Herzschlag I von DieJESSYcA (Miss Paine) ================================================================================ 001 – Nestwärme --------------- Nun komm schon ... zier dich doch nicht so! "Ha! Hab ich dich!" Ein breites Grinsen zeichnete sich auf den Lippen des kleinen Mädchens ab, als ihre Finger sich eilig um den Grashüpfer schlossen. Sie sprang aus dem Gras, das hüfthoch hinter dem Haus ihrer Großeltern stand. Ihr himmelblaues Kleid und die blonden Zöpfe trieben nach hinten, während sie zurück in den Stall rannte, in dem ihr Vater allmorgendlich die Kühe molk. "Ich habe es geschafft Vater!", rief sie ihm schon von Weitem entgegen. Richard hob den Blick und wandte ihn seiner Tochter zu, die nun langsamer auf ihn zukam. "Was hast du geschafft?" "Sieh her", sagte sie voller Stolz und hielt ihm ihre geschlossenen Kinderhände vor die Nase. Einen angemessen kurzen Augenblick ließ sie verstreichen, bis ihr Vater endlich die Augen auf ihre Finger richtete. Gespannt beobachtete sie sein Gesicht, als sie ihre Hände öffnete. Ihr Vater legte seine Stirn in Falten. "Du hast einen toten Grashüpfer gefangen?" "Was? Nein, er-", sie blickte entsetzt auf ihre Hände. Das Insekt, das sie so vorsichtig gefangen hatte, rührte sich nicht mehr. Ihre rosigen Lippen spannten sich und das Leuchten ihrer Augen drohte in Tränen zu ertrinken. Sanft legte Richard seine Hand auf ihre Wange, bis sie ihn wieder ansah. Dann zeigte er hinter sie. "Siehst du die Sperlinge?", sie nickte, "Geh hin und gib ihnen den Grashüpfer. Sie werden sich sicher sehr darüber freuen." Das junge Mädchen war nicht gänzlich überzeugt von der Idee, doch sie wollte es versuchen. Vorsichtig näherte sie sich den Vögeln, die dort am Eingang des Stalls im Sonnenlicht saßen und abwechselnd im Wassernapf des Hofhundes badeten. Sie kniete sich nieder, streckte die Hand auf den Boden und wartete geduldig in wenigen Zentimetern Abstand. Nichts geschah und es fühlte sich an wie eine kleine Ewigkeit, bis endlich ein spitzer Schnabel nach dem Insekt pickte und der kleine Vogel gleich darauf in Windeseile verschwand. Das kleine Mädchen schnellte blitzartig in die Höhe. "Vater!", rief sie. "Hast du das gesehen? Er hat ihn wirklich genommen!" Richard lächelte zufrieden, als sie zurück neben seinen Melkschemel kam. "Ja, ich habe es gesehen." "Dann war es ja gar nicht schlimm, dass ich ihn zerquetscht habe, oder Vater?" Sie sah ihn hoffnungsvoll an. "Nächstes Mal solltest du trotzdem vorsichtiger sein",  mahnte er ruhig. "Der Grashüpfer hat dir schließlich nichts getan, und wenn die Vögel ihn nicht gewollt hätten, hättest du ihn selbst essen müssen." Schockiert riss sie die Augen auf, als er das sagte. "Aber Vater ..." Er lächelte. "Es war nur ein Spaß. Du hast es ja nicht mit Absicht getan." "Ja ...", gab sie leise zur Antwort und senkte traurig den Blick. "Du bist wie deine Mutter." Richard strich ihr etwas wehmütig über den Kopf. "Genauso sanftmütig und einfühlsam." Sie sah ihn fragend an, doch blieb sie still. Die Worte ihres Vaters klangen unverständlich. Elizabeth war streng und zuweilen sehr launisch, besonders in letzter Zeit. Sie war keine sanftmütige Frau. Richard erhob sich von seinem Schemel und gab ihr den halb gefüllten Eimer in die Hand. "Bringst du ihn für mich in die Küche?", fragte er. Sie nickte ganz selbstverständlich und hielt den Henkel gut fest. "Ich sattle derweil unsere Pferde", verkündete er lächelnd, als das Mädchen schon einige Schritte getan hatte, "dann können wir zusammen zum Fluss reiten und angeln gehen. Mutter meinte, sie hätte gerne Fisch zu Abend." Die Kleine drehte sich um und ihre Augen funkelten mit der Sonne um die Wette. "Oh ja!" Ihr Lächeln hatte sich bis zu den Ohren ausgebreitet. "Ich bin gleich zurück!" Rasch war sie aus dem Stall verschwunden und hüpfte freudig davon. Sie liebte es, wenn ihr Vater sie zum Ausreiten mitnahm. Das letzte Mal war bereits über eine Woche her und Nina – ihr Pferd – würde das Fliegengewicht auf ihrem Rücken sicher zu schätzen wissen, da für gewöhnlich Joseph dort Platz nahm, ihr Großvater. "Mach langsam, Megan!", rief Richard ihr noch hinterher. "Ja Vater!", antwortete sie lautstark, bevor sie außer Hörweite kam. Der Eimer in ihren Händen war nicht schwer und Megan tänzelte quer über den Hof in Richtung Milchküche. Die Türe stand bereits offen und sie trat gut gelaunt in den hell gefliesten Raum. Auf einem massiven, hölzernen Tisch stand eine große Schüssel Käsebruch, der darauf wartete, dass man ihn abpresste und Käselaibe daraus formte. Megan streckte sich zur Schüssel. "Finger weg!", fuhr sie eine scharfe Stimme plötzlich von hinten an. Der Henkel des Milcheimers glitt ihr aus den Fingern und lautes Scheppern hallte durch den Raum. "Megan Maryann Paine!" Elizabeth hatte das Gesicht zu einer finsteren Grimasse verzogen, als die Milch eilig begann die Fugen zu ihren Füßen zu füllen. Megan wagte es kaum, sich ihr zuzuwenden. Vorsichtig öffnete sie ihre Augen, die sie vor Schreck fest verschlossen hatte und wandte sich ihrer Mutter zu. Sie wusste, was kommen würde und sie behielt Recht. Elizabeth bedachte sie mit einer schmerzvollen Ohrfeige und wieder fuhr sie zusammen. "Verzeih, Mutter ...", stammelte Megan leise, während sie mit ihren Tränen kämpfte. "Was hast du dir nur wieder gedacht?" "Ich wollte das nicht ..." "Du wolltest nicht?" Elizabeth war in Rage. "Hatte der Käse es dir befohlen, Kind?" Megan schüttelte den Kopf. "Nichts als Kummer bereitest du mir!", fuhr die große brünette Frau fort. "Und erst dein Vater ... Er muss dich nur ansehen und schon geht es ihm schlecht! In dir steckt der Teufel!"  Wie versteinert stand das kleine Mädchen dort, ihr tränenfeuchtes Gesicht zum Boden gewandt. Wortlos. "Wisch den Boden und dann geh auf dein Zimmer!", fügte Elizabeth noch finster hinzu und widmete sich wieder der Schüssel, die ihre Stieftochter so verhängnisvoll gelockt hatte. Megan stand still. Die Worte ihrer Mutter lagen schwer auf ihrer kleinen Seele. Vorsichtig blickte sie sich nach einem Lumpen um. In einer Ecke stand ein alter Metalleimer. Sie löste sich aus ihrer Starre und ging hinüber, um etwas zum Wischen darin zu finden, während weiter leise Tränen über ihr Gesicht liefen. Eilig nahm sie den Lappen heraus und wollte zurück, als plötzlich die feste Stimme ihres Vaters den Raum erfüllte: "Was ist hier los?" "Deine Tochter wollte den Käse stehlen und hat mir die Milch vor die Füße geschmissen, als ich sie erwischt habe!", schimpfte Elizabeth und wandte sich Megans Vater zu. Sie zeigte auf den nassen Boden und stemmte ihre freie Hand in die Hüfte. Megan sah ihren Vater mit großen Augen an, als der in ihre Richtung blickte. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Ob sie überhaupt etwas sagen durfte. Richard schwieg ebenfalls. Er richtete seinen Blick wieder auf Elizabeth. "Meine Tochter." Er klang erzürnt. "Unsere Tochter wirft nicht mit Milcheimern." Megans Mutter entglitten die Gesichtszüge. Sie wurde lauter. "Tut sie das nicht? Na, sieh dir das Kind an, sie macht nichts als Ärger und du verschließt deine Augen davor!" "Sie treibt nicht halb so viel Unfug wie andere Kinder in ihrem Alter!", entgegnete Richard seiner Frau, "Sie ist ein liebes Kind." "Lieb?" Elizabeth schien es nicht fassen zu können. "Sie ist unmöglich! Du wirst es sehen, wenn unser Kind geboren ist!" Sie legte die Hände schützend auf ihren Bauch. "Sie wird ihm schaden mit ihrer ungeschickten rauen Art!" "Das wird sie nicht!" Richard musterte kurz den noch recht flachen Bauch seiner Frau. "Sie wird!" Immer wütender wurde ihre Stimme. "Wir müssen sie wegbringen! Sie schadet uns!" "Hör auf so etwas zu sagen, Elizabeth!" Auch Richard bebte. Seine Frau musterte ihn stur. Ihre Augen bohrten sich in seine. "Du hast es selbst gesagt. Sie erinnert dich an Mary", wiederholte sie die Worte, die Richard ihr einst anvertraut hatte. "Wie oft hast du heimlich Tränen vergossen wegen ihr?" "Das reicht jetzt!" Noch nie hatte Megan ihren Vater so laut werden hören. Das kleine Mädchen kauerte ängstlich an der kühlen Wand und suchte Schutz hinter der Kante eines Schrankes. Immer noch schimpfte ihre Mutter weiter mit ihrem Vater und auch Richard verlor zunehmend die Fassung. Megan hielt sich die Ohren zu, so fest sie konnte, doch noch immer drangen die lauten Stimmen ihrer Eltern zu ihren Gehörgängen durch. Sie wünschte sich so sehr, dass es aufhörte, doch je länger es dauerte, desto unwahrscheinlicher wurde es. Nie hätte sie versucht vom Käse zu naschen, wenn sie gewusst hätte, dass dadurch ein solch schlimmer Streit entstehen würde. Lauter und wütender als jemals zuvor keiften die beiden sich an. Megan hatte große Angst. Sie wollte hier raus. Sie musste weg. Ihr Herz schlug schnell in ihrem kleinen Körper, als sie all ihren Mut zusammennahm und, an ihren Eltern vorbei, aus der Küche stürmte. Wahrscheinlich hatten sie es gar nicht bemerkt, denn niemand folgte ihr hinaus. Sie waren zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen. Megan rannte über den Hof zu den Pferden. Ihr Vater hatte die beiden wartenden Tiere bereits gestriegelt. Sie wischte die Tränen von den Wangen und holte sich die Trittleiter aus der Sattelkammer, um auf ihr Pferd steigen zu können. Megan brauchte keinen Sattel, sie konnte auch sehr gut ohne das alte Ding ausreiten. So zog sie sich also nach oben, krallte sich in Ninas Mähne fest und gab dem lieben Tier mit den Waden zu verstehen, dass es loslaufen sollte. "Lauf Nina!", befahl sie mit zittriger Stimme. Die Stute gehorchte und trug das Mädchen davon. Es dauerte nicht lange und sie hatten den Hof weit hinter sich gelassen. Megan wurde ruhiger. Die Bewegungen ihres Pferdes und die warme Luft, die um ihre Nase wehte, hatten eine entspannende Wirkung. Sie war froh, dass ihr Vater sie das Reiten gelehrt hatte, obwohl selbst ihre Großeltern der Meinung gewesen waren, dass sie mit ihren sechs Jahren noch zu jung dafür sei. Richard hatte sich nicht beirren lassen und seiner Tochter dennoch ihren Wunsch erfüllt. So lange sie denken konnte, liebte sie die Pferde und die Geschwindigkeit, zu welcher diese Tiere fähig waren. Als würde man fliegen, schneller als der Wind und kraftvoller als ein Donnerschlag. Megan trieb ihr Pferd die Hügel hinauf und durch das weite Tal, das auf der anderen Seite lag, bis sie endlich langsamer wurde und Nina eine kleine Pause zugestand. Lobend klopfte sie den Hals des Pferdes und ließ sie langsam weiterlaufen. Megan war schon häufiger mit ihrem Vater hier gewesen, sie wusste, dass sich ganz in der Nähe ein kleiner Bach befand und Nina war sicher durstig. Das Mädchen lenkte ihr Pferd ruhig in Richtung des Wassers. Sie wäre abgestiegen, um Nina am Halfter zu führen, doch hätte sie ohne eine Leiter nicht wieder aufsteigen können. Vorsichtig ließ Megan ihr Pferd über das steinige Ufer zum Bach laufen, dass sie trinken konnte. Nina nahm das Angebot gerne an und Megan wartete ruhig, während sie kleine Zöpfe in ihre Mähne flocht. Es war wundervoll friedlich hier draußen in der Natur und der Ärger zu Hause war vergessen. Sie wollte eine Weile hier bleiben und die Ruhe genießen, bis es dunkel würde. Wenn die Nacht kam, sollte sie nach Hause gehen, doch bis dahin war noch viel Zeit. Ihre Eltern hätten sich bis dahin sicher wieder beruhigt. Nina hob den Kopf und drehte die Ohren nach hinten. Hm? Megan wandte sich um. Am anderen Ende des Tals kam ein Pferd auf sie zu. Ein schwarzes mit Reiter. Ihr Vater. Oh nein..! Augenblicklich schoss Angst durch ihren Körper. Sicher würde sie Ärger bekommen, weil sie Elizabeth so aufgebracht hatte und weil sie die Milch verschüttet hatte und dann abgehauen war. "Nina! Los!", wies sie das Tier an und schnalzte noch mit der Zunge. Megan wollte flüchten, sie wollte keinen Ärger, nur ihre Ruhe. Die Muskeln ihres Pferdes setzen sich in Bewegung und Nina nahm Geschwindigkeit auf. Sie galoppierte davon und Megan hörte ihren Vater rufen, dass sie anhalten solle, doch sie trieb die Stute weiter. Das Mädchen klammerte sich eisern in die hellen Haare ihres Pferdes. Steine polterten, als Ninas Hufe am Ufer entlang über den Boden donnerten. Megan flehte, dass sie schnell genug sein würden, dass ihr Vater aufgeben würde und dass er ihr heute Abend verzeihen könnte, was sie getan hatte. Doch es gelang ihnen nicht. Nina kam aus dem Tritt. Sie musste über einen der vielen Steine gestolpert sein und wurde nervös. Megans Pferd fing sich, doch es war unruhig geworden und scheute, kaum waren sie zwei Meter weitergekommen. Adrenalin rauschte durch Megans Blutbahnen, als Nina sich auf die Hinterbeine stellte und die Haare der Mähne aus ihren Fingern glitten. Sie spürte, wie sie rutschte, hörte ihren Vater ihren Namen rufen und fiel zu Boden. Ein dumpfer Schlag erschütterte ihren Kopf und Dunkelheit überkam sie.   —   Ich schlug die Augen auf. Um mich herum war alles noch dunkel. Es war ein Traum ... Wie oft hatte ich schon von diesem Tag aus meiner Vergangenheit geträumt? Der Tag an dem mein Vater beschlossen hatte, dass es besser für mich wäre, wenn er mich weggeben würde. Natürlich. Ich legte die Hand auf meine Stirn und atmete tief durch. Es war jedes Mal aufs Neue eine Qual. Meine sogenannte Mutter hatte nie viel für mich übrig gehabt. Inzwischen wusste ich, dass Elizabeth nicht meine leibliche Mutter war, doch trotzdem schmerzte es, dass sie mich so grundlos gehasst hatte. Vielleicht hatte sie mich aber auch als Konkurrenz gesehen, weil sie die Liebe meines Vaters mit mir teilen musste. Ich wusste es nicht und konnte nur vermuten. Wie dem auch gewesen sein mochte, es war nicht meine Schuld gewesen, dass meine Mutter bei meiner Geburt gestorben war und mein Vater in Elizabeth nicht dieselbe große Liebe zu sehen vermochte, wie einst bei Mary. Nun saß ich hier. Elf Jahre nach diesem verhängnisvollen Zwischenfall in der Milchküche. In meinem Bett im Kloster der Santa Barbara Nonnengemeinschaft. Es war ein ruhiges Leben hier im Kloster. Ich arbeitete auf den Gemüsefeldern und verkaufte die Erträge in der Stadt. Wenn das Geld knapp wurde, verkaufte ich auch Bibeln oder sammelte Spenden, was im Grunde das Gleiche war. Die Leute besaßen alle ihre Bibeln und wenn sie eine neue kauften, dann nur, weil sie ein gutes Werk tun wollten. Vielleicht taten sie es auch wegen meiner kleinen Beigaben. Gelegentlich legte ich ein paar meiner eigenen Kurzgeschichten in die Bücher und jedes Mal freute es mich, wenn die Leute sie fanden, zurückkamen und sich bedankten. Natürlich war das verboten. Oberschwester Johanna war strickt dagegen, dass ich meine angeblich so sündigen Geschichten in die Bibeln steckte, doch ich konnte es inzwischen recht gut abschätzen, wer gerne eine meiner Geschichten lesen und wer sich davon auf den Schlips getreten fühlen würde. Schwester Johanna erfuhr also nichts davon. Gelegentlich konnte ich meine Werke sogar ohne die Bibeln unters Volk bringen und die Leute bezahlten dafür. Nicht viel, aber viel brauchte ich auch nicht. Hier im Kloster hatte ich alles was nötig war. Es gab Essen und Trinken, ich hatte annehmbare Kleidung und man hatte mir eine Schreibmaschine zur Verfügung gestellt. Ein ungeheurer Luxus. Ich streckte mich, schlug die Bettdecke zurück und entzündete meine Lampe, die auf dem Nachttisch stand. Sofort erfüllte ein Flackern mein kühles Zimmer und tauchte es in warmes Licht. Ich nahm die Strickjacke von meinem Stuhl und warf sie über. Dieses Gemäuer war zu dieser Jahreszeit nicht ohne Jacke zu bewohnen. Im Grunde war es zu keiner Jahreszeit ohne Jacke zu bewohnen, abgesehen von den paar Zimmern im Obergeschoss, deren Dach noch nicht vollständig mit Ziegeln versehen worden war. Ansonsten waren die Wände schlichtweg zu dick, um die kalifornische Wärme hereinlassen zu können, was im Sommer ein nicht zu verachtender Vorteil war.  Ich zog mir ein paar warme Socken über und setzte mich an meinen Schreibtisch. Die Zeit bis zum Frühstück wollte ich nutzen, um ein weiteres Kapitel für meinen Roman zu schreiben. Der Papierstapel in meinem Schubfach hatte inzwischen eine beachtliche Höhe angenommen und irgendwann würde ich es veröffentlichen. Es war ein wunderbares Hobby. Ich konnte in andere Welten versinken, mir den Frust von der Seele schreiben und Menschen damit begeistern. Meine Finger waren schnell geworden und ich machte kaum noch Fehler mit der Maschine, was es leichter machte, da ich nicht ständig die Seiten neu abtippen musste, wenn ich versehentlich die falsche Taste betätigt hatte. Nachdem ich die letzten Zeilen meiner gestrigen Arbeit noch einmal überflogen hatte, fing ich an, daran anzuknüpfen und arbeitete darauf hin, dass Laura endlich ihren vermissten Bruder wiederfinden würde, der vor fünf Kapiteln bei einem Unwetter mit der Kutsche vom Weg abgekommen war. Es war noch mitten in der Nacht und ich versank für Stunden zwischen Freud und Leid auf meinem Papier, teilte Lauras Kummer und die Freude, die uns erfüllte, als ihr totgeglaubter Bruder Äpfel auf dem Markt verkaufte. Der Hahn auf dem Hof krähte und ich blickte auf. Ich sollte mich waschen und anziehen, wenn ich nicht im Nachthemd beim Frühstück auftauchen wollte. Eilig packte ich meine Kleidung zusammen und begab mich in den Waschraum, den ich mir mit ein paar Nonnen teilte. Ich hatte das Zimmer meist ganz für mich allein, da die anderen sich bei Morgengrauen stets beim Gottesdienst befanden oder das Essen vorbereiteten. Ich selbst ging nicht in den Gottesdienst, zumindest nicht sehr häufig. Die Oberschwester mochte das nicht gerne sehen, doch ich war keine Nonne und somit konnte sie mich nicht verpflichten zu kommen. Nachdem ich angezogen und gekämmt war, verließ ich das zweite Stockwerk und ging hinunter in den Speisesaal, wo bereits hektisches Treiben herrschte. "Guten Morgen Megan", begrüßte mich Schwester Agnes, eine ältere, füllige Frau, die Brote auf den Tischen verteilte. "Guten Morgen Schwester", antwortete ich mit einem Lächeln. Schwester Agnes war eine nette Frau, man konnte stets zu ihr kommen, wenn es einem schlecht ging. Ich nutzte diese Möglichkeit seit einiger Zeit schon nicht mehr allzu häufig. Früher jedoch war ich wohl jede zweite Woche bei ihr gewesen. Vergangenheit. Ich war alt genug, um nicht wegen jedem kleinen Problem jemandem mein Herz ausschütten zu müssen, selbst wenn ich mir das eine oder andere mal ihre warmen Arme um meine Schultern gewünscht hätte. Weiter vorne an der Küche stand Schwester Christina und stapelte leere Teller aufeinander. Sie war noch jung, drei Jahre älter als ich und ausgesprochen unterhaltsam. "Schönen guten Morgen", grüßte ich sie. "Kann ich helfen?" "Megan!" Sie drehte sich zu mir und lächelte. "Guten Morgen." Dann drückte sie mir einen Korb voller Besteck in die Hand. "Verteilst du das für mich auf den Tischen?" Ich nickte und machte mich gleich ans Werk. Schwester Christina war eine der Nonnen mit denen ich mir den Waschraum teilte und es war mir beim besten Willen unerklärlich, warum sie Nonne geworden war. Unter ihrer Kutte verbarg sie einen beneidenswert wohlgeformten Körper, ihr dunkles Haar war lang und voll und ihr Gesicht war zum Verlieben schön. Eine Schande, dass sie sich einzig und allein dem Herrn verschrieben hatte. Vielleicht hatte sie auch schlechte Erfahrungen gemacht ... bisher hatte ich es noch nicht gewagt, sie danach zu fragen, wenngleich wir über mein eigenes, trostloses Liebesleben schon zur Genüge gesprochen hatten. Es war eben etwas anderes eine Nonne zu fragen, warum sie Nonne war, als eine junge Frau, warum sie noch keinen Mann hatte. Ich wollte eben noch nicht heiraten, auch wenn ich wohl alt genug dafür war. Christina dagegen hatte sich endgültig entschieden. Ich holte mir mein Frühstück und nahm neben ihr Platz. "Hast du das nächste Kapitel schon fertig?", fragte sie, nachdem alle gemeinsam ein Dankgebet gesprochen hatten. "Fast, es fehlen nur noch ein paar Zeilen, dann kannst du es haben", verkündete ich stolz. "Ich bin wirklich sehr gespannt, wie es weitergehen wird", sagte sie und begann ihr Brot zu brechen, "Laura tut mir so schrecklich leid ..." Ich lächelte. Christina war meine treueste Leserin. Sie verschlang meine Zeilen mit solcher Hingabe, dass es mir manchmal unangenehm war, eine traurige Szene zu schreiben. Ich wusste, dass es sie aufwühlen würde, so sensibel wie sie war und dann tat es mir leid, wenn sie am nächsten Morgen mit geröteten Augen am Tisch saß. "Ich bringe es dir heute Nacht vorbei", verkündete ich und Christina begann zu strahlen. "Danke, sehr lieb von dir." Wieder lächelte ich und wandte mich dem Frühstück zu. Es standen noch einige anstrengende Stunden im Garten des Klosters bevor, die nur mit einem ausreichend gefüllten Magen angegangen werden konnten. Kartoffelernte. Nicht unbedingt meine Lieblingsaufgabe. Vor allem nicht bei dem schlechten Wetter, das momentan herrschte. Doch es half nichts, die Kartoffeln mussten aus der Erde und hinunter in den Keller, was ich nach dem Frühstück umgehend in Angriff nahm. Ich merkte schnell, dass ich es besser gestern hätte tun sollen, wie Schwester Agnes es mir gesagt hatte, als der Himmel noch keine dicken Regentropfen auf die Erde hatte fallen lassen ... Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)