On the Rise von Votani ================================================================================ Interlude. Auf Harlan. Boyds Problem. Allianz. ---------------------------------------------- 1 Das beständige Pochen hinter seiner Stirn erschwerte das Denken. Boyd hob die Hand, um mit zwei Fingern seine Schläfe zu massieren. Die Musik aus dem Barraum nebenan drang zusammen mit den Stimmen einiger angetrunkener Gäste in den Hinterraum hinein und machte diesen nächtlichen Besuch nicht angenehmer. Mit langsamen Schritten durchquerte Boyd den Raum und steuerte die kleine Minibar in der Ecke an. „Kann ich Sie für den feinsten Whiskey begeistern, den unser kleiner Mond zu bieten hat?“, fragte er und seine Mundwinkel hoben sich zu einem charmanten Lächeln, als er eine Flasche aufnahm und sie einladend in die Richtung des Soldaten schwenkte. Er trug dunkle Kleidung mit der er draußen in der Nacht verschmolz und an seinem Gürtel hing ein schwerer Revolver. Mit seinen Stiefeln brachte er die rötliche Erde Harlans hinein, die ohnehin keine Tür und auch kein Fenster dauerhaft aussperren konnte. Doch die fehlende Bräune seines Gesichts und seiner Arme verriet selbst einem Nichtwissenden, dass er nicht heimisch auf diesem Mond war. „Ich bin nicht zum Trinken hier“, erwidert der Mann mit den blonden Haaren und dem strengen Gesicht, welches jedem sagen sollte, dass er nicht zum Scherzen aufgelegt war. Als ob sich Boyd dessen nicht bewusst war, lächerlich. Davon einschüchtern ließ er sich nicht und löste stattdessen den Korken aus der Flasche. Er hatte schon mit ganz anderen Leuten Geschäfte gemacht und nur weil dieser Mann einem versteckten Zweig der Allianz angehörte, würde er Boyd nicht in seinen Freiheiten einschränken. Das versuchten viele, aber nur wenigen gelang es und das auch nur für eine geringe Zeit. „Ich hoffe, dass Sie es mir dann trotzdem nachsehen, wenn ich mir ein Tröpfchen gönne.“ Er nahm eines der Gläser zur Hand and und schenkte sich ein. Dabei ließ er sich Zeit, wohl wissend, dass er den ohnehin kurzen Geduldsfaden seines namenlosen Besuchers strapazierte. „Ich weiß ja nicht wie Ihr Tag war, aber meiner war kein Zuckerschlecken, wie man gern so sagt.“ Boyd nahm einen großzügigen Schluck aus seinem Glas und schloss die Augen, um das erste Brennen des Whiskeys im Rachen zu genießen. Der Moment wäre nahezu perfekt gewesen, wäre es nicht um das Räuspern, welches hinter ihm ertönte. „Mir ist es ziemlich egal, wie erfüllend Ihr Tag gewesen ist oder nicht, Mister Crowder“, folgte es. „Sie sollten wissen, dass ich Ihre Akte gelesen habe und bestens über Ihre Eigenart, niemals den Mund halten zu können, informiert bin.“ „So harsche Worte...“, entrann es Boyd, der sich mit seinem Glas hinter seinen massiven Schreibtisch begab. „Und ich wollte gerade eben noch auf unsere harmonische Zusammenarbeit anstoßen.“ „Harmonisch? Sie haben unsere Ware verschlampt, Mister Crowder“, sagte sein Gegenüber, der mit den Augen jede von Boyds Bewegungen verfolgte. Er war auf der Hut. Scheinbar wusste der Gute nicht nur über seine sogenannten Eigenarten Bescheid, sondern kannte auch seinen Ruf. Kein Wunder, der Name ‚Crowder’ war nicht unbekannt und auch fernab dieses Mondes bekannt. Dafür hatte schon sein Daddy damals gesorgt, der im selben Geschäft wie Boyd heute tätig gewesen war. Allerdings gab Boyd den besseren Kriminellen von ihnen beiden ab – möge die Seele seines Vaters in Frieden ruhen. Der eigene Revolver lag in der Schublade des Schreibtischs, nur wenige Zentimeter von Boyds Finger entfernt, als er sich auf seinen Stuhl setzte und sich gemütlich nach hinten lehnte. Doch er bezweifelte, dass er diesen schneller herausholen konnte, als der Allianzmann vor ihm seine eigene Pistole ziehen und abdrücken konnte. Außerdem war ein Blutbad nicht das, worauf Boyd es abgesehen hatte. Viel eher war er trotz einiger Missverständnisse und Fehler – zugegeben, auch von seiner Seite aus – an einer zukünftigen Zusammenarbeit interessiert. „Wissen Sie, Mister...?“, begann Boyd. „Smith“, erwiderte der Soldat vor ihm mit regungslosem Gesicht. Ein freudloses Lächeln huschte über Boyds Lippen. „Wissen Sie, Mister Smith, ‚verschlampt’ ist ein hässliches und sehr inakkurates Wort“, sagte er, als sein Blick durch das Hinterzimmer der Bar schweifte, die einst seinem Cousin gehört hatte. Er hatte sie vor dem Bankrott gerettet, da sich der werte Johnny mit seiner Verletzung nach dem Unabhängigkeitskrieg nicht mehr darum hatte kümmern können. Im Nachhinein wurde Boyd den Gedanken nicht los, dass das der Ursprung seines jetzigen Problems darstellte. Es war ein leise Ahnung, die ihn in den letzten Tagen nicht losließ und ihm selbst mitten in der Nacht hellwach im Bett liegen ließ, während Ava seelenruhig an seiner Seite schlief. Zum gegebenen Zeitpunkt hatte er es für eine ausgezeichnete Idee gehalten, Johnny zusammen mit der Ware auf das alte Firefly-Model zu schiffen, aber inzwischen konnte er sehen, dass dieser Plan nicht ganz so wasserdicht war, wie Boyd es gern gehabt hätte. Hatte er Johnnys Loyalität unterschätzt? Es war kein Geheimnis, dass es einen gewissen Unmut seitens seines Cousins gab, aber das kam in den besten Familien vor. Außerdem hatte Johnny keinen Vorwand, um einen Gräuel gegen ihn zu hegen. Die Kugel, die er während des Kriegs im Rücken abgekommen hatte, war vielleicht für Boyd bestimmt gewesen, aber er hatte seine Schuld beglichen. Oder hatte er Johnny nicht bei sich leben lassen? Hatte er sich nicht Johnnys Bar angenommen? Und was war Johnnys Dank? Trotzdem konnte Boyd seine Entscheidung nur bedingt bereuen, denn nicht andauernd ein säuerliches Gesicht vor sich zu sehen und von vorwurfsvollen Augen bei allem beobachtet zu werden, hatte seine Vorteile. Das hatte Boyds Geduldsfaden in der letzten Zeit doch zunehmend strapaziert. Seine Augen kehrten zu dem Mann in der dunklen Uniform zurück, der ihn trotz der aufgekommenen Stille kontinuierlich anstarrte. Scheinbar hatte Mister Smith sich entschieden, ihn mit seinem eisernen Schweigen einschüchtern zu wollen. Abermals zeigte sich ein Lächeln auf Boyds Gesicht. „Worauf ich hinaus möchte ist, mein werter Mister Smith, dass ich ganz genau weiß, wo sich Ihre Ware befindet und sie sich lediglich verspätet.“ Der Mann vor ihm verlagerte seine Gewicht und legte den Kopf schief. „Dann haben Sie sicher nichts dagegen, wenn Sie mir die Koordinaten geben, Mister Crowder.“ „Dagegen habe ich nichts, aber hat Ihr Kollege beim letzten Mal nicht selbst gesagt, dass der Sinn, jemand Außenstehendes zum Überbringen der Ware anzuheuern, darin besteht, dass niemand den Ort und die Route der Ware kennt? Mir ist etwas von vermuteten Spionen in der Organisation zu Ohren gekommen...“ Boyd beobachtete die Reaktion des Soldaten über den Rand seines Whiskeyglas hinweg, als er einen Schluck nahm. Die Kiefernmuskeln spannten sich an und er nahm eine strammere Haltung an. Boyds Informationen schienen ein Körnchen Wahrheit in sich zu tragen, gut. „Ich weiß nicht, was Ihnen da erzählt worden ist, aber die Initiative hat keine Spione und—“, begann Mister Smith, doch Boyd hob die Hand, um ihn zu unterbrechen. Das Zögern hatte gereicht, um ihn zu verraten und Boyd hinter die sorgfältig aufgesetzte Maske sehen zu lassen. „Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich nun glatt behaupten, dass ich auf das falsche Pferd gesetzt habe“, sagte Boyd und stieß ein raues Lachen aus, das halb verwundert und halb amüsiert klang. „Worauf wollen Sie hinaus, Mister Crowder?“, fragte Smith. Boyd erhob sich aus seinem Stuhl, langsam und genüsslich. „Der Grund, warum ich mich überhaupt entschlossen habe, mit der Initiative zusammenzuarbeiten ist, dass ich angenommen habe, dass Ihr Team die Qualifiziertesten sind, um sich um diese blutsaugende Krise zu kümmern, die neuerdings dieses Universum heimsucht. Allerdings bin ich mir inzwischen da nicht mehr so sicher.“ Die Hand des Soldaten zuckte in die Richtung seines Revolvers, doch er ballte sie im letzten Moment zur Faust, anstatt nach der Waffe zu greifen. „Sie arbeiten nicht mit uns zusammen, sondern für uns, Mister Crowder. Das sollten Sie nicht durcheinander bringen.“ „Sind wir jetzt schon so weit, dass wir einander drohen müssen?“, fragte Boyd, doch sein Gegenüber schüttelte den Kopf. „Es ist eine gutgemeinte Warnung, nichts weiter.“ Smith wandte sich zum Gehen, sah jedoch noch einmal über seine Schulter zurück, bevor er die Hintertür erreichte. „Eine Woche, Crowder. Wenn die Ware bis dahin nicht auf der Raumstation angekommen ist, wird es für uns beide unschön.“ Boyd bekam keine Gelegenheit mehr, um nachzufragen, wie unschön es denn werden würde. Der Soldat verließ die Bar und wurde von der Dunkelheit verschluckt, aus der erst gekommen war. Ein Krachen folgte, als er die Tür hinter sich zuwarf. Seufzend umrundete Boyd den Tisch, um das Schloss vor die Tür zu schieben. Das Letzte, was er nun gebrauchen konnte, war weiteren unerwünschten Besuch. Das galt besonders für Besuch, der nach seinem oder Avas Blut lechzte und für Unruhen auf Harlan sorgte. 2 „Egal, wie ich es drehe und wende, aber mir fällt einfach keine Erklärung ein, wie Crowder dafür verantwortlich sein kann.“ Tims Stimme war trocken, doch Raylan konnte die Belustigung dennoch heraushören. Dafür kannte er seinen Partner bereits etwas zu lange. „Wir babysitten ihn jetzt seit Monaten und nichts ist passiert. Keine Raumschiffbewegung, keine merkwürdigen Besucher, keine nennenswerte Kommunikation, nichts. Also, was denken wir? Wovon gehen wir hier aus?“ Raylan verlangsamte seine Schritte und warf einen skeptischen Blick über seine Schulter hinweg. Nur sein Coyboyhut hielt ihm die Sonne aus dem Gesicht, obwohl es trotzdem hell genug war, um die Augen zu Schlitzen formen zu müssen, wenn man etwas erkennen wollte. „Wir gehen davon aus, dass Boyd einen Weg gefunden hat, auch weiterhin seinen Geschäften nachzugehen und wir nur nichts davon mitbekommen haben.“ „Und diese Geschäfte beinhalten das Verschiffen von blutsaugenden Biestern, die nun nachts die armen Bürger von Harlan heimsuchen?“, fasste Tim zusammen, als er mit Raylan aufholte und sie gemeinsam dem sandigen Pfad folgten, der sie zu Johnnys Bar brachte. Ein in die Irre führender Name, da die Bar schon Jahren nicht mehr Johnny gehörte, sondern – wie so vieles auf Harlan – Boyd Crowder zum Opfer gefallen war. Raylan schürzte die Lippen und seine Finger schlossen sich um den Revolver, der im Halfter an seiner Hüfte ruhte. Das Metall war aufgehitzt, aber die langen Sommer auf Harlan hatten es schon immer in sich gehabt. „Er hat da seine Finger im Spiel. Das ist alles, was ich weiß“, beharrte Raylan, denn Boyd konnte ihm nichts vormachen. Sie hatten in ihrer Jugend zusammen in den Kohleminen gearbeitet und sich fast die Finger mit dem Dynamit weggesprengt. In den engen Tunneln und bei der schlechten Luft lernte man einen anderen Menschen um einiges besser kennen, als in jedem anderen Job. In solchen Momenten bekam man den echten Menschen zu sehen, da konnte man einem Mann direkt in die Seele blicken – und Boyds war schwarz wie die Kohle selbst, auch wenn er gern etwas anderes behauptete. Raylan kannte ihn und er wusste, dass Boyd etwas vor der Allianz, vor ihm, versteckte. Er war sich sogar sicher, dass er mehr Leichen im Keller versteckt hatte, als jeder andere Bewohner Harlans. Dafür legte Raylan seine Hand ins Feuer. Tim sagte nichts mehr dazu, obwohl Raylan auch weiterhin den Blick des anderen Mannes auf seiner Haut spüren konnte. „Wenn ich mich irre, geht der Drink heute Abend auf mich“, lenkte Raylan beschwichtigend ein und schielte aus den Augenwinkeln zu ihm hinüber. Tim schnaufte. „Tut er sowieso. Immerhin willst du, dass ich dir nach Hause folge.“ „Will ich das?“ Seine Mundwinkel hoben sich, als Tim ihm einen Blick schenkte, der keine Erwiderung bedurfte. Johnnys Bar befand sich im Stadtzentrum von Harlan und war nur eine Häuserwand von Audrey’s, dem örtlichen Freudenhaus entfernt, dessen Eigentümerin niemand anderes als Ava Crowder war, Witwe seit dem Tod von Bowman Crowder und neuerdings Verlobte von seinem Bruder Boyd Crowder. Nicht nur Lokale wurde untereinander in der Crowder-Familie vermacht, sondern auch die Ehepartner... Im Inneren war es stickig und leer. Kein einziger Gast saß an dem langen Tresen, an dem an guten Abenden reichlich Alkohol floss. Auch die Tische waren weitgehend unbesetzt, nur in den hinteren Ecken konnte man den ein oder anderen Dauertrinker ausmachen, der sich mit der flachen Hand warme Luft zufächelte. Raylans Blick wanderte umher, bis er an Jimmy hängen blieb. Der junge Mann stand hinter dem Tresen und trocknete Gläser ab. Er trug eine eintrainierte Maske der Gleichgültigkeit, die es Raylan in den Fingern jucken ließ. Seine Fingerspitzen tanzten über den Griff seines Revolvers, als er die Bar durchquerte. Tim war ihm dicht auf den Fersen, spielte seinen Schatten, genauso wie er es immer tat. „Was kann ich für Sie tun, Lieutenant?“, fragte Jimmy, die Stimme tief für den fast jugendlich aussehende Mann, der seit seiner Ankunft auf Harlan zu einem von Boyds Vertrauten geworden war. Raylan schätzte, dass er in seinen Zwanzigern war und wie viele andere in seinem Alter nach Arbeit gesucht und nichts besseres gefunden hatte. Er konnte einem fast leid tun, wobei die Betonung auf dem Wort ‚fast’ lag. Raylan schenkte ihm ein freudloses Grinsen. „Das Übliche, Jimmy. Wir wollen mit deinem Herrchen sprechen.“ Das Gesicht des Barkeepers zuckte. „Ich werde sehen, ob Boyd Zeit hat.“ Er schwang das Handtuch über seine Schulter und verschwand durch eine Schwingtür im hinteren Teil der Bar. Was besprochen wurde konnte Raylan über die schrägen Klänge, die aus der Jukebox in der Ecke drangen, nicht hören, weshalb er sich Tim zuwandte. „Ich glaub, ich habe seine Gefühle verletzt.“ Tim hob eine Augenbraue. „Denkst du?“ Zurück war der trockene Sarkasmus, der Raylan immer wieder ein belustigtes Schnauben abrang. Ein Räuspern lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf Jimmy, der im Türrahmen stand und ihnen schweigend bedeutete, dass Boyd bereit war, um sie zu sehen. Beinahe so, als hätte er eine große Wahl und konnte sich ihnen tatsächlich widersetzen. Dabei war es kein Geheimnis, dass Raylan nur auf einen Grund wartete, um Boyd eine der Zellen in ihrem Quartier zu zeigen. Seine Akte war voll genug. Nur durch fehlende Beweisen und fehlende Zeugen, die sich nicht vor Angst vor Boyd ins Hemd machten, saß Boyd noch nicht hinter Gittern. Noch nicht. Raylan würde das ändern, auch wenn es das Letzte war, was er jemals tun würde. „Raylan...“, wurde er begrüßt, sobald Tim und er das Hinterzimmer betreten hatten, das zeitgleich als Boyds Büro fungierte. „Was verschafft mir diesmal die Ehre deines Besuchs?“ Er saß an seinem Schreibtisch und lehnte sich in seinem Stuhl zurück, um die Arme in einladender Geste auszubreiten. Er trug eine feine Weste und ein breites Grinsen auf den Lippen, welches strahlendweiße Zähne preisgab. Doch es war das Scrabble-Spiel, welches vor ihm auf dem Schreibtisch ausgebreitet war, das Raylans Blick auf sich zog. Ein altes Wortspiel, das seine Wurzeln weit in der Vergangenheit und sich im Laufe der Jahrhunderte kaum verändert hatte. Auf der anderen Schreibtischseite hatte sich Boyds rechte Hand einen Stuhl herangerückt, um seinerseits ein Wort zusammenzupuzzeln. Die strohblonden Haare reichten dem stämmigen Mann bis zum Kinn hinunter und ein lockeres Lächeln saß in seinem Gesicht, als könnte er sich nichts besseres vorstellen, als mit Boyd an einem sonnigen Nachmittag ein Brettspiel zu spielen. „Dasselbe wie immer, Boyd“, entrann es Raylan und er schlenderte näher zu den beiden Männern hinüber. „Seltsame Dinge geschehen und die Allianz wird beauftragt, den Verantwortlichen zu finden. Selbst hier draußen, weit entfernt von der richtigen Zivilisation herrscht eine gewisse Ordnung.“ „Und wenn seltsame Dinge geschehen, dann muss ich natürlich darin involviert sein“, fügte Boyd hinzu. „Dann musst du mir aber zunächst einmal verraten, was für außergewöhnliche Sachen von statten gehen, damit ich weiß, für was ich hier genau beschuldet werde.“ Beide Männer tauschten einen langen Blick aus, während Raylan seine Wortwahl abwog. „Nächtliche Überfälle auf unschuldige Bewohner. Vermisste Personen. Mord“, begann er aufzuzählen, ohne Boyd aus den Augen zu lassen. Eine Reaktion blieb aus, doch die fehlende Überraschung bestätigte Raylan, dass Boyd mehr wusste, als er zugeben würde. „Das sind eine ganze Menge Sachen, die ich angestellt haben soll“, erwiderte Boyd, der ein paar Buchstaben auf das Brett legte, welche das Wort ‚amüsiert’ zusammensetzten. Danach lehnte er sich wieder zurück. „Ganz besonders, wenn wir beide wissen, dass die Allianz jeden meiner Schritte verfolgt und jede meiner Kommunikationen überwacht. Ich halte mich zwar für ausgesprochen gut in dem, was ich tue, aber ich bezweifele, dass ich so gut bin.“ „Aber du weißt davon“, sagte Tim, der in der Nähe der Tür verweilte. Er hatte die Arme vor dem Brustkorb verschränkt und lehnte an der Wand, gelassen wie eh und je. Es war ein weiterer Grund, warum Raylan ihn mitgebracht hatte. Seine Gelassenheit konnte leicht mit Boyds mithalten, aber er konnte schneller den Revolver ziehen und akkurater schießen. Tim Gutterson war eine Ein-Mann-Armee, die Raylan den Rücken deckte. „Nun ja, werter Lieutenant, ich leite eine Bar“, antwortete Boyd und erlaubte sich ein Zucken der Schultern. „Wenn Alkohol im Spiel ist, tendieren die Leute etwas freier zu sprechen. Ich kann also nicht bestreiten, dass mir nicht gewisse Dinge zu Ohren gekommen sind, die mal mehr oder mal weniger Sinn machen.“ „Und was für Dinge wären das, die weniger Sinn machen?“, erkundige sich Raylan. „Allerlei Dinge...“, bemerkte Boyd und sah zu seinem Mitarbeiter hinüber, der dabei war die Buchstaben auf dem Brett zu richten. „Colt?“ Dieser sah auf und musterte alle Anwesenden nacheinander, bevor er faul grinste. „Allerlei Dinge, blutsaugende Dinge, die keine Reaver sind, soweit ich gehört habe.“ Sein Ton war lapidar, als würde er irgendwelche Legenden mit Freunden austauschen, die keine Wahrheit in sich trugen. Nur, dass Leichen gefunden wurden, die keinen Tropfen Blut mehr im Leib trugen. Oder an manchen Tatorten nicht einmal ein Toter gefunden worden ist, obwohl es Spuren eines Kampfes und Blutflecken gab. Es war beinahe so, als sei das Opfer einfach aufgestanden und weggelaufen. „Da ist wohl wirklich ein bisschen zu viel Alkohol geflossen...“, murmelte Raylan und Boyd nickte mit vorgespieltem Verständnis. Sie konnten einander nach all den Jahren nichts mehr vormachen und brauchten keine Worte austauschen, um den anderen zu durchschauen. Sie beide wussten, dass da mehr hinter diesen Vorfällen steckten, als sie voreinander zugeben wollten. „Wie dem auch sei...“, räumte Raylan ein. „Wenn du dich vorher schon beschattet gefühlt hast, sollte es dich nicht weiter beunruhigen, dass wir die Leute, die auf dich angesetzt sind, für eine Weile verdoppeln. Nur solange, bis wir herausgefunden haben, ob du für die Vorkommnisse verantwortlich bist oder nicht.“ „Ich habe nichts anderes von unseren noblen Ordnungshütern erwartet“, erwiderte Boyd. Das Spiel war inzwischen vergessen und das Lächeln auf seinen Lippen wirkte ein wenig aufgesetzter als zuvor. „Dabei sollte man meinen, dass dieser kleine Allianzstützpunkt kaum genügend Männer hat, um andere Spuren und Verdächtige zu verfolgen.“ Raylans Mundwinkel zuckten in die Höhe. „Welche anderen Spuren und Verdächtige?“, fragte er, bevor er sich umdrehte und aus dem Hinterraum schlenderte. Tim folgte ihm auf dem Fuße, holte jedoch erst mit ihm auf, nachdem sie die Bar verlassen hatten. „Was denkst du?“ Die Hand, die bis eben noch auf dem Griff seines Revolvers gelegen hatte, hob sich, damit er seinen Hut ein bisschen nach unten ziehen konnte, bis das Sonnenlicht nicht mehr direkt in seine Augen fallen konnte. „Er weiß etwas und hat seine Finger im Spiel. Ich weiß nur noch nicht genau inwiefern. Aber das werden wir noch herauskriegen. Begeistert, dass wir mehr Leute auf ihn ansetzen ist er jedenfalls nicht. Irgendwann wird Boyd einen Fehler machen und ich werde da sein, wenn er ihn begeht.“ 3 Stimmengewirr erfüllte den Barraum und Rauch schwängerte die Luft, von all den Zigarren und Zigaretten, die angezündet worden waren. Nur die Petroleumlampen, die auf dem Tresen und auf den Tischen standen, erhellten den Innenraum und schenkten ihm gleichzeitig eine friedliche Atmosphäre. Diese zog besonders die ältere Kundschaft an, die der Bar seit Jahren bereits treu waren. Hier sammelte sich die Männer und Frauen, die nicht mit der Allianz trinken wollten, denn diese war in Johnnys Bar unerwünscht. Boyd reichte es zu wissen, dass sie dort draußen in der Dunkelheit lauerten und darauf warteten, dass er einen falschen Schritt machte. Sein Blick wanderte zu den Fenstern hinüber, dessen Jalousien zu jeglicher Uhrzeit geschlossen waren. Tagsüber, um die Hitze nicht hineinzulassen, und abends, um etwas Privatsphäre zu mimen – vor Raylan Givens, seinen Soldatenfreunden und allem anderen, was sich dort herumtrieb. Seine Finger verengten sich um das Whiskeyglas, mit dem er am Tresen saß, der restlichen Bar und der gesamten Welt den Rücken kehrend. Erst dachte dieser Smith, ihm drohen zu können, und nun Raylan, der ihm weismachen wollte, dass er für die blutleeren Leichen auf Harlan verantwortlich war. „Das wirklich Ironische an dieser Sache ist, dass beide Männer von der Allianz stammen, aber enger mit einem Kriminellen zusammenarbeiten, als miteinander“, entrann es Boyd. Nun gut, das hatte er auch vorher schon gewusst und versucht zu seinem Vorteil auszunutzen. Im Moment konnte er jedoch nicht behaupten, dass alles nach Plan lief. Johnny, der als einziger wusste, wo sich die Ware von Smith und seiner Initiative aufhielt, meldete sich nicht, während Raylan ihn strenger bewachen ließ als den Allianzstützpunkt, obwohl dieser des Öfteren von Randalen heimgesucht wurde. Der Bitterkeit gegenüber der Regierung war seit dem Krieg groß auf Harlan. Viele Veteranen stammten von hier. Harlan hatte viel im Kampf für seine Unabhängigkeit verloren und eingebüsst, mit dem Erbauen des Allianzstützpunkts auch ein großes Stück seiner Freiheit. Als ob das Leben auf Harlan nicht schon schlimm genug war. Immerhin gab es hier nichts zu holen. Sobald die Männer und Frauen alt genug waren, arbeiteten sie in den Minen, denn Kohle war das einzige Gut, dass sich exportieren ließ. Andere bauten Wasser von den Eispolen von Poseidon ab. Trotz der Umformung der Planeten war der Planet, um den Harlan rotierte, zu kalt, um eine größere Bevölkerung dauerhaft anzuziehen. Es gab ein, zwei Siedelungen auf Poseidon, aber nur Leute, die dort geboren wurden, verweilten im Normalfall. „Bist du sicher, dass alles in Ordnung ist, Baby?“, fragte Ava, die sich auf der anderen Seite des Tresens befand. Besorgte Augen suchten seinen Blick, während sie sich etwas zu trinken einschenkte, um sich anschließend zu ihm zu setzen. Ihre blonden Haare trug sie zu einem einfachen Pferdeschwanz zusammengebunden, was Boyd unwillkürlich an ihre Schulzeit erinnerte. Schon damals war er ihr mit Haut und Haare verfallen gewesen, aber sie hatte seinen doch eher stumpfsinnigen Bruder gewählt. Familie war jedoch Familie – und vielleicht war das genau sein Problem. „Ich hätte Johnny nicht mitschicken sollen. Colt vielleicht“, murmelte Boyd und starrte in sein halbleeres Glas hinein. „Jimmy schon eher.“ Ava rückte ihren Barhocker näher an seinen heran und lehnte sich an ihn. Ihr Kopf kam auf seiner Schulter zum Liegen und ihr Atem streifte sein Ohr. Boyd schloss die Augen, um sich auf das Gefühl zu konzentrieren. „Du konntest nicht wissen, dass Johnny sich von dir abwendet, Boyd“, erwiderte sie leise. Avas Stimme war wie Musik in seinen Ohren, die es einfach machte, die Kunden zu vergessen, die hinter ihnen all ihren Kummer in Alkohol ertränkten. Zu diesen Menschen fühlte er dennoch eine engere Bindung, als zu der Allianz, die angeblich für Recht und Ordnung sorgen sollte. Was wussten all diese kleinen Ordnungshüter schon vom richtigen Leben? Was wussten sie schon davon, was dort draußen in der Dunkelheit sein Unwesen trieb? Raylan Givens dachte womöglich, dass er auf der Siegerseite stand, aber Boyd wusste es besser. Aus diesem Grund hatte er alles auf die Initiative gesetzt und den Job des Transportierens überhaupt erst angenommen. Natürlich hatte er vorher heimlich einen Blick in die Truhen geworfen, wusste um die jungen Frauen und Männer, die dort eingefroren gelegen hatten. Was die Initiative mit ihnen vorhatte, konnte sich Boyd ebenfalls ganz gut ausmalen, obwohl er inzwischen nicht mehr sicher war, ob sie die Raumstation der Initiative überhaupt jemals erreichen würden. Boyd drehte den Kopf in die Richtung seiner Verlobten und küsste ihr blondes Haar. „Weißt du, wenn es von dir kommt, könnte ich es glatt glauben, Darling.“ Aber er hätte es besser wissen sollen, denn nur weil sie blutsverwandt und die einzigen noch übrig gebliebenen der einst großen Crowder-Familie waren, bedeutete das nicht, dass sie loyal zueinander standen. „Boyd...“, murmelte Ava und ihrem Ton unterlag plötzlich eine Angespanntheit, die vorher noch nicht da gewesen war. Sie deutete auf den Spiegel, der sich hinter dem Tresen befand und neben dem Regal mit dem Alkohol angebracht war. Auch Jimmy, der mit einer weiteren Kiste Bier aus dem Hinterzimmer kam, zog die Augenbrauen hoch. Boyd folgte Avas Handgeste zu dem Mann hinüber, der vermummt in der hintersten Ecke saß, abseits von allein. Es verwirrte sich selten ein Fremder in diese Bar. Nicht einmal die Allianz machte sich die Mühe, sich dermaßen zu bekleiden, um unerkannt zu bleiben. Er berührte Avas Hände und löste ihre Finger von seiner Weste, bevor er aufstand. „Warte hier“, flüsterte er ihr zu. Seine Augen wanderten durch den Raum, doch der Fremde war der einzige, der mit seinem Aussehen aus dem Rahmen fiel. Mit langen Schritten spazierte Boyd zwischen den Tischen hindurch und zu der einhüllten Gestalt hinüber. „Was darf es sein? Whiskey? Bier?“, fragte er. „Oder etwas ganz anderes?“ Der Fremde hob den Kopf. Nur die dunklen Augen waren unter dem Kapuzenmantel und dem Schal erkennbar. Ob die Kleidungsstücke nur dazu da waren um sein Aussehen zu verbergen oder gleichzeitig gegen die nächtliche Kälte gedacht war, blieb fraglich. „Wasser, bitte“, sagte der Mann mit kratziger Stimme. „Der Minenbau... ich hätte gern etwas Wasser.“ Boyd legte die Stirn kraus, während im Hintergrund ein Gemurmel ausbrach. Für einen Minenarbeiter fand man Sympathie, denn die Mehrzahl aller Anwesenden hatte ebenfalls einmal diesen Beruf ausgeübt, nur um halb verschüttet worden zu sein. „Wasser kommt sofort. Ist Ihnen kalt? Wir können den Generator höher schalten und sie können die Kleider ablegen.“ Ein Nicken folgte und der Mann begann den Schal abzuwickeln. Ein grauer Bart kam zum Vorschein, ein runzeliges Gesicht, dass ihn zu sehr an seinen alten Herren erinnerte. Boyd wandte sich ab. Er hatte den Fremden offensichtlich falsch eingeschätzt. Das hatten sie alle. Von ihm ging keine Gefahr aus. Boyd schlenderte zurück zum Tresen, um ein Glas Wasser zu holen und Jimmy zu beauftragen, die Heizung höher zu stellen. Auf halben Weg wurde jedoch sein Hemdärmel gepackt und er wurde zurückgehalten. Ein junger Mann hielt an ihm fest und lehnte sich auf seinem Stuhl seitlich zu ihm hinüber. „Ich könnte auch noch etwas zu trinken gebrauchen“, murmelte er und grinste zu Boyd hinauf. Im nächsten Moment zog er Boyd mit unmenschlicher Kraft hinunter. Das Gesicht vor ihm verformte sich und Reiszähne blitzten im Licht der Petroleumlampen. Bevor sich die Zähne in seinen Hals schlagen konnten, rang ein Schuss durch die Bar. Er ließ Boyds Ohren klingeln, als der Vampir zurück in seinen Stuhl sackte. Seine Schulter war weggeblasen, was ihn verwirrt an sich selbst hinunterschauen ließ. Es gab Boyd genug Zeit, um über seine Schulter zu schauen und Jimmy mit seiner Schrotflinte hinter dem Tresen stehen zu sehen. Boyd zog den eigenen Revolver hinter unter seiner Weste hervor, unter der sie im Gürtel steckte. Der Hammer wurde zurückgeschoben und der Lauf auf die Brust des Vampirs gerichtet. Ein weiterer Schuss erklang, ehe der junge Mann mit dem deformierten Gesicht sich auflöste. „Boyd, Baby, hat er dich gekriegt?“ Ava war sogleich an seiner Seite und drehte ihn zu sich herum. Er legte die Arme um seine Verlobte. „Die Allianz dürfte gleich hier eintrudeln“, war alles, was er sagte. Diesen Krach konnten sie nicht überhört haben, nicht, wenn sie nur auf einen Mucks seinerseits warteten. „Niemand wird etwas sagen“, entrann es Jimmy, der den Tresen umrundet hatte und den Blick über die Kunden wandern ließen. „Jeder hier weiß, dass die Allianz uns hierbei nicht helfen kann. Wir sind alle auf uns selbst gestellt.“ Ein paar nickten, andere brachen in einem zustimmenden Raunen aus. Sie waren auf sich selbst gestellt, denn niemand hier vertraute der Allianz. Das wusste Boyd, aber erst in diesem Moment wurde ihm bewusst, dass ihm das einen größeren Vorteil verschaffte, als er angenommen hatte. Er hatte mehr potenzielle Verbündete, als Raylan Givens sich in seinen kühnsten Träumen vorstellen könnte. Er hatte doch noch eine Chance, um auf der Gewinnerseite zu stehen und diesen Kampf gegen diese untote Brut zu gewinnen, von der niemand wusste, aus welchem Loch sie eigentlich geschlüpft war. Seine Umarmung wurde fester und seine Mundwinkel hoben sich ein Stück, als Ava ein besorgtes „Boyd?“ verlauten ließ. „Keine Sorge, Baby, alles wird gut“, erwiderte er. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)