Meine bessere Hälfte von DasWoelfchen ================================================================================ Kapitel 4: Ein Licht in der Nacht --------------------------------- Der Montagmorgen begann mit Kunst und dem dazugehörigen Banausen. Niemand außer diesem Totengott schaffte es, mich in weniger als einer Minute auf 180° zu bringen. Dafür hätte er einen Orden verdient – oder einen Tritt in den Hintern. Zumindest sah sein X – ich weigerte mich, die paar Striche als Sanduhr zu bezeichnen – am Ende der Stunde wie eine kantige 8 aus. Er hatte es geschafft, in 45 Minuten Unterricht zwei Striche auf die Leinwand zu bringen – eine Meisterleistung! Meine Hoffnungen auf die zweite Stunde – Physik – wurden knallhart enttäuscht, denn wir redeten bloß über das Osterfest, das am kommenden Wochenende stattfinden sollte. Die Shibusen organisierte eine Feier, was fast jedes Mädchen durchdrehen ließ. Fast jedes deswegen, weil mich Partys im allgemeinen einen feuchten Dreck interessierten.Das einzig Gute, was ich an diesem Gerede fand, war, dass auch Seelenkunde so ausfiel. „Ray, weißt du schon, was du anziehen wirst?“, sprach mich die ältere der Thompson-Schwestern an. „Wahrscheinlich gar nichts.“, meinte ich desinteressiert. Schockiert sah sie mich an. „Du...du kannst doch nicht...ich meine...“ „Ich meinte damit, dass ich nicht hingehen werde.“, klärte ich sie auf. „Du musst aber!“, mischte sich jetzt Jay ein. „Du kannst mich doch nicht alleine bei einem Haufen fremder Leute lassen!“ „Huh?“, machte ich blinzelnd, als mir klar wurde, dass sie Recht hatte. Zwar kannten wir Maka und die anderen, aber diese Schule war groß und wir kannten nicht mal einen Bruchteil der gesamten Schülerschaft – was auch ziemlich unrealistisch wäre. Jamie war noch nie jemand gewesen, der freiwillig auf andere Leute zuging oder es nichts ausmachte, wenn man fast niemanden kannte. Schüchtern, so würden sie die meisten Menschen wohl bezeichnen, aber ich wusste, dass sie schlichtweg Angst hatte. Und deswegen konnte ich sie nicht alleine lassen. „Ich denke, dir würde ein Etuikleid gut stehen.“, meinte Liz, als klar wurde, dass ich doch zum Fest gehen würde. Verwirrt sah ich sein an. Was war bitte ein Etuikleid? „Sie weiß doch überhaupt nicht, was ein Etuikleid ist.“, bemerkte Stripes herablassend. „Ach, du etwa?!“, erwiderte ich sauer. „Natürlich. Ein Etuikleid ist ein enges, figurbetonendes Kleid ohne Taillennaht, es ist ärmellos, normalerweise knielang und der Ausschnitt ist meistens waagerecht, rund oder spitz und hat keinen Kragen.“ „Wow.“, machte ich unbeeindruckt. „Du bist ja ein richtiges Mädchen.“ Sofort regte er sich auf. „Im Gegensatz zu dir weiß ich wenigstens, wie man sich zu gehobenen Anlässen richtig kleidet!“ „Oh bitte, das ist 'ne Schulveranstaltung! Niemand erwartet von dir, im Ballkleid aufzutauchen, Prinzessin.“ Die verhaltenen Lacher im Hintergrund verstummten, als die 'Prinzessin' ihren mörderischen Giftblick aufsetzte. „Leute...“, versuchte sich Liz als Streitschlichterin. „Kommt mal wieder runter...“ „Es ist nicht meine Schuld, dass sie keinen Anstand besitzt.“, wetterte der Totengott weiter. „Als ob du die personifizierte Höflichkeit bist!“, ging ich darauf ein. „Ich bin beeindruckt. Du kennst das Wort 'personifiziert' und kannst es in einem Satz benutzen.“ „Gleich verliert einer ein Auge.“, kicherte Patty dazwischen. „Dein Charme reißt einen ja richtig vom Hocker, Prinzessin. Haben dir das deine Kindermädchen beigebracht?“ „Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen.“, sinnierte er. „Das sagt ja gerade der richtige!“, regte ich mich weiter auf. „Tu nicht so, als wärst du der geborene Moralapostel!“ „Im Vergleich zu dir bin ich schon fast ein Heiliger!“ „Bis einer weint.“, seufzte Jamie. „Das ich nicht lache! Da, wo ich herkomme, würdest du nicht mal die Ritterwürde bekommen!“ „Da, wo du herkommst? Du meinst den Schweinestall mitten im Nirgendwo, Bauerntrampel?“ Düster verengte ich meine Augen zu Schlitzen. Beleidigte er jetzt etwa mein Heimatland? „Besser, als in einem Land zu leben, das sich aufführt, als wäre es die Spitze der Schöpfungsgeschichte! Für wen hältst du dich eigentlich?“ „Ich bin ein Gott, falls du das vergessen hast.“ „Oh Wahnsinn, soll ich mich jetzt auf den Boden werfen und dich anbeten? Für mich bist du nichts anderes als ein verzogenes Muttersöhnchen, das Angst davor hat, etwas Falsches zu tun!“ „Immerhin halte ich mich an die Regeln und töte niemanden, der nicht auf der Liste meines Vaters steht!“, fing er wieder mit unserem gestrigen 'Frühstücksgespräch' an. „Ich habe nie behauptet, mich an die Regeln zu halten!“, schrie ich ihn an. Er hatte kein Recht, mich für etwas zu verurteilen, womit sein Vater kein Problem zu haben schien. „Dann kannst du dich genauso gut den Hexen anschließen!“ „MAKA-CHOP!“ Ein gleißender Schmerz explodierte in meinem Kopf, während ich benommen auf meinen Tisch sank. Maka hatte einen ziemlichen Schlag drauf... Der Totengott schien ebenfalls ein Buch auf den Schädel bekommen zu haben, denn er hing halb bewusstlos auf seinem Stuhl. Ha, Gerechtigkeit! Bis zum Literatur-Unterricht in der vierten Stunde ignorierte man mich und Stripes erfolgreich, obwohl wir die ganze Zeit still blieben. Marie-sensei hielt ihren Vortrag über Shakespeares 'Mitsommernachtstraum' und die Klasse lauschte ihr mehr oder weniger aufmerksam. Anschließend folgte eine Doppelstunde Mathe, in der ich mich durch gelangweiltes Seufzen nicht gerade beliebt bei Doktor Stein machte. Es war das selbe Thema, das wir schon in England durchgekaut hatten und ich sah keinen Sinn darin, es noch einmal zu lernen, schließlich konnte ich es noch. In der Mittagspause verabredeten wir Mädchen uns, am Donnerstag zusammen für das Osterfest Shoppen zu gehen – ob ich mit wollte oder nicht, spielte keine Rolle, denn dank Jay musste ich mit. Der Chemieunterricht in der siebten und achten Stunde wurde vorzeitig beendet, nachdem Black*Star eine selbst zusammen gemixte, funktionsfähige Stinkbombe gezündet hatte. Jungs und ihr Humor... „Hey.“, sprach ich auf dem Heimweg meine Partnerin an. „Muss ich am Donnerstag wirklich mitkommen? Sonst gehst du doch auch ohne mich einkaufen.“ „Aber du brauchst doch auch etwas passendes.“, erwiderte Maka. „Nicht unbedingt. Ich kann auch zu Hause bleiben.“ „Vergiss es.“, gab Liz ihre Meinung kund. „Du wirst ganz sicher nicht zu Hause herum sitzen, während in der Shibusen gefeiert wird!“ „Ich sehe trotzdem nicht ein, warum ich Donnerstag den Shoppingwahn hautnah miterleben muss. Jay sucht sowieso immer meine Sachen aus.“ „Warum das denn?“, kam es verwirrt von der magischen Waffe. „Weil ich Shoppen hasse und Jay fast immer meinen Geschmack trifft.“ „Du kommst trotzdem mit.“, bestimmte Maka. „Das wird sicher lustig.“ Ergeben seufzte ich. Wie sollte ich schon gegen fünf Mädchen ankommen? „Wenn du brav bist, backe ich dir auch deine Lieblingsbrownies.“, ködere mich Jay. Und mit brav meinte sie in meinem Fall: keine Schlägerei, weder verbal noch körperlich, und kein Gemecker und Gemotze. „Na gut.“, stimmte ich zu. „Aber du machst zwei Bleche Brownies.“, verlangte ich, worauf die anderen zu Lachen anfingen. „Kann man dich wirklich mit Brownies ködern?“, kam es skeptisch von Soul. „Nur mit Jamies Brownies.“, antwortete ich. „Und das zieht auch nicht immer.“ „Aber immer öfter!“, lachte meine Waffe. Als wir endlich zu Hause waren, schnappte ich mir den Werkzeugkoffer, der unter der Spüle stand, und schraubte an unserer Klingel herum. Würde mir nämlich noch ein einziges Mal dieses Geschrille zu Ohren kommen, ich schwöre, ich würde wahnsinnig werden. Eine halbe Ewigkeit und mehrere Wutanfälle später spielte unsere Klingel in feinster, englischer Manier die Glockenmelodie des Big Bens. „Bin ich gut, oder bin ich gut?“, fragte ich grinsend meine Partnerin. „Du bist die beste.“, antwortete sie abwesend. Konzentriert saß sie über einem Stapel Papiere. „Was machst du da?“, wollte ich wissen und beugte mich über ihren Schreibtisch, auf dem ich die Papiere als Notenblätter enttarnte. „Grandma will, dass ich lerne, wie man transponiert.“ „Aha.“, machte ich, denn ich hatte keinen blassen Dunst, was transponieren bedeutete. „Und, macht es Spaß?“ „Kein bisschen.“, meinte sie gequält. „Warum legst du dann keine Pause ein und spielst auf deiner Klampfe?“, schlug ich vor. Genervt sah sie mich an. Sie konnte es nicht leiden, wenn ich ihre Gitarre so nannte. Leise seufzte sie. „Ich mach unser Abendessen.“ Am Dienstag versuchten Sid und Mira, die Krankenschwester, uns im Sportunterricht umzubringen. Na gut, uns war nicht ganz richtig, denn die einzigen, die fast zusammenklappten, waren ein blonder, schlaksiger Junge und meine Partnerin. Zum Aufwärmen sollten wir mehrere Runden durch die Halle joggen, aber schon nach der zweiten verfiel Jay in einen langsamen Lauf und schnaufte wie eine alte Dampflok. Anschließend folgten Weitsprung und Hürdenlauf, was sie endgültig krepieren ließ. Um sie zu unterstützen, blieb ich in ihrer Nähe, auch wenn so jeder dachte, wir wären beide die totalen Luschen. „Ist alles in Ordnung mit euch?“, kam Maka auf uns zu. „Nicht wirklich.“, antwortete ich mit einem Seitenblick auf Jamie, die beinahe aus den Latschen kippte. „Jamie, du kannst dich ruhig an den Rand setzen und dich ausruhen, wenn es dir nicht gut geht.“, stand plötzlich Mira hinter uns. Dankbar nickte meine Waffe und stolperte zur Bank. Bei der nächsten Übung wurden Zweierteams gebildet, die keine wirklichen Teams waren, da wir gegeneinander kämpfen sollten – ohne Waffen. Mein Gegner war Soul, der mich offenbar völlig unterschätzte. „Keine Angst, ich schlage auch nicht zu fest.“, meinte er, was vermutlich nett gemeint war. Abfällig schnaubte ich, musste aber grinsen. Im Gegensatz zu Jay war ich ein absolutes Sport-Ass, was nicht zuletzt daran lag, dass ich seit der Grundschule im Kampfsport und seit der Mittelschule zusätzlich im Schwertkampf unterrichtet wurde. Meine Mutter hätte mich zwar lieber beim Ballett- oder Gesangsunterricht gesehen, aber ich war stur geblieben. Meine Brüder gingen schließlich auch zum Kampfsport, warum sollte also ich so etwas nutzloses wie singen lernen? Und wie sollte ich Jamie beschützen, wenn ich nicht kämpfen konnte? Aber abgesehen von meiner Partnerin wusste keiner der anwesenden, wie gut ich kämpfen konnte. Gut, ich hatte den Minotaurus besiegt, aber mit einer magischen Waffe war man auch stärker als ohne. Und dank der letzten dreiviertel Stunde, in der ich meinen Stern erfolgreich unter Jays Scheffel versteckt hatte, erwartete niemand von mir, dass ich Soul oder sonst jemanden auf die Matte befördern konnte. Der Anpfiff ertönte und schon sauste Souls Faust auf mich zu. Geschickt duckte ich mich und schlug mit meiner Faust gegen seine Brust – direkt auf den Solarplexus. Vor Schmerz stöhnte er auf, versuchte aber im nächsten Moment wieder, einen Treffer zu landen. Wieder wich ich aus und ließ meine Handfläche gegen sein Ohr krachen. Er ging K.O. zu Boden. „Alles okay, oder war das zu fest?“, sprach ich ihn grinsend an. „Oh Mann...“, stöhnte er nur und setzte sich auf die Bank. Die Kampfübung schien nach dem K.O.-Prinzip abzulaufen: jeder, der verlor, schied aus. Mein nächster Gegner war Kim, ein Mädchen mir rosa Haaren und scheinbar Ox' Angebetete, wie ich mitbekommen hatte. Kim schien einiges drauf zu haben, denn sie steckte einige meiner Schläge nahezu problemlos weg. Doch nach einigen Minuten machte sie einen Schrittfehler, den ich ausnutzte und sie zu Fall brachte. Mein dritter Gegner war Patty, die kein bisschen erschöpft und verdammt schnell war. Es machte Spaß, ihren Schlägen in diesem Tempo auszuweichen und zurückzuschlagen. Einige Treffer musste ich einstecken, bis ich es schaffte, sie aus dem Gleichgewicht zu bringen und ihr die Füße wegzog. Sieg Nummer drei. Der nächste Kampf würde wohl der letzte sein, denn der Unterricht war fast vorbei. Außer mir waren noch Black*Star, Kilik und Stripes übrig, Maka wurde vor zwei Runden von Patty besiegt. Ich war froh, als Sid Black*Star zu meinem Gegner machte, denn auf einen Kampf gegen den Totengott hatte ich keine besondere Lust. Selbstsicher stellte sich Black*Star mir gegenüber und ich war mir sicher, dass das ein harter Kampf werden würde. Aber genau deswegen freute ich mich auch so darauf. Man konnte sich schließlich nur verbessern, wenn man sich mit den besten maß, und der blauhaarige schien zu den besten zu gehören. Die Frage war nur, wer von uns der bessere war. „Ray!“, feuerte mich meine Waffe an, bevor der Kampf überhaupt angefangen hatte. „Denk an Mozart!“ Verwirrt sahen die anderen sie an, ebenso mein Gegner. „Was meint sie damit?“, wollte er wissen. „Das sage ich dir später.“, zwinkerte ich ihn an, wusste ich doch genau, was Jamie meinte. Sie hatte nämlich schon vor einer ganzen Weile herausgefunden, dass ich wesentlich besser kämpfte, wenn ich dabei Musik hörte oder, wie in diesem Fall, sie in meinem Kopf hatte. „Los geht’s!“, rief Mira und schon musste ich mich unter Black*Stars erstem Schlag wegducken. Den nächsten fing ich mit einer Hand ab, hielt seine Faust fest und zog ihn in meine Richtung. Dabei duckte ich mich und warf ihn so über meine Schulter auf den Boden. Noch im Fallen drehte sich mein Gegner, sodass er auf seinen Füßen landete, und feuerte eine Salve Schläge auf mich ab, denen ich tänzerisch auswich oder mit meinen Unterarmen abfing. Dabei musste ich mich jedoch rückwärts bewegen,, weil Black*Star mir immer näher kam. Kurzerhand machte ich einen halben Rückwärtssalto, wobei ich nach meinem Gegner trat, und landete auf meinen Händen. Ich drückte mich vom Boden ab und machte mehrere Flickflacks, schlug Räder und versuchte so, meine Gegenüber zu erwischen. Geschickt wich er meinen Tritten und Schlägen aus, bis ich in die Luft sprang, in der ich eine Schraube drehte. Ich landete neben meinem Gegner und nutzte meinen Schwung, um mit einem kräftigen Tritt seine Seite zu treffen. Unser Kampf zog sich in die Länge, doch wir hörten nicht auf, selbst dann nicht, als die Schulglocke ertönte. Ich wich seinen Schlägen aus, er parierte meine. Black*Star war ein Instinktkämpfer, so wie ich, und es war fast so, als würden wir tanzen. Ich verlor den Kampf, als einer seiner Schläge meine Schulter traf und eine unglaublichen Schmerz explodieren ließ. Fluchend versuchte ich, mich wieder aufzurappeln. „Mann, was war das denn?“, hielt ich mir die Schulter – der Schmerz war genauso schnell verschwunden, wie er gekommen war, doch jetzt war ich total erledigt. „Er hat dich mit seinen Seelenwellen direkt angegriffen.“, klärte mich Jay auf, die plötzlich bei mir war. Mit seinen Seelenwellen? Wie ging das denn? Ich sollte dringend besser in Seelenkunde aufpassen... Vor meiner Nase tauchte eine Hand auf, die zu dem blauhaarigen gehörte. Ohne lange zu zögern nahm ich sie und er zog mich auf die Füße. „Du bist echt gut.“, grinste er mich breit an. „Hmm...Danke...“, nuschelte ich leicht verlegen – ich mochte keine Komplimente. „Aber ich bin besser!“, lachte er. Angefressen blies ich meine Wangen auf. Das lag nur an diesem Seelenwellen-Mist! Trotzdem musste ich zugeben, dass er verdammt gut war. „Machen wir das nochmal?“, schlug ich ihm vor. „Bist du irre?!“, mischte sich Jay ein. „Vielleicht ein bisschen.“, grinste ich sie an. „Klar.“, beantwortete Black*Star meine Frage. „Sag einfach Bescheid, wann ich dich vermöbeln soll.“, lachte er wieder. Spinner, dachte ich nur. Aber es würde ein gutes Training sein, öfter gegen ihn zu kämpfen. Als wir nach dem Duschen auf dem Weg zum Geografieunterricht waren, liefen Jamie und ich am schwarzen Brett vorbei, an dem die Missionen aushingen. Neugierig blieb ich davor stehen, als mir etwas interessantes ins Auge fiel. „Sieh mal!“, hielt ich das Blatt meiner Waffe unter die Nase. „Kanada?“, las sie verwirrt. „Jepp, da soll man sich um einen Riesen kümmern. Klingt doch gut, oder?“ „Wir hatten doch erst am Wochenende eine Mission...“, entgegnete sie. „Na und? Wer weiß, wann wir das nächste Mal aus dieser Wüste herauskommen. Und es ist Kanada! Weißt du, was das bedeutet?“, rief ich fröhlich. „Dass wir warme Sachen einpacken müssen?“ „Genau! Da ist es arschkalt!“, freute ich mich wie ein Schneekönig. Geschlagen seufzte sie. „Und wann soll es losgehen?“ „Jetzt sofort.“, legte ich fest und ging zu der Dame hinter dem Anmeldetresen, die den Bogen abstempelte. „Aber wir haben noch Unterricht!“, waren Jays Einwände. „Ist doch bloß Geografie...“, meinte ich. „Und Bio und Geschichte!“ „Als ob wir da was verpassen würden. Geo können wir, das Geschichtsthema hatten wir schon X-mal und in Bio wird eh nur seziert.“, zählte ich auf. Ergeben ließ sie die Schultern hängen. „Aber Maka hat unsere Sachen schon mit in die Klasse genommen...“, versuchte sie es ein letztes Mal. „Dann holen wir die eben.“ Gesagt, getan – mehr oder weniger. Denn als wir im Klassenraum ankamen, hatte der Unterricht schon begonnen und wir wurden blöd angestarrt. Ich straffte meine Schultern und schritt auf meinen Platz zu, um unsere Taschen zu holen, während Jamie im Türrahmen stehen blieb. Als ich wieder unten ankam und Richtung Tür lief, wurde ich von Sid aufgehalten. „Wo wollt ihr denn hin?“ „Auf Mission.“, antwortete ich und machte mich auf seine Einwände gefasst. „Mitten im Unterricht? Glaubt ihr nicht, dass ihr da etwas verpasst?“, fragte er skeptisch. „Wie wärs mit einem Deal?“, schlug ich vor. „Sie stellen uns fünf geografiebezogene Fragen, und wenn wir alle richtig beantworten, lassen Sie uns gehen. Sollten wir eine Frage falsch oder gar nicht beantworten, bleiben wir bis zum Unterrichtsschluss.“ „Einverstanden.“, nickte unser Lehrer. „Welches ist das flächengrößte Land der Welt?“ „Russland.“, antwortete ich sofort. Er nickte. „Wie heißt der längste Fluss Europas?“ „Das ist die Wolga.“, sagte Jay. „Wo liegen die Victoriafälle?“ „Zwischen den Städten Victoria Falls in Simbabwe und Livingstone in Sambia.“, war meine Antwort. „Und wo sieht man die Polarlichter?“ „Ungefähr ab 66,5° nörlicher und südlicher Breite.“, antwortete Jay. „Gut, und wie heißt die Hauptstadt von Usbekistan?“ „Taschkent.“, kam es in Chor von uns. Überrascht sah er uns an. Tja, wenn man die Welt bereisen wollte, musste man sich in ihr auch auskennen. Ein paar Stunden später befanden wir uns in Yellowknife, einer der nördlichsten Städte Kanadas. Es war, wie erwartet, eiskalt, was uns dank unserer gefütterten Boots und Mäntel nicht viel ausmachte. Noch einmal zog ich meine graue, plüschige Wolfsmütze zurecht, deren Enden wie ein Schal über meinen Mantel fielen. Jamie und ich trugen fast das gleiche Outfit: dunkelbraune Boots, schwarze Jeans, dunkelbrauner Dufflecoat, braune Fäustlinge und schwarze Schals. Der einzige Unterschied war die Mütze, denn Jay trug schwarze Ohrwärmer mit der Maske des Shinigami-samas drauf. „Kommst du jetzt, oder was?“, sprach ich meine Waffe an, die wie eingefroren das Schneemobil betrachtete, auf dem ich saß. „Ist das nicht gefährlich?“, machte sie sich Sorgen. „Es ist gefährlicher, bei diesen Temperaturen die 40 Meilen zu laufen.“, erwiderte ich. „Aber...“, fing sie an. „Wird der Riese uns nicht bemerken?“ „Als ob es den juckt, wenn zwei Mädchen in der Dämmerung durch den Schnee schlittern. Wir sehen schließlich alles andere als gefährlich aus.“ Leise seufzte Jay, setzte sich aber hinter mich auf das Schneemobil und zog sich, ebenso wie ich, eine Schutzbrille auf – eisiger Fahrtwind war bekanntlich nicht so gesund für die Augen. Mit einem Affenzahn – zumindest kam es uns so vor – fegten wir über die Winterlandschaft, in der es nichts gab außer Schnee und vereinzelte Nadelwälder. Kurz nach Einbruch der Nacht kamen wir in der Siedlung an, in der trotz der Gefahrenwarnung niemand zu Hause zu bleiben schien, denn der Pub an der Hauptstraße wirkte, als wäre er brechend voll. Nachdem ich das Schneemobil geparkt hatte, betraten Jamie und ich den Pub, in dem laut gefeiert wurde. Mühsam quetschten wir uns durch die Menge bis zum Tresen, an dem wir uns zwei heiße Schokoladen bestellten. „Warum feiern hier denn alle?“, fragte ich den Wirt, als er uns unsere Bestellung brachte. „Warum, fragst du? Na, die Edmonton Oilers haben gewonnen!“, lachte er laut. Vage erinnerte ich mich an einen Endlosmonolog über verschiedene Eishockey-Mannschaften, mit dem mich mein Cousin Ben vor einiger Zeit gefoltert hatte. Die feierten ein bescheuertes Hockey-Spiel? Kanadier - Hinter uns wurde ein wüster Lobgesang abgestimmt. - waren wirklich nicht ganz dicht. „Und was wollt ihr beiden hier? Euch habe ich hier noch nie gesehen.“ „Wir sind von der Shibusen und sollen uns um den Riesen kümmern.“, redete ich nicht lange um den heißen Brei. Als Wirt wusste er mit Sicherheit davon und vielleicht konnte er uns weiterhelfen. „Die Shibusen?“, fragte er verwirrt, bis er in schallendes Gelächter ausbrach. „Seht mal, Leute!“, rief er durch den Raum. „Die Shibusen schickt neuerdings kleine Mädchen auf Missionen!“ Der ganze Pub lachte. Wütend zog ich die Augenbrauen zusammen. Was war daran bitte so lustig? „Entschuldigung.“, unterbrach meine Waffe vorsichtig das Gelächter. „Aber anstatt uns auszulachen, könnten Sie uns sagen, wo sich der Riese befindet...Bitte?“ „Er lebt in dem Nadelwald östlich von hier.“, antwortete der Wirt mit ernster Miene. „Aber an eurer Stelle würde ich wieder nach Hause gehen. Einige unserer besten Männer werden diesem Ungetüm noch vor Sonnenaufgang den Gar aus machen, also wird eure 'Hilfe' hier nicht gebraucht. Kleine Mädchen können gegen einen Riesen nicht ankommen.“ Nachdenklich verengte ich meine Augen. Diese Leute wollten den Riesen selbst töten? Wieso? „Aus welchem Grund sollte ein zusammengewürfelter Haufen Männer eher in der Lage sein, einen Riesen zu besiegen, als eine Meisterin mit ihrer Waffe?“ „Rache.“, erwiderte der Wirt düster. „Dieses Ungetüm hat viele unserer Leute auf dem Gewissen, dafür wird es bezahlen. Es ungestraft davonkommen zu lassen verbietet uns unsere Ehre.“ Abfällig schnaubte ich. Männer und ihre Ehre! Was war so ehrenhaft daran, sinnlos drauf zu gehen und seine Familie allein zu lassen? Es wäre ein Fehler, diese Leute die Sache allein klären zu lassen, das wurde mir klar. „Wenn euch euer Leben lieb ist, solltet ihr von hier verschwinden!“, riet er uns. Ruhig stand ich auf und stellte meine leere Tasse ab. „Vielen Dank, aber wir haben nicht um Ihren Rat gebeten.“ Ich zog Jamie mit aus dem Pub und sprang mit ihr auf das Schneemobil. „Hältst du es für eine gute Idee, im dunklen zu kämpfen?“, nahm Jay das Wort an sich, als sich vor uns der Schatten eines Waldes abzeichnete. „Nein, aber uns bleibt leider keine andere Wahl, wenn wir diese Männer von ihrem sicheren Suizid abhalten wollen. Außerdem ist es ja nicht völlig dunkel.“, machte ich sie auf den Schnee aufmerksam, der das Mond- und Sternenlicht reflektierte. Am Waldrand angekommen, stellte ich das Schneemobil ab, denn durch den Wald könnten wir damit nicht fahren. „Riechst du schon irgendwas?“, wollte ich von meinem Spürhund – pardon, meiner Partnerin – wissen. „Nur Eis und Harz.“, hielt sie ihre Nase in die Luft. „Oh, und etwas, das nach muffigen Socken stinkt.“ „Das wird er wohl sein.“, schlussfolgerte ich. Starke Körpergerüche konnte sie leicht aufspüren, und bei diesen Temperaturen konnte man nicht erwarten, dass sich der Riese regelmäßig wusch. Ich folgte meiner Waffe in die Dunkelheit. Der Wald wirkte wie ausgestorben. Es war muksmäuschenstill und im Schnee konnte man nirgends Tierspuren erkennen. Einige der niedrigeren Bäume lagen entwurzelt oder abgebrochen auf dem Waldboden, bei anderen war die Rinde abgewetzt oder hatte tiefe Furchen. Es war unverkennbar das Werk eines Riesen, der hier wie ein Gewitter gewütet haben musste. Unsicher klammerte sich Jamie an meinen Arm, als zwischen den Bäumen ein rötlicher Lichtschein hindurch flackerte. Plötzlich krachte und donnerte es, gefolgt von einem lauten, dümmlichen Lachen. Sofort leuchtete Jay auf und lag als Schwert in meiner Hand. Durch die Handschuhe war es ungewohnt schwierig, sie festzuhalten. „Ray.“, zitterte ihre Stimme. „Was machen wir jetzt?“ Ohne auf ihre Frage zu antworten ging ich weiter und blieb hinter einem Baum stehen, als ich eine hell erleuchtete Lichtung entdeckte. In der Mitte brannte ein großes Lagerfeuer und daneben stand ein grau-brauner, etwa drei Meter hoher Felsen, den ich als 'Riesen' enttarnte. „Mann, ist der winzig!“, flüsterte ich leise zu Jay. „Winzig? Der muss sich nur auf uns drauf setzen und schon sind wir Geschichte!“ „Aber für einen Riesen ist der echt klein!“, beharrte ich auf meiner Meinung. „Ein richtiger Riese ist für mich mindestens so groß wie ein dreistöckiges Haus.“ In dem Moment zog der Felsklumpen einen der Bäume am Rande der Lichtung aus dem Boden und warf ihn auf die Baumgruppe auf der gegenüberliegenden Seite. Von lautem Gelächter begleitet riss der Stamm die Bäume mit sich und hinterließ eine breite Schneise im Wald. Das hatte wohl auch vorhin diese donnernden Geräusche verursacht. Okay, der Riese war vielleicht kleiner als erwartet, aber trotzdem verdammt stark! Wie sollten wir ihn nur besiegen? Seine Haut schien aus Stein zu bestehen, also würde ihm Jamies Klinge nichts ausmachen. Fieberhaft dachte ich an eine Lösung und sah mir die Lichtung genauer an. Sie war fast ringsum vom Wald umgeben, aber die Südseite endete in einem großen, ebenen Feld. „Das ist ein See!“, bemerkte meine Waffe. „Wenn wir ihn auf das Eis locken, wird er einbrechen und ertrinken.“ „Klingt nach einem Plan.“, grinste ich leicht und trat aus dem sicheren Schatten heraus auf die Lichtung. „HEY!“, brüllte ich dem Riesen entgegen und fuchtelte wild mit dem Schwert. Das Gelächter brach ab und er starrte mich aus seinen zusammengekniffenen Knopfaugen an. Wenn ich wollte, dass er auf das Eis lief, musste ich ihn provozieren – mein Fachgebiet. „Ich dachte, Riesen wären groß und stark, aber du bist ja ein richtiger Winzling!“, rief ich und bemerkte, dass er wütend wurde. „Du bist der hässlichste Haufen Scheiße, den ich je gesehen habe! Jeder Rotzklumpen macht einem ja mehr Angst als du!“ Dass ich es mit dem Provozieren eventuell etwas übertrieben hatte merkte ich spätestens, als der vermeintlich schwerfällige Felsklumpen mit einer mordsmäßigen Geschwindigkeit wütend brüllend auf mich zu donnerte. So schnell ich konnte, rannte ich auf den zugefrorenen See, mit dem Riesen auf den Fersen, der die Falle erst bemerkte, als das Eis unter ihm gefährlich knackste. Er blieb stehen und sah mit einem dämlichen Gesichtsausdruck auf den Boden, in dem sich immer größere Risse abzeichneten. Als ich mit einem letzten Sprung das rettende Ufer erreichte, kam der Felsbrocken auch endlich auf die Idee, von der Mitte des Sees zu verschwinden. Doch sobald er den ersten Schritt gemacht hatte, brach das Eis endgültig unter ihm weg. Mit verzweifeltem Gebrüll sank er unter die Oberfläche und tauchte nicht wieder auf. Erleichtert stieß Jamie die Luft aus. „Das wars.“, meinte sie, die durch das Wasser den Riesen nicht mehr riechen konnte. Das war einfacher gewesen, als erwartet. Zu einfach, für meinen Geschmack. Misstrauisch zog ich die Augenbrauen zusammen. Plötzlich brach vor uns das Eis auf und der Felsenschädel blickte uns entgegen. Was er etwa Unterwasser zum Ufer gelaufen? Schnell brachte ich Jamie und mich außer Reichweite des Ungetüms und nahm meine Kampfhaltung ein. Wenn wir ihn nicht durch kluge Pläne besiegen konnten, half nur noch rohe Gewalt. Bevor der Riese es völlig aus dem See geschafft hatte, sprang ich auf ihn zu und hieb mit dem Schwert nach ihm. Es verursachte ein kreischendes Geräusch, als die klinge an ihm abrutschte ohne einen Kratzer zu hinterlassen. Seine Haut bestand tatsächlich aus Granit! Keine Klinge der Welt würde es da durch schaffen. Kaum, dass ich diesen Gedanken zu Ende gebracht hatte, wurde ich von einem Felsenarm gegen den nächsten Baum geschleudert. Mit schmerzendem Kopf und Rücken rappelte ich mich wieder auf und suchte nach einer Schwachstelle an seinem Körper. Auch wenn sein Körper aus Stein war, musste er doch Organe haben, so wie jedes andere Lebewesen auch. Aber wie sollte ich dort herankommen, wenn ich es nicht mal durch seine Haut schaffte? Zwar könnte ich es durch seinen Mund versuchen, aber das Risiko, dass er mit seinen Mühlsteinen von Zähnen Jamie verletzte, war zu groß. Die einzige realistische Möglichkeit, ihm Schaden zuzufügen, waren seine Augen, falls ich sie erreichte. Vorausgesetzt, die Hornhaut war nicht steinhart. Entschlossen straffte ich meine Schultern und setzte alles auf eine Karte. Ich rannte auf meinen Gegner zu und sprang kurz vor ihm vom Boden ab, direkt auf sein Gesicht zu. Doch bevor ich ihn erreichte, schloss sich seine Faust um meinen Körper und drückte mir die Luft aus den Lungen. „Scheiße!“, versuchte ich zu fluchen, doch aus meinem Mund kam nicht mal ein Piepsen. Verzweifelt wand ich mich in seinem Griff, der mich wie ein Sarg festhielt. Ich wollte ihm einen wütenden Blich zuwerfen, doch als ich in seine Augen sah, stockte ich. Tränen. Er...weinte? Fassungslos starrte ich den Riesen an, meine Muskeln erschlafften und ich hing widerstandslos in seiner Faust. „Was zum...?!“, hauchte ich tonlos. „Warum bist du so gemein zu mir?“, warf mir der Riese vor, Sturzbäche rannen seine Wangen hinab. „Was?“, krächzte ich. „Ich hab' dir doch gar nichts getan! Warum willst du mir wehtun?“ „Du...du tust mir weh.“, keuchte ich, kaum Luft bekommend. Sofort lockerte sich sein Griff, sodass ich normal atmen konnte, doch er ließ mich nicht los. „Warum tust du das?“, fragte er. Ich ordnete meine Gedanken. Die Frage nach dem Warum war allgegenwärtig. Irgendwas stimmte hier nicht. „Ich komme von der Shibusen.“, antwortete ich langsam. „Du hast viele Leute aus der Siedlung umgebracht, deswegen -“ „Von der Shibusen?“, unterbrach mich der Riese. „Dann muss dich der Shinigami-sama geschickt haben, um mir zu helfen!“ „Mich hat niemand geschickt, ich bin freiwillig hier -“ „Freiwillig? Du kommst freiwillig den ganzen langen Weg hierher, weil du mir helfen willst?“, wechselte seine Stimmung in Honigkuchenpferd-fröhlich. „Nicht um dir zu helfen, sondern den Menschen aus der Siedlung -“ „Wenn du mir nicht helfen willst, was machst du dann hier?“, frage er verwirrt. Gereizt zuckte meine Augenbraue. Wenn er mich nicht ständig unterbrechen würde…! Tief atmete ich durch. „Du hast doch die Leute aus der Siedlung umgebracht, oder nicht?“ Erschrocken blinzelte er und ließ mich los. Unsanft landete ich auf dem gefrorenen Boden. „Ich hab niemanden getötet!“, wehrte er sich. „Du musst mir glauben, ich war das nicht!“ „Und wer war es dann? Läuft hier vielleicht noch ein Riese herum?“ Diese Sache wurde immer verwirrender. Der Wirt hatte gesagt, dass viele Leute von einem Riesen getötet wurden, und der Riese behauptete, dass er niemanden getötet hätte. Und ich war mir sicher, dass keiner von beiden log. „Ich war es nicht, ich war es nicht!“, rief mein Gegenüber verzweifelt und ließ sich weinend auf den Boden fallen. „Ich war es nicht!“ „Ray?“, meldete sich Jamie endlich wieder zu Wort. „Kann es sein, dass du den Auftrag falsch verstanden hast?“ „Wie?“, erwiderte ich konfus. „Es stand nur darauf, dass wir uns um den Riesen kümmern sollen, nicht wahr? Vielleicht war es ja so gemeint, dass wir ihm helfen sollen, die Wahrheit herauszufinden und mit den Menschen aus der Siedlung Frieden zu schließen.“ Erschrocken sog ich die Luft ein. Daran hatte ich gar nicht gedacht! „Hey.“, sprach ich vorsichtig den Riesen an. Wie ein kleines, verletztes Kind saß er da und wischte sich mit den riesigen Fäusten über die Augen. „Ich glaube dir.“, sagte ich langsam und sein Kopf schnellte hoch. „Wirklich?“, strahlte er mich an. Ich nickte. „Aber wir müssen herausfinden, wer diese Menschen wirklich umgebracht hat, verstehst du?“ Er nickte. „Weißt du vielleicht, wer es gewesen sein könnte?“ Er senkte den Kopf und schwieg. „Nein.“, log er. „Die Menschen aus der Siedlung glauben, dass du es warst, und wenn wir nicht schnell herausfinden, wer es wirklich war, bringen sie dich um.“ Es war beinahe gelogen, denn ich traute keinem dieser bärtigen Männer zu, mit einem Riesen fertig zu werden. Trotzdem war es die einzige Möglichkeit, die Wahrheit aus dem Riesenbaby herauszukriegen, denn es war offensichtlich, dass er etwas verschwieg. „War es jemand, den du gerne hast?“, half ich nach, obwohl ich nicht wirklich glaubte, dass so jemand existierte. Wer war schon mit einem Riesen befreundet? Er schwieg einen Moment, dann nickte er langsam. „Aber du darfst ihr nichts tun!“, rief er sofort. „Wem denn?“ Seine Wangen leuchteten rosig und beschämt sah er weg. „Es war ganz sicher nicht ihre Absicht! Sie wollte mir nur helfen, sie ist immer so nett zu mir...“ Ernst zog ich meine Augenbrauen zusammen, doch ich blieb freundlich. „Ist sie deine Freundin?“ Vorsichtig nickte er, bis er ungefragt die ganze Geschichte erzählte. „Sie...sie ist vor ein paar Monaten zum ersten Mal hier aufgetaucht, sie war ganz allein und durchgefroren. Ich hab sie mit zu meinem Lagerplatz genommen und mich um sie gekümmert, bis es ihr besser ging. Sie erzählte mir, dass ihre Eltern sie ganz furchtbar behandelt haben und sie deswegen weggelaufen ist, als sie endlich den Mut dazu hatte. So ist sie bei mir gelandet. Aber dann ist sie weitergezogen. Sie sagte, dass sie einen Platz finden will, an den sie gehört, und sie deswegen nicht bei mir bleiben kann. Trotzdem ist sie immer wiedergekommen, um mich zu besuchen und weil sie wissen wollte, wie es mir geht. So sind wir Freunde geworden. Ich habe ihr erzählt, dass mich die Menschen hier immer so schlecht behandeln, obwohl ich ihnen nie etwas getan habe. Sie war der erste Mensch, der je nett zu mir war. Sie ist immer so freundlich und geduldig und lieb, wie ein richtiger Engel. Sie wird nie wütend oder gemein, und sie versucht immer, mir zu helfen...“, verträumt sah er in den Nachthimmel und schwieg. Misstrauisch ließ ich mir die Erzählung nochmal durch den Kopf gehen. Ein Mädchen, ganz allein im eisigen Niemandsland, mit einer unschönen Vergangenheit. So ganz wollte ich diese Geschichte nicht glauben, denn sie klang wie aus einem dramatischen Hollywood-Streifen. Dazu kam, dass kein Mensch dieser Welt immer lieb und freundlich war, nicht einmal Jamie. Selbst sie konnte wütend werden, wenn sie wollte. „Dann hat dieses Mädchen die Leute aus der Siedlung getötet, die gemein zu dir waren?“, riet ich. Traurig sah er mich an. „Ich wollte das nicht, ich wollte sie aufhalten, ich wollte nicht, dass die Menschen einen Grund hatten, mich zu hassen. Aber sie wollte mir nur helfen, deswegen darfst du nicht böse auf sie sein, ja?“ Langsam ergab alles einen Sinn. Wenn er bei dem Mädchen war, als es diese Menschen umgebracht hat, erklärte das, warum die Leute glaubten, er wäre der Mörder. Aber wie half uns das jetzt weiter? Selbst, wenn wir es den Leuten sagten, würden sie uns nicht glauben. Trotzdem konnte dieses Mädchen nicht ungestraft davonkommen. „Weißt du, wie dieses Mädchen hieß oder wo es jetzt ist? Kannst du mir beschreiben, wie sie aussieht?“, fragte ich den Riesen. „Vielleicht kann der Shinigami-sama ihr helfen, ein zu Hause zu finden.“, fügte ich hinzu, um ihn nicht auf die Idee zu bringen, ich wollte seinem Engel etwas böses. „Du glaubst, er kann ihr helfen?“, strahlte er mich an. „Vielleicht.“, antwortete ich – das war weder die Wahrheit, noch war es gelogen. „Ich weiß nicht, wo sie jetzt ist, sie sagt nie, wohin sie geht. Aber sie ist unheimlich hübsch.“ Super. Es war ja nicht so, dass es auf dieser Welt normalerweise keine hübschen Mädchen gab... „Sie hat lange, schwarze Haare und violette Augen. Und sie heißt Ravenna.“, fügte er hinzu. Ravenna. Irgendwie hatte ich kein gutes Gefühl bei diesem Namen, was nicht zuletzt daran lag, dass 'Ravenna' soviel wie 'Rabe' bedeutete, und das waren mit Abstand die Tiere, die ich am wenigsten mochte. Unendlich schwarz, beängstigend intelligent und trickreich. „Gut, hör zu...Wie war dein Name?“ „Gor.“ „Okay Gor , hör mir jetzt gut zu. Die Männer aus der Siedlung werden bald hier sein, und sie wollen dich töten. Selbst, wenn wir ihnen alles erklären, werden sie uns nicht glauben, also musst du von hier verschwinden, so lange du noch kannst. Ich bleibe hier und sorge dafür, dass du genug Zeit hast, um so weit weg wie möglich zu kommen, okay?“, sah ich ihn entschlossen an. Er nickte vorsichtig. „Muss ich dann für immer weg bleiben?“ Ich lächelte leicht. „Nein, nur so lange, bis die Menschen hier alles vergessen haben.“ „In Ordnung. Aber was ist mit Ravenna? Wenn sie herkommt und ich nicht da bin...“ „Wenn wir sie finden, werden wir ihr alles erklären.“, versprach ihm Jay. Müde stapften Jay und ich aus dem Nadelwald heraus und suchten unser Schneemobil. Nachdem Gor nach langem hin und her endlich aufgebrochen war, mussten wir nicht lange warten, bis die kampfbereiten Männer der Siedlung uns fanden. Wir erzählten ihnen, dass der Riese schon verschwunden war, als wir an seinem Lagerplatz angekommen waren, und er vermutlich schon über alle Berge war. Was sie jetzt taten, lag in ihrer Hand, doch zumindest konnten sie nicht durch den angeblich bösartigen Riesen sterben. „Hey, sieh mal!“, stupste mich Jay an und deutete nach oben. Über den Nachthimmel zog sich ein grün-violett leuchtendes Band, das wir staunend betrachteten. „Wow.“, hauchte ich überwältigt. Ich hatte noch nie etwas so schönes gesehen. Nach einigen schweigsamen Minuten verblasste das Polarlicht. „Schade.“, kommentierte Jay das Verschwinden des Lichts, wechsele dann aber das Thema. „Glaubst du, Gor wird sich zurechtfinden? Ich meine, er ist jetzt ganz allein...“ „Jay.“, seufzte ich. „Er ist das Alleinsein gewohnt, schließlich ist er ein Riese. Die sind immer allein.“ „Trotzdem.“, schmollte sie. „Irgendwie tut er mir leid. Er hat auf der ganzen Welt nur eine einzige Freundin, und die wird er verlieren.“ „Weil sie eine Mörderin ist und exekutiert wird, wenn wir sie finden.“ Vorwurfsvoll sah sie mich an. „Warum hast du dann gesagt, dass der Shinigami-sama ihr helfen kann?“ „Ich sagte vielleicht.“, verbesserte ich sie. „ Und das war keine Lüge. Die Hölle wird ihr Zuhause, wenn sie sich nicht ändert.“ „Das ist traurig.“, meinte Jay. „Findest du? In meinen Augen hat sie es nicht anders verdient, wenn sie so hemmungslos andere Menschen tötet.“ „Aber Gor ist dann ganz alleine...“ „Hmm.“, stimmte ich ihr zu, wieder auf dem Weg zum Schneemobil. Als wir es endlich fanden, ging schon langsam die Sonne auf. „Oh nein!“, rief plötzlich Jamie. „Was denn?“, machte ich mich auf das Schlimmste gefasst. Hatte sie in dem Schnee die Haustürschlüssel verloren? „Wir verpassen den Unterricht!“, antwortete sie geknickt. „Bis wir am Flughafen in Yellowknife sind, dauert es ewig, und wenn wir endlich zu Hause ankommen, ist der Unterricht schon gelaufen!“ „Na und? Dann haben wir eben ein verlängertes Wochenende.“ Denn am Donnerstag hatten wir, wie am Karfreitag, Schulfrei. „Och.“, machte sie traurig. „In den ersten beiden Stunden hätten wir Musik gehabt...“ Seufzend setzte ich mich auf unseren 'heißen Ofen' und fuhr mit Jay wieder in die Siedlung vom Vorabend, schließlich war es bald Zeit für das Frühstück. „Ihr seid am Leben?!“, fielen dem Wirt fast die Augen aus, als wir den Pub betraten. „Dachten Sie etwa, dass die Shibusen kleine, schwache Mädchen auf Missionen schickt?“, spottete ich. Perplex blinzelte er, brachte uns aber kurz darauf unser Frühstück: Schinken, Eier, Bratkartoffeln – wenigstens wurde man hier satt. Nach und nach kehrten einige der Männer zurück, die die Suche nach dem Riesen aufgegeben hatten, und fingen an, die Vertreibung des Ungeheuers zu feiern. Natürlich hatten sie den Riesen vertrieben, und selbstverständlich hatten wir damit nichts zu tun. Es war nur beruhigend zu wissen, dass sie nicht länger auf Rache aus waren, denn das würde nur Probleme machen. Begleitet von einem 'Oh Canada~' verließen wir den Pub und machten uns auf den Heimweg. Wieder in Death City angekommen, bekamen wir fast einen Hitzschlag – die Umstellung von minus 23°C auf plus 37°C war heftig. Müde schleppten wir uns nach Hause. Dem Shinigami-sama hatten wir von Unterwegs aus alles erzählt, also mussten wir nicht mehr zur Shibusen. In unserer Wohnung war es angenehm kühl, trotzdem hätte ich mich am liebsten auf die kalten Fliesen im Badezimmer gelegt. Stattdessen begnügte ich mich aber mit einer kalten Dusche, die meine Lebensgeister wieder wach rief. Nur mit meiner Unterwäsche bekleidet – für alles andere war es mir zu warm – lief ich wieder ins Wohnzimmer, um eine Stecknadel in die Karte zu piksen. Als das erledigt war, ließ ich mich auf das Sofa fallen. Ich war gerade dabei, einzuschlafen, als mein Handy klingelte. Unbekannter Anrufer. Wer war das? „Hallo?“, meldete ich mich. „Hi Ray, hier ist Maka.“ „Woher hast du meine Nummer?“, fragte ich verwirrt. „Jamie hat sie mir gegeben.“, antwortete die Waffenmeisterin. „Seid ihr schon wieder zurück?“ „Ja, seit fast einer Stunde. Warum rufst du an?“ „Naja.“, klang sie etwas verlegen. „Ich wollte dich fragen, ob ich mir ein Buch von dir ausleihen kann.“ „Welches Buch denn?“ „Das, was ich am Sonntag bei euch angefangen hatte. Ich hab aber vergessen, wie es heißt...“ Angestrengt dachte ich nach. Am Sonntag hatte ich den Hobbit gelesen und Maka... „Meinst du 'Song of Ice and Fire'?“, riet ich. „Genau!“, bestätigte sie. „Leihst du es mir aus?“ „Geht klar. Wo wohnst du?“ „Ich kann es auch abholen.“, erwiderte sie. „Nee, lass mal. Ich muss sowieso noch lernen, mich hier zurecht zu finden.“ Außerdem störte es mich, nicht zu wissen, wo die anderen wohnten – sie wussten ja auch, wo Jay und ich wohnten. „Oh, okay.“, stimmte Maka zu und erklärte mir den Weg. Kurzerhand zog ich mir das Sommerkleid vom Sonntag über, schlüpfte in meine schwarzen Chucks und schnappte mir das Buch. „Wo willst du denn hin?“, hielt mich meine Partnerin an der Wohnungstür auf. „Ich bringe Maka ein Buch vorbei.“, erklärte ich. „Ach so, bis dann.“, meinte sie und verschwand wieder in ihrem Zimmer. Dank Makas Wegbeschreibung brauchte ich nicht lange, um ihre Wohnung zu finden. Nervig war nur, dass es keinen Aufzug gab und ich so die drei Stockwerke nach oben laufen musste. Und das bei dieser Hitze! „Hi Ray.“, begrüßte mich Soul, als er die Tür öffnete. „Hey, wo -“ „Ich bin hier!“, schallte mir Makas Stimme von irgendwo aus der Wohnung entgegen. Stirn runzelnd trat ich ein und endeckte die dunkelblonde in der Küche, die sich, wie unsere, offen im Wohnzimmer befand. „Hier.“, hielt ich ihr das Buch hin. „Vielen Dank!“, lächelte sie mich an. „Am Sonntag hatte ich völlig vergessen, dich danach zu fragen, aber es ist total spannend.“ „Hmm, ist auch eins meiner Lieblingsbücher.“, stimmte ich ihrer Meinung zu und sah mich in der Wohnung um. Es war echt gemütlich und ziemlich ordentlich hier, was wohl Maka zu verdanken war. „Aww!“, rief ich plötzlich, als ich neben Maka ein unfassbar niedliches, schwarzes Fellknäuel sah. „Ihr habt eine Katze?“ Automatisch schloss ich die Samtpfote in meine Arme und knuddelte sie, bis sie schnurrte. Katzen waren, neben Hunden, meine absoluten Lieblingstiere, aber meine Mum hatte mir nie erlaubt, eine zu haben – wegen der Haare. Als ob meine Brüder und ich weniger Dreck gemacht hätten... „Sie heißt Blair.“, lächelte Maka auf meine Reaktion hin. „Aww, hallo Blair.“, begrüßte ich die Katze auf die Gefahr hin, wie ein kompletter Freak zu wirken. Wer sprach schon mit Katzen? „Hallo Ray.“, antwortete mir die Katze. Perplex starrte ich sie an. Wie müde musste ich sein, dass ich mir schon sprechende Katzen einbildete? In dem Moment sprang die Katze herunter und keine Sekunde später stand an ihrer Stelle eine kurvenreiche, knapp bekleidete Frau. Meine Kinnlade krachte auf den Boden. „Cooler Hut.“, versuchte ich, meine Fassung wiederzugewinnen und sah hilflos zu Maka. „Blair ist eine Katze mit starken, magischen Fähigkeiten.“, erklärte sie mir. Aha, Magie also. Ich hoffte bloß, dass nicht alle Katzen so waren wie Blair – das würde mein Weltbild zerstören. „Du bist also auch eine Waffenmeisterin?“, sprach mich Blair an. „Äh, ja...“ Hatte ihr das Maka erzählt? „Und mit was für einer Waffe kämpfst du?“, wollte sie wissen. „Jamie ist ein Schwert...“ „Wie war eigentlich eure Mission?“, fragte mich Maka. „Ganz gut, denke ich. Wir waren in Kanada, haben einem Riesen geholfen, eine interessante Geschichte gehört und sogar die Nordpolarlichter gesehen.“, fasste ich zusammen. „Die Polarlichter?“, rief sie mit einem glitzern in den Augen, „Ja, die waren richtig schön.“, schwärmte ich. „Von wegen 'du stehst nicht auf Romantik'.“, warf Soul aus dem Hintergrund ein. „Polarlichter sind auch nicht romantisch!“, rechtfertigte ich mich. „Sie sind ein total cooles Naturphänomen, das durch die Sonnenwinde verursacht wird.“ „Wie sahen sie denn aus?“, wollte Maka wissen. „Wie ein Band, und sie waren grün und violett.“ Ich ärgerte mich, dass ich meine Kamera nicht mitgenommen hatte. „Oh, wir wollen morgen übrigens um halb zwei los.“ „Wohin?“, erwiderte ich verwirrt. „Einkaufen? Du kommst doch mit, oder?“ „Mir bleibt eh keine andere Wahl. Außerdem bekomme ich sonst keine Brownies.“ „Du stehst echt so auf Brownies?“, kam es von dem weißhaarigen, der es immer noch nicht glauben wollte. „Wenn du jemals die Brownies von Jamie probierst, wirst du es verstehen.“, prophezeite ich ihm. „Es gibt nichts besseres.“ Kurz darauf verabschiedete ich mich von den dreien und ging nach Hause. Dort wartete schon meine Partnerin mit dem Abendessen auf mich – Roast Beef-Sandwich. „Hast du das Rezept auch von deinem Namensvetter?“, grinste ich sie an. Ich wusste, dass sie heimlich total auf Jamie Oliver abfuhr, von dem sie keine Sendung verpasste und jedes Buch besaß. „...Ja.“, gab sie mit einem leichten Rotschimmer auf der Nase zu. „Wie war es bei Soul und Maka?“ „Ganz nett, die beiden haben eine Katze. Aber komm nicht auf die Idee, mit der zu schmusen!“ „Wieso nicht?“ Peinlich berührt schüttelte ich nur den Kopf, das musste sie nicht wissen. „Die anderen wollen morgen übrigens um halb zwei los.“ „Oh, okay.“ Nach dem Abendessen setzten wir uns vor den Fernseher und sahen uns sämtliche alten Disneyfilme an, angefangen von 'Bambi' bis zum 'König der Löwen'. Obwohl wir aus dem Alter dafür schon lange raus waren, waren das trotzdem unsere Lieblingsfilme geblieben. Erst um halb eins gingen wir todmüde ins Bett, morgen konnten wir schließlich ausschlafen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)