Sieben Tage von Flordelis (Custos Mortis reminiscentia) ================================================================================ Prolog: Prolog: Charon ---------------------- Kieran erwachte mit einem erschrockenen Ausruf, einem heftigen Einatmen und dem sofortigen Griff an seine Brust. Obwohl er erwartete, dass sich dort ein Messer oder zumindest eine Wunde befinden müsste, war nichts Derartiges zu spüren. Und bei genauerem Betrachten von dem, was er sehen konnte, während er so auf dem Rücken lag, fiel ihm auf, dass es sich bei diesem Ort nicht um sein Haus handelte. Die Decke dieses Raumes schien endlos weit entfernt und in der Dunkelheit zu verschwinden, aber die Stufen der Wendeltreppe neben ihm waren deutlich zu sehen. Immerhin waren auf dem dazugehörigen Messinggeländer genug Kerzen angebracht, um sie erkennen zu können. Während er sich noch zu orientieren versuchte, richtete er sich auf und achtete dabei weiterhin darauf, ob sein Körper schmerzen würde. Er traute dem Frieden noch nicht, weil er auch nicht so recht wusste, ob er sich nicht vielleicht im feindlichen Gebiet befand. Es war durchaus möglich, dass sein Tod lediglich die Illusion eines Dämons gewesen war und er sich eigentlich mitten im Kampf befand, selbst wenn er sich nicht an diesen erinnerte. „Es gibt keinen Grund, so angespannt zu sein.“ Kierans Kopf ruckte herum, so dass er den unerwarteten Sprecher gleich in Augenschein nehmen konnte. Doch als er diesen tatsächlich entdeckte, fiel sämtliche Kampfbereitschaft sofort von ihm ab. „Du bist ... der Leichenwärter.“ Kieran fand, dass seine eigene Stimme fremd klang; obwohl er sprach, konnte er nicht glauben, dass es wirklich er selbst war, der diese Feststellung machte. Sein Gegenüber, der die ganze Zeit schon gelächelt hatte, schien von dieser Aussage derart amüsiert zu sein, dass sogar seine lavendelfarbene Augen zu glitzern begannen. „Oh, du erinnerst dich an mich.“ Kieran hatte ihn nie vergessen. Die femininen Gesichtszüge, das zusammengebundene dunkelbraune Haar, die feingliedrigen Finger, die wie Spinnenbeine anmuteten ... oft war er von dieser Gestalt, der er nur ein einziges Mal begegnet war, in seinen Träumen heimgesucht worden. Und je älter er geworden war, desto regelmäßiger waren diese Träume gekommen. Er konnte sich nicht mehr an den Inhalt erinnern, aber sie alle waren furchteinflößend gewesen, selbst für einen Lazarus. Deswegen hatte er sie wohl verdrängt. „Wer bist du wirklich?“, fragte Kieran. Es verwunderte ihn, dass er nicht im Mindesten angespannt war, aber als er tatsächlich versuchte, sich dem anderen gegenüber feindselig zu verhalten, gelang ihm das nicht. Es war, als machte eine unsichtbare Macht es ihm unmöglich, seinen Gegenüber zu hassen. Vorerst verbannte er diesen Gedanken allerdings in seinen Hinterkopf und wartete auf die Antwort, die auch prompt kam: „Ich bin Charon.“ Kieran war wirklich froh, dass er gerade nicht sehen musste, wie sein Gesicht aussah. Die Überraschung und Verwunderung über diese Eröffnung, stand ihm sicher in selbiges geschrieben. Charon zumindest konnte darüber lachen. „Ja, genau, der Charon.“ Jeder in Király wusste, dass dies der Name des Wächters der Toten war, der die Verantwortung dafür trug, dass jeder Verstorbene seinen Weg ins Jenseits fand. Wenn man ihm gegenüberstand, gab es dafür nur eine einzige Erklärung. „Dann bin ich wirklich tot“, stellte Kieran sachlich fest. „Ich fürchte, dem kann ich nicht widersprechen.“ Sein Gegenüber neigte den Kopf ein wenig und wirkte dabei nicht im Mindesten so furchteinflößend, wie ihn seine fast vergessenen Träume glauben ließen. „Aber du siehst nicht so aus, als wärst du sonderlich traurig darüber.“ Kieran verschränkte die Arme vor der Brust. „Irgendwann wäre es ohnehin soweit gewesen, nicht wahr?“ Er machte sich keine Illusionen darüber, besonders als Lazarus wusste man immerhin, dass man sich mit dem Thema Sterben auseinandersetzen musste. Ihm war es bislang sogar angenehm lange gelungen, zu überleben. Nur die Identität seines Mörders ärgerte ihn noch immer und das spürte Charon offenbar deutlich: „Aber es muss doch so ärgerlich sein, dass du von Landis getötet werden konntest, oder? Ein so erfahrener Lazarus wie du, lässt sich von einem Dämon hereinlegen, der sich mit einem kleinen Jungen verbündet ...“ Kieran zeigte es nicht, aber das zu hören, erleichterte ihn ein wenig. Landis war also wirklich nicht aus eigenem Antrieb gekommen, um ihn zu töten, stattdessen hatte ein Dämon den Jungen – und vermutlich dessen Hass auf Kieran – genutzt, um die Barriere, die auf Cherrygrove lag, zu überlisten und sogar in sein Haus einzudringen. „Es kümmert mich nicht“, erwiderte er. „Solange Nolan sicher ist ...“ Doch er stutzte, als ihm an dieser Stelle ein Gedanke kam, der ihm nicht gefallen wollte. „Ist Nolan denn sicher?“ Charons Gesicht schien aufzuleuchten, also hatte er eben wohl richtig geraten. Während sich das ungute Gefühl bereits in seinem Inneren ausbreitete, sprach der Wächter der Toten bereits wieder: „Da kommen wir endlich zu dem Punkt, wegen dem du hier bist!“ Für den Wächter der Toten klang er ungemein und fast schon entnervend fröhlich, wie Kieran feststellte. Er runzelte die Stirn und wartete schweigend auf eine weitere Aussage, die auch gleich darauf kam: „Genau genommen sind es zwei Punkte. Zum einen ist Nolan in diesem Moment natürlich nicht sicher. Dieser eine Dämon hatte es vielleicht auf dich abgesehen, aber du weißt genauso gut wie ich, dass es da noch ganz andere gibt. Von den Lazari, die ihn unbedingt auf seiner Seite haben wollen, gar nicht erst zu reden.“ Kieran dachte auch nicht sonderlich gern daran, dass nun eine ganze Organisation hinter Nolan her sein würde, dass sie versuchen würden, ihn zu töten, damit er wiederauferstehen und sich ihnen anschließen könnte. Dass die Dämonen ein ähnliches Ziel verfolgten, ohne den Teil des Anschließens, gefiel ihm noch weniger. Das regte nun wirklich Panik in ihm. Wer sollte auf Nolan achten, wenn nicht er? Wer sollte ihn vor den Lazari oder den Dämonen schützen? Aber er schuldete es dem Jungen auch, dass er zumindest versuchte, ruhig und rational zu bleiben. „Gibt es einen Grund, warum du mir das sagst?“, fragte Kieran daher. Charon nickte lächelnd. „Sogar einen sehr wichtigen.“ Dann hob er einen Zeigefinger. „Es gibt noch genau einen Dämon, der in Cherrygrove umgeht und Nolan zu schaden versucht. Bislang konnte er nichts tun, aber das bedeutet ja nicht, dass es so bleiben wird. Du musst ihn finden und unschädlich machen.“ „Das klingt in der Theorie ganz nett“, wandte Kieran ein, „aber ich bin tot, schon vergessen?“ „Und ich kann dich nicht zurückschicken“, bestätigte Charon, „allerdings trifft sich das hervorragend mit dem zweiten Punkt, wegen dem du hier bist.“ „Bin ich denn etwa nicht ganz tot?“ Gut, dieser Ort war wirklich nicht wie er sich das Jenseits vorgestellt hätte – schon allein, weil es in seiner Vorstellung nicht so einsam gewesen war. Egal, wohin er blickte, überall verlor die Umgebung sich in undurchdringbarer Dunkelheit, nur die erleuchtete Wendeltreppe war zu sehen und verriet damit eindeutig, dass er diese noch würde hinaufgehen müssen. Aber vielleicht war er wirklich noch nicht tot, sondern befand sich nur in einer Art Koma und das hier war nur eine Möglichkeit, wieder zurückzukommen. Aber Charons folgende Aktionen und Worte zerstörten seinem flüchtigen Hoffnungsschimmer. Er neigte den Kopf von der einen auf die andere Seite. „Nun, natürlich bist du das. Aber ich bin der Wächter der Toten, nicht wahr? Ich geleite Seelen hinüber ins Jenseits, aber nur, falls sie soweit sind – und du bist es nicht. Nicht nur, dass du diesen Dämon töten musst, es ist wichtig, dass du die Tür am oberen Absatz dieser Treppe erreichst.“ Dabei deutete er hinauf, wobei Kieran seinem Fingerzeig mit den Augen folgte. „Und was soll dort drin sein?“ Da sich die Treppe trotz der Kerzen auch irgendwann im Dunkeln verlor, sah er wieder Charon an, der sich einen Finger an die Lippen hielt und ihm zuzwinkerte. „Das ist ein Geheimnis~.“ Ja, für einen Totenwächter wirkte er tatsächlich viel zu lebhaft für Kierans Geschmack, aber er wollte sich auch nicht darüber beklagen. Stattdessen hob er ratlos die Schultern. „Und wie genau soll ich das alles denn nun anstellen?“ „Na, ich schicke deine Seele zurück. Deinen Körper kann ich natürlich nicht wiederherstellen, schon allein, weil das zu einigen seltsamen Fragen führen würde, aber als Geist machst du dich bestimmt auch gut und das genügt, um nach Dämonen zu suchen.“ Das behagte Kieran nicht im Mindesten. Zum einen war er sich nicht sicher, ob seine Fähigkeiten selbst als Geist noch funktionsfähig wären und andererseits wollte er eigentlich nicht zurück und sich dabei nur ansehen, dass niemand ihn vermisste und wohl eher alle glücklich über seinen Tod waren, mit Ausnahme von Richard ... vielleicht. Aber es ging immerhin um Nolan. „Fein, ich mache es.“ „Perfekt“, kommentierte Charon. „Aber es gibt noch einen Haken an der Sache.“ Kieran runzelte die Stirn, am Liebsten hätte er geseufzt, aber er behielt seine Frustration für sich. „Du hast nur eine Woche Zeit dafür.“ Das war in seinen Augen kein richtiger Haken. Er benötigte eigentlich nie so viel Zeit für das Aufspüren und Vernichten von Dämonen – und als Geist würde er sicher auch keine dieser weltlichen Bedürfnisse haben, die seine Jagd nur verzögerten. Außerdem musste er nicht gleichzeitig versuchen, sozial zu sein, denn wenn ihn ohnehin niemand wahrnahm, war es auch egal, wie er sich verhielt, was ihm gleich noch mehr Zeit verschaffte. Und eine Treppe zu besteigen war nun wirklich keine Sache, für die er sieben Tage brauchen dürfte. „Geht in Ordnung“, sagte er daher. „Ich kriege das hin.“ Ein feines, offenbar ernst gemeintes, Lächeln breitete sich auf Charons Gesicht aus. „Das freut mich zu hören. Dann werde ich dich nun zurückschicken, damit du mit deiner Untersuchung anfangen kannst. Jeden Tag um Mitternacht wirst du für eine Stunde zurückkehren, um die Treppe in Angriff zu nehmen, der Rest der Zeit steht zu deiner freien Verfügung.“ Ein helles Licht tanzte auf Charons nach oben gerichteter Handfläche und hüllte bald auch Kieran ein. Doch bevor etwas mit ihm geschehen konnte, sah er noch einmal das Lächeln des Totenwächters, als er ihm eine Botschaft mit auf den Weg gab: „Es gibt im Übrigen eine Person in Cherrygrove, die dich sehen kann. Finde diese Person, um eine Verbindung zu den Lebenden zu besitzen.“ Kieran wollte bereits darüber nachdenken, wen er damit nur meinen könnte, aber das Licht vernebelte seine Gedanken, weswegen er sie nicht gänzlich festhalten oder sie gar gebrauchen konnte, um zu einem Schluss zu kommen. Charons folgende Worte reichten aber bereits aus, um ihn zu beruhigen: „Denk immer daran, Kieran: Du bist nicht allein.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)