ mich gerne auf Magdalenas Themenwechseln ein. "Ich dachte, sie werden zehn." "Zehn? Nein. Wenn man sie pflegt, werden sie älter." Sie sinnierte einen Moment vor sich hin, bevor sie weitersprach: "Ich denke, Betty ist bereits elf oder zwölf Jahre. Ganz genau weiß ich das nicht. In jedem Fall älter als zehn. Ezra hatte sie mitgebracht, da war sie noch ein kleines Kätzchen." "Dann wohnt ihr schon lange zusammen?" "Eine Weile. Ich selbst kümmere mich seit fast sechzehn Jahren um Sofias Haushalt und alles, was gebraucht wird. Ezra war bereits hier, als ich anfing. Ich glaube fast, die beiden kennen sich schon ewig." Ewig war wohl relativ. Jedenfalls standen die beiden sich offenbar sehr nah, wenngleich ich fand, dass sie ein recht ungewöhnliches Paar abgaben. Im Grunde ging es mich überhaupt nichts an und trotzdem irritierte es mich, wenn ich daran zurückdachte, wie sie ihn im Zug geküsst hatte. "Apropos. Ich glaube, er ist eben nach Hause gekommen", warf Magdalena ein. Ich hatte nichts gehört, doch wenige Sekunden später erschien er in der Türe. "Sofia ist nicht da?", fragte er, ohne ein Wort der Begrüßung voraus zu schicken. "Sie holt Yasha und Isaak. In einer Stunde sollten sie zu Hause sein." Nur ein leises Schnauben zur Antwort, dann verschwand er und Magdalena konzentrierte sich wieder auf mich. "Möchtest du etwas trinken? Einen Tee?" "Gerne." Sie strich mir noch einmal über den Kopf, bevor sie aufstand und sich für einige Minuten in die Küche verabschiedete. Ich zählte stur die Sekunden, bis sie zurück war, nur um nicht an etwas anderes denken zu müssen. Das Tablett mit einer Kanne und zwei dampfenden Tassen fand auf dem niedrigen Tisch Platz, der vor mir stand. Magdalena reichte mir eine Tasse mit dem Hinweis, ich solle vorsichtig sein, dann setzte sie sich zu mir und entführte mich für eine Weile nach China zu den Ursprüngen des Tees. Eine Geschichtsstunde, die fesselnder nicht hätte sein können. Wir waren mitten in der Yuan-Dynastie, als Magdalena plötzlich Haltung annahm und den Tee beiseite stellte. "Den Rest erzähle ich dir später." Mir war nicht klar weshalb und Magdalena konnte es mir wohl am Gesicht ablesen. "Sofia kommt. Sie wird dich sicher sprechen wollen." Mit Yasha und Isaak. Eilig kämmte ich mir mit den Fingern die Haare wieder zurecht. Ich hätte mir noch einmal das Gesicht waschen sollen, doch dafür war keine Zeit. Als ich den Flur betrat, stand Sofia in der Haustüre. Sie war jedoch ohne Begleitung. "Guten Abend", begrüßte sie mich. "Ich bin gleich bei dir." Ich nickte und erwartete stocksteif die Ankunft der beiden Jungen. "Du wirkst nervös", stellte Sofia nüchtern fest, während sie ihren Mantel ablegte. "Hast du Angst?" "Nein, ich... ich will nur keinen schlechten Eindruck machen." "Einen schlechten Eindruck?" Sie schmunzelte. "Keine Sorge, das wirst du nicht." Ich hoffte, sie hatte Recht. Trotzdem gelang es mir nicht, mich zu entspannen. Die beiden ließen auf sich warten und ich fragte mich, was sie noch so lange draußen in der Kälte wollten, wenn sie hier erwartet wurden. Auch Sofia mochte nicht länger warten. Sie trat einen Schritt vor die Türe, legte Daumen und Zeigefinger an ihre Lippen und pfiff. "Wollt ihr wohl hereinkommen?", rief sie mit einer Strenge, die ich nicht erwartet hatte. Ich zählte drei Atemzüge, dann sprangen sie herein. Zwei riesige Hunde, die ungebremst auf mich zustürmten. Sie reichten mit ihren Köpfen bis zu meinem Bauch. Aufgeregt bellend sprangen sie um mich herum. Quietschend vor Freude. Ich benötigte einen Moment, um den ersten Schreck zu verdauen. Ich hatte keine Angst vor Hunden, sie waren nur so schockierend groß und stürmisch. Noch nie hatte ich solch riesige Tiere gesehen und ihr wilder Frohsinn war beunruhigend. Beide trugen sie ein graues Fellkleid, einer etwas länger und struppig, der andere kurz und glänzend. Sie waren schmal gebaut, dennoch hatten sie sicher genügend Kraft, um mich umzustoßen, doch sie blieben artig mit den Vorderläufen am Boden. "Sie beruhigen sich gleich wieder, dann kann man sie auch streicheln." Ich wartete regungslos, bis die beiden Hunde ruhiger wurden und ihrer Herrin in den Salon folgten. Ein überraschendes – zuweilen beängstigendes – Erlebnis, das Sofia mir hatte zu Teil werden lassen. Ihre Warnung, dass es sich um zwei Wilde handelte, hatte mich nicht auf diese Begegnung vorbereitet. Es waren nicht ihre Söhne. Trotzdem wollte ich mich mit ihnen anfreunden, also schüttelte ich den Schreck ab und ging ebenfalls in den Salon. Sofia hatte sich in einem Ohrensessel neben dem Kamin niedergelassen und hielt eine Tasse Tee in der Hand, die beiden Hunde lagen zu ihren Füßen und blinzelten mich neugierig an, als ich hereinkam. Magdalena hatte sich in die Küche zurückgezogen. "Ich hoffe, du hast dich nicht zu sehr erschreckt." "Ein wenig. Ich hatte keine Hunde erwartet", gestand ich, als ich mich wieder auf das Sofa setzte. "Und sie sind sehr groß." "Das sind sie." Sofia richtete ihre Blicke beinahe verliebt auf die beiden Tiere, dann strahlte sie mir ins Gesicht. "Wären sie etwas breiter gebaut, könnten es Ponys sein." Ich nickte. "Was sind das für Hunde?" "Der Struppige ist ein Deerhound, das ist Yasha. Isaak ist ein Greyhound. Es sind Windhunde und eigentlich sollten sie anmutig und edel sein." Sie seufzte. "Aber zuweilen sind sie etwas unbändig." Sie waren beeindruckend. Selbst jetzt, da sie lagen, nahmen sie bemerkenswert viel Platz auf dem Boden ein. Ich fragte mich, wozu Sofia sie benötigte. Vielleicht Wachhunde, schließlich gab es hier einiges zu stehlen. Ob jedoch viele Diebe hier vorbeikamen, wagte ich zu bezweifeln. "Hast du dich schon etwas im Haus umgesehen?" Sofia lenkte meine Aufmerksamkeit zurück auf sich. "Ja, es ist sehr schön", gab ich etwas verhalten zur Antwort. Ich war nicht sicher, wie ich ihr gegenübertreten sollte. Sie war locker und entspannt, aber ich spürte die Distanz zwischen uns und wollte sie nicht überbrücken. Vielleicht durfte ich es nicht. "Hast du die Bibliothek gefunden?" Wieder nickte ich. "Sie ist atemberaubend." "Dachte ich doch, dass sie dir gefallen würde. Du kannst dir in den nächsten Monaten auch gerne alle Bücher daraus nehmen und lesen. Ich denke, damit wirst du eine Weile beschäftigt sein." Als hätte sie meine Gedanken gelesen. Ich wollte nichts lieber, als mich in andere Welten entführen zu lassen. Nicht Hawthornes Welten, aber dort oben gab es massenweise Bücher und ich würde sicher etwas finden, was mich nicht in ein tiefes Loch zog. Mir blieb nur eine Frage. "Wie wird es mit dem Schreiben vor sich gehen? Ich habe keine Schreibmaschine." Sofia setzte ihre Tasse ab und lehnte sich zurück. "Du benötigst keine." "Nicht?" War ich denn nicht zum Schreiben hier? "Nein. Ich möchte, dass du dich in den nächsten Wochen auf andere Dinge konzentrierst." "Andere Dinge? Aber..." Mir fehlten die Worte. Ich verstand nicht, worauf sie hinauswollte, welcher Plan dahinter steckte. Wenn ich nicht schreiben sollte, warum war ich hier? "Ich möchte, dass du etwas ganz Bestimmtes für mich schreibst, aber dazu musst du dich zunächst mit anderen Dingen beschäftigen. Ich will, dass du zur Ruhe kommst, damit du dich anschließend voll auf die Arbeit konzentrieren kannst. Das ist wichtig." "Was soll ich schreiben?" "Das sage ich dir, wenn es soweit ist. Du sollst dir jetzt noch keine Gedanken darüber machen." In Ordnung. Ich gab mir Mühe ihre Beweggründe nachzuvollziehen. Es war nicht leicht, ohne zu wissen, was auf mich zukommen würde. "Wann wird das sein?" Sofia sah mich nachdenklich an. Ich fühlte mich plötzlich wie eine Ware, die vor dem Kauf kritisch beäugt wurde. Ein beklemmendes Gefühl. "Das hängt davon ab, wie gut du dich machst", eröffnete sie mir schließlich ihre wenig hilfreiche Antwort. Meine Finger dribbelten unruhig auf meinen Beinen. Ich wusste überhaupt nicht, worauf ich mich eingelassen hatte und Sofia war Willens, mich im Dunkel zu lassen. Ihre Antworten halfen mir nicht. Ich wusste weder was ich schreiben sollte, noch wann ich es schreiben sollte und ebenso unklar war mir, was ich tun sollte, um mich dafür zu qualifizieren. "Ich soll also lesen?" "Ja, oder singen, oder tanzen. Das ist völlig egal." Mit jeder Antwort verstand ich weniger von dem, was sie sagte. Der Sinn blieb mir verborgen. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie mir ausschließlich etwas Gutes tun wollte, dass sie mich nach all meinen Erlebnissen wieder aufbauen wollte. Wofür? Warum sollte ich mich in den nächsten Wochen auf ihre Kosten bei Laune halten? Sie wusste nicht, ob ich jemals wieder in der Lage sein würde, eine Geschichte zu schreiben. Ich wusste es selbst nicht und trotzdem sah es aus, als wollte sie mir unbegrenzt Zeit geben. "Du traust mir nicht, oder? Ich kann es dir an der Nasenspitze ablesen." Ich fühlte mich ertappt. Natürlich traute ich ihr nicht, ich kannte und ich verstand sie nicht und doch wollte ich ihr das nicht ins Gesicht sagen. Es würde sie kränken, dessen war ich sicher. Zumindest dachte ich, sicher zu sein, bis sie mich mit ihrem verständnisvollen Lächeln vom Gegenteil überzeugte. "Das ist in Ordnung. Es ist besser, man traut keinem, anstatt jedem. Wir werden uns schon noch kennenlernen, vielleicht änderst du deine Meinung irgendwann." Ich zuckte vorsichtig mit den Schultern. Mir fiel keine passende Antwort darauf ein und Sofia schien auch keine zu erwarten. Sie entzündete sich eine Zigarre und zog genüsslich daran. Minutenlang sah sie schweigend ins Feuer, das im Kamin brannte. Nachdenklich, fast schwermütig. "Kennst du die Geschichte von Katerina Orlova?" Sie sah mich noch immer nicht an. "Nein. Wer ist das?" "Eine junge Frau aus Moskau, die ihrer Gutgläubigkeit zum Opfer fiel." Ich schwieg. Sofias Blicke lagen unverändert auf den brennenden Holzscheiten, als sie fortfuhr: "Es ist keine schöne Geschichte, aber sie lehrte mich vieles. Katerina war eine gute Frau. Trotz ihrer Jugend wusste sie sehr wohl zwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden. Sie war mutig und stark. Hat sich für ihre Überzeugung eingesetzt und allen Widrigkeiten die Stirn geboten." Sie warf mir einen kurzen Seitenblick zu. "Du musst wissen, wir befinden uns im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts. Die Zeiten waren anders, aber Katerina war gebildet und wusste genau, wie sie sich in der Welt der Männer einen Platz schaffen konnte und das hat sie getan. Mit dem Vermögen ihres verstorbenen Vaters beteiligte sie sich an der Errichtung eines Waisenhauses, in dem die Kinder handwerkliche Berufe erlernen konnten. Ihre Geschäftspartner, die den wachsenden Betrieb in der Öffentlichkeit vertraten, überließen ihr die Strukturierung des Hauses. Katerina schaffte Lehrmeister heran und verhalf allen Beteiligten zu hohen Gewinnen. Es war die perfekte Kooperation und Katerina verstand sich prächtig mit ihren Partnern, die munter ihre Taschen mit Geld füllten, ohne allzu viel dafür zu tun. Es war in Ordnung. Katerina hatte die Zügel in der Hand und dafür bezahlte sie die Männer gerne." "Was ist passiert?" Sofia seufzte leise, bevor sie die Geschichte fortsetzte. "Nachdem das Unternehmen über die Jahre gewachsen war und steigende Gewinne erzielte, wuchs die Aufmerksamkeit der Bevölkerung. Als die Menschen erfuhren, dass im Hintergrund eine Frau die Fäden gezogen hatte, ging es steil bergab. Obwohl sie nie etwas Böses beabsichtigt hatte, nahmen die Leute es ihr übel und innerhalb eines Jahres war alles vorbei. Katerina hatte nichts mehr. Ihr einstiges Vermögen war zusammengeschrumpft und ihre Partner hatten sie verlassen, noch bevor es vorbei war." "Sie haben ihr nicht geholfen?" "Natürlich nicht. Es waren Gauner und Katerina hatte es nicht bemerkt. Sie war sich sicher gewesen, dass die beiden sie bis zum Schluss unterstützen würden, dass sie sie auffangen würden, nachdem sie sie verlassen hatten, doch das taten sie nicht." "Also ist sie auf der Straße gelandet... Sie war sicher wütend." Ich war wütend. "Sehr sogar. Es war ungerecht. Die beiden Herren lebten weiter in ihren komfortablen Häusern und Katerina, die ihnen alles ermöglicht hatte, stand zwischen Dreck und Leid auf der Straße. Katerina wollte es auch nicht hinnehmen, dafür war sie zu stolz. Sie ging zu ihnen, stellte sie zur Rede und blieb beharrlich. Es dauerte zwei Wochen, in denen sie die Männer immer wieder besuchte, redete, schimpfte und fluchte, bis sie am 15. Mai 1688 ihr Ende in den Flammen fand." Ich hielt die Luft an. Damit hatte ich nicht gerechnet. "Sie haben sie verbrannt?", fragte ich vorsichtig. "Verraten und verbrannt. So war es." Sofia erhob sich aus dem Sessel, die Hunde sahen ihr nach, als sie zu einem der Schränke ging und etwas daraus hervorholte. "Ich finde, wir sollten auf sie anstoßen", verkündete Sofia und reichte mir ein Glas mit Wodka. Dankend nahm ich es an, wenngleich ich dieses Getränk nicht mochte. Ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen und ließ die brennende Flüssigkeit meine Speiseröhre hinunterfließen, nachdem wir angestoßen hatten. "Möchtest du einen Zug?" Sofia hielt mir ihre Zigarre hin und ich lehnte ab. "Auch gut. Dann empfehle ich mich für heute. Ich bin unerträglich müde und sollte dringend nach oben gehen. Eine angenehme Nacht. Wir sehen uns morgen." Sie lächelte freundlich, als ich ihr ebenfalls eine gute Nacht wünschte, und verschwand. Ich konnte ihre Absätze auf den Stufen hören. Sofia ging nach ganz oben, in den zweiten Stock. Ich blieb noch eine Weile im warmen Salon und beobachtete Yasha und Isaak, die friedlich vor dem Kamin dösten. Hund müsste man sein, dann könnte man es vielleicht spüren, wenn die Menschen einem etwas Böses wollten. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)