Meine bessere Hälfte von DasWoelfchen ================================================================================ Kapitel 1: Irgendwo in Nevada ----------------------------- "Es ist sooo~ heiß!" … "Meine Schuhe sind voller Sand!" … "Wann sind wir endlich da?" Jammernd kroch ich meiner besten Freundin hinterher. Schon seit gefühlten Stunden liefen wir durch die Wüste Nevadas, doch Death City hatten wir immer noch nicht erreicht. Warum hatte der Shinigami-sama seine Stadt auch mitten in die Wüste gesetzt, meilenweit entfernt vom nächsten Highway? Selbst Atlantis war leichter zu finden! Jamie, meine beste Freundin, ging schweigend vor mir her und ließ mein Gejammer unkommentiert. Sie war schon immer die ruhigere von uns gewesen, doch ich wusste, dass ihre Schweigsamkeit in diesem Fall von ihrer Erschöpfung herrührte. Genau genommen musste sie kurz vor der Ohnmacht stehen, denn im Gegensatz zu mir war sie alles andere als an Ausdauersport gewöhnt. Genervt sah ich zur Sonne, die nach wie vor mit ihrem irren Grinsen gnadenlos vom Himmel brannte. Jetzt war definitiv Zeit für eine Pause! "Hach", stöhnte ich theatralisch und lehnte meinen Handrücken an meine Stirn. "Diese Hitze…". Dramatisch ließ ich mich rückwärts in den Sand fallen und rührte mich nicht mehr. Nach einigen schweigsamen Minuten öffnete ich ergeben die Augen. Jamie war wenige Meter vor mir zum stehen gekommen und beobachtete mich kopfschüttelnd, mit ihrem typischen ruhigen Lächeln im Gesicht. "Wir sind da." Überrascht stand ich auf und klopfte mir den Sand von der Hose. Direkt hinter Jamie erkannte ich eine Stadt, die sich hoch über den Wüstenboden auftürmte. Hinein führte eine gepflasterte Straße, die offenbar quer durch die Wüste verlief. Wütend stieß ich die Luft aus. Eine Straße! Und wir hatten uns stundenlang durch den Sand gekämpft! "Death City ist ziemlich beeindruckend, oder?", holte mich Jamies Stimme aus meiner gedanklichen Schimpftirade zurück. "Hmmhm", brummte ich zustimmend. Ja, Death City war beeindruckend, vor allem, wenn man aus einem kleinen Dorf in Südengland kam und die größte Stadt in der Nähe gerade einmal 23.000 Seelen beherbergte. Einen Ort wie diesen hatten wir noch nie gesehen. "Glaubst du, wir finden uns hier zurecht?" Ich hörte die Zweifel in ihrer Stimme. "Klar doch.", grinste ich selbstsicher, um ihr Mut zu machen. "Und wenn uns jemand dumm kommt, kann er was erleben!" Zur Antwort lächelte sie nur. Denn auch, wenn sie es nicht ausgesprochen hatte; ich wusste, dass sie sich größere Sorgen um unsere neuen Mitschüler machte, als um die Größe der Stadt. Im Gegensatz zu mir war es Jamie wichtig, was andere über sie dachten und sie hatte Angst, dass wir hier keine Freunde finden würden - was nicht ganz unwahrscheinlich war, denn zu Hause waren wir auch nicht besonders beliebt gewesen. Doch ganz egal wie groß ihre Sorgen waren, ich zerstreute sie-so gut ich konnte. Wir liefen die Straße entlang, Richtung Stadtzentrum, zur Shibusen. Währenddessen sah ich mich neugierig um. Die meisten Häuser schienen schon sehr alt zu sein, doch ab und zu sah man modernere Gebäude dazwischen. Auf vielen Dächern sah ich Kreuze, obwohl es keine Kirchen zu sein schienen. Außerdem entdeckte ich überall Totenköpfe – das Markenzeichen vom Shinigami-sama, wie ich von Jamie wusste. Die Straßen, die von den Hauptstraßen wegführten, waren oft sehr verwinkelt und schmal, was typisch für alte Städte war. Die Straße, der wir folgten, wurde an einigen Stellen von Treppenstufen unterbrochen. Als ich weiter die Häuser bestaunte – unglaublich, wie viele Türme es gab! – fiel mir etwas entscheidendes ein. "Sag mal, hat deine Granny uns nicht eine Wohnung besorgt?" "Ja, in der Elm Street, Hausnummer sieben.", antwortete sie ruhig, Ungläubig sah ich sie an. "In der Elm Street? Ist das dein Ernst?" "Wieso nicht?", fragte sie unschuldig, doch ihre Mundwinkel zuckten leicht. Leise lachte ich, sie war wirklich eine schlechte Lügnerin. "Gut, du hast mich erwischt.", gab sich Jamie schließlich geschlagen. "Eigentlich wohnen wir in der Fleet Sreet." "Jay, hör auf, mich zu verarschen!", motzte ich gespielt sauer. "Nagut.", lachte sie jetzt. "Aber diese Straßennamen sind glaubwürdiger, als der richtige. Oder glaubst du mir, dass wir in der Strawberrystreet wohnen?" Belustigt gluckste ich. Sie hatte recht, zu Death City passten Straßennamen aus irgendwelchen Horrorfilmen besser als so etwas harmloses. "Stimmt, das klingt merkwürdig.", antwortete ich. "Aber du weißt nicht zufällig, wo die Strawberrystreet ist?" "Nein, keine Ahnung.", zerstörte sie meine Hoffnungen. "Wir können ja in der Schule jemanden fragen, wenn wir dort sind.", schlug sie vor. Unzufrieden blies ich meine Wangen auf. Ich hatte keine Lust, irgendeinen pubertären Vollpfosten schon am ersten Tag um Hilfe zu bitten. Generell bat ich niemanden um Hilfe, dazu war ich zu Stolz. Und ich wollte nicht wie ein kleines Mädchen wirken, das ohne fremde Hilfe nicht zurechtkam. Während ich mit mir haderte, ob ich über meinen Schatten springen sollte oder Jamie um Hilfe bitten ließ, blieb besagte stehen. Wir standen auf einem großen Platz, in dessen Mitte ein plätschernder Springbrunnen stand. Dahinter erhob sich eine riesige Treppe, die über hunderte Stufen nach oben führte. Mich beschlich das Gefühl, dass wir nach dort oben müssten, zumal das Gebäude, das sich dort befand, verdächtig nach der Shibusen aussah. Jamie warf mir einen aufmunternden Blick zu, bevor sie meine Hand nahm und mit mir die Treppe erklomm. Der Aufstieg selbst erwies sich als weniger schlimm, als erwartet und oben angekommen bot sich uns ein atemberaubender Blick über die Stadt. Jamie, die mittlerweile meine Hand losgelassen hatte, setzte sich erschöpft auf den Boden, während ich mich an das Geländer lehnte, das den Schulhof umgab. "Wo müssen wir jetzt hin?", sprach ich meine erschöpfte Freundin an, und ließ meinen Blick über den menschenleeren Schulhof wandern. Offenbar saßen alle brav im Unterricht. "Keine Ahnung.", antwortete Jamie und stand auf. "Wir müssen uns wohl durchfragen." "Und bei wem? Hier ist niemand, den man fragen könnte.", und selbst wenn, würde ich nicht fragen. "Dann suchen wir drinnen jemanden.", erwiderte sie entschlossen und ging auf das Schulgebäude zu. Wenige Augenblicke später befanden wir uns in einem Labyrinth aus Korridoren, in dem wir schon jetzt jegliche Orientierung verloren hatten. Beinahe verzweifelt irrten wir durch die Gänge, bis sich plötzlich eine Tür vor uns öffnete und ein komplett blauer Kerl heraustrat. Vor Schreck machte Jamie einen Satz zurück und versteckte sich hinter mir. Erst jetzt bemerkte ich das Loch in seiner Stirn – der Typ war definitiv kein Mensch! "Nanu, kann ich euch helfen?", fragte der merkwürdige Kerl und da Jamie nicht in der Lage war, etwas zu sagen, musste ich antworten. "Wir suchen den Shinigami-sama." "Ah, ihr seid die neuen Schülerinnen, richtig? Kommt mit, ich zeige euch den Weg.", bot er uns freundlich an und bevor ich etwas hätte sagen können, ging er schon voraus. Misstrauisch folgte ich ihm, mit Jamie im Schlepptau. Er schien zwar zur Shibusen zu gehören, sonst wäre er wohl kaum hier, aber er sah nicht aus wie ein Schüler. Und auch nicht wie ein typischer Lehrer, was nicht zuletzt an dem Loch in seinem Kopf lag. Müsste er nicht eigentlich tot sein?! Nach einigen stillen Minuten blieb der Kerl vor einer Tür stehen, auf der in einer krakeligen Schrift "Death Room" stand – das klang ja wirklich vertrauenswürdig! - und öffnete sie. Jamie und ich folgten ihm durch einen langen Gang aus Holztoren, doch als ich den Blick nach oben wandte, sah ich eine Reihe von Fallbeilen. Das waren Guillotinen! Sofort flog mein Kopf zu Jamie herum, doch sie schien die Messer noch nicht bemerkt zu haben, und ich würde sicher nicht den Fehler machen und sie darauf hinweisen. Solange die Messer dort blieben, wo sie waren, brauchten wir uns keine Sorgen machen. Als wir den Gang durchquert hatten, fanden wir uns auf einer weiten Ebene wieder. Im Boden steckten überall Kreuze – war das ein Friedhof? - und über uns erstreckte sich ein blauer Himmel. Verwirrt zog ich die Augenbrauen zusammen, waren wir nicht eben noch in der Schule gewesen? Andererseits befanden sich im "Himmel" einige kleine Fenster, was bedeuten musste, das wir uns tatsächlich in der Schule befanden. 'Verrückt', dachte ich mir und schüttelte den Kopf. Dann erregte etwas direkt vor mir meine Aufmerksamkeit. Dort standen, auf einer kleinen Erhöhung, ein großer Spiegel und eine schwarze Maskengestalt – der Shinigami-sama! Ich spürte, wie sich Jamie an meinen Arm klammerte, worauf ich sie fragend ansah. Mit großen Augen starrte sie den Shinigami-sama an und traute sich nicht, etwas zu sagen, nicht mal ein leises „Hallo“ kam über ihre Lippen. Die pure Ehrfurcht stand ihr ins Gesicht geschrieben, was ich sehr gut verstehen konnte, immerhin war das der Totengott. Mit dem wollte es sich niemand, der noch bei klarem Verstand war, verscherzen. Selbst ich hatte eine gehörige Portion Respekt vor- "Halli-Hallo~.", trällerte der Shinigami zur Begrüßung. "Wie gehts, wie stehts?" Eine meiner Augenbrauen zuckte ungehalten, das wars mit dem Respekt. Warum redete er mit uns, als wären wir Kleinkinder? Wollte der uns verarschen?! "Hattet ihr eine schöne Reise?", sprach er weiter, als wir nicht reagierten. Eine schöne Reise?! Das brachte das Fass zum Überlaufen. Heiße Wut kochte in mir hoch und meine Selbstbeherrschung verabschiedete sich mit Pauken und Trompeten. "Eine schöne Reise?", knurre ich sauer."Das ist wohl ein schlechter Scherz! Mal abgesehen von dem zehnstündigen Flug, ist es wirklich so schwer, diese Stadt auszuschildern?! Oder eine vernünftige Wegbeschreibung zu machen?!" "Äh, Ray...", versuchte Jamie mich zu beruhigen, doch ich ignorierte sie. "Offenbar schon!", schimpfte ich mich weiter in Rage. "Denn sonst wären wir nicht stundenlang durch diese beschissene Wüste geirrt, obwohl es eine Straße gab! Wer kommt überhaupt auf die Idee, eine Stadt mitten im Nirgendwo zu gründen?! Hier gibt es nichts außer Sand und dieser scheiß Hitze! Und dann auch noch diese verfickte Treppe, die -" "SHINIGAMI-CHOP!" Schon lag ich mit schmerzendem Schädel am Boden. Ah, da war mein Respekt also abgeblieben... "Ray, ist alles in Ordnung?", hörte ich Jamies besorgte Stimme. Mühsam richtete ich mich wieder auf. "Ja ja, alles tutti...", erwiderte ich gequält und rieb mir den Kopf. Ich würde nie wieder vor dem Shinigami-sama so ausrasten, ganz sicher. "Also hattet ihr keine schöne Reise?", hakte der Totengott mit schief gelegtem Kopf nach. "Kann man so sagen...", antwortete diesmal Jamie, ich hielt zur Sicherheit erstmal die Klappe. "Hmm, naja, da kann man nichts machen. Gab es denn bei dir nochmal Probleme, Jamie -chan?" Probleme? Meinte er etwa den Grund, aus dem sich überhaupt erst Jamies Waffenfähigkeiten gezeigt hatten? Ich wusste zwar, dass sie Konakt zum Shinigami-sama hatte, bevor wir herkamen, aber ich hätte nicht gedacht, dass sie ihm alles erzählt hatte. Scheinbar vertraute sie dem Totengott. "Nein, es ist alles ruhig geblieben." "Na, dann ist ja alles gut. Ich nehme an, dieser Wildfang ist deine Partnerin?" "Ja, das ist Ray.", bestätigte Jamie ihm, bevor ich etwas zu der Bezeichnung als "Wildfang" sagen konnte. So schlimm war ich nun auch wieder nicht. "Na denn, herzlich willkommen in Death City, Jamie-chan und Ray-chan! Fühlt euch wie zu Hause!", trällerte er fröhlich und erntete ein ebenso fröhliches Lächeln von Jamie, während ich versuchte, das "chan" an meinem Namen zu ignorieren. "Der Unterricht ist für heute schon fast gelaufen, aber wenn ihr wollt, könnt ihr in den letzten beiden Stunden trotzdem schon mal in eure neue Klasse reinschnuppern.", bot uns der Shinigami an. Doch bevor ich dieses Angebot freundlich abschlagen konnte - wer ging schon freiwillig in den Unterricht? - nahm Jamie wieder das Wort an sich. "Sehr gern.", lächelte sie. Natürlich, Jamie mochte den Unterricht, wie hatte ich das nur vergessen können? "Sehr schön.", freute sich der Totengott. "Wenn das so ist, wird Sid euch in eure Klasse bringen." Ich war verwirrt, wer war denn jetzt Sid? "Alles klar, kommt mit ihr beiden.", machte sich der blaue Kerl bemerkbar. Das musste also Sid sein. "Tschüss, ihr zwei!", rief uns der Shinigami-sama hinterher, als wir Sid aus dem Death Room folgten. Als wir wieder auf dem Korridor waren, wandte ich mich verzweifelt an meine Partnerin. "Jay, kannst du mir erklären, warum du ausgerechnet heute schon die Schulbank drücken willst?" "Ist das nicht offensichtlich?", erwiderte sie, worauf ich sie nur verständnislos ansah. "Nun ja, zum einen natürlich, um unsere Klassenkameraden kennenzulernen und einen guten ersten Eindruck zu hinterlassen, und zum anderen, um uns schon mal mit dem Unterrichtsstoff vertraut zu machen. Außerdem ist unser gesamtes Gepäck schon vor Tagen in unsere neue Wohnung gebracht worden, und unser Handgepäck kann uns nicht vom Unterricht abhalten.", schloss sie ihre Erklärung und ich seufzte ergeben. "Das mit dem guten ersten Eindruck könnt ihr schon mal vergessen.", mischte sich jetzt Sid ein. "Bis jetzt hat sich noch niemand getraut, so mit dem Shinigami zu reden. Erst recht kein Neuling.", erklärte er und warf mir einen kurzen Seitenblick zu. Beleidigt blies ich die Wangen auf. Ich wusste selbst, dass ich mich nicht besonders klug verhalten hatte, doch ich war nicht der Typ Mensch, der etwas bereute. Außerdem war ich ja nicht immer so! Klar, ich ließ mich leicht provozieren und ging auch sonst keinem Streit aus dem Weg, aber damit hatte die Sache im Death Room nichts zu tun. Daran war nämlich bloß meine schlechte Laune schuld, die von der nervigen Anreise herrührte. "Da sind wir.", kündigte Sid an. ,,Das Klassenzimmer der Halbmondklasse." Halbmondklasse? Warum waren die Klassen hier nicht einfach durchnummeriert? Klar, "Halbmondklasse" war kreativer als irgendeine seelenlose Zahl, aber es erinnerte mich stark an meine Kindergarten-Gruppe. Während ich mir noch Gedanken machte, ob alle Klassen nach einer Mondphase benannt oder ob es auch Sternschnuppen - oder Milchstraßenklassen gab, betrat Sid den Klassenraum. Wobei dieser Raum eher ein Hörsaal war, als ein normales Klassenzimmer. Zielstrebig ging Sid auf den Mann hinter dem Lehrerpult zu und wechselte mit ihm ein paar Worte, die ich nicht hören konnte. Stattdessen sah ich mich im Klassenraum um und musste feststellen, dass sämtliche Augenpaare auf mir und meiner Partnerin lagen. Krampfhaft versuchte ich, sie zu ignorieren. Konnten die nicht etwas weniger auffällig glotzen? Ich kam mir vor wie im Zoo! Als ich spürte, wie Jamie sich unsicher hinter mir versteckte, ging ich jedoch zum Angriff über. Jedem einzelnen, der uns so ungeniert anstarrte, schenkte ich einen so finsteren Blick, wie ihn nur Voldemort beherrschte. Ein wenig erschrocken sahen die meisten irgendwo anders hin, den Rest kratzten meine Blicke wohl nicht. Nachdem Sid den Raum verlassen hatte, wandte sich der Lehrer - Moment mal, steckte dem eine Schraube im Kopf?! - zu Jamie und mir. Langsam fragte ich mich, ob auf dieser Schule überhaupt jemand normal war. "Ich bin Doktor Stein, euer Klassenlehrer.", stellte er sich vor. "Ihr beiden könnt euch der Klasse vorstellen, wenn ihr wollt." Dass wir keine Wahl hatten, stand außer Frage. Mit unsicheren Schritten trat Jamie neben das Pult, ich folgte ihr. "Hallo.", fing sie zögerlich an, sich vorzustellen. "Ich bin Jamie Smith, ich bin 16 und komme aus Südengland. Meine Lieblingsfarben sind rot, gelb und orange, ich spiele Gitarre, ich koche gerne und ich mag keine unangenehmen Gerüche." Zufrieden lächelte ich meine Partnerin an, die ihren Teil der Vorstellungsrunde somit hinter sich gebracht hatte. Doch jetzt war ich an der Reihe, und ich hatte absolut keine Lust, einem Haufen Amerikaner irgendetwas zu erzählen. "Mein Name ist Rayanne Bennett-", gab ich widerstrebend von mir - ich hasste es, meinen ganzen Namen zu benutzen, "-ich bin genauso alt wie Jamie und komme auch aus Südengland. Meine Lieblingsfarben sind grün und blau und ich kenne mich ganz gut mit Technik aus.", endete ich. "Gut, hat noch jemand Fragen an unsere neuen Schülerinnen?", fragte Doktor Stein an die Klasse gewandt und im nächsten Moment schossen auch schon mehre Hände nach oben. Gedanklich verzweifelte ich. Warum musste ich jetzt auch noch irgendwelche neugierigen Fragen beantworten? Jamie würde wohl auf keine davon antworten, denn es sah aus, als ob sie für ihre Vorstellung ihren letzten Rest Mut verbraucht hätte. Super. Der Doktor machte keine Anstalten, jemanden dran zunehmen, also musste ich wohl ran. Aufmerksam sah ich mich in der Klasse um, um jemanden aufzurufen. "Du da, mit der komischen Brille.", sprach ich einen Kerl aus der ersten Reihe an, der aussah wie ein Super-Streber. "Wer von euch beiden ist Meister und Waffe?" "Ich bin der Meister, Jamie ist meine Waffe.", antwortete ich kurz angebunden und rief als nächstes ein Mädchen mit zwei Zöpfen auf. "Was für eine Waffe ist Jamie?", war die ebenfalls fachbezogene Frage. "Ein Schwert." "Trägst du farbige Kontaktlinsen?", wollte ein Mädchen mit Cowboyhut wissen. Perplex blinzelte ich, diese Frage hatte ich nicht erwartet. Andererseits hätte es mir klar sein müssen, das so etwas kam, schließlich hatten die wenigsten verschiedenfarbige Augen. In meinem Fall war das linke Auge blau, während das rechte grün war - für mich etwas vollkommen normales. "Äh, nein. Meine Augen sind so.", antwortete ich schließlich. "Warum kommt ihr erst jetzt an die Shibusen?", kam es von ihrem schwarzhaarigen Sitznachbarn. Augenblicklich spannte ich mich an. Das wir "erst" jetzt hierher kamen, lag schlichtweg daran, dass sich Jamies Waffenfähigkeiten nicht früher gezeigt hatten. Meine Anspannung lag allerdings vielmehr an dem Grund, aus dem sich meine Partnerin überhaupt erst verwandelt hatte, und das würde ich garantiert niemandem erzählen. Nur über meine Leiche. "Das geht dich nichts an.", zischte ich ihn also an, nicht so freundlich, wie ich es vorgehabt hatte. Aber ich war eben empfindlich, wenn es um Jamie ging. Der schwarzhaarige Kerl sah mich nach meiner Antwort finster an, sagte aber nichts. Großartig, ich machte mich schon an meinem ersten Tag unbeliebt. "Habt ihr beiden 'nen Freund?", rief plötzlich jemand durch den Raum, den ich nicht sehen konnte. "Das geht euch 'nen Scheiß an!", knurrte ich ungehalten. Langsam ging mir diese Fragerei auf die Nerven. Bevor die Situation noch eskalierte, mischte sich jetzt unser Klassenlehrer ein. "Ich denke, wir beenden hier die Fragerunde. Ihr beiden könnt euch neben Soul setzen." Genervt hob ich eine Augenbraue und sah ihn abwartend an. Woher sollten wir wissen, wer Soul war? "Zweite Reihe, der Junge mit den weißen Haaren.", sagte er schließlich, und Jamie und ich machten uns auf den Weg zu unseren Plätzen. Glücklich, mich endlich hinsetzen zu können, ließ ich mich neben den weißhaarigen plumpsen, Jamie links neben mir. Kaum, dass wir saßen, beugte sich das dunkelblonde Mädchen von vorhin über ihren Sitznachbarn zu uns. "Hi, ich bin Maka, Souls Meisterin.", lächelte sie freundlich. "Hi.", erwiderte ich und meine Mundwinkel zuckten leicht nach oben. "Wenn irgendetwas ist oder ihr Probleme habt, könnt ihr immer zu mir kommen.", bot sie uns an und ich nickte. Sie schien ganz in Ordnung zu sein, im Gegensatz zu dem Typen schräg über mir, der laut schnarchte. Ich drehte mich, sodass ich nach oben sehen konnte, und erkannte einen blauen Haarschopf, der völlig entspannt auf der Tischplatte lag .Eine meiner Augenbrauen zuckte ungehalten. Wie konnte man nur so laut schnarchen? Dass er im Unterricht schlief, interessierte mich weniger, das war ja sein Problem, aber ich konnte Schnarchgeräusche einfach nicht leiden. Neben ihm saß ein Mädchen mit langen, dunklen Haaren, die mich entschuldigend ansah. Offenbar war die Schnarchnase ihr Partner. Irgendwie tat sie mir leid. Mit dem Gedanken, endlich die nervtötende Schnarcherei zu beenden, streckte ich meine Hand aus und hielt dem Blauschopf die Nase zu. Das Schnarchen hörte auf. Der blauhaarige allerdings fing an, aufzuwachen und verzog dabei sein Gesicht. Plötzlich riss er die Augen auf und fuhr hoch. "Ich bin wach!", schrie er durch die Klasse, doch ich konnte unmöglich sagen, ob er das aus Reflex oder mit Absicht tat. Trotzdem konnte ich ein leises Lachen nicht zurückhalten. "Herzlichen Glückwunsch, Dornröschen.", grinste ich ihm frech entgegen. Verwirrt blinzelte er mich an. "Wer bis du denn?" "Die neue, die dich aufgeweckt hat.", grinse ich immer noch. "Aha. Und wie heißt du?" "Ray.", sagte ich. Plötzlich fing der blauhaarige an, zu grinsen. "Dann musst du mich wohl geweckt haben, weil du von meinen unglaublichen Heldentaten gehört hast und unbedingt ein Autogramm haben willst!", schlussfolgerte er. "Ähh...Nein?", stellte ich ein wenig konfus klar. "Wer bist du?", stellte ich die dümmste Frage, die ich hätte stellen können. "Du kennst mich nicht? Ah, dann musst du die neue sein!", kombinierte er mit seinem rasiermesserscharfen Verstand. Doch bevor ich dazu ein spitzes Kommentar äußern konnte, stellte er sich endlich vor. "Ich bin der großartige, fantastische, einzigartige, fabelhafte, unnachahmliche, göttliche, großherzige, unfassbare,..." Ich klinkte mich aus. Unfassbar war bloß sein Talent, so viele Adjektive aneinander zu reihen. Wie konnte man so selbstverliebt sein? Mittlerweile hatte seine Lobeshymne eine derartige Lautstärke erreicht, sodass sich niemand mehr auf den Unterricht konzentrierte. Mein weißhaariger Sitznachbar stützte schon verzweifelt den Kopf in die Hände, als ich ihn ansprach. "Ist der Typ immer so?" "Frag bloß nicht...", antwortete er müde. "UNGLAUBLICHE,", wurde das nächste Wort durch den Raum geschmettert, das man nicht so einfach überhören konnte. "..., unwiderstehliche, charmante,..." Langsam fragte ich mich ernsthaft, was bei ihm schiefgelaufen war. Noch nie war ich jemandem begegnet, der sich so maßlos überschätzte - das war wirklich unglaublich! "...,gutaussehende,..." Genervt schlug ich meinen Kopf auf die Tischplatte. Warum in aller Welt musste ich ihn auch nach seinem Namen fragen? "..., Traum deiner schlaflosen Nächte -" BITTE?! Fassungslos ruckte mein Kopf nach oben...darüber ließ sich streiten... "-Black*Star!", beendete er endlich seinen Satz. "Ich bin der einzigartigste der Einzigartigen, göttlicher als die Götter-" Abrupt wurde seine Rede durch ein fliegendes Skalpell beendet, das haarscharf an seinem Gesicht vorbeizischte. "RUHE JETZT!", donnerte Doktor Stein. Mit Schrecken stellte ich fest, dass das Skalpell von ihm stammte. Durften die Lehrer hier sowas? Betont brav setzte ich mich wieder richtig hin und versuchte, dem Unterricht zu folgen. Das stellte sich jedoch als schwieriger heraus, als gedacht, denn von "Seelenkunde" hatte ich keinen blassen Dunst. Reichte es nicht, zu wissen, dass jeder Mensch eine eigene Seele besaß? Jamie schien der neue Stoff nicht zu stören, denn sie schrieb genauso fleißig mit, wie an unserer alten Schule - zum Glück, denn durch ihre Aufzeichnungen verstand ich für gewöhnlich das meiste. Trotzdem verbrachte ich die Zeit bis zum Schulschluss damit, den Minutenzeiger der Uhr durch böse Blicke dazu zu bringen, sich schneller zu bewegen. Unnötig zu erklären, dass das nichts brachte. Als die Schulglocke mit einem merkwürdigen "Kill-Dong-Dang-Dong" ertönte, wollte ich mich so schnell wie möglich verdrücken. Denn jetzt würden Jamie und ich wahrscheinlich erst richtig gelöchert werden - worauf ich absolut keine Lust hatte. Am liebsten wäre ich jetzt in unsere neue Wohnung gegangen, hätte mich ins Bett gelegt und bis zum nächsten Morgen durchgeschlafen. Doch mein halbherziger Fluchtversuch wurde, kaum dass ich wieder vor dem Lehrerpult stand, vereitelt - von Jamie, die mich im letzten Moment am Ärmel meiner braunen Kapuzenjacke festhielt. Offenbar wollte sie von den anderen ausgefragt werden. Mir blieb nichts anderes übrig, als mit genervter Miene auf das unvermeidliche zu warten: Fragerunde 2.0! Zu meinem Glück ging der größte Teil der Klasse nach draußen, bis nur noch eine kleine Gruppe vor uns stand. Darunter waren unsere Sitznachbarn Maka und Soul, Black*Star, das dunkelhaarige Mädchen, das neben ihm saß, der schwarzhaarige Typ, der mich so finster angestarrt hatte - ich bemerkte erst jetzt die idiotisch aussehenden Streifen in seinem Haar - ,das Mädchen mit dem Cowboyhut, ein anderes Mädchen, das auch einen Cowboyhut trug - entweder waren sie allerbeste Freundinnen oder Schwestern -, der personifizierte Super-Streber und einige andere, die ich vorher noch nicht beachtet hatte. "Hey.", brummte ich, als mir das schweigsame Anstarren zu blöd wurde. "Hey, Jamie und Rayanne -" "Lass das "-anne" bitte weg, Ray reicht völlig.", unterbrach ich Maka. "Okay, also Ray, wir dachten uns, dass wir euch ein bisschen durch die Stadt führen könnten, wenn ihr wollt. Immerhin kennt ihr euch hier ja noch nicht aus.", schlug sie vor. Nachdenklich blickte ich sie an. Einerseits hatte ich keine große Lust, meine Freizeit mit dem blauhaarigen Gockel oder dem empfindlichen Streifen-Heini zu verbringen. Andererseits kannten sich weder Jamie noch ich in Death City aus, und wenn Maka und die anderen uns schon freiwillig herumführen wollten, wäre es dämlich, dieses Angebot abzulehnen. Außerdem mussten wir so niemanden mehr suchen, der uns in die Strawberrystreet bringen konnte. "Was meinst du, Jay?", sprach ich meine stille Partnerin an, die bloß schüchtern lächelte und nickte. Damit war es beschlossene Sache. "Okay, das ist eine gute Idee.", nahm ich Makas Vorschlag an. Zehn Minuten und einige neue Bekanntschaften später standen wir wieder auf dem Platz mit dem Springbrunnen. Ox, der Strebertyp, und sein Partner Harvar hatten sich schon verabschiedet, da sie eine Freundin treffen wollten, die heute von einem Auftrag zurückkehren sollte. "Also.", wandte sich Maka wieder an mich und Jamie. "Wo wollt ihr als erstes hin?" Überlegend starrte ich zur Sonne, die mittlerweile ihren Zenit überschritten hatte – es war jetzt sogar noch wärmer als vorhin! Ich strich mir die Haare nach hinten und band sie zu einem Pferdeschwanz, in der Hoffnung, so etwas Kühlung zu bekommen. "Eine Eisdiele wäre nicht schlecht.", meinte ich nach einem Seitenblick zu meiner Partnerin, die jetzt ebenfalls mit Pferdeschwanz dastand und sich mit einer Hand Luft zu fächelte. Diese Hitze war wirklich kaum auszuhalten! Zu Hause wurde es nicht mal im Sommer so extrem heiß, aber heute war gerade erst Frühlingsanfang. Als wir uns auf den Weg zur Eisdiele machten, bemerkte ich im vorbeigehen ein Thermometer an einer Hauswand. Die Temperatur, die es anzeigte, war kaum zu glauben: 100,2° Fahrenheit, und das im Schatten! Umgerechnet in Celsius waren das 38°. "Ist es hier immer so heiß?", fragte ich Liz ein wenig ungläubig. Doch bevor sie antworten konnte, mischte sich ihr Meister ein. "Wir sind mitten in einer Wüste, was erwartest du?", war sein altkluges Kommentar. War er etwa immer noch wegen der Sache im Klassenraum angepisst? So eine Zicke... "Ich weiß wohl, dass es in Wüsten extrem heiß sein kann, aber das muss nicht die Regel sein. Es gibt auch Wüsten, in denen es schneit.", fügte ich hinzu, als ich mich an den letzten Reisebericht meiner Tante Molly erinnerte. "In welcher Wüste schneit es denn?", kam es ungläubig von Soul. "Eigentlich in jeder, solange es kalt genug ist." "Hier ist es eigentlich immer so heiß, und geschneit hat es hier auch noch nicht. Jedenfalls nicht, seit Patty und ich hergezogen sind.", beantwortete Liz ein wenig verspätet meine Frage. "Ist ja ätzend...", murrte ich leise. Ich war niemand, der solche extrem warme Orte mochte. Zwar stand ich auch nicht besonders auf nicht enden wollende Winter, aber wenn ich die Wahl hätte, in der Karibik oder in Schweden Urlaub zu machen – ich würde Schweden wählen. Bei der Eisdiele angekommen, gönnte sich Jamie ihre übliche Erdbeer-Bananen-Kombi, während ich beim altbewährten Schokoeis blieb. Nachdem jeder von uns sein Eis bekommen hatte, führte uns Maka in die angrenzende Einkaufsstraße. Dicht an dicht reihten sich die unterschiedlichsten Modeläden und hin und wieder fand man ein Café. Während Liz von ihrem Lieblings-Modegeschäft schwärmte, wanderte mein Blick durch die Straße, auf der Suche nach einem Laden, in dem keine Klamotten verkauft wurden. Vergeblich. Wo waren wir bloß gelandet? "Gibt es hier nur Modegeschäfte?", wandte ich mich leise an Maka, um mir nicht wieder ein bissiges Kommentar von Stripes einzufangen. "Ach Quatsch.", lächelte sie beruhigend. "Das beste kommt noch." "Sagt mal", fing Kilik, der sich bisher mit Black*Star unterhalten hatte, an. "Stimmt es eingentlich, dass es in England ständig regnet?" "Nein.", antwortete Jamie an meiner Stelle und klärte ihn über die üblichen Vorurteile unserer Insel auf – offenbar hatte sie ihre anfängliche Scheu verloren. Ich dagegen runzelte nachdenklich die Stirn, kaum dass der maximal pigmentierte Kerl sich zu Wort gemeldet hatte. Seine Stimme klang genau wie die, die vorhin im Klassenraum nach den Partnerschafsverhältinssen von Jay und mir gefragt hatte. Doch diese Vermutung musste sich erstmal bestätigen. "Hey.", unterbrach ich die Erklärungen meiner Partnerin und erhielt so die Aufmerksamkeit von Kilik. "Bist du nicht die Nase, die wissen wollte, ob wir Singles sind?" Ertappt sah er mich an und ich erkannte, wie seine Haut über den Wangen noch einen Hauch dunkler wurde – er lief rot an. Überlegen grinste ich, hatte ich ihn also erwischt. "Nur zu deiner Information.", fuhr ich fort. "Weder Jamie noch ich haben einen Freund, und das wird sich in absehbarer Zeit auch nicht ändern." "Damit sprichst du aber nur für dich.", warf meine Waffe ein. Entgeistert ruckte mein Kopf zu ihr herum. Sollte das heißen, dass sie einen festen Freund wollte?! "Na, im Gegensatz zu dir bin ich nicht in der "Alle-Typen-sind-doof-Phase" steckengeblieben, Ray.", fuhr sie fort. "Pah!", machte ich. "So stimmt das gar nicht, ich will einfach keinen Freund." "Warum willst du denn keinen Freund, Ray-chan?", mischte sich jetzt Tsubaki ein. Ruhig sah ich sie an, als ich feststellte, dass der Rest der Gruppe uns zuhörte. "Jungs sind doof.", antwortete ich in einem kleinkindhaften Tonfall, bevor ich benannten reihum die Zunge raus streckte. "Ach Ray...", hörte ich meine Partnerin seufzen, bis Maka plötzlich stehen blieb. Wir befanden uns auf einem großen Platz, etwas kleiner als der vor der Shibusen. Das Gebäude, das sie mit leuchtenden Augen ansah, erstreckte sich über drei Etagen und besaß, wie jedes andere auch, riesige Schaufenster. "Eine Bibliothek...", stellte ich fest. "Die ist ja fast so groß wie die British Library in London, oder, Jay?" "Hmm...", kam es abwesend von ihr, als sie das Gebäude bestaunte. Wir waren solche Landeier... "Du stehst also auf Bücher?", sprach ich Maka an. "Ja, kann man so sagen. Und du?" "Kommt auf das Buch an.", meinte ich nur, während wir weitergingen. "Bücher sind doch bloß was für Langweil-" "MAKA-CHOP!" Schon lag Black*Star blutend am Boden. Maka war wohl doch nicht so normal, wie ich dachte... Von der Einkaufsstraße, deren Ende man fast sehen konnte, zweigten ab und zu kleinere Sträßchen ab, die ebenfalls von Geschäften gesäumt waren. Doch seit wir an der Bibliothek vorbeigekommen waren, sah man nur noch vereinzelt Modegeschäfte. Stattdessen gab es hier Dekorationsläden, Parfümerien – um die Jamie einen weiten Bogen machte – einen alten Plattenladen und, was mein Herz höher schlagen ließ, einen Death-Store! Am Ende der Straße befand sich ein großer Marktplatz, auf dem man bei den verschiedensten Ständen alles fand, was das Herz – und der Magen – begehrte. "So.", meldete sich Maka wieder zu Wort. "Ich denke, das reicht fürs erste,oder wollt ihr noch etwas sehen?" Zur Antwort schüttelte ich den Kopf. Solange wir wussten, woher wir etwas zu futtern bekamen, war ich zufrieden. "Wir können euch ja noch nach Hause begleiten, wenn ihr wollt.", schlug Tsubaki vor. "Das wäre sehr nett.", stimmte Jamie zu. "Alles klar, wo müsst ihr hin?", kam es enthusiastisch von Patty, die hibbelig auf und ab hüpfte. "In die Strawberrystreet." Auf dem Weg zu unserer Wohnung verabschiedeten sich Kilik und seine beiden Waffen als erstes von uns, gefolgt von Liz und Patty – jetzt wusste ich, dass sie Schwestern waren – mit ihrem Meister, der mir nach wie vor unsympathisch war. Als letztes gingen Tsubaki und Black*Star, sodass nur noch Maka und Soul bei uns waren. "Und ihr wart wirklich schon mal in der British Library?", löcherte mich die Waffenmeisterin weiter. "Ja, aber erst ein mal.", erwiderte ich. "Wir waren noch nicht so oft in London." "Aber London ist doch im Süden von England.", runzelte sie verwirrt die Stirn. Ich grinste leicht. "Das schon, aber wir wohnen noch weiter südlich." "Und wo genau?" "Auf der Isle of Wight, der südlichsten Grafschaft von England.", erklärte ich stolz. "Wir wohnen in einem 1.400-Seelen-Ort in der Mitte der Insel, und es sind trotzdem nur 30 Minuten mit dem Fahrrad bis zum Strand." "Klingt ziemlich cool.", kommentierte Soul meine Schwärmerei. "Ist es auch.", bestätigte ich ihm, unterband es jedoch, in meinem plötzlichen Anflug von Patriotismus die Nationalhymne zu schmettern – das wäre peinlich geworden. "Es war bestimmt nicht leicht für euch, einfach wegzuziehen.", meinte Maka. "Für mich war es nicht besonders schwer.", schaltete sich Jay ein. "Aber Ray hatte schon immer ihre Probleme mit Heimweh.", kicherte sie. "Das ist gar nicht wahr!", beschwerte ich mich gleich. "Ich hatte noch nie Heimweh, wenn überhaupt habe ich nur meine Familie und mein Zuhause vermisst." "Das ist Heimweh, Ray." Eingeschnappt blies ich meine Wangen auf, als Soul und Maka leise lachten. Wenige Augenblicke später fanden wir uns vor einem Mehrfamilienhaus wieder, das die Hausnummer sieben trug. "Sollen wir euch morgen früh abholen?", fragte Maka, worauf ich zustimmend nickte. "Okay, dann sind wir um halb acht hier." Nachdem sich die beiden verabschiedet hatten, betraten Jamie und ich das Treppenhaus des Gebäudes. Zielstrebig ging ich auf den Aufzug zu, der sich an der linken Wand befand. "In welches Stockwerk müssen wir?", wandte ich mich ahnungslos an meine Partnerin, während wir auf den Lift warteten. "In das dritte." Als sich die Aufzugtüren öffneten, kam uns eine leise Melodie aus dem inneren entgegen, die ich schnell als "Die Schöne und das Biest" erkannte. Ich drückte den silbernen Knopf mit der Nummer drei, nachdem meine Partnerin ebenfalls den Aufzug betreten hatte. Geräuschlos schlossen sich die Türen und mit einem leichten Ruck setzte sich der Lift in Bewegung. Einige Sekunden später waren wir im dritten Stockwerk angekommen und die Aufzugtüren schoben sich wieder auf. Wir fanden uns in einem lichtdurchfluteten Raum wieder, mit bodentiefen Fenstern zur rechten und dem Treppenhaus zur linken. Vor uns, gegenüber vom Aufzug, befand sich eine Wohnungstür aus dunkelbraunem Holz mit einem kleinen, ovalen Messingschild, auf dem in verschnörkelter Schrift "Jamie Smith & Rayanne Bennett" stand. Angestrengt kramte meine Partnerin in ihrer roten Aktentasche und zog kurze Zeit später den Wohnungsschlüssel heraus. Sie öffnete die Tür und wir betraten einen hohen, rechteckigen Raum. Die komplette rechte Wand, die zur Straße zeigte, bestand aus Glas. Davor standen, neben der Wohnungstür, ein großer Esstisch mit Stühlen. Am anderen Ende des Raumes befand sich eine gemütlich aussehende Sofaecke mit Fernseher, die durch ein langes, niedriges Regal abgegrenzt wurde. An der linken Wand befanden sich, neben der Wohnungstür, eine offene Küche mit Kochinsel und eine Tür, die in einen anderen Raum führte. Dahinter, neben der Sofaecke, führte eine kleine Treppe ein Stockwerk höher zu einer Empore, die über die linke Wand verlief und von der aus man in zwei weitere Zimmer gelangen konnte. "Wow.", machte ich meiner Überraschung Luft. "Deine Granny hat ja ganze Arbeit geleistet!" "Sie macht eben keine halben Sachen.", grinste Jamie mich an und steuerte auf die verschlossene Tür neben der Küche zu, nachdem wir unsere Taschen abgestellt hatten. Dahinter verbarg sich ein Schlafzimmer, dessen, von der Tür aus gesehen, rechte Wand komplett Glas bestand. Die Wand gegenüber der Tür war, bis auf ungefähr anderthalb Meter am Kopfende eines weißen Himmelbetts, ebenfalls ein einziges Fenster. Die linke Seite des Zimmers wurde durch eine Wand mit Schiebetür abgetrennt. Davor standen, links und rechts der Schiebetür, zwei weiße Kommoden. Als Jamie die Schiebetür öffnete, sahen wir, dass sich dahinter ein komplett eingerichtetes Ankleidezimmer befand. "Das muss dein Zimmer sein.", schlussfolgerte ich. "Du hast meine Muschelsammlung also auch schon entdeckt?" Verwirrt sah ich sie an. "Was...?" Sie drehte sich um und wies auf die Wand mit der Zimmertür, an der gegenüber des Bettes mehrere weiße Regalbretter angebracht waren und auf denen dutzende verschiedene Muscheln lagen. Wie hatte ich die übersehen können? Ganz zu schweigen von ihrem bunten Gitarrenkoffer, der gegen den Nachttisch lehnte, oder der rot-gelb gemusterten Bettwäsche. Den Schreibtisch, der vor der rechten Glaswand stand, kannte ich aus ihrem Zimmer in England; ursprünglich war er einmal weiß gewesen, doch Jay hatte ihn im Laufe der Zeit mit roten und orangen Mustern bemalt. Ihre Gitarre, die, ganz untypisch für sie, pechschwarz war, stand in der Zimmerecke rechts neben ihrem Bett und auf dem hellen Boden waren runde Flauschteppiche in Rot-, Gelb- und Orangetönen verteilt. Die Wände waren noch weiß, was vermutlich schnellstmöglich geändert werden würde, so wie ich meine Partnerin kannte. Doch es gab tatsächlich keinen Zweifel, dass das hier Jays Zimmer war. "Komm, jetzt ist dein Zimmer dran!", wurde ich im nächsten Moment aus dem Raum gezogen. Fröhlich hüpfte Jamie die Treppe hinauf, ich folgte ihr weniger euphorisch und mit gemischten Gefühlen. Wer wusste schon, ob meine Mum meine Umzugskartons nicht doch noch umgepackt hatte? Als Jay jedoch die Tür zu meinem Zimmer öffnete, wurden meine Sorgen zunichte gemacht. Vom Schnitt her war es genau wie Jamies Zimmer, das unter meinem lag. Doch im Gegensatz zu dem Zimmer meiner Waffe war der Boden hier genauso dunkelbraun, wie der im Wohnzimmer, und die kreisrunden Flauschteppiche waren weiß. Mein Himmelbett war ebenfalls dunkelbraun, genau wie der Schreibtisch, der etwas größer als der meiner Partnerin war – immerhin brauchte ich platz für meinen Computer und allem, was dazu gehörte. An der Wand gegenüber vom Bett, an der sich in Jamies Zimmer ihre Muschelsammlung befand, hingen mehrere antike Spiegel in verschiedenen Formen und Größen – ich stand auf antiken Kram. Neben der Schiebetür befanden sich niedrige, dunkelbraune Regale, in denen meine Bücher untergebracht waren. An der Wand darüber hing meine Herr der Ringe-Schwertsammlung und daneben befand sich der weiße Stab von Gandalf – ja, verdammt, ich wusste, dass ich ein Nerd war. Auf dem linken Regal lag mein Schachbrett, das ich an meinem 16. Geburtstag von Jamies Granny bekommen hatte, und auf dem rechten standen mehrere alte Bilderrahmen mit Fotos von meinen Brüdern und einem aktuellen Gruppenbild meiner gesamten Familie. Als ich die Schiebetür öffnete fand ich, genau wie in Jays Zimmer, einen Ankleideraum vor. Prüfend wanderte mein Blick durch die Regale: viele Hosen, einige Röcke, wenige Kleider und nichts Rosanes – meine Mum hatte wohl wirklich nichts umgepackt. "Sag mal, wer hat die Wohnung eigentlich eingerichtet?", wandte ich mich misstrauisch an meine Waffe. "Deine Granny ist schließlich nie hier gewesen, oder?" "Nein, aber sie hat ihre Kontakte...", antwortete sie abwesend, auf halbem Weg aus dem Zimmer. Ich folgte ihr zur letzten verbliebenen Tür am Ende der Empore, hinter dem sich das Badezimmer verbarg. Es befand sich über dem Treppenhaus – offenbar bewohnten wir die obersten Etagen des Hauses. Im Bad befand sich eine große Eckbadewanne direkt neben der Tür, daneben die Dusche. Auf der anderen Seite des Türrahmens waren zwei Waschbecken, ein großer Spiegel und ein dazugehöriger Badezimmerschrank angebracht, während sich die Toilette an der angrenzenden Wand, gegenüber der Badewanne, befand. Vom Design her erinnerte mich das Bad an die Tiefsee, was nicht zuletzt an den dunkelblauen Fliesen lag. Erleichtert atmete ich aus. In der gesamten Wohnung hatte es keine unangenehme Überraschung gegeben. "Oh.", meldete sich Jay wieder zu Wort. "Wir haben ganz vergessen, zu Hause anzurufen." "Stimmt.", ich sah auf meine quietschgrüne Armbanduhr, die ich noch immer die Zeit in England anzeigte – ich hatte sie noch nicht umgestellt. "Aber dafür ist es jetzt auch zu spät." "Wie spät ist es jetzt?" "Zu Haue ist es schon nach Mitternacht, also müsste es hier...", ich rechnete die Stunden zurück. "16:00 Uhr sein." "Dann müssen wir wohl morgen anrufen.", seufzte sie resigniert. Wieder im Wohnzimmer angekommen, warf ich mich erschöpft auf das Sofa. Normalerweise würde ich jetzt schon im Bett liegen und schlafen, aber dank der Zeitverschiebung würde ich so wohl mitten in der Nacht aufwachen – wenn es in England schon längst Morgen wäre. "Hast du das schon gesehen?", rettete mich Jay vor dem Einschlafen. "Hmm?" Sie kam auf mich zu, in den Händen ein Stapel Bücher und mehrere Papiere. "Das sind unsere Schulbücher.", erklärte sie auf meinen fragenden Blick hin und reichte mir die Hälfte des Stapels, den ich neugierig durchsah. Mathe, Physik, Geschichte, Literatur, Geografie - alles normale Fächer, bis ich ein Buch mit dem Titel "Geschöpfe der magischen Welt" in den Händen hielt. "Ich komme mir vor wie Harry Potter.", meinte ich zu meiner Partnerin. "Das gehört wohl zu Biologie.", versuchte diese zu erklären. "Meinst du?" "Naja, Hexen werden wohl nicht die einzigen magischen Wesen sein, oder?" "Hmm.", brummte ich nachdenklich und sah sie aus dem Augenwinkel an. Sie hatte Recht, schließlich war sie ja selbst so ein magisches Wesen: eine Waffe. "Aber sieh mal.", hielt sie mir unseren Stundenplan vor die Nase. "Bis auf Seelenkunde gibt es dieselben Fächer wie bei uns in England." "Das hab' ich schon gemerkt, aber ich könnte wirklich auf Spanisch verzichten.", murrte ich, als ich an mein altbekanntes Sprachen-Problem dachte. Reichte Englisch denn nicht? "Trotzdem glaube ich nicht, dass es wirklich dieselben Fächer sind, wie zu Hause.", dachte ich laut. "Ich meine, wenn in Bio magische Geschöpfe durchgenommen werden..." "Dann brauen wir in Chemie wohl Zaubertränke!", beendete Jamie lachend meinen Satz. "Möglich ist alles.", stimmte ich in ihr Lachen ein. "Also.", begann meine Partnerin, als wir uns wieder beruhigt hatten. "Wir haben hier ein halbes Dutzend Flyer von Restaurants mit Lieferservice, worauf hast du Hunger?" "Irgendwas indisches.", meinte ich nur, und kurz darauf hatte sie schon die Nummer in ihr Handy eingetippt und unsere Bestellung aufgegeben. Keine halbe Stunde später klingelte es an der Wohnungstür, und da sich Jay nicht traute, übernahm ich das Tür-öffnen-und-bezahlen. "Das schmeckt wirklich gut.", sprach mich meine Partnerin an, als ich mich gerade über mein Curry hermachte. "Hmm-hm.", stimmte ich ihr mit vollem Mund zu. Indisches Essen mochte ich, neben der englischen Küche, sowieso am liebsten. Nach dem Essen duschte ich und schlüpfe anschließend in mein übergroßes Yoshi-T-Shirt, das ich zum Schlafen trug, und putzte mir brav die Zähne. Bevor ich endgültig ins Bett ging, lief ich nochmal ins Wohnzimmer und holte meinen Rucksack, den ich dort hatte stehen lassen. Danach wünschte ich Jamie, die jetzt duschen wollte, noch eine gute Nacht und ging in mein Zimmer. Den Wecker meines Handys, das 18:00 Uhr anzeigte, stellte ich auf halb sieben ein – ich würde mehr als zwölf Stunden schlafen können. Dann fischte ich mir, mithilfe der Spiegel an meiner Wand, die Kontaktlinsen aus den Augen. Nein, ich hatte Liz nicht angelogen, als sie wissen wollte, ob ich farbige Kontaktlinsen trug – ich hatte schlicht und ergreifend eine Sehschwäche, und ohne Kontaktlinsen oder Brille war ich so gut wie blind. Bevor ich in mein Bett krabbelte, öffnete ich meinen Rucksack, in dem sich bis dahin ein hellblaues Alpaka-Plüschtier befand. Eigentlich war ich nicht der Typ Mädchen, der Plüschtiere mochte, doch dieses hatte ich zum Abschied von meinen Brüdern bekommen. Als ich mich schließlich mit meinem Alpaka unterm Arm in meine blaue Bettdecke kuschelte und den vertrauten Lavendelduft einatmete, fühlte ich mich, als hätte ich schon mein ganzes Leben in dieser Wüstenstadt verbracht und fiel in einen tiefen, traumlosen Schlaf. Kapitel 2: (K)Ein Bund fürs Leben --------------------------------- In voller Lautstärke schallte die Miss Marple-Titelmelodie durch den Raum und riss mich aus meinem Schlaf. Gähnend schaltete ich mein Handy aus und blickte desorientiert durch den Raum, bis mir einfiel, dass ich mich ja in Death City befand. Ich setzte mir meine Kontaktlinsen ein und ging in mein Kleiderzimmer, um mich anzuziehen. Da mir die Hitze der vergangenen Tages noch gut im Gedächtnis geblieben war, schlüpfte ich in einen kurzen, dunkelgrauen Faltenrock und ein blaues Tanktop. Doch da mir morgens immer ein wenig kühl war, zog ich noch meinen schwarzen Grinsekatzen-Pullover über, der mir ziemlich schlampig über die linke Schulter rutschte. Anschließend ging ich mit noch immer zerwühlter Frisur nach unten, wo ich Jamie in einem weißen Sommerkleid am Esstisch sitzend vorfand. „Morgen.“, begrüßte ich sie, als ich mich zu ihr an den gedeckten Tisch setzte. „Guten Morgen.“, lächelte sie. „Hast du gut geschlafen?“ „Hmm.“, bestätigte ich ihr. „Und du?“ „Ja, ich hab was schönes geträumt.“, grinste sie immer noch, während ich mir Müsli in eine Schüssel schaufelte. „Was denn?“ Jamie antwortete nicht, lächelte aber mit geröteten Wangen ihren Milchtee an. „Oho.“, machte ich. „Hat dich Prinz Charming wieder in deinen Träumen besucht?“ Das Rot auf ihren Wangen wurde dunkler, als sie zu einer Erklärung ansetzte. „Er...er ist kein Prinz...“, nuschelte sie verlegen. „Hat er das gesagt?“, hakte ich nach. „Du weißt doch, er sagt nie etwas. Ich sehe bloß sein Gesicht und wie er vor mir steht, und immer, wenn ich versuche, ihn zu erreichen, löst er sich in Luft auf.“ Das war nichts neues, wie ich wusste. Jay träumte schon seit Wochen von diesem Kerl, aber wir hatten bisher weder herausgefunden, wie er aussah – denn das vergaß meine Waffe jedes mal, wenn sie aufwachte – noch, wer er wirklich war. „Woher willst du dann wissen, dass er kein Prinz ist?“ Resigniert seufzte sie. „Keine Ahnung, ich weiß es einfach.“ Unzufrieden mit dieser Antwort schnaubte ich nur. „Solange wir seinen richtigen Namen nicht kennen, werde ich ihn trotzdem Prinz Charming nennen.“ „Wir wissen ja noch nicht einmal, ob er überhaupt existiert!“, erwiderte Jamie niedergeschlagen. „Ach Quatsch.“, versuchte ich, sie aufzuheitern. „Was für einen Sinn sollte es dann machen, dass du immer wieder von ihm träumst? Ich glaube, dass wir ihm früher oder später begegnen werden. Immerhin sind wir jetzt Schüler der Shibusen, da lernt man sicher 'ne Menge neuer Leute kennen.“ „Bist du dir da sicher?“ „Hundertpro.“, grinste ich sie an und löffelte Joghurt in mein Müsli, bis ich irritiert innehielt. „Hast du eingekauft?“, hinterfragte ich die Anwesenheit von Lebensmitteln. „Ja, gestern Abend, als du schon geschlafen hast.“ „Was?! Warum hast du mich nicht geweckt? Ich hätte dir beim Tragen helfen können und außerdem -“ „Du hast geschlafen wie ein Stein.“, unterbrach mich Jay. „Außerdem musste ich gar nichts tragen, siehst du?“, wies sie auf den Bollerwagen neben der Wohnungstür. „Oh.“, brachte ich nur tonlos heraus und schluckte meinen Ärger herunter. Was hätte ich jetzt noch sagen können? Dass es für sie gefährlich war, wenn sie abends allein in der Stadt herumlief? Es war zu spät, um mir Sorgen zu machen, immerhin war alles gut gegangen. „Hast du deine Schulsachen schon gepackt?“, wechselte Jamie das Thema. Ich schüttelte nur mit dem Kopf, den Mund hatte ich voll mit Joghurt-Müsli. Als Jamie fertig gefrühstückt hatte, räumte sie den Tisch ab und verschwand im Bad, in das ich ihr kurze Zeit später folgte. Mit akribischer Gründlichkeit putzte ich meine Zähne – mit Zahnseide, versteht sich. Dabei beobachtete ich, wie Jay ihre glatten, rotblonden Haare bürstete, bis sie ordentlich fielen. Anschließend tuschte sie die Wimpern ihrer grauen Augen, zog ihre rot-weiße Perlenkette zurecht und verschwand aus dem Bad. Ich dagegen flocht mir meine Haare bloß zu einem seitlichen Zopf, der mir fast bis zur Hüfte reichte und ging in mein Zimmer. Dort angekommen schnappte ich mir meine Ledertasche, in die ich sämtliche Bücher, die ich brauchen würde, einen Ringblock und mein Federmäppchen stopfte. Nachdem ich in meine Chucks geschlüpft war, machte ich mich mit Tasche und Handy bewaffnet auf den Rückweg ins Wohnzimmer. „Sieh mal!“, hielt mir meine Partnerin einen roten Blazer vor die Nase. „Hä?“, machte ich verwirrt. Worauf wollte sie hinaus? „Ich hab das Schulwappen der Shibusen drauf gestickt.“, erklärte sie stolz und deutete auf den weißen Totenkopf. „Oh, cool.“, meinte ich nur. Darauf zog sie sich den Blazer über und schnürte ihre braunen Stiefeletten zu, aus denen rote Socken hervorlugten. Auf der Kochinsel erkannte ich eine grüne Lunchbox, neben der eine Wasserflasche stand. „Das ist dein Essen.“, wurde meine unausgesprochene Frage beantwortet. „Ich habe mir gedacht, dass ich mich um unser Essen und den Haushalt kümmern kann, schließlich kannst du ja nicht kochen.“ Ich wollte etwas erwidern, ließ es aber bleiben. Sie hatte Recht, ich konnte nicht kochen – abgesehen von Tee, was aber auch keine große Kunst war. „Danke.“, sagte ich also und packte Box und Flasche in meine Tasche. „Aber was den Haushalt angeht, kann ich doch -“ „Nein!“, rief Jay panisch. „Oder muss ich dich etwa an deinen selbstständig mähenden, solarbetriebenen Rasenmäher erinnern?“ „Wieso? Der hat doch funktioniert...“, erwiderte ich trotzig. „Er ist Amok gelaufen und hat im ganzen Dorf Panik verbreitet!“ Widerwillig musste ich ihr zustimmen – selbstständig und solarbetrieben war eine schlechte Mischung, vor allem im Sommer. Ihm war das Lieblingshuhn meiner Tante Molly zum Opfer gefallen. Ruhe in Frieden, Giselle... „SCHRILL!“ „Darf ich wenigstens die Klingel verändern? Bei dem Ton bekommt man ja Kopfschmerzen...“ „Aber nur den Ton, ja?“, lenkte Jamie ein, worauf ich nickte. Wir fuhren mit dem Fahrstuhl nach unten, wo Maka und Soul auf uns warteten. „Und, habt ihr gut geschlafen?“, fing die Waffenmeisterin ein Gespräch an, nachdem wir sie begrüßt hatten. Ich nickte, warf meiner Partnerin dabei jedoch grinsend einen Seitenblick zu. Zu viert machten wir uns auf den Weg zur Schule, als Maka weitersprach. „Ray, was liest du eigentlich für Bücher?“ Ein wenig verwirrt durch den plötzlichen Themenwechsel, blinzelte ich sie an. „Naja...“, begann ich. „Also, am liebsten lese ich Fantasy-Romane, aber historisches mag ich auch. Oh, und Krimis, am liebsten Sherlock Holmes und Agatha Cristie.“ „Cool.“, meinte Maka. „Ich lese auch gerne Krimis, aber im Moment stehe ich total auf historische Liebesromanzen.“ „Urgs.“, schüttelte ich mich. „Mit Romanzen kann ich mich gar nicht anfreunden...“ „Warum nicht?“ „Die sind so realitätsfremd. Ich meine, normalerweise würde kein Kerl so viel Süßholz raspeln, das ist viel zu schulzig.“ „Gerade deswegen mag ich Romanzen.“, verteidigte Maka ihren Standpunkt. „Welches Mädchen hätte nicht gerne einen romantischen Freund?“ Ich hob die Hand, worauf sich Maka an meine Partnerin wandte. „Magst du Romanzen, Jamie?“ „Ja.“, sagte angesprochene geradeheraus. „Ich sehe das genauso wie du, man darf ja schließlich noch Träume haben.“, lächelte sie. „Weiber...“, schüttelte ich nur den Kopf, was Soul zum schmunzeln brachte. „Du bist doch selbst eins.“, erinnerte er mich. „Ja, aber nicht so eins.“, korrigierte ich ihn. „Nicht jedes Mädchen steht auf Romantik.“ „Das glaube ich nicht.“ warf Maka ein. „Ein bisschen romantisch veranlagt ist jeder.“ „Darüber lässt sich streiten.“, meinte ich nur. Kurz darauf erreichten wir den Schulhof, auf dem schon einiges los war, und gingen zu einer uns nicht unbekannten Gruppe, die aus Liz und Patty, ihrem Meister und Tsubaki bestand. „Guten Morgen.“, begrüßte Maka die anderen. „Ist Black*Star noch nicht da?“ „Du kennst ihn doch, er braucht seinen großen Auftritt.“, lächelte Tsubaki entschuldigend. Wenn ich es nicht schon gestern bemerkt hätte, so wüsste ich es spätestens jetzt: bei Black*Star war mindestens eine Schraube locker. Was für einen Auftritt konnte man schon in der Schule hinlegen? Als wir eine halbe Stunde später im Kunstsaal saßen, in dem mehrere Staffeleien mit Leinwänden im Kreis aufgebaut waren, sollte ich es wissen. Marie-sensei, unsere Lehrerin, wollte uns gerade das Thema nennen, als mit einem ohrenbetäubenden Krachen die Tür aus ihren Angeln flog. Im Türrahmen stand der breit grinsende Vollidiot. „Na, habt ihr mich vermisst?“ Und wie..., dachte ich nur kopfschüttelnd und sah nach meiner Waffe. Marie-sensei hatte uns, aus welchem Grund auch immer, auseinandergesetzt und jetzt saß Jamie zwischen Liz und Tsubaki, während ich die Zeit zwischen Maka und Mister sieben-Tage-Regenwetter absitzen durfte. „Also.“, begann unsere Lehrerin, als sich Black*Star wieder beruhigt hatte. „In den nächsten Stunden werden wir etwas zum Thema „Zeit“ zeichnen. Ich bin gespannt, was euch dazu einfällt.“ Mir fiel dazu nichts ein, abgesehen von Uhren und Einsteins Relativitätstheorie. Wie unkreativ war ich eigentlich? Neugierig schielte ich zu Maka hinüber, die bereits angefangen hatte mit Bleistift vorzuzeichnen. Allem Anschein nach wollte sie einen Baum zeichnen. Da mir das nicht weiterhalf, sah ich zu meinem linken Nachbarn, der penibel genau die Leinwand ausmaß. Was sollte das denn werden? Resigniert wandte ich mich wieder meiner eigenen Leinwand zu und entschied mich, mangels Kreativität, eine Uhr zu zeichnen. Ich ging zu den Regalen im hinteren Teil des Raumes, in denen sämtliche Farben und Stifte aufbewahrt wurden, um mir einen Kohlestift zu holen. Wieder zurück an meinem Platz begann ich damit, einen Kreis zu zeichnen, als mir die Idee kam: Warum eine einfache Uhr, wenn man auch das ganze Uhrwerk zeichnen konnte? Gedacht, getan, und schon begann ich mit der Arbeit. „Was soll das denn werden?“, unterbrach mich einige Zeit später der Totengott zu meiner linken. „Ein Uhrwerk.“, antwortete ich patzig auf seinen Tonfall hin. „Das ist ja furchtbar chaotisch...“, beschwerte er sich gleich darauf. Genervt sah ich auf seine Leinwand, auf der sich nichts außer einem X befand. „Du hast ja wohl kein Recht, dich hier als Kunstkritiker aufzuspielen.“ „Wie bitte?“ „Na, im Gegensatz zu mir hast du in der ganzen Stunde nichts als ein popeliges X zustande gebracht.“, erklärte ich stinkig. „Das ist kein X!“, meckerte er. „Ach?“ „Das ist eine perfekt ausbalancierte, symmetrische Sanduhr!“ Prüfend warf ich einen zweiten Blick auf sein X. „Wo ist das denn eine Sanduhr?“ „Es wird eine sein, wenn ich fertig bin.“, erklärte er sauer, wobei ich bezweifelte, dass er bei dem Tempo jemals fertig werden würde. „Ich find's trotzdem stinklangweilig.“, fotzelte ich weiter. Immerhin hatte er mein Uhrwerk auch beleidigt! „Langweilig?! Wie kann etwas, das so perfekt symmetrisch ist, langweilig sein? Symmetrie ist-“ „Stinklangweilig.“, unterbrach ich ihn in seinem Ausraster. Wütend funkelte er mich an und in dem Moment wurde mir klar, dass wir wohl keine Freunde werden würden. Was hatte er nur mit diesem Symmetrie-Gefasel?! „Wie kannst du nur so etwas behaupten?! Es gibt nichts schöneres als Symmetrie, Symmetrie ist die Schönheit dieser Welt, die perfekte Ästhetik, das oberste und erstrebenswerteste...“ Oh Gott, er war ja noch schlimmer als Black*Star! „Wenn du so auf Symmetrie abfährst, was soll dann diese Frisur, Stripes?“ In dem Augenblick, in dem ich diese Frage gestellt hatte, änderte sich die Atmosphäre von wütend-aggressiv zu hoffnungslos deprimiert. „Du hast Recht!“, heulte der Totengott plötzlich los. „Ich bin so hässlich, ein Gnom, der größte Abschaum dieser Welt...“ Was für ein Waschlappen! Normalerweise müsste man schwanger sein, um sich so aufführen zu dürfen! Genervt wandte ich mich wieder meiner Leinwand zu und ignorierte das Gezeter neben mir. Als die Schulglocke das Ende der Stunde einläutete, hatte sich die Heulsuse – dank Liz – wieder beruhigt, warf mir jedoch bitterböse Blicke zu. Rechtzeitig zur zweiten Stunde kamen Jamie und ich mit Maka im Klassenzimmer an. „Ray, warum hast du dich vorhin mit Kid gestritten?“, wollte meine Partnerin von mir wissen, als wir unsere Plätze erreicht hatten. „Er hat angefangen!“, verteidigte ich mich sofort. „Und worum ging es?“ „Um den Unterricht...im weitesten Sinne. Er hat mein Bild beleidigt, dann hab' ich sein Bild beleidigt, dann hat er was von Symmetrie gefaselt und plötzlich hat er geheult.“, fasste ich zusammen. „Das wundert mich nicht.“, erwiderte Jay. „Liz hat mir erzählt, dass er eine Art Zwangsstörung hat, weswegen er jedes Mal durchdreht, wenn es um irgendwas Asymmetrisches geht.“ Das erklärte einiges, doch ich würde deswegen trotzdem nicht freundlicher zu ihm sein. Das verbot mir mein Stolz – schließlich hatte er diese Fehde begonnen. Angestrengt versuchte ich, dem Unterricht zu folgen – Seelenkunde. Ich konnte nicht sagen, warum, doch dieses Fach interessierte mich kein Stück. Infolge dessen verstand ich das Meiste auch nicht. „Rayanne?“, wurde ich aus meinen Gedanken gerissen. Leicht erschrocken sah ich zu Doktor Stein, der mich angesprochen hatte. Fieberhaft überlegte ich, was er von mir wollte. „Ja?“, versuchte ich es auf die freundliche Art. „Kannst du diesen Satz beenden?“, wies er mich an, und aufmerksam sah ich an die Tafel. 'Eine gesunde Seele ruht in...' stand dort. Woher sollte ich das wissen? Ich ging erst seit gestern auf diese Schule! „Wir haben das gestern durchgenommen.“ Shit! Ich hatte doch nicht aufgepasst! „...Ich weiß es nicht.“, gab ich abweisend als Antwort. Ich hasste so etwas! „Na gut. Kid, möchtest du deiner neuen Mitschülerin helfen?“, rief er den Totengott auf. „Eine gesunde Seele ruht in einem gesunden Geist und in einem gesunden Körper.“, betete er wie aus dem Lehrbuch herunter und sah mich überlegen an. Arschloch!, dachte ich nur und biss mir wütend auf die Zunge. „Rayanne, kannst du mir sagen, was die Aufgabe einer Waffe ist?“, richtete sich der Doktor wieder an mich. Da ich keine Lust hatte, mir von dem schwarzhaarigen links vor mir wieder einen eingebildeten Blick einzufangen, kratzte ich mir eine Antwort zusammen. „Eine Waffe verwandelt sich und isst Kishineier und Hexenseelen.“, antwortete ich, stolz, doch etwas zu wissen. „Pff.“, machte der Totengott vor mit herablassend, was mich wieder auf die Palme brachte. „Die Aufgabe einer Waffe ist es, ihren Meister zu beschützen.“ „Das ist doch kompletter Bockmist!“, platzte es wütend aus mir heraus. „Meister und Waffe sollten sich gegenseitig beschützen, sonst haben sie wohl kaum das Recht, sich als Partner zu bezeichnen! Einen Partner benutzt man nicht als Schutzschild, er ist doch kein Kanonenfutter!“ Stille. Die gesamte Klasse starrte mich an. „Ob es dir passt oder nicht, so sind die Regeln.“, zischte mich der Symmetrie-Freak an. „Ist mir scheißegal.“, knurrte ich drohend. „Lieber sterbe ich, als das Leben meiner Partnerin zu gefährden.“ Ein Räuspern unterbrach das Blickduell, das ich mir mit dem Shinigami lieferte, und ohne ein weiteres Wort an uns zu verschwenden, fuhr Doktor Stein mit dem Unterricht fort. „Hast du das ernst gemeint?“, fragte mich Jay am Ende der Stunde. „Hmm?Was meinst du?“, tat ich unwissend. „Dass du für mich sterben würdest. War das dein Ernst?“ „Natürlich, das weißt du doch.“, lächelte ich sie so ruhig an, als würden wir über das Wetter reden. „Solange ich es verhindern kann, wird dir niemand wehtun, das hab' ich dir versprochen.“ Und meine Versprechen hielt ich. Ich war niemand, der viele oder große Versprechungen machte, doch ich hielt immer mein Wort – komme, was wolle. Das war eine Frage der Ehre. Jamie seufzte leise, lächelte aber. Sie konnte sich immer auf mich verlassen, das wusste sie. „Was haben wir jetzt?“, wandte ich mich an meinen weißhaarigen Sitznachbarn. „Geschichte bei Sid.“, antwortete er abwesend, und keine zwei Minuten später betrat der blauhäutige den Klassenraum. Ich liebte Geschichte. Es war nicht so, dass ich darauf stand, Jahreszahlen auswendig zu lernen, mich interessierte einfach nur alles, was in der Vergangenheit geschehen war. Denn man konnte gut aus den Fehlern der anderen lernen und es so vermeiden, sie selbst zu machen. Noch dazu war das Thema, das Sid an die Tafel schrieb, eines meiner liebsten: Die französische Revolution. Ich saugte jedes Wort auf wie ein Schwamm, auch wenn ich das Thema schon auswendig konnte. „Kann mir jemand sagen, was die Hauptursachen für die Revolution waren?“, fragte unser Lehrer in die Runde. Sofort schoss Makas Hand nach oben, ebenso wie Ox'. „Maka?“, wurde sie aufgerufen. „Das waren zum einen die Wirtschaftskrise in den 1780ern, die durch das teure Hofleben, die Kosten für die Unterstützung der Nordamerikaner im Unabhängigkeitskrieg gegen England und durch das veraltete Steuersystem zustand kam. Außerdem war die Gesellschaft in drei Stände unterteilt, von denen der dritte Stand, der 98 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachte, die gesamte Steuerlast trug. Neben den Steuern stiegen auch die Preise für Lebensmittel, was viele in die Armut trieb und durch eine Missernte 1788 verschlimmert wurde. Man konnte seinen Beruf nicht frei wählen und durch seine Geburt nicht in einen höheren Stand aufsteigen, obwohl einige Bürger des dritten Standes mehr Geld besaßen als manche Adelige. Dazu kam, dass durch die Aufklärung die einfache Bevölkerung immer mehr von den Veränderungen der Gesellschaft mitbekamen und so den Wechsel vom Absolutismus zur Demokratie forderten, da bei einer Demokratie jeder ein Mitspracherecht hat.“, schloss Maka ihren Vortrag. „Sehr gut.“, lobte sie Sid. „Wer kann erklären, was Absolutismus ist?“ Wieder schossen die Hände von Maka und Ox nach oben. Kannte sich sonst niemand mit Geschichte aus? Klar, der Totengott vor mir wusste mit Sicherheit die Antwort, war sich wohl aber zu fein, sich zu melden. Meine Partnerin dagegen sank immer tiefer unter den Tisch, um bloß nicht dran genommen zu werden – Geschichte war nicht ihre Stärke. Und ich? Ich war schlichtweg zu faul, mich zu melden. Außerdem war ich nicht sonderlich scharf darauf, wieder angestarrt zu werden. Nach einer lehrbuchgetreuen Antwort, diesmal von Ox, die außer dem Totengott, Maka und mir niemand verstanden hatte, wollte Sid von uns wissen, wer der letzte absolutistisch herrschende König von Frankreich war. Wieder meldeten sich Maka und Ox, doch diesmal wurde keiner von beiden aufgerufen. „Rayanne?“, hallte Sids Stimme durch den Hörsaal. Ich hatte mich nicht gemeldet, doch das tat nichts zur Sache. Er wollte mich testen. Warum wurde nur Jamie nie aufgerufen? „Der letzte König des Ancien Régime war Ludwig XVI August von Frankreich. Er trat mit 19 Jahren die Thronfolge an, wurde am 21. Januar 1793 in Paris von den Revolutionären zum Tode verurteilt und starb durch die Guillotine.“, antwortete ich. „Er hatte vier Kinder mit seiner Frau Marie Antoniette, die am 16. Oktober 1793 ebenfalls durch die Guillotine hingerichtet wurde.“ Überrascht sah mich unser Lehrer an. Er hatte wohl nicht damit gerechnet, dass ich die Antwort wusste. Im Laufe der Doppelstunde wurde ich noch öfter dran genommen, was mir mit der Zeit immer weniger ausmachte. Der Rest der Klasse achtete offensichtlich nicht auf das, was gesagt wurde – es war ja bloß Geschichte. In der darauf folgenden fünften und sechsten Stunde wurde meine Geduld jedoch wieder auf die Probe gestellt: wir hatten Spanisch! Trotz der Aufzeichnungen und Erklärungsversuche meiner Partnerin verstand ich kein Wort, was Marie-sensei spätestens dann bemerkte, als ich auf die Frage 'Welches ist dein Lieblingstier?' mit 'Schinken' geantwortet und mich so zum absoluten Volldeppen gemacht hatte. Warum verstand auch jeder aus der Klasse Spanisch, aber fast niemand Geschichte?! Als wir nach dem Unterricht aus dem Klassenraum gingen, lachten Soul und Black*Star immer noch. „Hey.“, sprach mich der weißhaarige breit grinsend an. „Wie sieht so ein Schinkentier eigentlich aus?“ Laut lachten die beiden Kichererbsen wieder auf, wurden jedoch von einem lauten 'Maka-Chop!' unterbrochen. „Spanisch braucht doch eh keine Sau!“, machte ich meinem Ärger Luft, während sich die Scherzkekse ihre schmerzenden Köpfe rieben. „Naja.“, versuchte Tsubaki, mich zu beruhigen. „Wenn du aber mal in Spanien, Mexiko oder einem anderen Spanisch sprechenden Land bist -“ „Als ob dort niemand Englisch verstehen würde!“, unterbrach ich sie aufgebracht. „Es ist doch total sinnlos, eine Sprache zu lernen, die man gar nicht benutzt!“ „Habt ihr in England denn kein Spanisch gehabt?“, wollte Maka wissen. „...Doch...“, murrte ich, noch immer genervt. „Wenn ihr es im Unterricht hattet, warum verstehst du dann kein Wort davon?“, kam es zweifelnd von Stripes. „Menschen sind nicht perfekt.“, antwortete ich sauer. „Ray tut sich schwer damit, neue Sprachen zu lernen.“, erklärte Jamie. „Die einzigen Sprachen, die sie beherrscht, sind Englisch und Elbisch.“ „Nicht 'Elbisch', sondern Sindarin und Quenya.“, verbesserte ich sie. Soul und Black*Star kicherten wieder los. „Du bist ein Fantasy-Nerd?“, fragte mich Liz. Abwertend schnaubte ich. „Wenn man sich für etwas interessiert, ist es leichter, es zu lernen.“ „Aber hast du nicht eben noch gesagt, das es sinnlos ist, eine Sprache zu lernen, die man nicht benutzt?“, gab Maka zu bedenken. „Wer sagt, dass ich sie nicht benutze?“ Verwirrt sah sie mich an und wieder spielte Jay den Erklärbär. „Ray und ihre Brüder unterhalten sich oft auf elbisch, wenn sie nicht wollen, dass ihnen jemand zuhört.“ „Du hast Geschwister?“, wurde Liz hellhörig. „Ja, vier Brüder.“, sagte ich. „Sind die älter als du? Und sehen sie gut aus?“ „Ähh...“, machte ich überfordert. „Also, drei von denen sind älter als ich, das sind Leo, der ist 25, Charlie, der ist 24, und Harry, der ist 19. Und ich finde schon, dass sie gut aussehen.“ „Leo, Charlie und Harry, ja? Und was machen die beruflich? Oder studieren sie noch? Sind sie schon vergeben oder noch Single?“, sprudelte es aus der älteren Thompson heraus. „Irgendwie wirkst du verzweifelt.“, bemerkte ich. Deprimiert ließ sie den Kopf hängen. „Jaa...“, seufzte sie. Plötzlich hüpfte Patty neben mich und griff nach einer Haarsträhne, die sich aus meinem Flechtzopf gelöst hatte. Fragend sah ich sie an. „Duhuu~“, begann die blonde Waffe. „Wie hast du das gemacht?“, hielt sie mir meine Strähne vor die Nase. „Ähm...“, begann ich. Ich hatte um die Strähne grüne und blaue Bänder geflochten, die mal gerade und mal über kreuz gewickelt waren und in einer türkisfarbenen Perle endeten. Bevor ich es jedoch Patty erklären konnte, wurde ich von einem entsetzten 'Oh.Mein.Gott!' unterbrochen. „Was?!“, zischte ich den Totengott an, der mich ansah, als ob ich gerade zu einem Zombie Mutiert wäre. Ich konnte mir schon denken, woran das lag – ich hatte die Flechtsträhne nur an der rechten Seite. „Duu...“, begann er mit bebender Stimme. „Du bist...du....deine Haare...Wie kann man nur so herumlaufen?!“, platzte es aus ihm heraus. „Der Seitenscheitel, der Zopf, der schlampige Pullover, zweierlei Socken, das Armband...und dann auch noch die Augen! Kannst du keine farbigen Kontaktlinsen tragen?!“ Wütend zuckte meine Augenbraue. Meine verschiedenfarbigen Augen hatte seine Waffe gestern schon bemerkt, und heute regte er sich deswegen auf?! „Es kann dir egal sein, wie ich herumlaufe.“, bemühte ich mich, nicht die Beherrschung zu verlieren. „Kann es nicht!“,widersprach er. „Ich muss deinen Anblick schließlich ertragen und dein Kleidungsstil ist so grauenhaft chaotisch -“ „Es geht dich einen Scheißdreck an, was ich trage!“, unterbrach ich ihn fuchsteufelswild. „Ich laufe herum, wie es mir gefällt, ob dir das passt oder nicht und ich werde auch niemals versuchen, es dir oder irgendjemandem sonst recht zu machen! Ich scheiß' auf deine Meinung, komm damit klar!“, brüllte ich fast. Noch nie hatte ich solche Lust, jemandem in die Visage zu schlagen! Ich hasste es, wenn sich jemand – normalerweise war es meine Mum – über meine Kleidung beschwerte. Es war ja nicht so, dass ich aussah wie der letzte Penner! Wütend starrte mich der Totengott an und wollte noch etwas sagen, als sich Jamie zwischen uns stellte. Besänftigend legte sie eine Hand auf meinen Arm und sah mich ruhig an. Langsam kam ich wieder runter, vermied es aber, den schwarzhaarigen anzusehen. „Oh Mann.“, durchbrach Soul die angespannte Stille. „Ihr könnt euch ja leiden wie Fußpilz.“ Angenervt stieß ich die Luft aus. „Ich geh schon mal vor.“, meinte ich nur zu meiner Partnerin, die zustimmend nickte. Nach solchen Situationen war es besser, wenn ich meine Ruhe hatte. Nachdem ich mich von den anderen, mit Ausnahme eines gewissen Anzugträgers, verabschiedet hatte, lief ich ziellos in der Stadt herum. Es war erstaunlich, wie viele Geschäfte es hier gab, und das, obwohl ich mich nicht mal in der Nähe der großen Einkaufsstraße befand. An fast jeder Straßenecke gab es kleine Cafés oder Bäckereien, und je weiter ich Richtung Stadtrand kam, desto mehr Restaurants sah ich. Am nordöstlichen Stadtrand fand ich ein altes, steinernes Amphitheater, in das lange Schatten fielen. Von den obersten Stufen konnte man meilenweit über die Wüste sehen, sodass ich ein kleines Wäldchen unterhalb der Shibusen erkannte. Seit wann wuchsen Bäume in der Wüste? Kopfschüttelnd setzte ich mich auf eine der Stufen, die im Schatten lagen. Es war angenehm still und die kühle Brise, die hier wehte, tat gut. Plötzlich hörte ich, wie mein Handy in meiner Tasche 'Die fabelhafte Welt der Amélie' spielte. Mein Bruder Ron rief mich an! Schnell kramte ich das Smartphone heraus und nahm den Anruf entgegen. „Hey Ronnie!“, begrüßte ich ihn fröhlich. „Hi Schwesterherz. Wie ist es in Nevada?“, wurde ich sofort gelöchert. „Heiß und sandig.“ Ich hörte ihn am anderen Ende der Leitung lachen. „Ist zu Hause alles okay?“, wollte ich von ihm wissen. „Sozusagen. Leo heult immer noch rum, weil du jetzt weg bist.“, kicherte er, wurde aber von einem 'Gar nicht wahr!' aus dem Hintergrund unterbrochen. „Sind die anderen bei dir?“, fragte ich verwirrt in den Hörer. „Sind wir!“, schallte es dreistimmig zurück. Leise lachte ich. „Ist es bei euch nicht schon total spät?“ „Es ist halb elf und die Nacht ist noch jung!“, lachte mir Charlie entgegen. „Musst du morgen nicht arbeiten?“, hakte ich nach. „Du klingst schon genauso wie Mum.“, moserte er. „Schlaf wird überbewertet, kleine Schwester!“ „Spinner.“, schnaubte ich nur. „Und, hast du schon neue Freunde gefunden?“, hörte ich meinen ältesten Bruder Leo. „Was glaubst du wohl?“, war meine zynische Gegenfrage. „Sind die anderen in deiner Klasse denn nicht nett?“, überging er meine Frage. „Die haben alle 'nen Sprung in der Schüssel.“, erklärte ich. „Einer redet ständig davon, wie toll er ist, unserem Klassenlehrer steckt 'ne Schraube im Kopf, ein anderer Lehrer ist ein Zombie oder so und der Sohn vom Shinigami-sama -“, ich holte tief Luft. „-ist das ätzendste, nervigste, unausstehlichste Bonzenkind, das mir je begegnet ist!“ „Uuuh, klingt, als wäre da jemand verliebt~.“, flötete mir Charlie entgegen. „Eher knutscht mich ein Einhorn!“, meinte ich. „Im ernst, dieser Kerl macht mir wegen meiner Augenfarben Vorwürfe!“ Am anderen Ende der Leitung wurde es still. „Okay, das ändert die Situation.“, bemerkte Harry düster. „Definitiv.“, stimmte ihm Leo zu. „Ray, sag uns, wo dieser Typ wohnt und wir machen ihn fertig!“ „Niemand beleidigt unsere kleine Schwester ungestraft!“, kam es todernst von Charlie. „Das wird er bereuen!“, machte auch Ron mit. „Leute...“, grinste ich kopfschüttelnd in mein Handy. „Der Kerl hat mich schon an der Backe. Glaubt ihr nicht, dass das Bestrafung genug ist?“ „Trotzdem ist das nicht in Ordnung...“, meinte Ron kleinlaut. „Gibt es den niemanden in deiner Klasse, der halbwegs normal ist?“ „Naja.“, begann ich und dachte an Maka. „Ein Mädchen scheint ganz nett zu sein, aber sie schlägt gerne mit Büchern um sich.“ „Und wie geht es unserer kleinen Jamie?“, fragte Harry. „Ihr scheint es soweit ganz gut zu gehen, zumindest versteht sie sich mit unseren Klassenkameraden besser als ich.“ „Soll das heißen, sie vermisst uns gar nicht?“, kam es von Charlie in einer weinerlichen Tonlage. „Pfft.“, machte ich. „Wer sollte euch schon vermissen?“ „Buuh!“, Beschwerte sich Ron. „Du bist gemein, Ray-Ray!“ Sofort stellten sich meine Nackenhaare auf. „Nenn' mich nicht Ray-Ray!“, motzte ich zurück, worauf mir lautes Gelächter entgegen schallte. Klar, ich gab anderen gerne Spitznamen, aber ich hasste es, selbst welche zu bekommen. Als sich das Spinnerquartett wieder beruhigt hatte, quatschen wir noch eine ganze Weile über völlig sinnloses Zeug, bis sie sich verabschiedeten – sich mussten doch irgendwann schlafen. Entspannt fläzte ich mich auf der Steinstufe herum. Was Jamie wohl gerade tat? Vielleicht hing sie mit Maka und den anderen in der Stadt herum, oder sie war zu Hause und bemalte ihre Wände. Da letzteres wahrscheinlicher war, beschloss ich, auch nach Hause zu gehen, doch ich merkte mir den Weg zum Amphitheater gut – ich würde mit Sicherheit noch öfter herkommen. Als ich gerade eine schmale Seitengasse hinter mir ließ, fiel mir ein kleiner Landen an der Straßenecke auf. Neugierig ging ich näher heran und sah wie hypnotisiert durch das Schaufenster. Ein Antiquitätenladen! Mit dem Gedanken, dort vielleicht einen schönen Spiegel für meine Sammlung zu finden, betrat ich von klingelnden Glocken begleitet das Geschäft. Überall standen antike Schränke, Stühle und Tische, und in dunklen Vitrinen, die an den Wänden und teilweise mitten im Raum standen, lagen alte Bücher, Vasen, Taschenuhren und jede Menge Schmuck. Die Kasse – eine alte, messingbeschlagene – stand auf einer langen, niedrigen Vitrine am anderen Ende des Raumes und wurde von einer alten Frau bedient. Davor stand ein Mann, der sich mit der Dame unterhielt. Gerade, als ich vor einer Wand voller Spiegel stehen blieb, wurde das Gespräch an der Kasse lauter. „Wenn ich es Ihnen doch sage.“, fing der Mann in einer super-genervten Tonlage an. „Das ist eine offizielle Ordensinsignie des Distelordens. Es hat schon meinem Großvater gehört!“ Misstrauisch zog ich die Augenbrauen zusammen. Der Distelorden? Das war einer der Ranghöchsten britischen Orden, was machte also eine solche Ordensinsignie in Amerika? „Es tut mir wirklich leid, aber ohne die nötigen Papiere kann ich Ihnen nur den Materialpreis zahlen.“, versuchte die alte Frau, den Mann zu beruhigen. „Nur den Materialpreis?! Haben Sie eine Ahnung, wie viel dieser Orden wert ist?!“, keifte er die Frau an, die vor Schreck zusammenzuckte. Was erlaubte sich dieser Kerl eigentlich? Man behandelte so doch keine alten Damen! „En-Entschuldigung, aber ich ...“, stotterte sie. „Narürlich haben Sie keine Ahnung!“, wetterte der Mann weiter. „Der Distelorden ist der oberste aller britischen Ritterorden und -“ „Entschuldigen Sie bitte, aber was das betrifft, liegen Sie leider falsch.“, mischte ich mich bemüht höflich ein. „Von einem jungen Ding wie dir muss ich mich nicht belehren lassen!“, wurde ich gleich angefaucht. „Ich fürchte schon.“, antwortete ich und ließ meinen Akzent raus hängen. „Zufällig kenne ich mich mit den britischen Ritterorden ganz gut aus, aber der Distelorden gehört nicht dazu.“ „Nennst du Göre mich einen Lügner?“, erwiderte der Kerl mit drohender Stimme. „Keineswegs.“, lächelte ich ruhig. „Der Distelorden hat den zweithöchsten Rang der britischen Hoforden, aber das haben Sie mit Sicherheit nur verwechselt.“ Verwirrt sah er mich an, schien sich aber zu beruhigen. „Ja, natürlich.“, antwortete er. Beiläufig betrachtete ich den Ordensstern, der auf der Vitrine lag. „Dann wissen Sie doch auch, dass zu den Insignien eines Mitglieds des Distelordens neben dem Ordensstern auch die Ordenskette mit ihrem Ordenszeichen, das Ordenszeichen des Revers und das offizielle Ordenszeichen mit der dunkelgrünen Schärpe gehören.“, bombardierte ich ihn mit Informationen. „Außerdem müssen sämtliche Insignien mit dem Tod des Ordensmitglieds wieder abgegeben werden.“ Offenbar überfordert sah der Mann mich an. „Wenn dieser Ordensstern echt ist, wo sind dann die anderen Insignien und warum befinden sie sich nicht im Vereinigten Königreich?“, half ich ihm auf die Sprünge. Sofort verdunkelte sich seine Miene. „Willst du mich als Betrüger darstellen?“ „Das haben Sie gesagt. Aber mich wundert es schon, warum auf einem Ordensstern der Distelordens die Devise des Hosenbandordens eingraviert ist.“ Meinem Gegenüber entgleisten die Gesichtszüge – er hatte wohl nicht damit gerechnet, dass man ihm auf die Schliche kommen könnte. „Wie...Wie bitte?“, stotterte er überfordert. „Hier steht 'Honi soit qui mal y pense', was die Devise des Hosenbandordens ist. Wäre das hier ein echter Ordensstern des Distelordens, würde hier -“, ich wies auf den grünen Ring, in dessen Mitte eine Distel prangte, „- 'Nemo me impune lacessit' stehen, was soviel heißt wie 'Niemand greift mich ungestraft an'. Ich würde Ihnen raten, Ihren 'Ordensstern' zu nehmen und so schnell wie möglich von hier zu verschwinden. Andernfalls müssten Sie mit weitreichenden Konsequenzen rechnen.“, drohte ich finster. Bevor die alte Dame noch etwas sagen konnte, war der Möchtegern-Betrüger in einem plötzlichen Anflug von Panik abgehauen. Was für ein Schisser! „Vielen Dank.“, seufzte die alte Dame erleichtert. „Du bist wirklich eine anständige junge Dame.“ „Nicht wirklich.“, lachte ich verlegen. „Ich kann Lügner bloß nicht ausstehen.“ „Ich hätte nicht gedacht, dass ihr jungen Leute euch für Antiquitäten interessiert.“, fing sie ein Gespräch mit mir an. „Naja, ich bin eben ein Sonderfall.“ „Wie heißt du, Herzchen?“, lächelte sie mich freundlich an. Urgs, 'Herzchen'.... „Ich bin Ray.“ „Mein Name ist Ellie. Du kommst aus England, oder?“ „Ist mein Akzent wirklich so stark?“, lachte ich. „Ach.“, machte Ellie. „Ich finde, der englische Akzent klingt sehr schön. Aber du kennst dich wirklich gut mit diesen Orden aus, das war meine Rettung.“ „Hmm.“, machte ich, als ich eine große, alte Weltkarte entdeckte. Jamie und ich wollten schon immer die Welt bereisen, und jetzt, als Schüler der Shibusen, würde sich unser Traum wohl erfüllen. Es wäre echt cool, wenn wir in unserer Wohnung so eine Weltkarte hätten, denn dann könnten wir mit Stecknadeln jeden Ort markieren, an dem wir schon einmal gewesen sind, ganz wie die alten Seefahrer... „Möchtest du die Karte haben?“, wurde ich aus meinen Gedanken gerissen. „Äh, also eigentlich...“ „Ich schenke sie dir.“, meinte Ellie und nahm die Karte von der Wand. „Das geht doch nicht!“, erwiderte ich erschrocken, nachdem ich das Preisschild gesehen hatte. „Ich meine, Sie können doch nicht -“ „Natürlich kann ich. Mein Laden, meine Regeln.“, lachte sie. „Außerdem muss ich mich ja bei dir bedanken.“ „Müssen Sie nicht, wirklich!“ „Ich dachte, wir waren schon beim 'du' angekommen.“ Resigniert seufzte ich. Ich mochte es nicht besonders, Geschenke zu bekommen, genauso wenig wie ich Hilfe annahm, selbst wenn ich sie brauchte. Aber diese alte Frau war stur... Nachdem Ellie die Karte zusammengerollt und mir überreicht hatte, machte ich mich auf den Weg nach Hause. Den Antiquitätenladen würde ich wohl noch öfter besuchen. „Bin wieder daha~!“, rief ich durch die Wohnung und ließ die Tür ins Schloss fallen. „Wo warst du so lange?“, wurde ich gleich von Jay begrüßt, die aus ihrem Zimmer kam. An Händen und Hose waren rote und gelbe Farbflecken zu erkennen – Jackpot! Ich kannte eben meine Partnerin. „Bin ein bisschen durch die Stadt gelaufen und hab' mit den Jungs telefoniert.“, beantwortete ich ihre Frage. „Oh. Was haben sie gesagt?“ „Überwiegend dummes Zeug, vor allem Charlie.“, lächelte ich schief. „Das ist ja nichts neues.“, grinste sie. „Was hast du da?“ „'Ne Weltkarte. Hab ich geschenkt bekommen.“, erklärte ich, als ich die Karte ausrollte. „Ich dachte mir, dass wir darauf mit Stecknadeln markieren können, wo wir schon waren.“ „Das ist eine tolle Idee!“, freute sich Jamie. Kurze Zeit später hing die Weltkarte an der Wand über dem Sofa. „Also, wo waren wir schon mal?“, sprach ich mehr zu mir als zu meiner Partnerin, die die ersten Stecknadeln in die Isle of Wight und London steckte. „Death City!“, rief sie und piekste mit einer Nadel durch Nevada. „Hoffentlich können wir bald auf eine Mission gehen.“, kommentierte ich die drei Nadeln in der Karte. „Dann sieht das nicht mehr so kahl aus.“ „Hmm.“, machte Jay nachdenklich. „Glaubst du, unsere erste Mission wird gefährlich?“ „Nicht besonders, schätze ich. Aber das wissen wir erst, wenn es soweit ist.“ „Hmmhm...hast du Hunger?“ „Und wie. Seit deinen Sandwiches in der Pause hab ich nichts mehr gegessen.“ Schon stand meine Partnerin in der Küche und begann, Gemüse zu waschen und klein zu schneiden. „Soll ich dir helfen?“, bot ich ihr an. „Du kannst den Tee kochen.“, deutete sie auf einen Hängeschrank. Als ich den Schrank öffnete, fielen mir beinahe die Teepackungen entgegen. Himbeer-Vanille, Türkischer Apfel, Johannisbeer-Kirsch... „Haben wir keinen Darjeeling? Oder Earl Grey?“ „Ich hab noch keine guten gefunden. Die meisten schwarzen Tees hier schmecken wie eingeschlafene Füße...“ „Na super.“, meinte ich sarkastisch und nahm den Apfeltee. Nach dem Essen saßen Jay und ich mit unserem Tee vor dem Fernseher und zappten durch die Kanäle. „Das ist so stumpfsinnig.“, seufzte ich irgendwann, als wir in der fünften Talkshow gelandet waren. „Warum prügeln die sich überhaupt?“, versuchte Jamie den tieferen Sinn hinter diesen Sendungen zu verstehen. „Keine Ahnung, aber Gewalt ist bekanntlich auch die Sprache der Dummen...“ Schief sah sie mich an. „Du prügelst dich auch oft, Ray.“ „Das ist was anderes!“, rechtfertigte ich mich. „Wenn mich jemand provoziert, muss er damit rechnen, dass er nicht ungestraft davonkommt!“ „Aha.“, machte Jay. „Ich bin jedenfalls froh, dass du dich nicht mit Kid geprügelt hast.“ „Pff.“, meinte ich. Stripes hatte bloß Glück gehabt... „Immerhin ist er ein Totengott, gegen ihn hättest du keine Chance.“ „Hast du so wenig vertrauen in meine Fähigkeiten?“ Ich fing mir einen zweifelnden Blick ein. „Solange ich ihn noch nicht kämpfen gesehen habe, werde ich nicht einsehen, dass er stärker sein soll als ich. Und selbst wenn, heißt das noch lange nicht, dass ich ihm in einem Kampf automatisch unterlegen bin. Und falls doch, hat er als Kerl immer noch eine Schwachstelle, die ich ausnutzen kann und werde.“, gab ich selbstsicher von mir. „Du meinst...die Waffen einer Frau?“, sah sie mich nachdenklich an. „Nein.“, blinzelte ich verwirrt. Wie kam sie denn darauf? „Ich meine: Ich trete ihm in die Eier.“ Ergeben seufzte meine Partnerin. „Das ist aber nicht besonders ehrenhaft.“, versuchte sie es noch einmal. „Ich bin eine Frau, von mir erwartet niemand, dass ich ehrenhaft kämpfe.“, entgegnete ich starrsinnig. Noch einmal seufzte Jay und schaltete schließlich den Fernseher aus. „Ich geh ins Bett.“, erklärte sie. „Gute Nacht.“ „Nacht.“, erwiderte ich nur und beschloss, ihrem Beispiel zu folgen.  Kapitel 3: There and Back again ------------------------------- Der nächste Tag begann wie der letzte. Nachdem Jay und ich gefrühstückt hatten, klingelten Maka und Soul pünktlich um halb acht an der Tür und wir gingen gemeinsam zur Schule. In den ersten beiden Stunden hatten wir Biologie, was, abgesehen vom Sezieren eines seltenen Beuteltiers, relativ ereignislos verlief. Stripes und ich gerieten wieder aneinander, als er bemerkte, dass meine dunkelgrüne Strickjacke, die ich über einem weißen Tanktop trug, an einer Schulter herunter gerutscht war. Da ich mich partout weigerte, sie wieder hochzuziehen, probte er natürlich wieder einen Zwergenaufstand – er war größer als ich, aber er ging ums Prinzip. Gelangweilt spielte ich mit dem Triforce-Anhänger meiner Kette, nachdem Doktor Stein den Streit, mithilfe eines Skalpells, beendet hatte. Dieser Totengott war so ein Spießer! Der Anhänger gab ein klingelndes Geräusch von sich, als er mit meinem Armband zusammenstieß, das aus mehreren gold- und bronzefarbenen Zahnrädern bestand. Einem spielerischen Trieb folgend, ließ ich Kette und Armband noch einmal klirren. Infolge des Unterrichts, der mich zunehmend langweilte, spielte ich bald eine unregelmäßige Melodie aus klingeln, klirren und mehreren 'Klonks', wenn der Anhänger der Kette auf den Tisch stieß. „Ray!“, ermahnte mich meine Partnerin leise, nachdem ich in der Hoffnung, so ein anderes Geräusch zu erzeugen, mit einem Stift gegen den Anhänger schlug. „Was denn?“, flüsterte ich unschuldig zurück. „Konzentrier' dich auf den Unterricht! Du weißt, dass ich dir in Bio nicht helfen kann.“ Leise seufzte ich und versuchte, mich an ihren Rat zu halten, als plötzlich die Tür geöffnet wurde und Sid eintrat. Sofort hatte er die Aufmerksamkeit der Klasse – alles war interessanter, als die Innereien eines Wombats. „Jamie und Rayanne, der Shinigami-sama will euch sehen.“ „Hast du etwas angestellt?“, vergewisserte sich meine Partnerin bei mir, als wir durch den Guillotinen-Gang schritten. „Nichts, wovon ich wüsste.“, antwortete ich nachdenklich. Vielleicht hatte mich Stripes bei seinem Vater verpetzt, weil ich gemein zu ihm war. „Halli-Hallo, ihr beiden.“, begrüßte uns der Shinigami. „Hallo.“- „Hi.“, grüßten wir zurück. „Und, habt ihr euch schon etwas eingelebt?“, wollte er wissen. „Sozusagen.“, antwortete ich und vermied es, mich über seinen Sohn auszulassen – das wäre nicht besonders cool. Wer mochte schon Petzen? „Wie schön.“, trällerte der Totengott weiter. „Ihr fragt euch bestimmt, warum ich euch hergerufen habe, stimmt's?“ Bevor wir etwas sagen konnten, sprach er schon weiter. „Ich habe eine Mission für euch.“, erklärte er. „Ihr beiden werdet auf Kreta gebraucht. Genauer gesagt, ihr müsst dort den Minotaurus besiegen.“ Verwirrt blinzelte ich, als sich meine Geschichtskenntnisse meldeten. „Der Minotaurus wurde doch schon vor Ewigkeiten von Theseus besiegt.“, meinte ich. „Tja, das dachten wir auch. Aber es hat sich herausgestellt, dass der gute Theseus gescheitert ist. Seine Heldengeschichte wurde von einer geheimen Organisation erfunden, die den Minotaurus für ihre Zwecke benutzt und ihn so geheim halten konnte. Ihre genauen Ziele sind mir bisher leider nicht bekannt, doch sie opfern dem Minotaurus immer noch regelmäßig junge Mädchen und Jungen.“ Angewidert verzog ich mein Gesicht. „Und wie sollen wir an ihn herankommen, wenn er von einem Haufen Irrer beschützt wird?“ „Ganz einfach.“, fuhr er fort. „Ihr werdet euch einfach unter die Opfer mischen.“ Großartig! Ich wollte schon immer einer Stierfresse geopfert werden! Andererseits schien das die einzige Möglichkeit zu sein, an dieses Biest heranzukommen, das sah ich ein. „Gut.“, willigte ich ein. „Wann soll es losgehen?“ Keine Stunde später saßen wir in einem Flugzeug nach Griechenland. „Was genau ist eigentlich ein Minotaurus?“ , kam es neugierig von Jay. „Ein Mensch mit 'nem Stierkopf.“, antwortete ich lahm. Als ich jedoch den besorgten Blick meiner Partnerin bemerkte, erzählte ich ihr die ganze Geschichte. „Weißt du, vor langer Zeit lebte auf Kreta ein Mann namens Mino. Er war ein Sohn von Zeus und um die Königswürde zu erhalten, bat er seinen Onkel Poseidon um ein Wunder. Er versprach Poseidon, was auch immer dem Meer entstieg, ihm zu opfern. Poseidon gab ihm daraufhin einen wunderschönen Stier, und so wurde Mino König von Kreta. Der Stier aber gefiel ihm so gut, dass er ihn in seine Herde aufnahm und Poseidon stattdessen ein anderes Tier opferte. Daraufhin wurde Poseidon wütend und er brachte Minos Frau dazu, sich von dem Stier schwängern zu lassen. Das Kind dieser Vereinigung war der Minotaurus, ein Menschen fressendes Ungeheuer. Mino, der den Minotaurus eigentlich töten wollte, ließ ein Gefängnis in Form eines Labyrinthes bauen, denn seine Tochter Ariadne wollte ihn am Leben lassen. Der Stier selbst wurde aber von Herakles gebändigt und auf die Peloponnes gebracht. Der Stier richtete dort jedoch großen Schaden an, und Androgeos, einer von Minos Söhnen, wollte seine Geschicklichkeit im Kampf gegen den Stier auf die Probe stellen. Aber Androgeos starb dabei und Mino brach daraufhin zu einem Rachefeldzug gegen Athen auf, denn man erzählte sich, König Aigeus von Attika habe Androgeos zu dem Stier geschickt. Durch die Hilfe seines Vaters Zeus siegte Mino über die Athener und legte ihnen eine Strafe auf: Alle neun jahre mussten sie sieben Jungfrauen und sieben Jünglinge nach Kreta schicken, die in das Labyrinth gebracht und so dem Minotaurus geopfert wurden. Tja, und so scheint es noch immer zu sein. Ich hoffe bloß, dass uns diese Organisation nicht noch zum Problem wird, sobald wir den Minotaurus platt gemacht haben.“, schloss ich meine Erzählung. „Oh Mann.“, seufzte Jay. „Ich weiß schon, warum ich die griechischen Götter nicht mag. So was perverses...“ „Da kann man nix machen.“, meinte ich achselzuckend. „Sind eben Götter.“ „Der Shinigami-sama ist aber nicht so!“, beschwerte sie sich. „Hmm.“, machte ich nur. „Die spinnen, die Griechen.“ „Waren das nicht die Römer?“, erinnerte sich Jamie an ihren letzten Asterix-Film. „Die Römer, die Griechen, die Ägypter...die haben alle total triebgesteuerte Götter.“ Zustimmend nickte Jay, die Unschuld vom Lande. Den Rest des Fluges schliefen wir, damit wir in Kreta auch bloß ausgeruht waren und uns gleich an die Arbeit machen konnten. Als wir in Heraklion landeten, war es halb elf – mittags! Dank der Informationen vom Shinigami-sama wussten wir, dass wir nur noch anderthalb Stunden Zeit hatten, um diese merkwürdige Organisation zu finden und uns als freiwillige Opfer zu melden. Wir gingen zu den Ruinen von Knossos, die sich südlich von Heraklion befanden und unter denen sich das Labyrinth des Minotaurus befinden sollte. Überall sah man Touristen mit Fotoapparaten, doch von dem angeblichen Geheimgang, der zum Labyrinth führen sollte, fehlte jede Spur. Es war viertel vor zwölf, als wir am östlichen Ende der Ruinenstadt ankamen. Hier sah man nirgends Touristen, denn wirklich spektakulär sah es hier nicht aus. Jay und ich blieben stehen und sahen uns um. Wenn wir nicht bald jemanden aus dieser Organisation oder einen Eingang fanden - „Aaah!“, schrie Jamie plötzlich, als der Boden unter unseren Füßen wegbrach. Panisch griff sie nach meiner Hand und nach wenigen Schrecksekunden im freien Fall klatschten wir auf dem Boden auf. Mit wild pochendem Herzen sprang ich sofort wieder auf die Füße und stellte mich vor meine Partnerin, um sie – vor was auch immer – zu beschützen. Doch ich konnte niemanden erkennen, denn um uns herum waberten dichte Staubwolken, die wir durch unseren Sturz verursacht hatten. „Huh, wer ist denn das?“, hörten wir eine neugierige Mädchenstimme hinter der Staubwolke. „Zwei verirrte Lämmchen, möchte ich meinen.“, antwortete eine zweite, mädchenhaft hohe Stimme. Eine Gänsehaut überkam mich beim Klang dieser Stimme. Sie war kalt und schneidend wie Eis, doch das war es nicht, was dieses beklemmende Gefühl bei mir auslöste. Sie verunsicherte mich, und das war etwas, das ich nicht kannte. Langsam lichteten sich die Wolken und das schummrige Licht, das in diesem höhlenartigen Keller herrschte, wurde stärker. Ich erkannte zwei Mädchen vor uns, von denen eines orangefarbenes Haar hatte, in dem goldene Strähnen glitzerten, und das andere langes, aufwändig geflochtenes, weißblondes Haar hatte und komplett in weiß gekleidet war. Hinter ihnen kauerte ein verängstigt wirkendes, kleines Mädchen auf dem Boden. „Es tut mir wirklich sehr leid.“, trat die weißblonde auf uns zu. „Aber ihr werdet die Sonne niemals wiedersehen.“ Weit riss Jamie ihre Augen auf, während ich wütend wurde. Wer gab dieser Tusse das Recht, meiner Waffe Angst einzujagen?! „Es ist nämlich so, -“, fuhr sie fort. „- dass wir angewiesen wurden, jeden, der uns sieht, zu beseitigen. Also nehmt es nicht persönlich,wenn wir euch dem guten Asterios zum Fraß vorwerfen, ja?“, lächelte sie und erntete von der anderen ein zustimmendes Lachen. Gestört, schoss es mir durch den Kopf. Diese Weiber waren absolut gestört. Doch ich zwang mich, ruhig zu bleiben, schließlich lief bisher (fast) alles nach Plan – also kein Grund, sich Sorgen zu machen. Jamie sah allerdings aus, als würde sie jeden Moment ohnmächtig werden. Nachdem das Gelächter verklungen war, wurden Jay, das kleine Mädchen und ich durch einen Gang geschoben. Wäre es nach mir gegangen, hätte ich das nicht ohne heftige Gegenwehr mit mir machen lassen, doch ich blieb ruhig, was den beiden Weibern verdächtig hätte vorkommen müssen, wären sie aufmerksamer gewesen. Beruhigend hielt ich die Hand meiner Partnerin, die zu zittern begonnen hatte. Am Ende des Ganges befand sich ein Tor aus eisernen Gitterstäben – der Eingang zum Labyrinth. Nachdem uns die kleine mit dem orangefarbenen Haar durch das Tor gestoßen hatte, verriegelten sie es hinter uns. Die Mauerwände, die aus diesem unterirdischen Raum ein Labyrinth machten, reichten bis zur Decke und wurden von Fackeln beleuchtet. Irgendwo hinter diesen Wänden ertönte ein unmenschliches Brüllen, gefolgt von trommelartigen Geräuschen. Panisch schrie das kleine Mädchen auf und rannte davon, bevor ich es aufhalten konnte. Ängstlich klammerte sich meine Partnerin an meinen Arm und versteckte sich hinter mir. „Ray...?“, bat sie zitternd um Erlaubnis, sich in ihre Waffenform zu verwandeln. Ich nickte kurz, woraufhin sie von einem grünen Leuchten umgeben wurde. Im nächsten Augenblick lag ein schmales, zweischneidiges Schwert in meiner rechten, in dessen Klinge ein Rankenmuster eingraviert war. Der Schwertgriff war mit braunen Lederriemen umwickelt und der Knauf hatte die Form eine Münze, die von beiden Seiten mit einem, auf den Hinterbeinen stehenden, Einhorn geprägt war. Die weißblonde auf der anderen Seite des Gittertores schnappte erschrocken nach Luft, die andere brachte nur ein erstauntes 'Huh?' heraus. Da ich keine Lust hatte, dass sie mir jetzt in die Quere kamen, bog ich schnell in einen abzweigenden Gang ab. Wieder hörten wir ein Brüllen, diesmal näher, gefolgt von einem Kinderschrei. Jay zitterte in meiner Hand. „Mach dir keine Sorgen.“, versuchte ich sie zu beruhigen. „Ich bin doch auch noch da.“ „Spürst du das nicht?“, ignorierte sie meinen Aufmunterungsversuch. „Was denn?“ „Dieses Ding kommt näher und es stinkt so furchtbar boshaft!“ Stimmt ja, erinnerte ich mich, Jamies Seelenspürsinn funktionierte über die Nase – kein Wunder also, warum sie unangenehme Gerüche nicht mochte. „Hast du Angst?“, fragte ich vorsichtig.“ „...Ja...“, hauchte sie leise. „Kannst du nicht etwas singen?“ „Was, jetzt?“, liefen meine Ohren rot an. „Wenn man singt, ist alles nur noch halb so schlimm.“, erklärte sie. Da war etwas wahres dran, doch ich konnte in dieser Situation doch nicht singen! Am Ende bemerkte uns der Minotaurus noch, bevor wir ihn bemerkten. Oder ihn trieb mein schiefer Gesang in den Wahnsinn....so gesehen.... „Na gut.“, gab ich mich geschlagen – mich würde außer uns sowieso niemand hören. „Und was?“ „Hakuna Matata.“ Gedanklich stöhnte ich auf, das hätte ich mir denken können. Also lief ich mit einem Hakuna Matata auf den Lippen und Jay in meiner Hand durch das Labyrinth des Minotaurus, was mir absolut surreal vorkam. Langsam entspannte sich meine Waffe, und das, obwohl wir dem Brüllen immer näher kamen. An der nächsten Weggabelung bog ich nach links ab und fand mich dem kleinen Mädchen gegenüber, das weinend am Ende des Ganges saß. Zwischen mir und dem Mädchen führte nur ein einziger Gang auf der rechten Seite aus der Sackgasse heraus. Gerade, als ich auf die kleine zugehen wollte, fing der Boden an zu beben und mit einem lauten Brüllen schoss ein stierköpfiges, befelltes Wesen aus der Seitengasse heraus und auf das Mädchen zu. „Hey!“, rief ich, um ihn so von dem Mädchen abzulenken – erfolglos. „Asterios!“, schrie ich seinen Namen und rannte auf ihn zu. Jetzt, offenbar durch seinen Namen aufmerksam geworden, drehte er sich um. Einige Schritte vor ihm drückte ich mich vom Boden ab, sprang auf ihn zu und hieb mit meiner Waffe nach ihm. Im letzten Moment wich er aus und Jamies Klinge traf die steinerne Mauer, was ein kreischendes Geräusch verursachte. Wieder auf dem Boden gelandet wirbelte ich herum und traf den Minotaurus am Unterarm, der heftig zu bluten begann. Vor Schmerz schrie er auf und schlug mit seinem rechten Arm nach mir. Ich machte einen Hechtsprung unter dem Schlag hindurch und rollte mich bei der Landung ab, um wieder zum Stehen zu kommen. Rasend vor Wut, weil ich seinem Schlag ausgewichen war, stürmte er mit einer übermenschlichen Geschwindigkeit auf mich zu, mit dem Kopf und Hörnern voran. Da der Minotaurus zu stark war, um seinen Angriff einfach mit dem Schwert zu parieren, sprang ich zur Seite, wurde aber von einem Horn am Oberarm getroffen. „Shit!“, hielt ich mir fluchend die Wunde. Ich musste das hier schnell beenden, denn je länger der Kampf dauerte, desto wütender schien mein Gegner zu werden. Der Minotaurus drehte sich am Ende des Gangs um, als er merkte, dass ich noch stand. Wütend preschte er ein weiteres Mal auf mich zu, doch diesmal würde ich nicht ausweichen. Starr wie ein Fels stand ich mitten im Gang und heilt Jamie ausgestreckt vor mich. Als mein Gegner bemerkte, was ich plante, versuchte er, seinen Sprint zu stoppen. Doch er war zu schnell, um rechtzeitig anzuhalten und so krachte er mit dem Kopf voran in mein Schwert, spießte sich so selbst auf. Durch den Druck und die Geschwindigkeit des jetzt leblosen Untiers rutschte ich einige Meter zurück und ging in die Knie. Erschöpft rappelte ich mich wieder auf und zog Jamies Klinge aus dem Kopf des Minotaurus, woraufhin mir ein Schwall Blut ins Gesicht spritzte. Keinen Wimpernschlag später löste sich der tote Körper auf und hinterließ ein dunkelrot glühendes Kishinei. „Na, hab ich dir nicht gesagt, dass du dir keine Sorgen machen musst?“, wandte ich mich an meine Partnerin, die sich gerade zurückverwandelte. „Das hätte auch schief gehen können!“, ermahnte sie mich. „Ist es aber nicht.“, erwiderte ich stur. „Hey, wir haben unser erstes, offizielles Kishinei gesammelt, ist das nicht toll?“ Schwach lächelte meine Waffe, bevor sie genanntes runter schluckte. „Du siehst furchtbar aus.“, kommentierte sie das Blut, das mein weißes Top tränkte und auch in meinem Gesicht klebte. „Ach.“, wank ich ab. „Ist ja nicht meins.“ Streng sah sie mich an und tippte auf die Wunde an meinem Oberarm. „Autsch, lass das!“, zuckte ich zusammen und zog meine Strickjacke darüber. „Wer...Wer seid ihr?“, sprach uns jetzt endlich das kleine Mädchen an, das den ganzen Kampf mitbekommen hatte. Ruhig lächelte ich die kleine an. „Mein Name ist Ray und das ist meine Partnerin Jamie. Wir sind hier, um dich in Sicherheit zu bringen.“ „Sind wir das?“, flüsterte Jay mir leise zu, da das eigentlich nicht zu unserer Mission gehörte. „Jetzt schon.“, antwortete ich bloß und nahm die kleine an der Hand. „Wie finden wir jetzt den Ausgang?“, wollte Jamie wissen. „Wir gehen einfach dort lang, wo die Luft besser wird.“, schlug ich vor. „Das geht nicht.“, zerstörte sie gleich meine Hoffnungen. „Hier unten ist die Luft überall gleich schlecht.“ „Na gut.“, überlegte ich und rief mir ins Gedächtnis, was ich über Labyrinthe wusste. „Dann gehen wir eben immer nach rechts!“ „Nach rechts?“, wiederholte sie verwirrt. „Die meisten Labyrinthe sind so aufgebaut, dass man den Ausgang findet, wenn man bei jeder Abzweigung nach rechts geht.“, erklärte ich. Gesagt, getan. Trotz dieser Methode landeten wir in unzähligen Sackgassen und es dauerte Stunden, bis wir das Gittertor erreichten. Das Mädchen ließ sich erschöpft auf den Boden fallen, während ich mit Jays Klinge auf das Tor eindrosch. „So wird das nichts.“, kommentierte meine Waffe die erfolglosen Versuche. „Was du nicht sagst.“, meinte ich gereizt. Wir waren schon seit Stunden hier unten und die Enge und das schummrige Licht gingen mir zunehmend auf die Substanz. „Wir könnten es mit einer Seelenresonanz versuchen.“, schlug sie vor. „Im Ernst? Das haben wir doch noch nie ausprobiert.“, erinnerte ich mich an unsere letzten Wochen in England, in denen wir fast jeden Tag zusammen trainiert hatten. „Dann versuchen wir es eben jetzt.“ Na gut, dachte ich mir und festigte meinen Griff um meine Waffe. Ich konzentrierte mich mit aller Macht auf meine Partnerin und versuchte, ihre Seelenwellen zu spüren. „FUCK!“, schrie ich meinen Frust heraus, als auch der fünfte Anlauf in die Hose ging. Warum war mein Seelenspürsinn auch sowas von taub?! Nichtmal die Seele meiner Partnerin konnte ich spüren, wie sollten wir dann unsere Seelenwellen in Einklang bringen?! „Ich habe eine Idee.“, meldete sich Jay zu Wort und erschien auf ihrer Klinge. Aufmerksam sah ich sie an. „Wir denken beide einfach an das selbe!“ Vollends verwirrt blinzelte ich. „Hä? Wie soll das gehen?“ „Na, ganz einfach: Ich werde an ein bestimmtes Lied denken und du versuchst, es zu hören. Dann lässt du dieses Lied auch in deinen Gedanken spielen und schwupps, schon haben wir eine Seelenresonanz.“, erklärte sie. Woher wusste Jamie so etwas? Das hatten wir unmöglich in den letzten beiden Tagen im Unterricht gehabt. Oder doch? Schließlich hatte ich in Seelenkunde nicht aufgepasst... „Und das soll klappen?“, hakte ich skeptisch nach. „Ja, ganz sicher. Zwar gibt es verschiedene Methoden, eine Seelenresonanz aufzubauen, aber diese ist mit am leichtesten.“ „Ah...aha...“, zuckte meine Augenbraue leicht. Irgendwie fühlte ich mich beleidigt. Also versuchten wir es es ein sechstes Mal. Ich blendete alle Geräusche um mich herum aus – das Knistern der Fackeln,die Atemgeräusche, meinen Herzschlag – und konzentrierte mich auf meine Partnerin. Angespannt lauschte ich, bis ich eine Melodie wahrnahm. Anfangs nur sehr leise, erkannte ich das Lied nicht, doch es wurde immer lauter, bis ich es richtig hören konnte. Als Herr der Ringe-Nerd bekam ich natürlich gleich eine Gänsehaut, denn es war das Lied, das die Zwerge in Bilbo Beutlins Haus sangen – das Lied vom einsamen Berg. Es fiel mir nicht schwer, das Lied synchron mit Jamie in meinem Kopf spielen zu lassen und ich spürte, wie die Waffe in meinen Händen wärmer wurde. Langsam öffnete ich die Augen und sah, wie das Schwert, Jay, in einem hellen Licht glühte.War das die Seelenresonanz? Ich überlegte nicht lange, sondern hieb mit der Klinge gegen das Gittertor, das zerschnitten wurde, als wäre es aus Butter. Das war ja krass! Laut klirrend fielen die Gitterstücke auf den Boden und die Resonanz brach sofort ab, nachdem das letzte Stück geschafft war. Jamie verwandelte sich zurück. Erschöpft setzten wir unseren Weg durch den Gang fort, durch den wir vorhin zum Labyrinth gebracht wurden. Als wir in dem Raum ankamen, durch den wir hereingefallen waren, entdeckten wir an einer Seite eine alte Steintreppe, über die wir nach oben kamen. Sie führte direkt nach draußen und endete zwischen einigen unscheinbaren Mauerstücken. Verwirrt sah ich mich um. „Jay?“, sprach ich meine Partnerin an. „Kann es sein, dass wir durch die Treppe nach unten gefallen sind?“ „Ich glaube schon.“, bestätigte sie meinen Verdacht. Ich fühlte mich verarscht. Wir hatten den 'geheimen' Eingang zum Labyrinth des Minotaurus zufällig gefunden? „Also.“, sprach Jay das kleine Mädchen an, das ich fast vergessen hätte. „Du kannst jetzt nach Hause gehen. Die Mädchen, die dich festgehalten haben, werden dir nichts mehr tun.“ Die Überzeugung in ihrer Stimme machte mich stutzig. „Woher willst du wissen, dass diese Tussen ihr nichts mehr tun?“, fragte ich, als die kleine verschwunden war. Hoffentlich fand sie den Weg nach Hause... „Was sollten sie schon anstellen, jetzt, wo der Minotaurus besiegt ist?“ „Jay, es gibt eine Menge böser Menschen auf dieser Welt, und die brauchen kein mystisches Stierwesen, um böse zu sein.“ Bestürzt sah sie mich an – was die dunkle Seite der Menschheit anging, war sie noch immer total ahnungslos. Sie war so unglaublich naiv! Wie konnte sie nur denken, dass diese Weiber einfach den Schwanz einziehen und anständig werden würden, bloß, weil sie eine Niederlage erlitten hatten? Wer wusste schon, was ihre Organisation vor hatte... „Wie auch immer.“, streckte ich mich und sah in den Abendhimmel. „Für heute haben wir genug gearbeitet, lass uns nach Hause fliegen. Um diese dämlichen Zicken kann sich der Shinigami-sama kümmern.“ Zur Antwortet seufzte sie nur und wir liefen zurück zum Flughafen. Taxis wollten uns keine mitnehmen, was nicht zuletzt an den Blutflecken an mir lag. Ein ähnliches Problem hatten wir mit den Sicherheitsbeamten, die mich so nicht ins Flugzeug lassen wollten. „Das ist bloß Farbe.“, log ich die Beamten dreist an und spürte sofort das bekannte Ziehen in der Magengegend – ich hasste es, zu lügen. „Und die ist schon längst trocken.“ Daraufhin wurden unsere Taschen nach sämtlichen Farben durchsucht, damit wir im Flugzeug auch bloß keinen Unsinn damit anstellten. Idioten!, dachte ich nur, als ich blutverschmiert im Flieger saß und langsam weg döste. Dank der Zeitverschiebung war es fast halb drei Uhr nachts, als wir im Death Room standen und unseren Missionsbericht ablieferten. Die Death-Scythe, die, wie ich mitbekommen hatte, Makas Vater war, bekam fast einen Herzinfarkt, als er mich sah. „Keine Panik.“, versuchte ich ihn irgendwie zu beruhigen. „Das ist nicht mein Blut.“ Fassungslos starrte er mich an, irgendwie war meine Beruhigungstaktik nach hinten los gegangen. Naja, auch egal... „Wie schön, dass ihr in einem Stück wiedergekommen seid.“, freute sich der Totengott. Hatte er etwa etwas anderes erwartet? „Und ich gratuliere euch zu eurer ersten Seelenresonanz. Das muss mit einer so störrischen Seele wie deiner ganz schön schwierig gewesen sein, oder, Ray?“ Beleidigt zuckte eine meiner Augenbrauen. So störrisch war ich doch überhaupt nicht! „Aber du solltest trotzdem deine Wunde untersuchen lassen, nicht, dass sie sich noch entzündet.“, riet er mir. Da Jamie genauso dachte, brachte uns die Death-Scythe uns ins Krankenzimmer, in dem eine dunkelhäutige, bandagierte Frau saß. „Hallo Mira.“, wurde sie von dem rothaarigen begrüßt, den sie völlig ignorierte, als sie mich sah. „Ich hab 'nen Kratzer an der Schulter.“, erklärte ich. „Nur an der Schulter?“, hakte sie misstrauisch nach. „Jaa~“, seufzte ich. „Das Blut ist von dem Minotaurus, den wir erledigen sollten.“ „Setz dich.“ Gehorsam platzierte ich meinen Allerwertesten auf dem Stuhl, den sie heranzog. Meine Strickjacke war wieder heruntergerutscht, sodass Mira einen guten Blick auf meine Wunde hatte. Professionell säuberte sie meinen Oberarm und verband ihn schließlich. Mich wunderte es, dass sie trotz der späten Stunde noch so konzentriert arbeiten konnte. Ich war nämlich hundemüde, und das, obwohl ich den 14-Stunden-Flug durchgeschlafen hatte. „Hoffentlich geht das wieder raus.“, zupfte ich gedankenverloren an meinem Top, als wir nach Hause gingen. Weiß war wirklich nicht besonders gut für Missionen geeignet, im Gegensatz zu meinen braunen Shorts, auf denen man die Blutflecken kaum sah. „Wenigstens hat deine Jacke nichts abbekommen.“, stellte Jay fest. „Auch wenn das ziemlich seltsam ist...“ Schulterzuckend lief ich weiter, bis unser Haus in Sichtweite kam. „Hörst du das?“, wandte ich mich an Jay, als wir im Wohnzimmer standen. „Mein Bett ruft nach mir.“ „Vergiss es.“, hielt sie mich sofort auf. „Erst gehst du unter die Dusche und wäscht dir das Zeug aus den Haaren!“ Ich hatte gar nicht bemerkt, dass das Blut auch in meinen Haaren gelandet war, doch vor dem Badezimmerspiegel traf mich fast der Schlag: Mehr als zwei drittel meines Gesichts waren bedeckt von der getrockneten, rotbraunen Soße, ebenso eins meiner Ohren, der Hals, mein Top sowieso, meine Hände, auf den Beinen einige Spritzer und meine Haare erst! Mein Flechtzopf sah aus wie nach einem Färbeunfall und mein Pony war vollkommen verkrustet. „Hey, Jay!“, rief ich lachend aus dem Bad. „Ich sehe aus, als hätte ich bei 'nem Zombiewalk mitgemacht!“ Es war schon ziemlich makaber, dass ich darüber noch lachen konnte, gerade weil das Blut echt war. Unter der Dusche schrubbte ich angestrengt die krustige Pampe herunter, die sich mit dem Wasser vermischte und fast aussah wie Rotwein. „After my blood turns into alcohol...“, fing ich an, eines von Jamies Lieblingsliedern zu singen. Es war eine dumme, klischeehafte Angewohnheit, denn ich sang immer unter der Dusche. Glücklicherweise tat ich das nur beim Duschen, oder wenn ich ganz sicher allein war, sodass niemand meinem schiefen Gesang ausgesetzt war – auch wenn Jay und meine Brüder es mochten, wenn ich sang. Warum auch immer. Langsam nahm das Wasser wieder seine ursprüngliche, durchsichtige Farbe an und ich konnte mir sicher sein, dass ich sauber war. Noch dazu roch ich wie eine Lavendelfarm, als ich aus der Dusche stieg und mich abtrocknete. Ich mochte Lavendel, nicht zuletzt, weil mir keine andere Wahl blieb. Jay hatte nämlich schon vor Jahren festgelegt, dass ich nach Lavendel riechen sollte – allein schon, weil Lavendel eine beruhigende Wirkung auf meine impulsive Seele hatte – und was Düfte anging, ließ sich nicht mit ihr verhandeln. Infolge dessen dufteten mein Shampoo, Duschgel, alle möglichen Cremes, die ich kaum benutzte, und sogar mein Waschmittel danach. Das einzige, das nicht nach Lavendel roch, war meine Zahnpasta, denn da ließ ich nicht mit mir verhandeln. Ich legte nämlich großen Wert auf Mundhygiene und es gab für mich nichts schlimmeres als Mundgeruch oder Karies...oder angefaulte Zähne. „Bwah!“, schüttelte es mich bei dem Gedanken daran. Zwar mussten Zähne nicht so strahlend weiß sein, das andere beim Lächeln fast blind wurden, aber wenn mir mein Gesprächspartner eine Mischung aus Schwefel- und Zwiebelgeruch entgegen hauchte – Urgs. Zum Glück war Jamie in dieser Hinsicht der selben Meinung wie ich: Mundgeruch war abartig. Sauber, gut duftend und endlich trocken ging ich schlafen und wachte erst auf, als ich den Geruch von Pfannkuchen wahrnahm. Noch im Halbschlaf tapste ich die Treppe herunter und fand meine Partnerin in der Küche vor.Auf den Herdplatten brutzelten Speck, Rührei und Pfannkuchen, im Backofen entdeckte ich einen Apfelkuchen, der Esstisch war belagert von verschiedenen Obstsalaten, Müsli, frischen Brötchen und allerlei Teekannen und auf der Arbeitsplatte presste Jay gerade mehrere Orangen aus. „Was ist denn hier los?“, fragte ich sie skeptisch. Normalerweise kochte sie nur so viel, wenn sie irgendwelche neuen Rezepte ausprobierte und nicht daran dachte, wer das alles essen sollte. Und so etwas machte sie eigentlich nur, wenn irgendwelche Tests vor der Tür standen und sie im Prüfungsstress war – beim Kochen konnte sie sich abreagieren. „Wir bekommen Besuch.“,klärte sie mich auf. Erleichtert atmete ich aus. Zum Glück schrieben wir wohl doch keinen Test.Moment mal....„Besuch?!“ Wer um Himmelswillen wollte uns an einem Sonntagmorgen besuchen? „Ich habe Maka und Soul zum Frühstück eingeladen.“, erwiderte sie, als sei es völlig normal. „Warum denn das? Und warum überhaupt? Und warum sagst du mir so was nicht früher?“ Genervt seufzte sie. „Erstens: Am Donnerstag in der Schule, als du wegen Kid abgezischt bist. Zweitens: Weil ich sie nett finde und drittens: Ich habe es dir im Flugzeug gesagt, als wir nach Kreta geflogen sind.“ „Okay, na gut, aber im Flugzeug hab ich geschlafen!“ „Ich weiß.“, meinte sie grinsend. „Aber gesagt habe ich es dir trotzdem.“ Fassungslos starrte ich sie an, seit wann war sie so hinterhältig? „Das zählt nicht.“, stellte ich mich stur. „Außerdem hatten wir abgemacht, dass wir zusammen entscheiden, wen wir zu uns einladen.“ „Du hättest es doch eh nicht erlaubt.“ „Sehr richtig!“ „Jetzt ist es sowieso zu spät, also stell dich nicht so an.“, blieb sie ruhig. Eingeschnappt ging ich weder nach oben und warf mir ein bequemes, schwarzes Sommerkleid über – im Schlafshirt würde diese Aktion schließlich nur noch schlimmer werden. Geschniegelt und Gestriegelt kam ich im Wohnzimmer an, wo Jay jetzt hektisch die Küche putzte. „Wann kommen denn Maka und -“ „SCHRILL!“ „...hat sich erledigt.“ Schnell sprang Jamie zum Knopf der Gegensprechanlage und öffnete so die Haustür. Kurze Zeit später standen unsere Gäste auch schon im Wohnzimmer und bestaunten den reich gedeckten Esstisch. „Hmm, das riecht wirklich lecker.“, meinte Maka, nachdem wir uns an den Tisch gesetzt hatten. Ihre Waffe nickte zustimmend, doch bevor noch irgendjemand etwas sagen konnte, klingelte es erneut an der Tür. „Jay...“, funkelte ich sie sauer an. „Wer ist das?“ „Unser Besuch.“, tat sie unschuldig, als sie die Tür öffnete. Herein kamen Liz, Patty und - „Das ist doch nicht dein - !“ „Reg dich ab und bleib sitzen.“ Ich wusste nicht, auf was ich wütender sein sollte: Dass unser Besuch nicht nur aus Maka und Soul bestand, oder dass es hier war. „Jay...“, knurrte ich wütend, als es schon wieder klingelte. Diesmal waren es Tsubaki und Black*Star, der uns mit einem lauten 'Yahoooo!' begrüßte. „Willst du mir noch irgendetwas sagen?“, sah ich meine Partnerin finster an. „Jetzt nicht mehr.“, lächelte sie bloß. Sie wusste genau, dass ich Besuch nicht ausstehen konnte und die Tatsache, dass sie fünf unserer Gäste verschwiegen hatte, machte es auch nicht besser. Rückblickend hätten mich die vielen Teller und Tassen auf dem Tisch stutzig machen müssen... Ich saß zwischen Maka und Tsubaki, mit dem Fenster im Rücken und gegenüber von ihm. „Und, wie war eure erste Mission?“, wollte Patty von mir wissen, die meine schlechte Laune offenbar nicht bemerkte. „Blutig.“, antwortete ich einsilbig. Als sich Liz an ihrem Kaffee verschluckte, fiel mir die unglückliche Wortwahl am Frühstückstisch auf. Ups... „Was ist denn passiert?“, kam es besorgt von Maka. Bevor ich antwortete, überlegte ich mir, wie ich unsere Mission zusammenfassen sollte und entschied mich für die zensierte Version. „Wir sollten den Minotaurus von Kreta besiegen, nur hat der geblutet wie ein abgestochenes Schwein und mich vollge-“, ich unterbrach mich, als ich Liz' Gesichtsausdruck bemerkte. So viel zum Thema Zensur... „Naja, ich war danach eben voller Blut.“ „Na lecker.“, kommentierte Soul meine Erklärung. „Lebt der Minotaurus nicht in einem Labyrinth, aus dem man ohne Hilfe nicht mehr herausfindet?“, fragte Maka. „Lebte.“, verbesserte ich sie. „Und ja, wir waren in dem Labyrinth, aber wir haben auch ohne Hilfe herausgefunden.“ „Dann habt ihr ja ziemliches Glück gehabt.“, stellte Tsubaki fest. Pfft, Glück... „Und was ist mit deinem Arm?“, bemerkte Liz den Verband. „Nur ein Kratzer.“, wank ich ab. „Der Minotaurus hat mich mit einem seiner Hörner erwischt, als ich ausweichen wollte.“ „Hattest du denn keine Albträume?“, hakte sie nach. „Wovon denn? Von einem gruseligen Stiermenschen? Das ist doch...“, ich zwang mich, nicht loszulachen. „Albträume sind nur war für verängstigte, kleine Mädchen.“ „Aber du hast zum ersten Mal ein Lebewesen getötet! Macht dir das etwa gar nichts aus?“ „Warum sollte es?“, gab ich uneinsichtig zurück. „Es war schließlich unsere Aufgabe. Außerdem ist etwas, das kleine Kinder frisst oder andere, grausame Dinge tut, in meinen Augen kein Wesen, das es wert ist, am Leben zu bleiben und ich hab so was ja nicht zum ersten Mal -“, erschrocken unterbrach ich mich. Geschockt starrte sie mich an. Mist, das hätte ich nicht sagen sollen! „Du hast also schon jemanden getötet?“, sah mich der Totengott misstrauisch an. „Jemanden, etwas...das kommt auf die Definition an.“, rührte ich unbeteiligt in meinem Tee. „Welche Definition?! Jedes Leben ist gleich viel Wert -“ „Boah!“, unterbrach ich seine Moralpredigt. „Wenn du nicht weißt, wovon du redest, solltest du deine Klappe halten!“ Was sollte dieser Mist von wegen 'jedes Leben ist gleich viel Wert'? Sollte Jamies Leben etwa genau so wenig Wert sein wie das von einem Kishinei? Was dachte sich dieser Typ überhaupt! „Wie bitte?“, funkelte er mich an. Als ob ich nicht wüsste, dass er ein Totengott ist! „Tu nicht so, als hättest du die Weisheit mit Löffeln gefressen! Ich weiß selbst, dass ein Leben wertvoll ist, aber du kannst unmöglich alle Lebewesen dieser Erde in einen Topf werfen! Extreme Situationen erfordern extreme Maßnahmen, und außerdem geht es dich überhaupt nichts an, was ich in meinem Leben getan habe.“ „Aber jetzt weiß ich es, und als Shinigami sollte ich erfahren, wessen Leben du genommen hast.“ „Gleich wird es deins sein, wenn du so weitermachst!“, drohte ich. „Oho.“, giggelte Patty im Hintergrund. „Diese Sache geht nur mich und deinen Vater etwas an, Stripes.“, versuchte ich, mich unter Kontrolle zu bekommen. Gruselig war nur, dass ich jetzt wie seine böse Stiefmutter klang... „Wenn er es dir nicht gesagt hat, sollst du es wohl nicht wissen.“ Sauer sah er mich an, sagte aber nichts mehr. Er wusste, dass ich Recht hatte, auch wenn ihm das nicht gefiel. Ich war nur froh, dass mir nicht herausgerutscht war, dass Jamie bescheid wusste. Ich wollte nicht, dass sie irgendjemand mit dieser Sache belästigte. „Also...“, lenkte Tsubaki von Thema ab. „Ihr habt eine wirklich schöne Wohnung.“ „Ja, bis auf die Klingel.“, ging ich darauf ein. „So schlimm ist die doch gar nicht.“, versuchte Jay, meine Meinung zu ändern. Sie hatte wohl immer noch bedenken, mich sie umbauen zu lassen. „Was machen die Stecknadeln in der Karte?“, runzelte Maka die Stirn. „Die zeigen an, wo wir schon gewesen sind.“, erklärte Jay und sprang im nächsten Moment auf, als hätte sie etwas gebissen. „Wir haben Kreta noch nicht markiert!“ „Na und? Dazu haben wir doch noch Zeit.“ Mich ignorierend lief sie zur Karte, um zu tun, was getan werden musste. Als wir fertig gefrühstückt hatten – kaum zu glauben, aber dank Black*Star war nichts übrig geblieben – blieben unsere Gäste noch. Von der Hoffnung, sie schnell loszuwerden, musste ich mich wohl verabschieden. Stattdessen wurde unsere Wohnung besichtigt, was ich zum Anlass nahm, mich in meinem Zimmer zu verkriechen. Gerade, als ich mich in mein Bett gesetzt und zum gefühlt hundertsten Mal den 'Hobbit' lesen wollte, ging meine Zimmertür auf. „Und das ist Rays Zimmer.“, schloss meine Partnerin den Rundgang ab. „Du hast ja auch ein Ankleidezimmer!“, betrat Liz schwärmend den Nebenraum. Leicht genervt beobachtete ich die anderen, die sich genauso neugierig in meinem Zimmer umsahen. Maka saß vor dem Regal neben meinem Bett und nahm meine Bücher unter die Lupe, Soul hatte meine CD-Sammlung entdeckt und Tsubaki, Black*Star und Patty sahen sich meine Schwerter an. Misstrauisch sah ich Stripes dabei zu, wie er mit zuckender Augenbraue meine Spiegelwand betrachtete. Natürlich hingen die Spiegel dort ohne jegliche Ordnung, aber mir gefiel es so. Langsam streckte er seine Hand nach einem der Spiegel aus. „Tu es und du verlierst deine Hand.“, warnte ich ihn und sofort zog er seine Hand zurück. Er drehte sich um und tat, als wäre nichts gewesen. „Du stehst auf Spiegel?“, stellte er monoton fest. „Ich stehe auf alte Spiegel.“, korrigierte ich ihn. „Und auf klassische Musik.“, meldete sich Soul vom Schreibtisch. „Und auf Computerkram.“, mischte sich auch Black*Star ein. „Und auf Schwerter.“, kam es von Tsubaki. „Und auf Tanktops.“, meinte Liz, die aus meinem 'Kleiderschrank' zurückkam. „Und auf Fantasy-Romane.“, machte auch Maka bei der Aufzählung mit. „Du bist ein Nerd.“, fasste Patty kichernd zusammen. Hatten wir das nicht schon? Genervt sah ich in die Runde. „Ihr verschwindet jetzt alle aus meinem Zimmer, klar?“ „Oooch.“, antwortete mir ein enttäuschter Chor, gefolgt von einigen 'Warum denn?'s und einem 'Ich will aber nicht'. „Schön.“, erwiderte ich angenervt. „Dann stelle ich euch eine Frage, und jeder, der sie nicht richtig beantworten kann, geht wieder ins Wohnzimmer, klar?“ Ich fühlte mich, als würde ich mit Kleinkindern verhandeln... Da niemand etwas gegen diesen Deal hatte, sprach ich die Frage aus. „Was habe ich in meiner Tasche?“ „Nichts.“, riet Black*Star wild ins Blaue. „Falsch.“, antwortete ich. „Dein Kleid hat gar keine Taschen!“, fiel es Liz auf. „Darauf bezieht sich die Frage auch nicht. Viel Spaß im Wohnzimmer.“ Mit Liz gingen auch die anderen, bis nur noch Maka und Stripes bei mir waren. Da ich mir nicht vorstellen konnte, dass der Totengott die Antwort wusste, fragte ich in danach. „Der eine Ring.“, kam die überraschenderweise richtige Antwort. Woher wusste er das? „Da du offenbar ziemlich auf den 'Herrn der Ringe' abfährst und noch dazu gerade den 'Hobbit' liest, war das offensichtlich.“, erklärte er. „Schön, du darfst trotzdem nicht hierbleiben.“, blieb ich stur. „Die Antwortet war doch richtig?“, sah er mich nachdenklich an. „Nicht ganz.“, übernahm Maka das Wort. „Im 'Hobbit' wusste Gollum die Antwort nicht, dass es der Ring war, hat er erst danach gemerkt.“ HA!, jubelte ich in Gedanken. Maka war auf meiner Seite – zumindest für den Moment. Genervt verließ der Totengott mein Zimmer, und Maka versank gerade im 'Song of Ice and Fire'. Perfekte Bedingungen also, den 'Hobbit' zu lesen. „Hey Ray.“, steckte Soul seinen Kopf durch die Tür, als ich gerade mal fünf Seiten geschafft hatte. „Dürfen wir deinen Spielstand bei Zelda löschen?“ „Was?!“, rief ich erschrocken. „Jamie hat gesagt, wir sollen dich fragen...“ Bevor er zu Ende gesprochen hatte, war ich schon an ihm vorbei ins Wohnzimmer gestürmt. Mit einem wilden Schrei stürzte ich mich auf Black*Star, der kurz davor war, meinen Link ins Nirwana zu schicken. Zufrieden strich ich mir meine Haare hinter mein Ohr, als ich meinen quietschgrünen Controller an mich gebracht hatte. „Das war echt unnötig...“, kam es gequält stöhnend von Black*Star, dem ich dorthin getreten hatte, wo es richtig wehtat. „Diese manifeste Gewaltbereitschaft...“, seufzte Jay bloß. „So ist das Leben.“, zuckte ich mit den Schultern. „Außerdem gibt es zwei Spielstände, also müsst ihr meinen nicht löschen.“ „Gehörte der zweite nicht Charlie?“, erinnerte sich Jay. „Schon, aber ihm wurde es zu heftig, sobald er aus dem Dorf kam.“ „Charlie ist doch einer deiner Brüder, richtig?“, hakte Tsubaki nach. „Jap, er ist der mit der größten Klappe und ist schon seit fast acht Jahren mit seiner Freundin zusammen und hat ihr immer noch keinen Antrag gemacht, weil er sich nicht traut. Er ist 'ne richtige Pussy.“, fasste ich zusammen. „Dürfen wir jetzt Zelda spielen?“, quengelte Black*Star. „Nur, wenn ihr den anderen Spielstand benutzt.“ „Geht klar!“, kam es simultan von ihm und Soul, und schon saßen die beiden vor dem Fernseher. „Link ist fast so cool wie ich!“, behauptete Black*Star nach einer Weile. „Pah!“, machte ich. „Du bist nicht mal halb so cool wie Link.“ „Wie kommst du denn darauf?“, fragte er skeptisch. „Link redet nicht.“ Leise kicherten die Mädchen im Hintergrund, nur Stripes mimte den stillen Denker. Stunden später, als die Sonne schon unterging, saß ich nach wie vor mit Soul und Black*Star vor der Konsole. Was Jay und die anderen machten, blendete ich vollkommen aus, denn ich war mit dem Kopf in Hyrule. „Stirb, du Scheißviech!“, verfluchte Soul einen Endgegner. „Benutz' den Bumerang!“, befahl ich ihm. In gewisser Weise kam ich mir vor, wie die sprechende Variante des Lösungsbuchs, denn ohne meine ständigen Hinweise hätten sie es nicht mal bis zum ersten Bossgegner geschafft. „Ray?“, holte mich die Stimme meiner Partnerin in die Realität zurück. „Hmm?“, versuchte ich ihr zuzuhören und die Kampfgeräusche neben mir auszublenden. „Die anderen wollen nach Hause.“ „Ja, und?“ Ich verstand nicht, worauf sie hinaus wollte. „Kannst du Soul und Black*Star dazu bringen, mit dem Spiel aufzuhören?“ „Kein Problem.“, meinte ich und stellte mich vor den Fernseher. Sofort protestierten und meckerten die beiden, ich wäre ein Spielverderber. „Also.“, blieb ich stur vor dem Bildschirm stehen. „Gebt mir den Controller und niemand wird verletzt.“ „Pfft.“, lachte der blauhaarige. „Als ob du uns verletzen könntest!“ Streng sah ich ihm in die Augen. „Den Controller. Sofort.“ Er schluckte und sah mich mit großen Augen an – der legendäre Hundeblick. Ich hätte nie erwartet, dass er diesen Blick beherrschte, und dann auch noch so gut. Dumm für ihn, dass mir dieser Blick nichts ausmachte, war ich doch von meinen Brüdern daran gewohnt. „So-fort.“, verlangte ich gefährlich ruhig und streckte fordernd meine Hand aus. Geschlagen seufzte er und gab mir den Controller. „Du bist echt gruselig.“, murrte er, was ich komplett ignorierte. „Hey.“, drehte ich mich grinsend zu Maka und Tsubaki um. „Ihr könnt eure Jungs jetzt aus dem Kinderparadies abholen.“ „Pfft.“, gaben die benannten nur motzig von sich. Wenige Augenblicke später war der Spuk auch schon vorbei und ich war wieder mit Jamie allein. „Was habt ihr eigentlich die ganze Zeit gemacht?“, wollte ich von ihr wissen. „Wir haben Monopoly gespielt. Patty hat gewonnen.“, erklärte sie müde. „Was ein ganz schön langes Frühstück, hmm?“ „Und wie~“, warf sie sich erschöpft auf die Couch. „Ich glaube, ich gehe ins Bett.“ „Jetzt schon? Es ist doch erst...“, ich ward einen blick auf meine Armbanduhr. „DREI UHR FRÜH?!“ „Du hast deine Uhr noch nicht umgestellt.“, erinnerte sie mich. „Es ist sieben.“ „Oh.“, machte ich peinlich berührt und stellte endlich die Uhr richtig ein. Was soll's, dachte ich. Shit happens. Kapitel 4: Ein Licht in der Nacht --------------------------------- Der Montagmorgen begann mit Kunst und dem dazugehörigen Banausen. Niemand außer diesem Totengott schaffte es, mich in weniger als einer Minute auf 180° zu bringen. Dafür hätte er einen Orden verdient – oder einen Tritt in den Hintern. Zumindest sah sein X – ich weigerte mich, die paar Striche als Sanduhr zu bezeichnen – am Ende der Stunde wie eine kantige 8 aus. Er hatte es geschafft, in 45 Minuten Unterricht zwei Striche auf die Leinwand zu bringen – eine Meisterleistung! Meine Hoffnungen auf die zweite Stunde – Physik – wurden knallhart enttäuscht, denn wir redeten bloß über das Osterfest, das am kommenden Wochenende stattfinden sollte. Die Shibusen organisierte eine Feier, was fast jedes Mädchen durchdrehen ließ. Fast jedes deswegen, weil mich Partys im allgemeinen einen feuchten Dreck interessierten.Das einzig Gute, was ich an diesem Gerede fand, war, dass auch Seelenkunde so ausfiel. „Ray, weißt du schon, was du anziehen wirst?“, sprach mich die ältere der Thompson-Schwestern an. „Wahrscheinlich gar nichts.“, meinte ich desinteressiert. Schockiert sah sie mich an. „Du...du kannst doch nicht...ich meine...“ „Ich meinte damit, dass ich nicht hingehen werde.“, klärte ich sie auf. „Du musst aber!“, mischte sich jetzt Jay ein. „Du kannst mich doch nicht alleine bei einem Haufen fremder Leute lassen!“ „Huh?“, machte ich blinzelnd, als mir klar wurde, dass sie Recht hatte. Zwar kannten wir Maka und die anderen, aber diese Schule war groß und wir kannten nicht mal einen Bruchteil der gesamten Schülerschaft – was auch ziemlich unrealistisch wäre. Jamie war noch nie jemand gewesen, der freiwillig auf andere Leute zuging oder es nichts ausmachte, wenn man fast niemanden kannte. Schüchtern, so würden sie die meisten Menschen wohl bezeichnen, aber ich wusste, dass sie schlichtweg Angst hatte. Und deswegen konnte ich sie nicht alleine lassen. „Ich denke, dir würde ein Etuikleid gut stehen.“, meinte Liz, als klar wurde, dass ich doch zum Fest gehen würde. Verwirrt sah ich sein an. Was war bitte ein Etuikleid? „Sie weiß doch überhaupt nicht, was ein Etuikleid ist.“, bemerkte Stripes herablassend. „Ach, du etwa?!“, erwiderte ich sauer. „Natürlich. Ein Etuikleid ist ein enges, figurbetonendes Kleid ohne Taillennaht, es ist ärmellos, normalerweise knielang und der Ausschnitt ist meistens waagerecht, rund oder spitz und hat keinen Kragen.“ „Wow.“, machte ich unbeeindruckt. „Du bist ja ein richtiges Mädchen.“ Sofort regte er sich auf. „Im Gegensatz zu dir weiß ich wenigstens, wie man sich zu gehobenen Anlässen richtig kleidet!“ „Oh bitte, das ist 'ne Schulveranstaltung! Niemand erwartet von dir, im Ballkleid aufzutauchen, Prinzessin.“ Die verhaltenen Lacher im Hintergrund verstummten, als die 'Prinzessin' ihren mörderischen Giftblick aufsetzte. „Leute...“, versuchte sich Liz als Streitschlichterin. „Kommt mal wieder runter...“ „Es ist nicht meine Schuld, dass sie keinen Anstand besitzt.“, wetterte der Totengott weiter. „Als ob du die personifizierte Höflichkeit bist!“, ging ich darauf ein. „Ich bin beeindruckt. Du kennst das Wort 'personifiziert' und kannst es in einem Satz benutzen.“ „Gleich verliert einer ein Auge.“, kicherte Patty dazwischen. „Dein Charme reißt einen ja richtig vom Hocker, Prinzessin. Haben dir das deine Kindermädchen beigebracht?“ „Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen.“, sinnierte er. „Das sagt ja gerade der richtige!“, regte ich mich weiter auf. „Tu nicht so, als wärst du der geborene Moralapostel!“ „Im Vergleich zu dir bin ich schon fast ein Heiliger!“ „Bis einer weint.“, seufzte Jamie. „Das ich nicht lache! Da, wo ich herkomme, würdest du nicht mal die Ritterwürde bekommen!“ „Da, wo du herkommst? Du meinst den Schweinestall mitten im Nirgendwo, Bauerntrampel?“ Düster verengte ich meine Augen zu Schlitzen. Beleidigte er jetzt etwa mein Heimatland? „Besser, als in einem Land zu leben, das sich aufführt, als wäre es die Spitze der Schöpfungsgeschichte! Für wen hältst du dich eigentlich?“ „Ich bin ein Gott, falls du das vergessen hast.“ „Oh Wahnsinn, soll ich mich jetzt auf den Boden werfen und dich anbeten? Für mich bist du nichts anderes als ein verzogenes Muttersöhnchen, das Angst davor hat, etwas Falsches zu tun!“ „Immerhin halte ich mich an die Regeln und töte niemanden, der nicht auf der Liste meines Vaters steht!“, fing er wieder mit unserem gestrigen 'Frühstücksgespräch' an. „Ich habe nie behauptet, mich an die Regeln zu halten!“, schrie ich ihn an. Er hatte kein Recht, mich für etwas zu verurteilen, womit sein Vater kein Problem zu haben schien. „Dann kannst du dich genauso gut den Hexen anschließen!“ „MAKA-CHOP!“ Ein gleißender Schmerz explodierte in meinem Kopf, während ich benommen auf meinen Tisch sank. Maka hatte einen ziemlichen Schlag drauf... Der Totengott schien ebenfalls ein Buch auf den Schädel bekommen zu haben, denn er hing halb bewusstlos auf seinem Stuhl. Ha, Gerechtigkeit! Bis zum Literatur-Unterricht in der vierten Stunde ignorierte man mich und Stripes erfolgreich, obwohl wir die ganze Zeit still blieben. Marie-sensei hielt ihren Vortrag über Shakespeares 'Mitsommernachtstraum' und die Klasse lauschte ihr mehr oder weniger aufmerksam. Anschließend folgte eine Doppelstunde Mathe, in der ich mich durch gelangweiltes Seufzen nicht gerade beliebt bei Doktor Stein machte. Es war das selbe Thema, das wir schon in England durchgekaut hatten und ich sah keinen Sinn darin, es noch einmal zu lernen, schließlich konnte ich es noch. In der Mittagspause verabredeten wir Mädchen uns, am Donnerstag zusammen für das Osterfest Shoppen zu gehen – ob ich mit wollte oder nicht, spielte keine Rolle, denn dank Jay musste ich mit. Der Chemieunterricht in der siebten und achten Stunde wurde vorzeitig beendet, nachdem Black*Star eine selbst zusammen gemixte, funktionsfähige Stinkbombe gezündet hatte. Jungs und ihr Humor... „Hey.“, sprach ich auf dem Heimweg meine Partnerin an. „Muss ich am Donnerstag wirklich mitkommen? Sonst gehst du doch auch ohne mich einkaufen.“ „Aber du brauchst doch auch etwas passendes.“, erwiderte Maka. „Nicht unbedingt. Ich kann auch zu Hause bleiben.“ „Vergiss es.“, gab Liz ihre Meinung kund. „Du wirst ganz sicher nicht zu Hause herum sitzen, während in der Shibusen gefeiert wird!“ „Ich sehe trotzdem nicht ein, warum ich Donnerstag den Shoppingwahn hautnah miterleben muss. Jay sucht sowieso immer meine Sachen aus.“ „Warum das denn?“, kam es verwirrt von der magischen Waffe. „Weil ich Shoppen hasse und Jay fast immer meinen Geschmack trifft.“ „Du kommst trotzdem mit.“, bestimmte Maka. „Das wird sicher lustig.“ Ergeben seufzte ich. Wie sollte ich schon gegen fünf Mädchen ankommen? „Wenn du brav bist, backe ich dir auch deine Lieblingsbrownies.“, ködere mich Jay. Und mit brav meinte sie in meinem Fall: keine Schlägerei, weder verbal noch körperlich, und kein Gemecker und Gemotze. „Na gut.“, stimmte ich zu. „Aber du machst zwei Bleche Brownies.“, verlangte ich, worauf die anderen zu Lachen anfingen. „Kann man dich wirklich mit Brownies ködern?“, kam es skeptisch von Soul. „Nur mit Jamies Brownies.“, antwortete ich. „Und das zieht auch nicht immer.“ „Aber immer öfter!“, lachte meine Waffe. Als wir endlich zu Hause waren, schnappte ich mir den Werkzeugkoffer, der unter der Spüle stand, und schraubte an unserer Klingel herum. Würde mir nämlich noch ein einziges Mal dieses Geschrille zu Ohren kommen, ich schwöre, ich würde wahnsinnig werden. Eine halbe Ewigkeit und mehrere Wutanfälle später spielte unsere Klingel in feinster, englischer Manier die Glockenmelodie des Big Bens. „Bin ich gut, oder bin ich gut?“, fragte ich grinsend meine Partnerin. „Du bist die beste.“, antwortete sie abwesend. Konzentriert saß sie über einem Stapel Papiere. „Was machst du da?“, wollte ich wissen und beugte mich über ihren Schreibtisch, auf dem ich die Papiere als Notenblätter enttarnte. „Grandma will, dass ich lerne, wie man transponiert.“ „Aha.“, machte ich, denn ich hatte keinen blassen Dunst, was transponieren bedeutete. „Und, macht es Spaß?“ „Kein bisschen.“, meinte sie gequält. „Warum legst du dann keine Pause ein und spielst auf deiner Klampfe?“, schlug ich vor. Genervt sah sie mich an. Sie konnte es nicht leiden, wenn ich ihre Gitarre so nannte. Leise seufzte sie. „Ich mach unser Abendessen.“ Am Dienstag versuchten Sid und Mira, die Krankenschwester, uns im Sportunterricht umzubringen. Na gut, uns war nicht ganz richtig, denn die einzigen, die fast zusammenklappten, waren ein blonder, schlaksiger Junge und meine Partnerin. Zum Aufwärmen sollten wir mehrere Runden durch die Halle joggen, aber schon nach der zweiten verfiel Jay in einen langsamen Lauf und schnaufte wie eine alte Dampflok. Anschließend folgten Weitsprung und Hürdenlauf, was sie endgültig krepieren ließ. Um sie zu unterstützen, blieb ich in ihrer Nähe, auch wenn so jeder dachte, wir wären beide die totalen Luschen. „Ist alles in Ordnung mit euch?“, kam Maka auf uns zu. „Nicht wirklich.“, antwortete ich mit einem Seitenblick auf Jamie, die beinahe aus den Latschen kippte. „Jamie, du kannst dich ruhig an den Rand setzen und dich ausruhen, wenn es dir nicht gut geht.“, stand plötzlich Mira hinter uns. Dankbar nickte meine Waffe und stolperte zur Bank. Bei der nächsten Übung wurden Zweierteams gebildet, die keine wirklichen Teams waren, da wir gegeneinander kämpfen sollten – ohne Waffen. Mein Gegner war Soul, der mich offenbar völlig unterschätzte. „Keine Angst, ich schlage auch nicht zu fest.“, meinte er, was vermutlich nett gemeint war. Abfällig schnaubte ich, musste aber grinsen. Im Gegensatz zu Jay war ich ein absolutes Sport-Ass, was nicht zuletzt daran lag, dass ich seit der Grundschule im Kampfsport und seit der Mittelschule zusätzlich im Schwertkampf unterrichtet wurde. Meine Mutter hätte mich zwar lieber beim Ballett- oder Gesangsunterricht gesehen, aber ich war stur geblieben. Meine Brüder gingen schließlich auch zum Kampfsport, warum sollte also ich so etwas nutzloses wie singen lernen? Und wie sollte ich Jamie beschützen, wenn ich nicht kämpfen konnte? Aber abgesehen von meiner Partnerin wusste keiner der anwesenden, wie gut ich kämpfen konnte. Gut, ich hatte den Minotaurus besiegt, aber mit einer magischen Waffe war man auch stärker als ohne. Und dank der letzten dreiviertel Stunde, in der ich meinen Stern erfolgreich unter Jays Scheffel versteckt hatte, erwartete niemand von mir, dass ich Soul oder sonst jemanden auf die Matte befördern konnte. Der Anpfiff ertönte und schon sauste Souls Faust auf mich zu. Geschickt duckte ich mich und schlug mit meiner Faust gegen seine Brust – direkt auf den Solarplexus. Vor Schmerz stöhnte er auf, versuchte aber im nächsten Moment wieder, einen Treffer zu landen. Wieder wich ich aus und ließ meine Handfläche gegen sein Ohr krachen. Er ging K.O. zu Boden. „Alles okay, oder war das zu fest?“, sprach ich ihn grinsend an. „Oh Mann...“, stöhnte er nur und setzte sich auf die Bank. Die Kampfübung schien nach dem K.O.-Prinzip abzulaufen: jeder, der verlor, schied aus. Mein nächster Gegner war Kim, ein Mädchen mir rosa Haaren und scheinbar Ox' Angebetete, wie ich mitbekommen hatte. Kim schien einiges drauf zu haben, denn sie steckte einige meiner Schläge nahezu problemlos weg. Doch nach einigen Minuten machte sie einen Schrittfehler, den ich ausnutzte und sie zu Fall brachte. Mein dritter Gegner war Patty, die kein bisschen erschöpft und verdammt schnell war. Es machte Spaß, ihren Schlägen in diesem Tempo auszuweichen und zurückzuschlagen. Einige Treffer musste ich einstecken, bis ich es schaffte, sie aus dem Gleichgewicht zu bringen und ihr die Füße wegzog. Sieg Nummer drei. Der nächste Kampf würde wohl der letzte sein, denn der Unterricht war fast vorbei. Außer mir waren noch Black*Star, Kilik und Stripes übrig, Maka wurde vor zwei Runden von Patty besiegt. Ich war froh, als Sid Black*Star zu meinem Gegner machte, denn auf einen Kampf gegen den Totengott hatte ich keine besondere Lust. Selbstsicher stellte sich Black*Star mir gegenüber und ich war mir sicher, dass das ein harter Kampf werden würde. Aber genau deswegen freute ich mich auch so darauf. Man konnte sich schließlich nur verbessern, wenn man sich mit den besten maß, und der blauhaarige schien zu den besten zu gehören. Die Frage war nur, wer von uns der bessere war. „Ray!“, feuerte mich meine Waffe an, bevor der Kampf überhaupt angefangen hatte. „Denk an Mozart!“ Verwirrt sahen die anderen sie an, ebenso mein Gegner. „Was meint sie damit?“, wollte er wissen. „Das sage ich dir später.“, zwinkerte ich ihn an, wusste ich doch genau, was Jamie meinte. Sie hatte nämlich schon vor einer ganzen Weile herausgefunden, dass ich wesentlich besser kämpfte, wenn ich dabei Musik hörte oder, wie in diesem Fall, sie in meinem Kopf hatte. „Los geht’s!“, rief Mira und schon musste ich mich unter Black*Stars erstem Schlag wegducken. Den nächsten fing ich mit einer Hand ab, hielt seine Faust fest und zog ihn in meine Richtung. Dabei duckte ich mich und warf ihn so über meine Schulter auf den Boden. Noch im Fallen drehte sich mein Gegner, sodass er auf seinen Füßen landete, und feuerte eine Salve Schläge auf mich ab, denen ich tänzerisch auswich oder mit meinen Unterarmen abfing. Dabei musste ich mich jedoch rückwärts bewegen,, weil Black*Star mir immer näher kam. Kurzerhand machte ich einen halben Rückwärtssalto, wobei ich nach meinem Gegner trat, und landete auf meinen Händen. Ich drückte mich vom Boden ab und machte mehrere Flickflacks, schlug Räder und versuchte so, meine Gegenüber zu erwischen. Geschickt wich er meinen Tritten und Schlägen aus, bis ich in die Luft sprang, in der ich eine Schraube drehte. Ich landete neben meinem Gegner und nutzte meinen Schwung, um mit einem kräftigen Tritt seine Seite zu treffen. Unser Kampf zog sich in die Länge, doch wir hörten nicht auf, selbst dann nicht, als die Schulglocke ertönte. Ich wich seinen Schlägen aus, er parierte meine. Black*Star war ein Instinktkämpfer, so wie ich, und es war fast so, als würden wir tanzen. Ich verlor den Kampf, als einer seiner Schläge meine Schulter traf und eine unglaublichen Schmerz explodieren ließ. Fluchend versuchte ich, mich wieder aufzurappeln. „Mann, was war das denn?“, hielt ich mir die Schulter – der Schmerz war genauso schnell verschwunden, wie er gekommen war, doch jetzt war ich total erledigt. „Er hat dich mit seinen Seelenwellen direkt angegriffen.“, klärte mich Jay auf, die plötzlich bei mir war. Mit seinen Seelenwellen? Wie ging das denn? Ich sollte dringend besser in Seelenkunde aufpassen... Vor meiner Nase tauchte eine Hand auf, die zu dem blauhaarigen gehörte. Ohne lange zu zögern nahm ich sie und er zog mich auf die Füße. „Du bist echt gut.“, grinste er mich breit an. „Hmm...Danke...“, nuschelte ich leicht verlegen – ich mochte keine Komplimente. „Aber ich bin besser!“, lachte er. Angefressen blies ich meine Wangen auf. Das lag nur an diesem Seelenwellen-Mist! Trotzdem musste ich zugeben, dass er verdammt gut war. „Machen wir das nochmal?“, schlug ich ihm vor. „Bist du irre?!“, mischte sich Jay ein. „Vielleicht ein bisschen.“, grinste ich sie an. „Klar.“, beantwortete Black*Star meine Frage. „Sag einfach Bescheid, wann ich dich vermöbeln soll.“, lachte er wieder. Spinner, dachte ich nur. Aber es würde ein gutes Training sein, öfter gegen ihn zu kämpfen. Als wir nach dem Duschen auf dem Weg zum Geografieunterricht waren, liefen Jamie und ich am schwarzen Brett vorbei, an dem die Missionen aushingen. Neugierig blieb ich davor stehen, als mir etwas interessantes ins Auge fiel. „Sieh mal!“, hielt ich das Blatt meiner Waffe unter die Nase. „Kanada?“, las sie verwirrt. „Jepp, da soll man sich um einen Riesen kümmern. Klingt doch gut, oder?“ „Wir hatten doch erst am Wochenende eine Mission...“, entgegnete sie. „Na und? Wer weiß, wann wir das nächste Mal aus dieser Wüste herauskommen. Und es ist Kanada! Weißt du, was das bedeutet?“, rief ich fröhlich. „Dass wir warme Sachen einpacken müssen?“ „Genau! Da ist es arschkalt!“, freute ich mich wie ein Schneekönig. Geschlagen seufzte sie. „Und wann soll es losgehen?“ „Jetzt sofort.“, legte ich fest und ging zu der Dame hinter dem Anmeldetresen, die den Bogen abstempelte. „Aber wir haben noch Unterricht!“, waren Jays Einwände. „Ist doch bloß Geografie...“, meinte ich. „Und Bio und Geschichte!“ „Als ob wir da was verpassen würden. Geo können wir, das Geschichtsthema hatten wir schon X-mal und in Bio wird eh nur seziert.“, zählte ich auf. Ergeben ließ sie die Schultern hängen. „Aber Maka hat unsere Sachen schon mit in die Klasse genommen...“, versuchte sie es ein letztes Mal. „Dann holen wir die eben.“ Gesagt, getan – mehr oder weniger. Denn als wir im Klassenraum ankamen, hatte der Unterricht schon begonnen und wir wurden blöd angestarrt. Ich straffte meine Schultern und schritt auf meinen Platz zu, um unsere Taschen zu holen, während Jamie im Türrahmen stehen blieb. Als ich wieder unten ankam und Richtung Tür lief, wurde ich von Sid aufgehalten. „Wo wollt ihr denn hin?“ „Auf Mission.“, antwortete ich und machte mich auf seine Einwände gefasst. „Mitten im Unterricht? Glaubt ihr nicht, dass ihr da etwas verpasst?“, fragte er skeptisch. „Wie wärs mit einem Deal?“, schlug ich vor. „Sie stellen uns fünf geografiebezogene Fragen, und wenn wir alle richtig beantworten, lassen Sie uns gehen. Sollten wir eine Frage falsch oder gar nicht beantworten, bleiben wir bis zum Unterrichtsschluss.“ „Einverstanden.“, nickte unser Lehrer. „Welches ist das flächengrößte Land der Welt?“ „Russland.“, antwortete ich sofort. Er nickte. „Wie heißt der längste Fluss Europas?“ „Das ist die Wolga.“, sagte Jay. „Wo liegen die Victoriafälle?“ „Zwischen den Städten Victoria Falls in Simbabwe und Livingstone in Sambia.“, war meine Antwort. „Und wo sieht man die Polarlichter?“ „Ungefähr ab 66,5° nörlicher und südlicher Breite.“, antwortete Jay. „Gut, und wie heißt die Hauptstadt von Usbekistan?“ „Taschkent.“, kam es in Chor von uns. Überrascht sah er uns an. Tja, wenn man die Welt bereisen wollte, musste man sich in ihr auch auskennen. Ein paar Stunden später befanden wir uns in Yellowknife, einer der nördlichsten Städte Kanadas. Es war, wie erwartet, eiskalt, was uns dank unserer gefütterten Boots und Mäntel nicht viel ausmachte. Noch einmal zog ich meine graue, plüschige Wolfsmütze zurecht, deren Enden wie ein Schal über meinen Mantel fielen. Jamie und ich trugen fast das gleiche Outfit: dunkelbraune Boots, schwarze Jeans, dunkelbrauner Dufflecoat, braune Fäustlinge und schwarze Schals. Der einzige Unterschied war die Mütze, denn Jay trug schwarze Ohrwärmer mit der Maske des Shinigami-samas drauf. „Kommst du jetzt, oder was?“, sprach ich meine Waffe an, die wie eingefroren das Schneemobil betrachtete, auf dem ich saß. „Ist das nicht gefährlich?“, machte sie sich Sorgen. „Es ist gefährlicher, bei diesen Temperaturen die 40 Meilen zu laufen.“, erwiderte ich. „Aber...“, fing sie an. „Wird der Riese uns nicht bemerken?“ „Als ob es den juckt, wenn zwei Mädchen in der Dämmerung durch den Schnee schlittern. Wir sehen schließlich alles andere als gefährlich aus.“ Leise seufzte Jay, setzte sich aber hinter mich auf das Schneemobil und zog sich, ebenso wie ich, eine Schutzbrille auf – eisiger Fahrtwind war bekanntlich nicht so gesund für die Augen. Mit einem Affenzahn – zumindest kam es uns so vor – fegten wir über die Winterlandschaft, in der es nichts gab außer Schnee und vereinzelte Nadelwälder. Kurz nach Einbruch der Nacht kamen wir in der Siedlung an, in der trotz der Gefahrenwarnung niemand zu Hause zu bleiben schien, denn der Pub an der Hauptstraße wirkte, als wäre er brechend voll. Nachdem ich das Schneemobil geparkt hatte, betraten Jamie und ich den Pub, in dem laut gefeiert wurde. Mühsam quetschten wir uns durch die Menge bis zum Tresen, an dem wir uns zwei heiße Schokoladen bestellten. „Warum feiern hier denn alle?“, fragte ich den Wirt, als er uns unsere Bestellung brachte. „Warum, fragst du? Na, die Edmonton Oilers haben gewonnen!“, lachte er laut. Vage erinnerte ich mich an einen Endlosmonolog über verschiedene Eishockey-Mannschaften, mit dem mich mein Cousin Ben vor einiger Zeit gefoltert hatte. Die feierten ein bescheuertes Hockey-Spiel? Kanadier - Hinter uns wurde ein wüster Lobgesang abgestimmt. - waren wirklich nicht ganz dicht. „Und was wollt ihr beiden hier? Euch habe ich hier noch nie gesehen.“ „Wir sind von der Shibusen und sollen uns um den Riesen kümmern.“, redete ich nicht lange um den heißen Brei. Als Wirt wusste er mit Sicherheit davon und vielleicht konnte er uns weiterhelfen. „Die Shibusen?“, fragte er verwirrt, bis er in schallendes Gelächter ausbrach. „Seht mal, Leute!“, rief er durch den Raum. „Die Shibusen schickt neuerdings kleine Mädchen auf Missionen!“ Der ganze Pub lachte. Wütend zog ich die Augenbrauen zusammen. Was war daran bitte so lustig? „Entschuldigung.“, unterbrach meine Waffe vorsichtig das Gelächter. „Aber anstatt uns auszulachen, könnten Sie uns sagen, wo sich der Riese befindet...Bitte?“ „Er lebt in dem Nadelwald östlich von hier.“, antwortete der Wirt mit ernster Miene. „Aber an eurer Stelle würde ich wieder nach Hause gehen. Einige unserer besten Männer werden diesem Ungetüm noch vor Sonnenaufgang den Gar aus machen, also wird eure 'Hilfe' hier nicht gebraucht. Kleine Mädchen können gegen einen Riesen nicht ankommen.“ Nachdenklich verengte ich meine Augen. Diese Leute wollten den Riesen selbst töten? Wieso? „Aus welchem Grund sollte ein zusammengewürfelter Haufen Männer eher in der Lage sein, einen Riesen zu besiegen, als eine Meisterin mit ihrer Waffe?“ „Rache.“, erwiderte der Wirt düster. „Dieses Ungetüm hat viele unserer Leute auf dem Gewissen, dafür wird es bezahlen. Es ungestraft davonkommen zu lassen verbietet uns unsere Ehre.“ Abfällig schnaubte ich. Männer und ihre Ehre! Was war so ehrenhaft daran, sinnlos drauf zu gehen und seine Familie allein zu lassen? Es wäre ein Fehler, diese Leute die Sache allein klären zu lassen, das wurde mir klar. „Wenn euch euer Leben lieb ist, solltet ihr von hier verschwinden!“, riet er uns. Ruhig stand ich auf und stellte meine leere Tasse ab. „Vielen Dank, aber wir haben nicht um Ihren Rat gebeten.“ Ich zog Jamie mit aus dem Pub und sprang mit ihr auf das Schneemobil. „Hältst du es für eine gute Idee, im dunklen zu kämpfen?“, nahm Jay das Wort an sich, als sich vor uns der Schatten eines Waldes abzeichnete. „Nein, aber uns bleibt leider keine andere Wahl, wenn wir diese Männer von ihrem sicheren Suizid abhalten wollen. Außerdem ist es ja nicht völlig dunkel.“, machte ich sie auf den Schnee aufmerksam, der das Mond- und Sternenlicht reflektierte. Am Waldrand angekommen, stellte ich das Schneemobil ab, denn durch den Wald könnten wir damit nicht fahren. „Riechst du schon irgendwas?“, wollte ich von meinem Spürhund – pardon, meiner Partnerin – wissen. „Nur Eis und Harz.“, hielt sie ihre Nase in die Luft. „Oh, und etwas, das nach muffigen Socken stinkt.“ „Das wird er wohl sein.“, schlussfolgerte ich. Starke Körpergerüche konnte sie leicht aufspüren, und bei diesen Temperaturen konnte man nicht erwarten, dass sich der Riese regelmäßig wusch. Ich folgte meiner Waffe in die Dunkelheit. Der Wald wirkte wie ausgestorben. Es war muksmäuschenstill und im Schnee konnte man nirgends Tierspuren erkennen. Einige der niedrigeren Bäume lagen entwurzelt oder abgebrochen auf dem Waldboden, bei anderen war die Rinde abgewetzt oder hatte tiefe Furchen. Es war unverkennbar das Werk eines Riesen, der hier wie ein Gewitter gewütet haben musste. Unsicher klammerte sich Jamie an meinen Arm, als zwischen den Bäumen ein rötlicher Lichtschein hindurch flackerte. Plötzlich krachte und donnerte es, gefolgt von einem lauten, dümmlichen Lachen. Sofort leuchtete Jay auf und lag als Schwert in meiner Hand. Durch die Handschuhe war es ungewohnt schwierig, sie festzuhalten. „Ray.“, zitterte ihre Stimme. „Was machen wir jetzt?“ Ohne auf ihre Frage zu antworten ging ich weiter und blieb hinter einem Baum stehen, als ich eine hell erleuchtete Lichtung entdeckte. In der Mitte brannte ein großes Lagerfeuer und daneben stand ein grau-brauner, etwa drei Meter hoher Felsen, den ich als 'Riesen' enttarnte. „Mann, ist der winzig!“, flüsterte ich leise zu Jay. „Winzig? Der muss sich nur auf uns drauf setzen und schon sind wir Geschichte!“ „Aber für einen Riesen ist der echt klein!“, beharrte ich auf meiner Meinung. „Ein richtiger Riese ist für mich mindestens so groß wie ein dreistöckiges Haus.“ In dem Moment zog der Felsklumpen einen der Bäume am Rande der Lichtung aus dem Boden und warf ihn auf die Baumgruppe auf der gegenüberliegenden Seite. Von lautem Gelächter begleitet riss der Stamm die Bäume mit sich und hinterließ eine breite Schneise im Wald. Das hatte wohl auch vorhin diese donnernden Geräusche verursacht. Okay, der Riese war vielleicht kleiner als erwartet, aber trotzdem verdammt stark! Wie sollten wir ihn nur besiegen? Seine Haut schien aus Stein zu bestehen, also würde ihm Jamies Klinge nichts ausmachen. Fieberhaft dachte ich an eine Lösung und sah mir die Lichtung genauer an. Sie war fast ringsum vom Wald umgeben, aber die Südseite endete in einem großen, ebenen Feld. „Das ist ein See!“, bemerkte meine Waffe. „Wenn wir ihn auf das Eis locken, wird er einbrechen und ertrinken.“ „Klingt nach einem Plan.“, grinste ich leicht und trat aus dem sicheren Schatten heraus auf die Lichtung. „HEY!“, brüllte ich dem Riesen entgegen und fuchtelte wild mit dem Schwert. Das Gelächter brach ab und er starrte mich aus seinen zusammengekniffenen Knopfaugen an. Wenn ich wollte, dass er auf das Eis lief, musste ich ihn provozieren – mein Fachgebiet. „Ich dachte, Riesen wären groß und stark, aber du bist ja ein richtiger Winzling!“, rief ich und bemerkte, dass er wütend wurde. „Du bist der hässlichste Haufen Scheiße, den ich je gesehen habe! Jeder Rotzklumpen macht einem ja mehr Angst als du!“ Dass ich es mit dem Provozieren eventuell etwas übertrieben hatte merkte ich spätestens, als der vermeintlich schwerfällige Felsklumpen mit einer mordsmäßigen Geschwindigkeit wütend brüllend auf mich zu donnerte. So schnell ich konnte, rannte ich auf den zugefrorenen See, mit dem Riesen auf den Fersen, der die Falle erst bemerkte, als das Eis unter ihm gefährlich knackste. Er blieb stehen und sah mit einem dämlichen Gesichtsausdruck auf den Boden, in dem sich immer größere Risse abzeichneten. Als ich mit einem letzten Sprung das rettende Ufer erreichte, kam der Felsbrocken auch endlich auf die Idee, von der Mitte des Sees zu verschwinden. Doch sobald er den ersten Schritt gemacht hatte, brach das Eis endgültig unter ihm weg. Mit verzweifeltem Gebrüll sank er unter die Oberfläche und tauchte nicht wieder auf. Erleichtert stieß Jamie die Luft aus. „Das wars.“, meinte sie, die durch das Wasser den Riesen nicht mehr riechen konnte. Das war einfacher gewesen, als erwartet. Zu einfach, für meinen Geschmack. Misstrauisch zog ich die Augenbrauen zusammen. Plötzlich brach vor uns das Eis auf und der Felsenschädel blickte uns entgegen. Was er etwa Unterwasser zum Ufer gelaufen? Schnell brachte ich Jamie und mich außer Reichweite des Ungetüms und nahm meine Kampfhaltung ein. Wenn wir ihn nicht durch kluge Pläne besiegen konnten, half nur noch rohe Gewalt. Bevor der Riese es völlig aus dem See geschafft hatte, sprang ich auf ihn zu und hieb mit dem Schwert nach ihm. Es verursachte ein kreischendes Geräusch, als die klinge an ihm abrutschte ohne einen Kratzer zu hinterlassen. Seine Haut bestand tatsächlich aus Granit! Keine Klinge der Welt würde es da durch schaffen. Kaum, dass ich diesen Gedanken zu Ende gebracht hatte, wurde ich von einem Felsenarm gegen den nächsten Baum geschleudert. Mit schmerzendem Kopf und Rücken rappelte ich mich wieder auf und suchte nach einer Schwachstelle an seinem Körper. Auch wenn sein Körper aus Stein war, musste er doch Organe haben, so wie jedes andere Lebewesen auch. Aber wie sollte ich dort herankommen, wenn ich es nicht mal durch seine Haut schaffte? Zwar könnte ich es durch seinen Mund versuchen, aber das Risiko, dass er mit seinen Mühlsteinen von Zähnen Jamie verletzte, war zu groß. Die einzige realistische Möglichkeit, ihm Schaden zuzufügen, waren seine Augen, falls ich sie erreichte. Vorausgesetzt, die Hornhaut war nicht steinhart. Entschlossen straffte ich meine Schultern und setzte alles auf eine Karte. Ich rannte auf meinen Gegner zu und sprang kurz vor ihm vom Boden ab, direkt auf sein Gesicht zu. Doch bevor ich ihn erreichte, schloss sich seine Faust um meinen Körper und drückte mir die Luft aus den Lungen. „Scheiße!“, versuchte ich zu fluchen, doch aus meinem Mund kam nicht mal ein Piepsen. Verzweifelt wand ich mich in seinem Griff, der mich wie ein Sarg festhielt. Ich wollte ihm einen wütenden Blich zuwerfen, doch als ich in seine Augen sah, stockte ich. Tränen. Er...weinte? Fassungslos starrte ich den Riesen an, meine Muskeln erschlafften und ich hing widerstandslos in seiner Faust. „Was zum...?!“, hauchte ich tonlos. „Warum bist du so gemein zu mir?“, warf mir der Riese vor, Sturzbäche rannen seine Wangen hinab. „Was?“, krächzte ich. „Ich hab' dir doch gar nichts getan! Warum willst du mir wehtun?“ „Du...du tust mir weh.“, keuchte ich, kaum Luft bekommend. Sofort lockerte sich sein Griff, sodass ich normal atmen konnte, doch er ließ mich nicht los. „Warum tust du das?“, fragte er. Ich ordnete meine Gedanken. Die Frage nach dem Warum war allgegenwärtig. Irgendwas stimmte hier nicht. „Ich komme von der Shibusen.“, antwortete ich langsam. „Du hast viele Leute aus der Siedlung umgebracht, deswegen -“ „Von der Shibusen?“, unterbrach mich der Riese. „Dann muss dich der Shinigami-sama geschickt haben, um mir zu helfen!“ „Mich hat niemand geschickt, ich bin freiwillig hier -“ „Freiwillig? Du kommst freiwillig den ganzen langen Weg hierher, weil du mir helfen willst?“, wechselte seine Stimmung in Honigkuchenpferd-fröhlich. „Nicht um dir zu helfen, sondern den Menschen aus der Siedlung -“ „Wenn du mir nicht helfen willst, was machst du dann hier?“, frage er verwirrt. Gereizt zuckte meine Augenbraue. Wenn er mich nicht ständig unterbrechen würde…! Tief atmete ich durch. „Du hast doch die Leute aus der Siedlung umgebracht, oder nicht?“ Erschrocken blinzelte er und ließ mich los. Unsanft landete ich auf dem gefrorenen Boden. „Ich hab niemanden getötet!“, wehrte er sich. „Du musst mir glauben, ich war das nicht!“ „Und wer war es dann? Läuft hier vielleicht noch ein Riese herum?“ Diese Sache wurde immer verwirrender. Der Wirt hatte gesagt, dass viele Leute von einem Riesen getötet wurden, und der Riese behauptete, dass er niemanden getötet hätte. Und ich war mir sicher, dass keiner von beiden log. „Ich war es nicht, ich war es nicht!“, rief mein Gegenüber verzweifelt und ließ sich weinend auf den Boden fallen. „Ich war es nicht!“ „Ray?“, meldete sich Jamie endlich wieder zu Wort. „Kann es sein, dass du den Auftrag falsch verstanden hast?“ „Wie?“, erwiderte ich konfus. „Es stand nur darauf, dass wir uns um den Riesen kümmern sollen, nicht wahr? Vielleicht war es ja so gemeint, dass wir ihm helfen sollen, die Wahrheit herauszufinden und mit den Menschen aus der Siedlung Frieden zu schließen.“ Erschrocken sog ich die Luft ein. Daran hatte ich gar nicht gedacht! „Hey.“, sprach ich vorsichtig den Riesen an. Wie ein kleines, verletztes Kind saß er da und wischte sich mit den riesigen Fäusten über die Augen. „Ich glaube dir.“, sagte ich langsam und sein Kopf schnellte hoch. „Wirklich?“, strahlte er mich an. Ich nickte. „Aber wir müssen herausfinden, wer diese Menschen wirklich umgebracht hat, verstehst du?“ Er nickte. „Weißt du vielleicht, wer es gewesen sein könnte?“ Er senkte den Kopf und schwieg. „Nein.“, log er. „Die Menschen aus der Siedlung glauben, dass du es warst, und wenn wir nicht schnell herausfinden, wer es wirklich war, bringen sie dich um.“ Es war beinahe gelogen, denn ich traute keinem dieser bärtigen Männer zu, mit einem Riesen fertig zu werden. Trotzdem war es die einzige Möglichkeit, die Wahrheit aus dem Riesenbaby herauszukriegen, denn es war offensichtlich, dass er etwas verschwieg. „War es jemand, den du gerne hast?“, half ich nach, obwohl ich nicht wirklich glaubte, dass so jemand existierte. Wer war schon mit einem Riesen befreundet? Er schwieg einen Moment, dann nickte er langsam. „Aber du darfst ihr nichts tun!“, rief er sofort. „Wem denn?“ Seine Wangen leuchteten rosig und beschämt sah er weg. „Es war ganz sicher nicht ihre Absicht! Sie wollte mir nur helfen, sie ist immer so nett zu mir...“ Ernst zog ich meine Augenbrauen zusammen, doch ich blieb freundlich. „Ist sie deine Freundin?“ Vorsichtig nickte er, bis er ungefragt die ganze Geschichte erzählte. „Sie...sie ist vor ein paar Monaten zum ersten Mal hier aufgetaucht, sie war ganz allein und durchgefroren. Ich hab sie mit zu meinem Lagerplatz genommen und mich um sie gekümmert, bis es ihr besser ging. Sie erzählte mir, dass ihre Eltern sie ganz furchtbar behandelt haben und sie deswegen weggelaufen ist, als sie endlich den Mut dazu hatte. So ist sie bei mir gelandet. Aber dann ist sie weitergezogen. Sie sagte, dass sie einen Platz finden will, an den sie gehört, und sie deswegen nicht bei mir bleiben kann. Trotzdem ist sie immer wiedergekommen, um mich zu besuchen und weil sie wissen wollte, wie es mir geht. So sind wir Freunde geworden. Ich habe ihr erzählt, dass mich die Menschen hier immer so schlecht behandeln, obwohl ich ihnen nie etwas getan habe. Sie war der erste Mensch, der je nett zu mir war. Sie ist immer so freundlich und geduldig und lieb, wie ein richtiger Engel. Sie wird nie wütend oder gemein, und sie versucht immer, mir zu helfen...“, verträumt sah er in den Nachthimmel und schwieg. Misstrauisch ließ ich mir die Erzählung nochmal durch den Kopf gehen. Ein Mädchen, ganz allein im eisigen Niemandsland, mit einer unschönen Vergangenheit. So ganz wollte ich diese Geschichte nicht glauben, denn sie klang wie aus einem dramatischen Hollywood-Streifen. Dazu kam, dass kein Mensch dieser Welt immer lieb und freundlich war, nicht einmal Jamie. Selbst sie konnte wütend werden, wenn sie wollte. „Dann hat dieses Mädchen die Leute aus der Siedlung getötet, die gemein zu dir waren?“, riet ich. Traurig sah er mich an. „Ich wollte das nicht, ich wollte sie aufhalten, ich wollte nicht, dass die Menschen einen Grund hatten, mich zu hassen. Aber sie wollte mir nur helfen, deswegen darfst du nicht böse auf sie sein, ja?“ Langsam ergab alles einen Sinn. Wenn er bei dem Mädchen war, als es diese Menschen umgebracht hat, erklärte das, warum die Leute glaubten, er wäre der Mörder. Aber wie half uns das jetzt weiter? Selbst, wenn wir es den Leuten sagten, würden sie uns nicht glauben. Trotzdem konnte dieses Mädchen nicht ungestraft davonkommen. „Weißt du, wie dieses Mädchen hieß oder wo es jetzt ist? Kannst du mir beschreiben, wie sie aussieht?“, fragte ich den Riesen. „Vielleicht kann der Shinigami-sama ihr helfen, ein zu Hause zu finden.“, fügte ich hinzu, um ihn nicht auf die Idee zu bringen, ich wollte seinem Engel etwas böses. „Du glaubst, er kann ihr helfen?“, strahlte er mich an. „Vielleicht.“, antwortete ich – das war weder die Wahrheit, noch war es gelogen. „Ich weiß nicht, wo sie jetzt ist, sie sagt nie, wohin sie geht. Aber sie ist unheimlich hübsch.“ Super. Es war ja nicht so, dass es auf dieser Welt normalerweise keine hübschen Mädchen gab... „Sie hat lange, schwarze Haare und violette Augen. Und sie heißt Ravenna.“, fügte er hinzu. Ravenna. Irgendwie hatte ich kein gutes Gefühl bei diesem Namen, was nicht zuletzt daran lag, dass 'Ravenna' soviel wie 'Rabe' bedeutete, und das waren mit Abstand die Tiere, die ich am wenigsten mochte. Unendlich schwarz, beängstigend intelligent und trickreich. „Gut, hör zu...Wie war dein Name?“ „Gor.“ „Okay Gor , hör mir jetzt gut zu. Die Männer aus der Siedlung werden bald hier sein, und sie wollen dich töten. Selbst, wenn wir ihnen alles erklären, werden sie uns nicht glauben, also musst du von hier verschwinden, so lange du noch kannst. Ich bleibe hier und sorge dafür, dass du genug Zeit hast, um so weit weg wie möglich zu kommen, okay?“, sah ich ihn entschlossen an. Er nickte vorsichtig. „Muss ich dann für immer weg bleiben?“ Ich lächelte leicht. „Nein, nur so lange, bis die Menschen hier alles vergessen haben.“ „In Ordnung. Aber was ist mit Ravenna? Wenn sie herkommt und ich nicht da bin...“ „Wenn wir sie finden, werden wir ihr alles erklären.“, versprach ihm Jay. Müde stapften Jay und ich aus dem Nadelwald heraus und suchten unser Schneemobil. Nachdem Gor nach langem hin und her endlich aufgebrochen war, mussten wir nicht lange warten, bis die kampfbereiten Männer der Siedlung uns fanden. Wir erzählten ihnen, dass der Riese schon verschwunden war, als wir an seinem Lagerplatz angekommen waren, und er vermutlich schon über alle Berge war. Was sie jetzt taten, lag in ihrer Hand, doch zumindest konnten sie nicht durch den angeblich bösartigen Riesen sterben. „Hey, sieh mal!“, stupste mich Jay an und deutete nach oben. Über den Nachthimmel zog sich ein grün-violett leuchtendes Band, das wir staunend betrachteten. „Wow.“, hauchte ich überwältigt. Ich hatte noch nie etwas so schönes gesehen. Nach einigen schweigsamen Minuten verblasste das Polarlicht. „Schade.“, kommentierte Jay das Verschwinden des Lichts, wechsele dann aber das Thema. „Glaubst du, Gor wird sich zurechtfinden? Ich meine, er ist jetzt ganz allein...“ „Jay.“, seufzte ich. „Er ist das Alleinsein gewohnt, schließlich ist er ein Riese. Die sind immer allein.“ „Trotzdem.“, schmollte sie. „Irgendwie tut er mir leid. Er hat auf der ganzen Welt nur eine einzige Freundin, und die wird er verlieren.“ „Weil sie eine Mörderin ist und exekutiert wird, wenn wir sie finden.“ Vorwurfsvoll sah sie mich an. „Warum hast du dann gesagt, dass der Shinigami-sama ihr helfen kann?“ „Ich sagte vielleicht.“, verbesserte ich sie. „ Und das war keine Lüge. Die Hölle wird ihr Zuhause, wenn sie sich nicht ändert.“ „Das ist traurig.“, meinte Jay. „Findest du? In meinen Augen hat sie es nicht anders verdient, wenn sie so hemmungslos andere Menschen tötet.“ „Aber Gor ist dann ganz alleine...“ „Hmm.“, stimmte ich ihr zu, wieder auf dem Weg zum Schneemobil. Als wir es endlich fanden, ging schon langsam die Sonne auf. „Oh nein!“, rief plötzlich Jamie. „Was denn?“, machte ich mich auf das Schlimmste gefasst. Hatte sie in dem Schnee die Haustürschlüssel verloren? „Wir verpassen den Unterricht!“, antwortete sie geknickt. „Bis wir am Flughafen in Yellowknife sind, dauert es ewig, und wenn wir endlich zu Hause ankommen, ist der Unterricht schon gelaufen!“ „Na und? Dann haben wir eben ein verlängertes Wochenende.“ Denn am Donnerstag hatten wir, wie am Karfreitag, Schulfrei. „Och.“, machte sie traurig. „In den ersten beiden Stunden hätten wir Musik gehabt...“ Seufzend setzte ich mich auf unseren 'heißen Ofen' und fuhr mit Jay wieder in die Siedlung vom Vorabend, schließlich war es bald Zeit für das Frühstück. „Ihr seid am Leben?!“, fielen dem Wirt fast die Augen aus, als wir den Pub betraten. „Dachten Sie etwa, dass die Shibusen kleine, schwache Mädchen auf Missionen schickt?“, spottete ich. Perplex blinzelte er, brachte uns aber kurz darauf unser Frühstück: Schinken, Eier, Bratkartoffeln – wenigstens wurde man hier satt. Nach und nach kehrten einige der Männer zurück, die die Suche nach dem Riesen aufgegeben hatten, und fingen an, die Vertreibung des Ungeheuers zu feiern. Natürlich hatten sie den Riesen vertrieben, und selbstverständlich hatten wir damit nichts zu tun. Es war nur beruhigend zu wissen, dass sie nicht länger auf Rache aus waren, denn das würde nur Probleme machen. Begleitet von einem 'Oh Canada~' verließen wir den Pub und machten uns auf den Heimweg. Wieder in Death City angekommen, bekamen wir fast einen Hitzschlag – die Umstellung von minus 23°C auf plus 37°C war heftig. Müde schleppten wir uns nach Hause. Dem Shinigami-sama hatten wir von Unterwegs aus alles erzählt, also mussten wir nicht mehr zur Shibusen. In unserer Wohnung war es angenehm kühl, trotzdem hätte ich mich am liebsten auf die kalten Fliesen im Badezimmer gelegt. Stattdessen begnügte ich mich aber mit einer kalten Dusche, die meine Lebensgeister wieder wach rief. Nur mit meiner Unterwäsche bekleidet – für alles andere war es mir zu warm – lief ich wieder ins Wohnzimmer, um eine Stecknadel in die Karte zu piksen. Als das erledigt war, ließ ich mich auf das Sofa fallen. Ich war gerade dabei, einzuschlafen, als mein Handy klingelte. Unbekannter Anrufer. Wer war das? „Hallo?“, meldete ich mich. „Hi Ray, hier ist Maka.“ „Woher hast du meine Nummer?“, fragte ich verwirrt. „Jamie hat sie mir gegeben.“, antwortete die Waffenmeisterin. „Seid ihr schon wieder zurück?“ „Ja, seit fast einer Stunde. Warum rufst du an?“ „Naja.“, klang sie etwas verlegen. „Ich wollte dich fragen, ob ich mir ein Buch von dir ausleihen kann.“ „Welches Buch denn?“ „Das, was ich am Sonntag bei euch angefangen hatte. Ich hab aber vergessen, wie es heißt...“ Angestrengt dachte ich nach. Am Sonntag hatte ich den Hobbit gelesen und Maka... „Meinst du 'Song of Ice and Fire'?“, riet ich. „Genau!“, bestätigte sie. „Leihst du es mir aus?“ „Geht klar. Wo wohnst du?“ „Ich kann es auch abholen.“, erwiderte sie. „Nee, lass mal. Ich muss sowieso noch lernen, mich hier zurecht zu finden.“ Außerdem störte es mich, nicht zu wissen, wo die anderen wohnten – sie wussten ja auch, wo Jay und ich wohnten. „Oh, okay.“, stimmte Maka zu und erklärte mir den Weg. Kurzerhand zog ich mir das Sommerkleid vom Sonntag über, schlüpfte in meine schwarzen Chucks und schnappte mir das Buch. „Wo willst du denn hin?“, hielt mich meine Partnerin an der Wohnungstür auf. „Ich bringe Maka ein Buch vorbei.“, erklärte ich. „Ach so, bis dann.“, meinte sie und verschwand wieder in ihrem Zimmer. Dank Makas Wegbeschreibung brauchte ich nicht lange, um ihre Wohnung zu finden. Nervig war nur, dass es keinen Aufzug gab und ich so die drei Stockwerke nach oben laufen musste. Und das bei dieser Hitze! „Hi Ray.“, begrüßte mich Soul, als er die Tür öffnete. „Hey, wo -“ „Ich bin hier!“, schallte mir Makas Stimme von irgendwo aus der Wohnung entgegen. Stirn runzelnd trat ich ein und endeckte die dunkelblonde in der Küche, die sich, wie unsere, offen im Wohnzimmer befand. „Hier.“, hielt ich ihr das Buch hin. „Vielen Dank!“, lächelte sie mich an. „Am Sonntag hatte ich völlig vergessen, dich danach zu fragen, aber es ist total spannend.“ „Hmm, ist auch eins meiner Lieblingsbücher.“, stimmte ich ihrer Meinung zu und sah mich in der Wohnung um. Es war echt gemütlich und ziemlich ordentlich hier, was wohl Maka zu verdanken war. „Aww!“, rief ich plötzlich, als ich neben Maka ein unfassbar niedliches, schwarzes Fellknäuel sah. „Ihr habt eine Katze?“ Automatisch schloss ich die Samtpfote in meine Arme und knuddelte sie, bis sie schnurrte. Katzen waren, neben Hunden, meine absoluten Lieblingstiere, aber meine Mum hatte mir nie erlaubt, eine zu haben – wegen der Haare. Als ob meine Brüder und ich weniger Dreck gemacht hätten... „Sie heißt Blair.“, lächelte Maka auf meine Reaktion hin. „Aww, hallo Blair.“, begrüßte ich die Katze auf die Gefahr hin, wie ein kompletter Freak zu wirken. Wer sprach schon mit Katzen? „Hallo Ray.“, antwortete mir die Katze. Perplex starrte ich sie an. Wie müde musste ich sein, dass ich mir schon sprechende Katzen einbildete? In dem Moment sprang die Katze herunter und keine Sekunde später stand an ihrer Stelle eine kurvenreiche, knapp bekleidete Frau. Meine Kinnlade krachte auf den Boden. „Cooler Hut.“, versuchte ich, meine Fassung wiederzugewinnen und sah hilflos zu Maka. „Blair ist eine Katze mit starken, magischen Fähigkeiten.“, erklärte sie mir. Aha, Magie also. Ich hoffte bloß, dass nicht alle Katzen so waren wie Blair – das würde mein Weltbild zerstören. „Du bist also auch eine Waffenmeisterin?“, sprach mich Blair an. „Äh, ja...“ Hatte ihr das Maka erzählt? „Und mit was für einer Waffe kämpfst du?“, wollte sie wissen. „Jamie ist ein Schwert...“ „Wie war eigentlich eure Mission?“, fragte mich Maka. „Ganz gut, denke ich. Wir waren in Kanada, haben einem Riesen geholfen, eine interessante Geschichte gehört und sogar die Nordpolarlichter gesehen.“, fasste ich zusammen. „Die Polarlichter?“, rief sie mit einem glitzern in den Augen, „Ja, die waren richtig schön.“, schwärmte ich. „Von wegen 'du stehst nicht auf Romantik'.“, warf Soul aus dem Hintergrund ein. „Polarlichter sind auch nicht romantisch!“, rechtfertigte ich mich. „Sie sind ein total cooles Naturphänomen, das durch die Sonnenwinde verursacht wird.“ „Wie sahen sie denn aus?“, wollte Maka wissen. „Wie ein Band, und sie waren grün und violett.“ Ich ärgerte mich, dass ich meine Kamera nicht mitgenommen hatte. „Oh, wir wollen morgen übrigens um halb zwei los.“ „Wohin?“, erwiderte ich verwirrt. „Einkaufen? Du kommst doch mit, oder?“ „Mir bleibt eh keine andere Wahl. Außerdem bekomme ich sonst keine Brownies.“ „Du stehst echt so auf Brownies?“, kam es von dem weißhaarigen, der es immer noch nicht glauben wollte. „Wenn du jemals die Brownies von Jamie probierst, wirst du es verstehen.“, prophezeite ich ihm. „Es gibt nichts besseres.“ Kurz darauf verabschiedete ich mich von den dreien und ging nach Hause. Dort wartete schon meine Partnerin mit dem Abendessen auf mich – Roast Beef-Sandwich. „Hast du das Rezept auch von deinem Namensvetter?“, grinste ich sie an. Ich wusste, dass sie heimlich total auf Jamie Oliver abfuhr, von dem sie keine Sendung verpasste und jedes Buch besaß. „...Ja.“, gab sie mit einem leichten Rotschimmer auf der Nase zu. „Wie war es bei Soul und Maka?“ „Ganz nett, die beiden haben eine Katze. Aber komm nicht auf die Idee, mit der zu schmusen!“ „Wieso nicht?“ Peinlich berührt schüttelte ich nur den Kopf, das musste sie nicht wissen. „Die anderen wollen morgen übrigens um halb zwei los.“ „Oh, okay.“ Nach dem Abendessen setzten wir uns vor den Fernseher und sahen uns sämtliche alten Disneyfilme an, angefangen von 'Bambi' bis zum 'König der Löwen'. Obwohl wir aus dem Alter dafür schon lange raus waren, waren das trotzdem unsere Lieblingsfilme geblieben. Erst um halb eins gingen wir todmüde ins Bett, morgen konnten wir schließlich ausschlafen. Kapitel 5: Nightmare before....Easter? -------------------------------------- Am nächsten Tag wachte ich erst auf, als Jay mit ihrer Gitarre im Anschlag mein Zimmer stürmte und in voller Lautstärke 'Oh happy Day' sang. Müde blinzelte ich sie an. „Was ist los?“ „Es ist halb eins~, steh jetzt auf~!“, sang sie. „Oh Mann.“, stöhnte ich in mein Kopfkissen. Ich hatte zwölf Stunden gepennt! Kurze Zeit später saß ich fertig angezogen – diesmal im weißen Tanktop und blau gemusterten Wickelrock – am Frühstückstisch. Gut, zum Frühstücken war es etwas spät, aber wir mussten etwas essen, bevor der Horrortrip anfing. Da mein Rock keine Taschen hatte, verstaute ich Schlüssel, Handy und Portemonaie in meiner braunen Ledertasche, in die ich sonst meine Schulsachen packte. Jamie trug, genau wie ich, ein weißes Tanktop und einen, in ihrem Fall rot gemusterten, Wickelrock. Keine Ahnung, warum sie plötzlich auf den Partnerlook stand. Nach dem Zähneputzen und dem, bei dieser Hitze notwendigem, Pferdeschwanz-binden, klingelte es schon an der Haustür. Nahezu euphorisch wurden wir von den anderen begrüßt. Ich war nur froh, dass keiner der Jungs mitgekommen war, denn auf einen Streit mit Stripes konnte ich heute verzichten – das würde meine Aussicht auf Brownies gefährden. In der Einkaufsstraße durchstöberten wir ausnahmslos jeden Modeladen, bis wir in Nummer 'gleich-fall-ich-tot-um' endlich Kleider fanden. K.O. setzte ich mich auf einen der Sessel, die vor den Umkleidekabinen standen und wartete auf Maka und Tsubaki, die sich gerade umzogen. Patty saß neben mir auf einem anderen Sessel und Jay und Liz durchstreiften weiterhin den Laden. „Was meinst du?“, sprach mich Maka an, als sie in einem dunkelblauen, gerade geschnittenem Kleid die Kabine verließ. „Ich glaube nicht, dass dir blau besonders gut steht.“, antwortete ich aufrichtig. „Oder der Schnitt.“ „Du hast recht, ich probiere ein anderes.“, stimmte sie mir zu und verschwand wieder. Verwirrt blinzelte ich. Ich war nicht besonders freundlich gewesen, genau genommen war ich eher beleidigend. Gaben normale Mädchen wirklich so viel auf die Meinung anderer Mädchen, wenn es um Klamotten ging? Seltsam... „Ray-chan?“, kam es von Tsubaki. Dunkelrot, eng und seeeehr kurz.  „Nein.“, schüttelte ich den Kopf.  „Sieh mal, Ray!“, hielt mir Liz einen Albtraum in schwarz entgegen. „Das sieht aus, als würde es meiner Mum gehören! Was ist das?“ „Ein Etuikleid.“, erklärte sie. „Okay.“, atmete ich tief durch. „Es geht hier um eine Schulveranstaltung. Noch dazu gibt es auf einer Osterfeier auch ein Osterfeuer. Niemand, der noch richtig tickt, donnert sich dafür dermaßen auf und trägt ein Abendkleid, in dem man schwitzt, sich nicht richtig bewegen kann und das außerdem kein Feuer verträgt!“ „Kein Kleid verträgt Feuer.“, warf Liz ein. „Das stimmt. Aber es macht einen Unterschied, ob man für ein Kleid, das eventuell Brandflecken abbekommt, ein halbes Vermögen bezahlt oder nicht.“, konterte ich nach einem Blick auf das Preisschild. Nachdenklich sah sie mich an. „Was schlägst du vor?“ „Ein Sommerkleid.“, antwortete ich entschlossen. „Es ist luftig, locker und normalerweise erschwinglich.“ Außerdem konnte man Chucks dazu tragen, dachte ich mir. „Einverstanden!“, sagte Liz überzeugt. „Mädels, wir tragen Sommerkleider!“ Und schon ging die Kleidersuche von vorne los, nur blieben wir zum Glück im selben Geschäft. „Guck mal, Ray!“, sprang Patty aus der Kabine. Das Kleid, das sie trug, war in einem hellen orange und hatte am Saum rote Querstreifen. Irgendwie stand es ihr, auch wenn ich niemals orange tragen würde. Ich mochte grün und blau viel lieber. Nach und nach fand jeder ein passendes Kleid, bis nur noch Jay und ich übrig waren. Meine Partnerin war zwischen den Kleiderständern verschwunden, während ich von Liz mit Kleidern bombardiert wurde. „Wie ist das?“, hielt mir die Waffe ein braun-orange gemustertes Kleid hin. „Nein.“, meinte ich. „Und das?“, folgte ein altrosanes. „Nein.“ „Und das hier?“, kam ein schwarz-grünes an die Reihe. „Das hatten wir schon.“, seufzte ich. Ich wusste schon, warum ich Shoppen nicht mochte. „Ray!“, rief meine Waffe plötzlich nach mir. Das Kleid, das sie mir entgegenhielt, war weiß und hatte ein Muster aus kleinen, blauen Blumen. Über und unter der Brust war es zusammengerafft, wurde von dünnen Trägern gehalten und schien bis zu den Knien zu reichen. Erleichtert nickte ich – das sah noch am normalsten aus. „War's das jetzt?“, fragte ich hoffnungsvoll, als wir die Kasse hinter uns ließen. „Nein, wir brauchen noch Schuhe.“, erklärte Tsubaki. „Und Accessoires.“, flötete Liz. Verzweifelt stöhnte ich. „Wieso~?“ „Weil morgen die Geschäfte geschlossen sind.“, beantwortete Maka meine rhetorische Frage. Im nächsten Laden angekommen stürzten sich die anderen förmlich auf Ketten, Ohrringe und Co. Gelangweilt blieb ich vor einer Wand stehen, an der tonnenweise Ketten hingen. Wer brauchte das alles? Ich würde mir sicher keine neue Kette kaufen, mir gefielen die, die ich schon hatte. Und Ohrringe trug ich sowieso nicht, genauso wie normale Ringe oder Haarspangen. Als wir aus dem Laden gingen, war das einzige, das die anderen mir aufschwätzen konnten, ein dünner, brauner Taillengürtel. Mit dem konnte ich am Sonntag notfalls Stripes erwürgen, wenn er mich stresste. Richtig schlimm wurde es erst im Schuhgeschäft, da ich mich partout weigerte, Absatzschuhe zu tragen. Die einzigen Schuhe, die ich trug, waren, abgesehen von Chucks, Flipflops am Strand und Stiefel im Winter. Gut, es gab noch ein Paar braune Halbstiefel, die ich manchmal trug, aber das war es auch schon. „Aber Absätze machen schöne, lange Beine.“, versuchte Liz, mich zu überreden. „Und was bringt mir das?“, wollte ich wissen. „Die Jungs stehen drauf.“ „Dann sollen die in Stöckelschuhen rumrennen!“, erwiderte ich sauer. „Mensch Ray, das sind doch nur Schuhe.“, versuchte es jetzt Maka. „Mir doch egal. Ich hab keine Lust, mich in diesen Mörderhacken aufs Maul zu legen.“ „Was ist mit Ballerinas, ohne Absätze?“, wollte Jay die Situation mit einem Kompromiss retten. Stur schüttelte ich den Kopf. Ballerinas waren unbequem. „Was möchtest du denn für Schuhe tragen?“, fragte mich Tsubaki. „Chucks.“ Patty brach in lautes Gelächter aus, als mich die anderen wie Mondkälber anstarrten. „Ray, du kannst da nicht in Chucks hingehen!“, sagte Jay. „Wohl!“, blieb ich stur. „Wer ist dafür, dass Ray Ballerinas statt Chucks trägt?“, fragte Liz in die Runde. Jeder hob die Hand. „Also ist es beschlossene Sache.“ „Fieslinge.“, knurrte ich leise. Immer noch sauer schlürfte ich meinen Pfefferminztee, als wir uns in einem kleinen Café ausruhten. Das Shoppen anstrengend war, wusste ich schon vorher, aber mit diesen Weibern war es die Hölle. „Wisst ihr schon, wie ihr eure Haare machen wollt?“, fragte Tsubaki. Ich verkniff mir ein theatralisches Aufstöhnen, was mir wahrscheinlich nur Probleme gemacht hätte. „Ich glaube, ich stecke sie mir hoch.“, fuhr die dunkelhaarige fort. „Ja, ich auch.“, stimmte Liz zu. „Und du, Maka?“ „Ich weiß es noch nicht.“, antwortete die Meisterin. „Ich werde sie mir wohl flechten.“, gab meine rotblonde Waffe ihre Meinung preis. Schön, dachte ich genervt. Konnten wir nicht endlich nach Hause gehen? „Hey Leute!“, schrie plötzlich eine bekannte Stimme über die Straße. Gleichzeitig drehten wir unsere Köpfe in die Richtung, aus der die Stimme kam und entdeckten einen gewissen blauhaarigen Chaoten. Mit Soul und Stripes im Schlepptau. „Oh nein!“, jammerte ich verzweifelt und schlug meinen Kopf auf die Tischplatte. Das durfte doch alles nicht wahr sein! „Hey Mädels.“, begrüßte uns der weißhaarige, als die drei bei uns ankamen. „Hi.“, grüßten die 'Mädels' im Chor zurück. Oh Gott, wo war ich hier nur gelandet? „Euer Tag war ohne mich ja total langweilig.“, kommentierte Black*Star die Erzählungen der anderen. „Oh ja.“, bestätigte ich ihm. „Es war ein Albtraum!“ „Keine Sorge, jetzt bin ich ja da!“, legte er mir breit grinsend einen Arm um die Schulter. „Und der Albtraum geht weiter...“, murrte ich leise. „Du wolltest allen ernstes Chucks zu einem Kleid anziehen?“, sprach mich der Totengott an. „Kann dir das nicht egal sein?!“, motzte ich ihn an. „Niemand trägt zu einem Kleid gammelige Sneakers!“, ging er gleich darauf ein. „Meine Schuhe sind nicht gammelig!“ „Gestern hatte sie doch auch Chucks zu dem Kleid an, oder?“, wandte sich Soul an seine Meisterin. „Genau!“, rief ich. „Sah das so furchtbar aus?“ „Eigentlich nicht...“ „Ha! Soul ist auf meiner Seite!“, freute ich mich. „Ich bin auf gar keiner Seite...“, murmelte er in seinen nicht vorhandenen Bart, was ich komplett überging. „Und jetzt trage ich auch Chucks!, verwies ich auf meine blauen Treter. „Das sieht unmöglich aus.“, beschwerte sich der schwarzhaarige. „Wer bist du, die Modepolizei?“, spottete ich. „Ray, du kannst tragen, was du willst. Nur am Sonntag eben nicht.“, erklärte Tsubaki. „Hmpf.“, machte ich genervt. „Habt ihr schon etwas gefunden?“, sprach Maka die Jungs auf ihre Einkaufstaschen an. „Jepp.“, antwortete Soul. „Aber Kid hat ewig gebraucht..“ Ein Lachen konnte ich nicht unterdrücken. Ich konnte mir nur zu gut vorstellen, wie der Totengott panisch durch die Läden lief, auf der Suche nach einem symmetrischen Outfit. Spinner. „Ich lege wenigstens Wert darauf, wie ich herumlaufe!“, giftete er mich an. „Das glaube ich dir sofort.“, lachte ich immer noch. „Rasierst du dir auch brav die Beine, so wie die anderen Mädchen?“ „Ich bin kein Mädchen!“, meckerte er. „Natürlich nicht, Prinzessin.“ Schon war er auf 180. Stripes ließ sich noch leichter provozierten als ich... „Wir gehen dann mal nach Hause.“, ging Jay dazwischen. „Tja, wenn's am schönsten ist, soll man aufhören.“, lachte ich weiter. „Bis Sonntag!“, riefen uns die anderen noch hinterher. „Bin ich nicht brav geblieben?“, wandte ich mich an meine Waffe, als wir zu Hause waren. „Ich habe mich nicht geprügelt, niemanden beleidigt und nicht ein einziges Mal gesagt, dass ich Heim will.“ „Dafür hast du bei den Schuhen einen ziemlichen Aufstand gemacht.“, erwiderte sie. „Das hättest du auch, wenn dich jemand in High Heels gezwungen hätte!“ „Und du hast dich mit Kid gestritten!“ „Stimmt nicht. Ich habe bloß meine Schuhe verteidigt und ihn dann ausgelacht.“ Erschöpft seufzte sie. Den Freitag verbrachte Jay größtenteils mit Backen, sowohl Kuchen für Ostern als auch meine hart verdienten Brownies. Ich half ihr dabei, so gut ich konnte, was sich in meinem Fall aufs Schneebesen- und Löffel-ablecken beschränkte. Zum Mittagessen gab es, ganz Karfreitag-typisch, Fisch, was mich ungewollt an Blair denken ließ. Ich wollte auch eine Katze... Am Samstag telefonierten wir die meiste Zeit mit Jays Granny und meinen Brüdern, von denen wir erfuhren, dass über Ostern meine gesamte Familie zusammen feierte. Das waren, neben meinen Eltern und meinen vier Brüdern, meine drei Opas und fünf Grannys, acht Onkel, zehn Tanten und sage und schreibe 25 Cousins und Cousinen – kurz gesagt: alle Mitglieder der Familie Bennett, plus die Familien von Schwagern und Schwägerinnen. Und ich war stolz darauf, dass ich mir alle Namen merken konnte. Sogar Granny Smith würde mit meiner Familie feiern, und Charlies Freundin Julie, die sowieso schon zur Familie gehörte.  Frustriert futterte ich die Brownies von Jay. Meine gesamte Familie war in England, und ich versauerte in der Wüste und durfte mich mit einem übellaunigen Todesgott streiten. Na gut, gestern und heute hatte ich ihn nicht gesehen, aber dafür würden wir wohl morgen aufeinanderprallen. Tolle Aussichten. Was hatte ich eigentlich verbrochen, das so etwas rechtfertigte? Genervt stand ich auf und ging zur Wohnungstür. „Ich bin unterwegs!“, rief ich meiner Partnerin zu und verschwand nach draußen. Es war am besten, wenn ich etwas gegen meine schlechte Laune tat, und für mich bedeutete das: Training.  Ich lief in den kleinen Wald, der sich unterhalb der Shibusen befand und den ich letzte Woche von dem Amphitheater aus gesehen hatte. Soweit ich wusste, gehörte dieses Wäldchen zum Campus der Shibusen, und da ich sowieso trainieren wollte, ging das sicher in Ordnung. Schließlich konnte ich nicht im Stadtpark trainieren, und sonst war es mir überall zu sonnig. Hier, in diesem kleinen Wäldchen, war es angenehm kühl und schattig und es duftete nach Wald. Als ich eine kleine Lichtung erreichte, beschloss ich, dort zu bleiben. Mit meinen Kopfhörern in den Ohren und Beethoven im Kopf drosch ich, wie ich es auch in einem Kampf tun würde, auf einen Baumstamm ein. Faust, Unterarm, Handkante, Knie – jedes Körperteil wurde eingesetzt. Ich übte meine Sprünge, Drehungen und alles, was mir sonst noch einfiel, bis es dunkel wurde. Erschöpft kam ich erst nach Mitternacht nach Hause und wurde von meiner stinkwütenden Waffe sofort unter die Dusche geschickt. Ich konnte verstehen, warum sie sauer war, denn ich hatte ihr nicht gesagt, wohin ich ging. Nachdem ich wieder sauber war, ging ich in mein Bett und schlief bis zum nächsten Vormittag. „Sieh mal, Ray!“, begrüßte mich Jay fröhlich vom Esstisch. Scheinbar war sie wegen gestern nicht mehr sauer. Auf dem Esstisch lagen zwei kleine Päckchen, von denen eins schon geöffnet war.  „Was ist das?“ „Deine Brüder haben uns etwas geschickt.“, lächelte sie breit. „Guck dir das an!“ Sie hielt mir ein dunkelrotes Halstuch hin, das mit weißen Blüten bestickt war und eine weiße Spitzenborte hatte. Der typische Bauernmädchen-Look, den Jay so mochte. Nachdenklich starrte ich mein Paket an, ohne es zu öffnen. Seit wann schenkten wir uns etwas zu Ostern? Normalerweise gab es nur an Weihnachten und unseren Geburtstagen Geschenke. Wurden die Jungs etwa sentimental, weil sie uns jetzt kaum noch sahen? „Ist das eine Smartphone-Hülle?“, hielt Jamie einen braunen Gegenstand in die Höhe, den sie aus meinem mit Schokolade befüllten Päckchen gefischt hatte. „Lass mal sehen...“, nahm ich den Gegenstand, der tatsächlich eine Hülle für mein Smartphone war, genauer unter die Lupe. Sie war im, für meinen Bruder Ron typischen, Steampunk-Look gehalten. Es schien, als würde sie aus Holz bestehen, was durch die Maserung verstärkt wurde. Die Ecken waren messingbeschlagen und auf der Rückseite waren mehrere ineinander verhakte Zahnräder befestigt, die sich sogar bewegen ließen. „Wie cool!“, freute ich mich, fühlte mich gleichzeitig aber auch etwas schuldig, weil ich nicht daran gedacht hatte, meinen Brüdern etwas zu schenken. „Glaubst du, die Jungs haben die Sachen selber gemacht?“, sprach mich Jay wieder an. „Wahrscheinlich.“, meinte ich. Ich konnte förmlich meine Brüder vor mir sehen, wie sie zu Hause an unserem großen Esstisch saßen und einen Bastelabend veranstalteten. Da die Osterfeier erst am frühen Abend beginnen würde, verbrachten wir den Rest des Tages damit, uns Ice Age anzusehen. Als wir gerade im vierten Teil waren, sprang Jamie erschrocken auf und stammelte etwas von 'zu spät'. „Die Feier beginnt doch erst um fünf.“, versuchte ich sie zu beruhigen. „Aber es ist schon vier und wir sind noch nicht umgezogen!“, rief sie panisch und rannte in ihr Zimmer. „Oh Mann, bloß kein Stress...“, murmelte ich schwerfällig und folgte ihrem Beispiel. Innerhalb einer Viertelstunde war ich fertig. Zumindest fast.  Von dem Kleid, das Jay mir ausgesucht hatte und das ich mit dem schmalen Gürtel trug, rutschte mir ständig der linke Träger herunter, was mich aber nicht sonderlich störte. Das Zahnrad-Armband schmückte mein rechtes Handgelenk – wie immer – und eine Kette mit rundem Anhänger, in deren Mitte sich ein von Wellen umringter Kelpie befand, hing an meinem Hals – auch fast wie immer. Denn wenn ich diese Kette nicht am Hals trug, hing sie entweder an meinem Handgelenk oder meinem Gürtel. Ich hatte sie immer bei mir, denn Jamie hatte ihre Kette, auf der sich jedoch statt eines Kelpies ein Einhorn befand, auch immer bei sich. Es war unsere Version einer Freundschaftskette. Meine Haare ließ ich offen, wie sie waren, und schminken tat ich mich auch nicht. Wofür brauchte man schon Make-up? Eine Handtasche brauchte ich nicht, denn ich würde mein Handy einfach in Jays Tasche stecken. Das einzige, was fehlte, waren meine Schuhe, und daran wollte ich nichts ändern. Ganz egal, was die anderen sagten, ich würde niemals Ballerinas tragen. Im Bad putzte ich mir die Zähne, während meine Partnerin hektisch versuchte, sich zwei Flechtsträhnen am Hinterkopf zu befestigen. „Brauchst du Hilfe?“, bot ich ihr an. Nach einem Nicken ihrerseits nahm ich ihre dunkelrote, blütenförmige Spange und klemmte die beiden Strähnen fest. Kaum, dass die Frisur saß, schnappte sich Jay ihr neues Halstuch und band es sich um. Sie trug das gleiche Kleid wie ich, ebenfalls mit einem braunen Gürtel, nur mit dem Unterschied, dass ihr Blümchenmuster rot war. „Willst du nichts mit deinen Haaren machen?“ fragte sie mich skeptisch. Ich hatte kaum mit dem Kopf geschüttelt, als sie mich auf den Badewannenrand schob und irgendetwas mit meinen Haaren anstellte. Das Ergebnis waren zwei dünne Flechtsträhnen, je eine auf der linken und eine auf der rechten Seite meines Scheitels, in denen weiße Federn befestigt waren. „Gehen wir als Cowgirl und Indianer?“, scherzte ich. „Na, Blumen magst du ja nicht in den Haaren.“, rechtfertigte sie sich. „Was ist mit Make-up?“ „Ich warne dich!“, rief ich erschrocken, woraufhin sie mich auslachte. „Ich bin eben eher der natürliche Typ...“ „Dafür gibt es auch die passende Schminke.“, meinte sie. „Trotzdem. Ich stehe nicht drauf, anderen vorzumachen, ich hätte endlos lange Wimpern oder eine strahlende Haut ohne Sommersprossen. Solange ich keine Pickel habe, schminke ich mich auch nicht.“ Selbst wenn ich Pickel hätte, würde ich mich nicht schminken, das stand fest. Kurz bevor wir die Wohnung verließen, hielt mich Jamie auf. „Was ist mit den Schuhen?“ „Du trägst doch welche.“, wich ich ihrer Frage aus und deutete auf ihre braunen Halbstiefel, aus denen rote Socken herausschauten. „Mich meine ich damit nicht.“ „Ich trage auch Schuhe.“, tat ich unschuldig. „Aber nicht die, die wir abgemacht hatten!“, erwiderte sie streng. „Ach komm schon! Ballerinas sind total unbequem, die schneiden sich immer in meine Hacken!“, jammerte ich, „Du wirst da nicht in Chucks hingehen!“ „Bitte~“, versuchte ich es weiter. „Entweder du trägst Ballerinas oder du gehst Barfuß, aber nicht in Chucks!“ Ergeben seufzte ich und zog meine Schuhe aus.  „Na gut.“, meinte ich. „Ich gehe Barfuß!“ Als wir an der Schule ankamen, war meine rotblonde Waffe absolut entnervt, versuchte aber, meine nackten Füße zu ignorieren. Auf dem Schulhof stand ein großer, ordentlich geschichteter Holzhaufen, der wohl erst später angezündet werden würde. Die Feier selbst schien sowohl draußen auf dem Schulhof als auch drinnen, in einem großen Saal im Erdgeschoss der zur Hofseite hin geöffnet war, stattzufinden. Obwohl es noch gar nicht fünf Uhr war, waren schon eine menge Leute da – ich hasste solche großen Veranstaltungen. Die einzigen Partys, auf denen ich je war, waren die Familienfeiern in unserem Garten. Aber hier kannten wir fast niemanden... „Hey ihr beiden!“, rief uns Maka zu, als sie uns entdeckte. „Hi.“, begrüßte sie Jamie, während ich still blieb. Der Rest des Chaoten-Trupps war auch hier und begrüßte uns ebenfalls. „Deine Haare sind schön.“, versuchte Tsubaki, mir ein Kompliment zu machen. „Keine Ahnung, ist mir egal.“, antwortete ich so wie auf fast alles andere, was ich gefragt wurde. „Du bist ja noch schlechter drauf als sonst.“, bemerkte Soul. „Wahnsinn, Sherlock, wie hast du das bloß herausgefunden?“, versuchte ich, mir ein Lächeln abzuringen. „Intuition.“, meinte er nur. „Coole Schuhe!“, lachte plötzlich Black*Star los, als er meine Füße sah. „Was ist denn aus den Ballerinas geworden?“, wollte Liz wissen. „Nichts. Ich hab sie einfach nicht angezogen.“ „Du kannst doch nicht Barfußauf eine Abendveranstaltung gehen!“, entsetzte sich die Prinzessin der Kleiderordnung. „Du siehst doch, dass ich es kann.“, antwortete ich stur. „Das geht doch nicht! Das hier ist doch nicht Woodstock!“, rief er entrüstet. „Hast du Angst vor Hippies, Prinzessin?“, grinste ich leicht. Irgendwie machte es Spaß, ihn zu ärgern. „Natürlich nicht!“, rang er um Fassung. „Was ist dann dein Problem? Panische Angst vor Füßen?“, riet ich. Wütend sah er mich an, doch ich wartete nicht auf seine Antwort und ging an ihm vorbei. Die anderen hatten sich zerstreut und ich suchte das Buffet, denn ich hatte seit dem Frühstück nichts mehr gegessen. Das Buffet befand sich im Saal und wurde schon von Black*Star geplündert, der sich voll schaufelte, als gäbe es kein Morgen. Kopfschüttelnd ließ ich ihn stehen und schnappte mir einen Teller, auf den ich Frühlingsrollen, Mini-Sandwiches und vor allem Sushi lud. Da es hier weder indisches oder englisches Essen gab, musste ich mich eben damit begnügen. Nachdem ich die erste Ladung erfolgreich vernichtet hatte, entdeckte ich auf dem Kuchenbuffet einen Schokoladenbrunnen, in dem ich verschiedene Obststücke ertränkte. Als das gefühlt 50. Bananenstück auf den Boden des Brunnens sank, gab selbiger einige ungesund klingende Geräusche von sich, bis er sich nicht mehr regte und die Schokolade zu Stillstand kam. Oops...Besser ich verschwand vom Tatort, bevor es noch jemand bemerkte. Gerade, als ich mich umdrehen und verduften wollte, stieß ich mit irgendeinem Typen zusammen. „Sorry!“, meinte ich sofort und sah mich nach einem Fluchtweg um. „Schon in Ordnung.“, lächelte mich der Typ an. „Hast du Lust, zu Tanzen?“ Was?! Ich rannte ihn fast über den Haufen und er wollte tanzen? Was lief denn mit dem schief? „Äh, nein danke.“, wich ich seiner Frage aus und verschwand, so schnell ich konnte. Draußen angekommen blieb ich in der Nähe des Osterfeuers stehen, das jetzt lichterloh brannte. „Entschuldigung?“, sprach mich ein Junge in meinem Alter an. Das war aber nicht der Kerl von eben...„Möchtest du tanzen?“ „Nein, ich kann nicht tanzen.“, log ich den Fremden dreist an und spürte ein unangenehmes Ziehen in der Magengegend. Warum wollten die denn alle tanzen? Klar, auf der Tanzfläche war schon einiges los, aber warum wollten die mit mir tanzen? Ich hatte nicht mal Schuhe an! An meiner alten Schule hätte sich niemand getraut, mich zum Tanzen aufzufordern...Ich vermisste meinen Ruf als Schlägerbraut. „Entschuldigung, Miss?“ Oh nein, nicht noch einer! „Ich kann nicht tanzen, sorry.“, wies ich ihn gleich ab. „Ich könnte es dir beibringen.“, bot er mir mit einem seltsamen Lächeln an, das vermutlich verführerisch sein sollte. „Nein, danke.“, sagte ich jetzt mit mehr Nachdruck und hielt mich davon ab, gewalttätig zu werden. Das hielt doch keiner aus! „Du siehst aus, als ob du einen Tanzpartner suchst.“, versuchte es der nächste. „Nein.“, knirschte ich mit zusammengebissenen Zähnen. Kam es mir nur so vor, oder stürzten die sich wie Geier auf jedes Stück Fleisch, das sie sahen? Jetzt verstand ich auch, warum die meisten Mädchen in Gruppen zusammenstanden. Kein normaler Kerl traute sich so etwas vor mehreren gleichzeitig. „Hey, möchtest du -“ „Nein!“, unterbrach ich Nummer fünf. Wo waren Maka und die anderen, wenn man sie mal brauchte? Ich kam mir fast vor wie auf einem Minenfeld. „NEIN, ICH MÖCHTE NICHT TANZEN!“, brüllte ich den nächsten an, bevor er überhaupt gefragt hatte. „Das war ganz schön grob, findest du nicht?“ Maka! Erleichtert drehte ich mich zu ihr um. „Die sind selbst schuld, wenn sie mit mir tanzen wollen.“, gab ich zurück. Der nächste, der mich ansprach, würde wohl meine Faust zu schmecken bekommen... „Es ist ja auch eine Tanzveranstaltung!“, lachte die dunkelblonde Meisterin. „Trotzdem bin ich nicht scharf darauf, mit jemandem zu tanzen, den ich nicht kenne.“ Zusammen gingen wir zum Rand des Schulhofs und beobachteten von dort aus das Geschehen. Mit den Augen suchte ich das Getümmel nach Jamie ab, während ich mich auf das Geländer setzte. „Du magst wohl keine Partys, oder?“, bemerkte Maka nach einer Weile. „Nicht wirklich.“, stimmte ich ihr zu und schaukelte mit meinen Füßen. „Es ist laut, es sind zu viele Leute, man kennt fast niemanden...nur das Essen ist ganz in Ordnung.“ „Vorausgesetzt, Black*Star hat nicht alles aufgegessen.“, fügte sie lachend hinzu. „Kannst du überhaupt tanzen?“ „Na, was denkst du wohl?“, grinste ich leicht.  Nachdenklich zog sie ihre Stirn in Falten. „Dass du dich jedem Versuch, dir das Tanzen beizubringen, kratzend und beißend widersetzt hast, weil es dir zu mädchenhaft ist.“ Ich lachte auf. „Naja, das hätte ich wohl, wenn es mir jemand anderes beigebracht hätte.“ „Du kannst also tanzen?“, hakte sie nach. Ich nickte. „Ja, ich hab es von meinen Brüdern gelernt.“, leise prustete ich los. „Meine Brüder! Die vier sind weibischer als ich, und ich bin ein Mädchen!“ Leicht lächelte Maka. „Du tanzt also gerne mit deinen Brüdern?“ „Hmm.“, bestätigte ich. „Und du? Tanzt du gerne?“ „Es ist gut, um die Seelenwellen in Einklang zu bringen.“, meinte sie. „Dann sollte ich wohl mit Stripes tanzen, vielleicht verstehen wir uns dann besser.“, lachte ich. „Ich glaube, das würde bei euch in einer Katastrophe enden.“, lachte jetzt Maka. „Jedes Mal, wenn ihr euch seht, kracht es zwischen euch. Eure Seelen sind wie Feuer und Wasser.“ „Ich schätze, dass ich in diesem Fall das Feuer bin.“ „Macht dir das denn gar nichts aus?“ „Was denn?“ „Dass du und Kid ständig aneinandergeratet.“ „Warum sollte mir das etwas ausmachen? Zu einem Streit gehören immer zwei, und ich weiß selbst, dass ich nicht gerade einfach bin. Aber irgendwie macht es mir Spaß, ihn immer wieder auf die Palme zu bringen.“, grinste ich frech. „Das beruht sicher nicht auf Gegenseitigkeit.“, stellte sie fest. „Nein, bestimmt nicht.“, gab ich ihr Recht. „Aber ich habe kein Problem damit, dass er mich nicht mag. Was wäre das Leben ohne einen Erzfeind?“, lachte ich. „Außerdem kann ich ihn ja auch nicht leiden, und ich werde ganz sicher nicht so tun, als ob.“ „Auch, wenn es einfacher wäre, als sich immer zu streiten?“, runzelte meine Gesprächspartnerin die Stirn. „Für mich wäre das nicht einfacher. Ich bin ein sehr ehrlicher Mensch und sage immer, was ich denke.  Das erwarte ich auch von anderen, denn ich hab etwas dagegen, wenn jemand nur so tut, als würde er mich mögen. Zu lügen ist für mich, als würde ich mich selbst verraten.“ „Hmm.“, machte sie nachdenklich. „Aber Ehrlichkeit kann einem ziemliche Probleme machen.“ „Ich weiß.“, grinste ich wieder. „Du glaubst nicht, wie oft ich mich schon geprügelt habe, nur weil jemandem meine Meinung nicht passte. Trotzdem bin ich zu stur, um mich zu ändern, nur damit mich jemand mag. Ich bin wie ich bin und wenn das jemanden stört, ist das nicht mein Problem.“ Maka lachte leise. „Mich stört es nicht.“, meinte sie dann. Skeptisch sah ich sie an. „Im Ernst? Nicht mal meine Mum kommt mit mir klar.“ „Das macht mir nichts aus, ich bin ja auch mit Black*Star befreundet.“ Ich musste lachen. „Soll das heißen, wir sind jetzt Freunde?“ „Ich dachte, das wären wir schon längst.“, lächelte sie mich an. Irgendwie fühlte ich mich seltsam. Bisher war Jamie meine einzige Freundin gewesen, sie zählte ich schon zu meiner Familie. Und ich war immer der Ansicht, als bräuchte ich niemanden außer meiner Familie, doch es war kein schlechtes Gefühl, jetzt auch eine andere Freundin zu haben. „Okay, jetzt wo wir Freunde sind.“, fing ich an und sprach etwas aus, was mir schon lange auf der Zunge brannte. „Was für eine Waffe ist eigentlich Soul? Oder Tsubaki oder Liz oder Patty?“ „Haben wir euch das nicht erzählt?“, sah sie mich verwirrt an, worauf ich den Kopf schüttelte. „Also, Soul ist eine Sense, Liz und Patty sind Pistolen und Tsubaki kann sich in eine Kettensichel, einen Ninjadolch, eine Rauchbombe und in die Teufelsklinge verwandeln.“, zählte sie auf. Ich hatte noch nie von jemandem gehört, der mehrere Waffenformen besaß, aber das war schon ziemlich cool. Vor allem, weil sie eine Schwertform hatte. Es wäre sicher ein gutes Training, mal gegen einen anderen Schwertkämpfer zu kämpfen... „Ist das nicht Jamie?“, holte mich die Stimme der Sensenmeisterin aus meinen Gedanken. „Wo?“, wollte ich wissen und sie wies in Richtung des Osterfeuers. Es war tatsächlich Jay, die dort stand, und sie schien sich mit einem Jungen zu unterhalten. Misstrauisch zog ich die Brauen zusammen – sie traute sich nie, allein mit einem Jungen zu reden. Was war da los? Ich sprang vom Geländer und bahnte mir zielsicher einen Weg durch das Getümmel, bis ich zwischen meiner Partnerin und dem Kerl stand. „Ähm, hi Ray.“, meinte die rotblonde, während ich ihr Gegenüber abwartend anfunkelte. Er war blond, schlaksig und groß, doch trotz der Piercings in seinen Ohren schien er kein bisschen Gefährlich. Im Gegenteil, er wirkte wie ein verschüchtertes Hündchen und ich war mir sicher, dass ich ihn schon mal irgendwo gesehen hatte. „Das ist Hiro.“, stellte sie ihn vor, der unter meinem Blick förmlich zusammenschrumpfte. „Er ist in unserer Klasse.“ Ach, das war die Sportniete! „Hi.“, grüßte ich ihn, sah ihn aber trotzdem noch misstrauisch an. Man konnte ja nie wissen... „Hi.“, schluckte er. Hatte er Angst vor mir? Gut so. „Bist du Waffe oder Meister?“, begann ich, ihn auszuhorchen. „Meister.“ „Und wer ist dein Waffenpartner?“ „Niemand, ich habe keine Waffe...“, meinte er leise. „Hast du keine Waffe, weil du ohne kämpfst, oder weil dich niemand als Meister haben will?“ Betreten schaute er auf den Boden. Also letzteres. „Warum will dich niemand als Meister?“, sprach ich es aus, bekam aber nur einen mitleiderregenden Blick als Antwort. „Na gut.“, seufzte ich. Hiro war offensichtlich ein Schwächling. „Wieso redest du mit meiner Partnerin?“, bohrte ich weiter. „Ich darf doch wohl reden, mit wem ich will!“, mischte sich Jamie ein. „Und es gibt keinen Grund, warum du so unfreundlich sein musst!“ „Ich bin nicht unfreundlich!“, rechtfertigte ich mich. „Ich versuche nur, dich vor irgendwelchen verrückten Freaks zu beschützen!“ Genervt seufzte sie und sah mich abwartend an. Ergeben hielt ich dem waffenlosen Meister meine Hand hin. „Sorry, wenn ich unfreundlich rüberkam. Ich bin Ray und normalerweise beiße ich nicht.“, lächelte ich leicht, als er vorsichtig meine Hand schüttelte. Vielleicht war er ein Schwächling, aber er schien in Ordnung zu sein. Zumindest kannte ich keinen sechzehnjährigen, der dermaßen harmlos wirkte. „Also, worüber habt ihr euch unterhalten?“, fragte ich in die Runde. „Über die Schnitzeljagd am Dienstag.“, sagte Jay. „Welche Schnitzeljagd?“ „Die, über die Doktor Stein am Montag geredet hat.“, lachte sie mich aus. Ich hatte nur vom Osterfeuer etwas mitbekommen... „Und wie soll das ablaufen?“, wollte ich wissen. „Wie eine normale Schnitzeljagd eben. Nur mit dem Unterschied, dass es mehrere Zweier- und Dreierteams geben wird, die gegeneinander antreten und ausgelost werden.“ Ausgelost?! Bei meinem Glück kam ich noch mit Stripes in ein Team... „Und sie wird in einem Wald in Washington stattfinden.“, fügte Hiro hinzu. „Stimmt.“, erinnerte sich Jamie. „Weil sich dort niemand auskennt und die Chancen so für jeden gleich sind.“ Ja, die Chancen, sich zu verlaufen, standen gut. Am Ende würden doch sowieso die Teams gewinnen, die jemanden mit Seelenspürsinn dabei hatten. Fair Play sah anders aus. „Wofür soll so eine Schnitzeljagd eigentlich gut sein?“, stand plötzlich Back*Star bei uns. Wo kam der denn her? „Damit wir lernen, uns auch in fremden Gebieten zu orientieren.“, erklärte meine Waffe ruhig. „Außerdem ist es ein Wettbewerb, bei dem man etwas gewinnen kann.“ „Dann findet euch schon mal damit ab, dass ihr verlieren werdet. Wenn nämlich jemand gewinnt, dann bin ich es! HYAHAHAHAHA!“, lachte der Idiot. „Was kann man denn gewinnen?“, ignorierte ich den blauhaarigen völlig. „Das soll eine Überraschung werden.“, meinte Jay. Na toll, wenn es eine Überraschung war, konnte sonstwas dabei herauskommen. Wahrscheinlich war der Gewinn an der Sache, dass man etwas lernen konnte wie 'Wettbewerbe bringen das Schlechte im Menschen zum Vorschein' oder 'Freundschaft ist wichtiger als ein Sieg'. Letztenendes  war es mir egal, ob ich gewann oder nicht, denn ich hatte schließlich nichts zu verlieren. Warum sollte ich mich dann anstrengen? Desinteressiert ignorierte ich den Rest des Gespräches und starrte in die Flammen des Osterfeuers. Schulveranstaltungen waren langweilig, das merkte ich jetzt. Das interessanteste, was an diesem Abend passiert war, war der Tod des Schokoladenbrunnens und meine damit zusammenhängende Flucht vor tanzwütigen Kerlen. Es war zwar ganz nett gewesen, sich mit Maka zu unterhalten und von der Schnitzeljagd zu erfahren, aber sich dafür den gesamten Donnerstag wegen einem Outfit die Füße wund zu laufen, war echt unnötig. „Das Feuer ist wirklich schön, oder Ray?“, sprach mich Tsubaki an. Sie und die anderen standen jetzt bei uns, doch Hiro war verschwunden. Ich hatte wirklich nichts von dem mitbekommen, was um mich herum passiert war, während ich in das Feuer gesehen hatte. „Naja.“, meinte ich nur. „Ich hab schon schönere gesehen.“ „Aber es brennt perfekt symmetrisch!“, mischte sich der Totengott ein. „Wahrscheinlich gefällt es mir deshalb nicht.“, erwiderte ich bissig. So wie es aussah, war er für das Feuer verantwortlich. „Symmetrie ist langweilig.“, fügte ich hinzu. „Übrigens habe ich keine Angst vor Füßen.“, wechselte er zähneknirschend das Thema. Versuchte er, die Fassung zu bewahren? „Wer hat schon Angst vor Füßen? Dass dein Problem ein anderes ist, ist offensichtlich.“ „Wie bitte?“ „Na, heute ist immerhin Ostern.“, meinte ich. Verständnislos sah er mich an. „Was macht man an Ostern?“, versuchte ich, ihm auf die Sprünge zu helfen. Seinem Gesicht nach zu urteilen hatte er keine Ahnung, worauf ich hinaus wollte. Ergeben seufzte ich. „Man sucht Eier, Prinzessin, aber du hast deine wohl nicht gefunden.“ Im Hintergrund hörte ich leises Lachen, als ihm für einen kurzen Augenblick die Gesichtszüge entgleisten. Doch kurz darauf wich der schockierte Ausdruck einem wütendem. Einem stinkwütendem, der einem das Blut in den Adern gefrieren ließ und an mir abprallte, wie an einer Gummimauer. Ich zwang mich, nicht über meinen eigenen Witz zu lachen, auch wenn es eher eine Beleidigung gewesen war. „Okay!“, sprang meine Waffe dazwischen, kurz bevor der Totengott explodieren konnte. Schade, das wäre lustig geworden... „Es ist schon ziemlich spät, wir sollten langsam nach Hause gehen. Morgen haben wir schließlich Unterricht.“, erklärte sie. Widerstandslos ließ ich mich von ihr vom Schulgelände ziehen, die anderen folgten uns. „Sag mal.“, sprach mich Liz an. „Ist der Boden nicht heiß?“ „Nö, nur ein bisschen warm.“ „Bist du dir da sicher?“, zog sie skeptisch eine Augenbrauen hoch. „Sicher bin ich sicher, warum?“ Ich lief schließlich schon seit Stunden barfuß herum. Wäre der Boden heiß, hätte ich es schon längst - „Weil deine Fußsohlen voller Brandblasen sind.“ „Was?!“, blieb ich erschrocken stehen und hob vorsichtig einen Fuß. Es stimmte, sie waren übersät mit dicken, roten Pusteln. Bisher hatte ich davon nichts mitbekommen, aber als ich mit einem Finger neugierig eine Blase berührte, spürte ich den Schmerz – überall. „Shit!“, fluchte ich und ließ mich auf den Boden fallen, um meine Füße zu entlasten. Warum hatte ich das nicht früher bemerkt? „Das ist echt typisch.“, seufzte Jay. „Ständig verletzt du dich, weil du absolut nicht auf dich aufpasst!“ „Ja ja.“, wank ich ab. „Und was soll ich jetzt machen?“ „Auf jeden Fall solltest du nicht weiterlaufen.“, meinte Maka. „Am besten, jemand trägt dich nach Hause.“ „Bloß nicht!“, wies ich ihren Vorschlag sofort ab. „Ich lass' mich von niemandem wie ein Baby durch die Gegend tragen!“ „Und wie willst du dann nach Hause kommen?“, warf Soul ein. „Ha!“, rief ich, als mir eine Idee kam. Ich stellte mich auf alle Viere  und begann hoch erhobenen Hauptes, loszukrabbeln. „Back to the Roots!“ Ich hatte erst einige Meter geschafft, als ich einen Arm um meiner Taille spürte und hochgehoben wurde. Im nächsten Moment hing ich auf Souls Schulter. „Hey!“, beschwerte ich mich gleich. „Was soll das? Lass mich wieder runter!“ „Nein!“, bestimmte Maka. „Der Boden ist immer noch heiß, am Ende hast du auch noch an Händen und Beinen Brandblasen. Wir bringen euch nach Hause.“ Schlaff ließ ich mich hängen. Auf noch mehr Pusteln hatte ich wirklich keine Lust. Rückblickend wäre es wohl doch besser gewesen, wenn ich die Ballerinas getragen hätte... Zu Hause angekommen, wurde ich von Soul bis ins Bad getragen, in dem er mich auf dem Wannenrand absetzte. „So.“, fing Maka an, die mitgekommen war. „Als erstes müssen wir dir kaltes Wasser über die Füße laufen lassen.“ Erleichtert seufzte ich, als das kühle Nass über meine Blasen floss. Das tat gut...Dank der Kälte spürte ich den Schmerz kaum noch.  Einige Zeit später wurde das Wasser abgedreht, als die Sensenmeisterin irgendein grünes Pflanzenblatt auf meine Füße drücken wollte, die ich sofort wegzog. „Was ist das?“, beäugte ich die Pflanze misstrauisch. Grün und stachelig war sie und diente sonst nur als lebendige Deko – nicht gerade vertrauenserweckend. „Aloe Vera.“, antwortete mir die dunkelblonde. „Das hilft bei der Heilung.“ Widerwillig ließ ich mir den Pflanzensaft auf die Sohlen schmieren, der den wiederkehrenden Schmerz förmlich aufsaugte. Es fühlte sich fast besser als das Wasser an. Als Maka und Soul endlich gingen, legte ich mich müde auf mein Bett. Ich deckte mich nicht zu, dafür war es mir zu warm und außerdem musste ich aufpassen, dass nichts an meine Blasen kam. Hoffentlich konnte ich morgen wieder laufen... Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)