Sieben Tage von Flordelis (Custos Mortis reminiscentia) ================================================================================ 6 – Mitternacht II: Wohin ------------------------- Noch bevor Kieran die Augen wieder öffnete, erinnerte er sich daran, wie spät es geworden war. Er und Allegra hatten den ganzen Tag damit verbracht, Cherrygrove nach ungewöhnlichen Erscheinungen zu durchsuchen. Kieran war überzeugt, dass der Dämon noch immer hinter Nolan her war, aber in dessen Nähe war nichts geschehen. Der Junge trauerte, aber es ging ihm gut. Kieran war froh, dass er sich deswegen keine Sorgen machen musste. Ihm blieben noch einige Tage, um den Dämon zu finden, aber es machte ihn nervös, dass er bislang noch keine Spur hatte ausmachen können. Darüber müsste er sich aber erst am nächsten Tag wieder Gedanken machen. Vorerst war die Treppe wichtiger. Deswegen öffnete er direkt seine Augen. Er saß tatsächlich auf der Wendeltreppe, möglicherweise sogar dort, wo er sie zuletzt verlassen hatte. Da er den Boden nicht mehr sehen konnte, war es ihm aber unmöglich, das wirklich festzustellen. Charon stand bereits neben ihm. „Willkommen zurück, Kieran. Oh, du siehst unzufrieden aus.“ „So fühle ich mich auch.“ Er erhob sich, dabei wurde ihm ein wenig schwindelig. Er hielt sich an der Mittelsäule fest. „Ich bin das Gefühl nicht mehr gewohnt. Dabei sind es erst zwei Tage.“ „Menschen sind erstaunlich gut darin, zu vergessen, wie das Leben war, sobald sie tot sind.“ Charon klang bedauernd. „Aber das ist wohl der Lauf der Zeit, ich kann daran nichts ändern.“ Für einen flüchtigen Moment wirkte er sogar wirklich traurig, aber dann kehrte sein Lächeln zurück. Es sah nun hohl aus, nicht mehr so herzlich wie zuvor. Als müsse er sich dazu zwingen, etwas anderes als Schmerz zu empfinden. „Warum bist du denn unzufrieden?“ Kieran wartete einen kurzen Moment, atmete tief durch. Als sich endlich nichts mehr vor ihm drehte, stieg er die Stufen weiter nach oben. Ein kurzer Blick über die Schulter zeigte ihm, dass Charon sich ihm automatisch anschloss. Er sah wieder nach vorne, ehe er antwortete: „Ich habe immer noch keine Spur von dem Dämon. Den ganzen Tag haben wir danach gesucht.“ Darauf sagte Charon nichts. Deswegen schob Kieran eine Frage hinterher: „Bist du dir sicher, dass der Dämon noch da ist?“ Er erntete ein amüsiertes Lachen. „Zweifelst du etwa an mir? Du bist wirklich ein ganz eigenartiges Exemplar, Kieran Lane.“ „Das ist keine Antwort.“ Abwehrend hob Charon die Hände, lachte aber immer noch. Es dauerte einige Sekunden, bis er sich schließlich beruhigt hatte und antworten konnte: „Es gibt wirklich noch einen Dämon in Cherrygrove. Und er hat es tatsächlich noch auf Nolan abgesehen. Aber natürlich kann er ihn nicht angreifen, während er zu Hause trauert.“ „Weswegen?“ „Dein Blut wurde dort vergossen. Und du hast dich immer um Nolan gesorgt. Derartiges Lazarus-Blut dient wie ein Schutzwall. Praktisch, oder?“ Das war für Kieran vollkommen neu. Aber er fühlte sich nun sicherer, was Nolan anging. Wenn ihm nun nichts mehr geschehen könnte, solange er zu Hause war … „Aber irgendwann muss er auch wieder das Haus verlassen“, bemerkte Kieran. „Dann könnte der Dämon ihm etwas antun.“ Charon neigte den Kopf, zufrieden über diese Schlussfolgerung. „Deswegen wäre es vielleicht besser, wenn du ihn vorher zu fassen bekommst.“ „Aber wo soll ich ihn suchen?“ Er war nicht in Nolans Nähe gewesen. Nirgends war auch nur der Hauch einer Spur. Kieran wusste ja nicht einmal, wie er aussah. Ein plötzliches Tippen gegen seine Stirn holte ihn zurück aus den Gedanken, ehe er sich in ihnen noch hoffnungslos verlaufen könnte.Charon lächelte warm, diesmal schien es wieder ehrlich zu sein. „Denk nicht so viel nach. Du neigst dazu, um Ecken zu denken, die eigentlich gar nicht notwendig wären.“ „Das ist nicht wahr“, erwiderte Kieran murmelnd, ohne große Überzeugung. Es entsprach tatsächlich der Wahrheit, dass er in den einfachsten Dingen Fallen wähnte und deswegen zu Umwegen neigte. Auch in seinen Gedanken. „Du musst einfacher denken“, forderte Charon ihn auf. „Wo war der Dämon, als er dich umgebracht hat?“ „In meinem Haus. In Landis' Körper.“ Er erinnerte sich noch an den leeren Blick aus den bekannten Augen. „Aber er ist nicht mehr in Landis.“ Den Jungen hatte er schon am ersten Tag gesehen. Da war er Oriana gefolgt, nichts an ihm war anders gewesen als sonst. Konnte der Dämon sich innerhalb der Barriere frei bewegen? Dann könnte er in jedem sein. Oder in allem, was irgendwie lebendig war. Oder er könnte vielleicht auch ohne feste Form existieren. „Auch wenn er jetzt wieder normal ist, solltest du möglicherweise versuchen, bei ihm anzusetzen“, schlug Charon vor. „Wäre es nicht logisch, dass von ihm aus Spuren zu finden sind?“ Das wäre vermutlich wirklich am besten, das sah auch Kieran ein. Wenn er dann mitbekam, mit wem Landis im Laufe des Tages Kontakt hatte, fand er vielleicht eine weitere Spur, die ihn endlich zum Dämon führte. Er schielte zu Charon hinüber, doch dieser winkte ab. „Mehr kann ich dir nicht erzählen. Machst du es dir nicht ohnehin zu einfach, wenn du nur mich fragst?“ „Du weißt doch ohnehin alles, warum kann ich dann nicht dich fragen?“ Charon wedelte mit dem Zeigefinger. „Uh-uh, das wäre doch sonst viel zu einfach. Niemand will über einen Helden lesen, der sich von anderen alles vorkauen lässt.“ Kieran fragte sich, wovon er überhaupt sprach. Er sah sich weder als Held – nach derart vielen Gelegenheiten, bei denen er versagt hatte, konnte er sich nicht einmal mehr in seinen Träumen selbst als solchen bezeichnen – noch verstand er, wer überhaupt etwas über ihn lesen sollte. Und wie. Charon wehrte aber noch einmal mit seinem Zeigefinger ab. „Ich habe schon zu viel gesagt. Wir sollten es daher dabei belassen, dass niemand darüber hören will, wie irgendwer dir alles einfach vorsagt. Du musst auch ein bisschen daran arbeiten.“ Kieran sagte darauf nichts mehr. Es brachte ohnehin nichts. Inzwischen war er mehr als zwei Dutzend Stufen gelaufen. Wenn er den Kopf in den Nacken legte, konnte er aber immer noch kein Ende erkennen. Die Treppe schien geradewegs in die Unendlichkeit zu führen. „Gibt es wirklich ein Ende? Das könntest du mir zumindest sagen, oder?“ Einen Moment lang herrschte Stille. Ihre Schritte echoten durch die dunkle Halle, deren Wände er nicht erkennen konnte. Obwohl der Totenwächter bei ihm war, fühlte Kieran sich außerordentlich einsam. Nie hatte er angenommen, jemals andere Menschen oder den Himmel zu vermissen. Schon allein der Wind in seinen Haaren wäre ihm nun wie ein Geschenk vorgekommen. „Nun?“, durchbrach Kieran die Stille wieder. „Du willst es wirklich wissen?“, fragte Charon. „Willst du dich nicht lieber überraschen lassen?“ Das klang wie eine furchtbare Idee. Er könnte natürlich einfach Vertrauen zu Charon aufbringen, aber nur weil er Totenwächter war, musste man das noch lange nicht. „Nein, will ich nicht“, antwortete Kieran deswegen. „Ich will wissen, ob es sich überhaupt lohnt.“ Das Seufzen schien doppelt so laut zu sein wie es dürfte. „Dort oben ist auf jeden Fall eine Tür, die zu einem Raum führt, der sehr wichtig für dich ist.“ Was für einer mochte das sein? Warum war diese Treppe nur so lang? Mit einem inneren Seufzen verdoppelte Kieran seine Anstrengung, die Stufen zu erklimmen. Charon blieb zurück, aber sein leises Lachen war dennoch zu hören. Kieran ignorierte ihn, während er schweigend weiter hinauflief, um in dieser Nacht so weit wie möglich zu kommen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)