Das Richtige tun von Kerstin-san ================================================================================ Kapitel 1: Das Richtige tun --------------------------- „Lust auf Fish 'n' Chips?“ Mit diesen Worten eilt Sherlock die Treppe herunter. Kein anderer Mensch, außer Sherlock Holmes, schafft es so übergangslos die Gesprächsthemen zu wechseln und dabei gleichzeitig anzunehmen, dass alle Welt ihm folgen kann. Dementsprechend ist das einzige, das Molly hervorbringen kann, ein relativ unintelligentes „Was?“, während er an ihr vorbei schnellt. Molly ist sich relativ sicher, dass es vor zwei Sekunden noch um U-Bahn-Pläne ging, die sie ihm besorgen soll. Was Fish 'n' Chips mit der Sache zu tun haben, ist ihr völlig schleierhaft.   Sherlock ist so freundlich, das ganze etwas zu spezifizieren. „Ich kenne einen fantastischen Imbiss in der Nähe der Marylebone Road. Der Besitzer gibt mir immer Extra-Portionen.“ Molly beeilt sich ihm zu folgen, sowohl gedanklich als auch physisch. Die einzige Schlussfolgerung, die sie daraus jedoch ziehen kann, ist, dass er wirklich etwas essen gehen will. Da das aber so gar nicht zu ihm passt, muss sie wohl irgendetwas übersehen haben und sie hat wirklich keine Ahnung was. Gleichzeitig stellt sie fest, dass es ihr eigentlich auch relativ egal ist. Wenn Sherlock schon freiwillig essen gehen will und dann auch noch mit ihr, warum sollte sie irgendwelche Einwände haben?   „Haben Sie ihn von einer Mordanklage befreit?“, fragt sie daher. Schließlich muss sie irgendwas sagen und warum sonst sollte irgendjemand etwas Nettes für Sherlock tun, wenn nicht aus Dankbarkeit, weil er diesem jemand geholfen hat? Mit seiner umgänglichen Art hat er das sicher nicht erreicht. „Nein, ich habe ihm geholfen Regale anzubringen.“ Er lacht dabei. Molly kann es an seiner Stimme hören. Und irgendwie macht es auch sie glücklich. Es tut gut, ihn so zu erleben. Er kommt ihr anders vor, als noch vor zwei Jahren. Irgendwie offener, sofern Sherlock offen wirken kann. Und vielleicht denkt sie, vielleicht, haben die beiden Jahre, in denen er fort war, somit doch etwas Gutes gehabt.   Unbewusst verlangsamen sich Mollys Schritte, als sie ihn nach einem kurzem Zögern doch anspricht. „Sherlock?“ Der Angesprochene bleibt auf der Treppe stehen und dreht sich fragend zu ihr herum. „Hm?“ Der völlig absurde Gedanke, dass nur er es fertig bringt, ein so simples Wort wie das Schnurren einer Katze klingen zu lassen, schießt mit einem Mal durch Mollys Gehirn. Das ist nicht gerade hilfreich. Ganz im Gegenteil. Aber schließlich schafft sie es doch noch, ihre Frage zu formulieren. „Das heute... Weswegen war das?“ Molly ist sich ziemlich sicher, dass man ihr ihre Unsicherheit deutlich anmerkt. „Das war ein Dankeschön.“ Spätestens jetzt. Sie will gar nicht wissen, was sie gerade für ein Gesicht macht, während sie wie hypnotisiert noch ein paar Stufen hinuntergeht. Wobei „schleichen“ dafür wahrscheinlich das passendere Wort wäre. Seit wann bedankt sich Sherlock? Normalerweise zweifelt Molly, dass das Wort „Danke“ in seinem Wortschatz überhaupt existiert. Wieder einmal fragt sie sich, was genau ihr heute entgangen ist und sie stellt die einzige Frage, die ihr überfordertes Gehirn gerade zu Stande bringen kann. „Wofür?“ Seine Antwort bringt sie kurzfristig so aus der Fassung, dass sie sich Halt suchend am Ende des Treppengeländers festkrallt, das sie mittlerweile erreicht hat. „Sie haben viel für mich getan.“ Diesen Satz aus seinem Mund zu hören, fühlt sich völlig surreal an. Was hat sie schon Großartiges getan? Wie mechanisch stolpern die nächsten Worte aus ihrem Mund. „Schon ok. War mir ein Vergnügen.“ Sie bringt es einfach nicht fertig ihm in die Augen zu sehen, also wendet sie ihren Blick dem Boden zu, als sie endlich an ihm vorbeigeht. Noch nie war etwas so simples wie gehen, so schwierig. Aber Molly hat schon öfter die Erfahrung gemacht, dass fast alle Dinge schwierig werden, sobald Sherlock ins Spiel kommt. Das hat sich in den letzten zwei Jahren definitiv nicht verändert.   „Nein. Ich meine es ernst.“ Er hat nie Probleme damit sie anzuschauen, was Molly schon immer ziemlich unfair fand, aber so ist Sherlock nun einmal. Dafür klingt seine Stimme irgendwie anders als sonst. Fast ein bisschen gekränkt, weil sie das Ganze einfach so abtut. So, als wüsste sie seine Bemühungen nicht zu würdigen. Molly macht den Fehler kurz in seine Augen zu schauen. Sie hätte es besser wissen sollen. Es sind seine Augen. Die sind es immer. Es sind diese verfluchten Augen, die immer wieder eine hypnotische Wirkung auf sie ausüben. Die es ihr unmöglich machen, einfach so wieder wegzuschauen. Irgendwie hat Molly das Bedürfnis sich rechtfertigen zu müssen. „Ich meine nicht Vergnügen. Ich meine, ich hatte nichts dagegen. Ich wollte es.“ Am liebsten würde sie sich für den Unsinn, den sie da von sich gibt, die Zunge abbeißen. Glücklicherweise kommentiert Sherlock ihre unbeholfenen Versuche erst gar nicht, als er weiter spricht. „Moriarty hat sich vertan. Er hat einen Fehler gemacht. Weil der eine Mensch, von dem er dachte, dass er mir nichts bedeutet, der Mensch war, auf den es am meisten ankam. Sie haben das alles möglich gemacht.“ Molly merkt, dass ihr der Mund aufgeklappt ist, aber sie kann gerade nichts dagegen unternehmen. Das hat er gerade nicht wirklich gesagt, oder? Wie kann Sherlock so etwas sagen und dann auch noch annehmen, dass sie darauf irgendeine vernünftige Antwort geben kann? Mit einem Mal hat Molly das entsetzliche Gefühl, dass die letzten beiden Jahre überhaupt nicht existiert haben. Wie soll sie sonst all das erklären, was gerade mit ihr passiert? Die alten, überwunden geglaubten und doch so schrecklich vertrauten Gefühle, die durch sie hindurchströmen. Sie war so sicher, dass sie das endlich hinter sich gelassen hat. Es ist nicht ihr erster Irrtum für heute.   Vielleicht erwartet Sherlock auch gar nicht, dass sie irgendetwas sagt. Vielleicht hat er die heillose Verwirrung in ihren Augen bemerkt. Ganz sicher hat er das. Denn nach einer kurzen Pause, in der er sie intensiv mustert und einem Blinzeln seinerseits, ist er es, der kurz die Augen Richtung Boden schweifen lässt und mit einem kurzen Seufzen anschließend weiter redet. „Aber Sie können das hier nicht fortsetzen, oder?“ Er zieht fragend eine Augenbraue hoch und Molly ist sich sicher, dass sie ihm darauf nicht wirklich eine Antwort geben muss. Dass er es schon weiß. Wie er so ziemlich alles weiß. Was sie fertig bringt, ist ein kurzes, gequältes Lächeln. „Das war ein sehr schöner Tag.“ Sie kann nicht verhindern, dass ihre Stimme beim letzten Wort wackelt. „Ich würde es gerne.“ Das ist nicht einmal gelogen. Nur kann sie einfach nicht. Nicht jetzt, wo sie sich in den vergangenen zwei Jahren mühsam ein normales Leben aufgebaut hat. Sie hat ihren Job mit geregelten Arbeitszeiten. Sie ist nicht wie John, der einfach alles stehen und liegen lassen kann, wenn Sherlock gerade danach ist. Sie hat ein normales Leben. Eines, wie sie es immer wollte. Ein ruhiges Leben, in dem Sherlock keine Rolle mehr spielt, sondern Tom. „Nur. Ähm...“ Automatisch zuckt ihr Blick zu ihrer rechten Hand. Zu dem Ring. Toms Ring. Der schmale Ring mit den Edelsteinen. Sherlock ist ihrem Blick gefolgt, aber natürlich hat er ihn schon vorher bemerkt. Auch da ist sie sich ganz sicher. „Oh, ich gratuliere übrigens.“ Molly kann nicht anders, als über die Absurdität lachen zu wollen. Sherlock und Sozialkompetenz. Wer hätte das je für möglich gehalten? Kurz blitzt in ihr die Vorstellung auf, wie es wäre, wenn nicht Tom, sondern Sherlock... Aber das ist lächerlich. Die Vorstellung, dass Sherlock jemandem einen Ring schenken würde, bringt sie fast zum Lachen. Aber nur fast. Vermutlich ist es mehr eine gequälte Grimasse, die sich auf ihren Lippen ausbreitet. Sie sollte an so etwas nicht denken. Das ist Tom gegenüber nicht fair. Das hat er nicht verdient. Tom ist ein guter Kerl.   „Ich... kenne ihn nicht von der Arbeit. Wir haben uns über Freunde kennengelernt. Ganz altmodisch.“ Sie hört sich selbst ein hilfloses Lachen ausstoßen. Tom steht für all das, was Molly immer wollte, seit sie ein junges Mädchen war. Er ist bodenständig. Er ist der nette Junge von nebenan. Jemand, der sie nie verletzen würde. Es entbehrt nicht einer gewissen Komik, dass Sherlock das genaue Gegenteil von ihm ist. Sherlock ist die Unkonventionalität in Person. Und trotzdem... Molly verbietet sich diese Gedankenspiele weiter zu führen und senkt wieder den Blick, während sie fortfährt an ihrem Ring zu spielen. „Er ist nett. Wir... Er hat einen Hund. Wir... Wir gehen am Wochenende ins Pub und ich habe seine Eltern kennengelernt und seine Freunde und seine Familie.“ Sie unterbricht sich und lässt ein kurzes hilfloses Kopfschütteln folgen, weil sie sich wieder einmal um Kopf und Kragen redet. „Ich hab keine Ahnung, wieso ich Ihnen das erzähle.“ Hat sie doch. Sie hat das Gefühl, sich vor ihm rechtfertigen zu müssen. Dafür, dass es jemanden in ihrem Leben gibt. Es ist, als müsste sie sich selbst wieder vor Augen führen, warum Tom der Richtige ist. Warum sie mit ihm glücklich ist. Dass sie ihn liebt. Und nicht... Molly presst ihre Lippen zusammen, um etwaige verräterische Laute davon abzuhalten, aus ihrer Kehle zu entweichen. Das Letzte, was sie jetzt gebrauchen kann, ist in Tränen auszubrechen.   Sherlocks Stimme reißt sie zurück in die Gegenwart. „Ich hoffe, dass Sie sehr glücklich werden, Molly Hooper. Sie verdienen es.“ Nach einer kurzen Pause, in der er sie eingehend mustert und wahrscheinlich das ganze Gefühlschaos an ihrem Gesicht ablesen kann, fügt er etwas humorvoller hinzu: „Es können sich ja nicht alle Männer, an die Sie ihr Herz verlieren, als Soziopathen erweisen.“ Wenn Molly es nicht besser wüsste, würde sie annehmen, dass es ein Versuch ist, sie aufzuheitern. Der scheitert jedoch kläglich. Genauso wie ihre Bemühungen, ihm mit fester Stimme zu antworten. Das einzige, was sie hervorstoßen kann, ist ein krächzendes „Nicht?“   „Nein.“ Fast begütigend schüttelt er einmal kurz seinen Kopf, ehe er dicht vor sie tritt. So dicht, dass sie seine Körperwärme fühlen kann. So dicht, dass sie einfach in seine Augen schauen muss. So dicht, dass sie glaubt, jeden Moment in Ohnmacht fallen zu müssen. Dieses Gefühl wird nicht besser, als er sie mit einem Blick ansieht, den sie niemals zuvor bei ihm gesehen hat. Kummervoll. Molly findet keine bessere Beschreibung dafür. Es ist, als würde er etwas in ihren Augen suchen. Molly weiß nicht, was er in ihnen finden wird, außer Panik fühlt sie gerade nicht viel, aber letztendlich scheint Sherlock fündig geworden zu sein. Als Reaktion lächelt er sie kurz gequält an, beugt sich vor und...   … küsst sie auf die Wange. Molly hat reflexartig die Augen geschlossen, als er sich zu ihr heruntergebeugt hat. Sie war sich sicher, dass er... Und irgendwie hat sie es gehofft. Das ist das Schlimmste daran. Denn sie weiß genau, dass sie das nicht tun sollte. Sie hat jetzt Tom. Es ist nicht richtig. Und vielleicht weiß Sherlock das auch. Vielleicht hat er all das vorher in ihrem Gesicht abgelesen. Vielleicht hat er sich dazu entschieden, das Richtige zu tun. Sie... gehen zu lassen? Vielleicht spinnt sie sich hier aber auch nur irgendetwas zusammen. Wer weiß das schon?   Molly traut sich erst wieder ihre Augen zu öffnen, als sie ihn weggehen hört. Sie will nicht, dass er ihr ansieht, was er gerade in ihr ausgelöst hat. Er soll nicht sehen, dass sie nur mit Mühe die Tränen zurückhalten kann, die sie so gerne einfach laufen lassen würde. Aber das würde alles nur noch komplizierter machen, als es im Moment eh schon ist.   „Vielleicht sind die ja mein Typ“, hört sie sich selbst sagen, während sie ihm nachblickt. Molly weiß nicht, ob sie will, dass Sherlock das hört oder nicht. Sie weiß nicht, ob er es hört oder nicht. Im Moment weiß sie nur, dass sie auf lächerliche Art und Weise glücklich ist. Trotz der mühsam unterdrückten Tränen und dem Gefühlschaos, das in ihr tobt.   Sie lässt die Haustür hinter sich zufallen, während sie im Gehen ihre pinken Handschuhe überstreift. Sherlock hat selbstredend nicht auf sie gewartet, sondern ist schon die halbe Straße hinuntergegangen, ohne sich noch einmal nach ihr umzudrehen. Mit einem Anflug von Galgenhumor denkt sie sich, dass das wohl bedeutet, das aus ihrem gemeinsamen Essen doch nichts wird. Ihren Atem in die kalte Luft entweichend lassend, wendet Molly sich nach links.   Es heißt immer, dass man das Richtige tun soll. Aber was ist, fragt sie sich seufzend, was ist, wenn man einfach nicht mehr weiß, was das Richtige ist? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)