Bump. von YunYang ================================================================================ Kapitel 3: Luft --------------- „Zweiundfünfzig, dreiundfünfzig, vierund…au!”, die letzten zwei Wochen waren ohne weitere Komplikationen verlaufen. Die Polizei hatte sich bereits nach einer Woche beruhigt, ich war wirklich erleichtert gewesen. Nachdem die Heilung meines Arms voran gegangen war und Jack sich sicher war, dass ich damit anfangen sollte, ihn zu belassen, hatte ich mein Training wieder aufgenommen. Doch Liegestützen schienen immer noch zu viel zu sein. „Ich hab gesagt leicht belasten. Liegestützen zählen nicht dazu!”, Jack warf mir eine kleine Wasserflasche zu, ich fing sie auf und trank einen Schluck. Ich wusste genau, dass es meinem Arm schadete. Aber es schockierte mich so sehr, dass ich so unbeweglich geworden war. Ich hatte mich seit fast fünf Wochen kaum noch von der Stelle bewegt. „Du kommst ja wenigstens jeden Tag raus aus dieser Qualmhöhle.”, meckerte ich. „Ich werd’ bestimmt nicht fitter, wenn ich Passivraucherin bleibe!” „Ach, die paar Zigaretten. Als ob die was ausmachen würden.” „Hast du eigentlich ‘ne Ahnung, wie viel du rauchst?! Fast ein Päckchen am Tag, du Suchti!”, Jack schnaubte auf. Ich wusste, dass es keinen Sinn hatte. Was das Thema ,,Rauchen” anging, so war er noch sturer, als er ohnehin schon war. Seufzend ließ ich mich auf meinen Rücken fallen. Die Wohnzimmerdecke ödete mich langsam an. „Ich kann das bald nicht mehr. Ich brauch frische Luft.” „Dann mach’n Fenster auf.” „Jack!” „Jaja, schon gut!”, knurrte er und drückte seine Zigarette im Aschenbecher aus. „Aber was willst du schon machen? Selbst, wenn du rennen könntest, in der Situation, in der sich die Runner befinden ist das einfach nur lebensmüde.” „Wenigstens ein Spaziergang, bitte!”, flehte ich und richtete mich ein wenig auf. Er fuhr sich seufzend durch die Haare und starrte aus dem Fenster. Es schien beinahe so, als würde er den Himmel mustern. „Also gut, also gut.”, stimmte er schließlich zu. „Aber zieh dir irgend ‘ne Jacke von mir drüber, man darf weder deine Tätowierungen noch die Wunde sehn’.” „Geht klar, vielen Dank!”, endlich! Nach so langer Zeit. Ich stand auf und eilte in das Schlafzimmer. Ich zog eine Jacke aus seinem Kleiderschrank, es war wohl die Kleinste, die er hatte. Sie passte sogar fast. Ich zog den Reißverschluss zu und lief ins Wohnzimmer zurück. Jack saß noch immer faul und bequem auf dem Sofa. Ich begann mich zunehmend zu fragen, wie genau er es schaffte, bei der Menge an Zigaretten und der Faulheit so einen trainierten Körper zu haben und seine Figur zu halten. Es würde wohl ein ewiges Rätsel bleiben. Auch er stand schließlich auf, wenn auch sehr mühsam, und zog sich seine Schuhe an. Als ich die Haustür öffnete, umschlang mich eine kühle Brise. Ich atmete tief ein und aus. Diese Luft, diese Freiheit. Es tat so verdammt gut. „Eine Runde um’n Block, mehr is’ nicht drin.”, normalerweise hätte ich wohl dagegen protestiert, aber es war mir egal, wie lange ich draußen war, ich genoss jede Sekunde. Die Hauptsache war einfach nur, dass ich draußen war. Alles andere war nebensächlich. Wir liefen nebeneinander den Weg entlang. Erst jetzt konnte ich sehen, wo genau Jack eigentlich wohnte. Er wohnte ziemlich zentral, in der Nähe der U-Bahn-Station und südlich des Eden Centers. Mein Blick schweifte von den leicht sterilen Häuserreihen hinauf zu den Dächern der Hochhäuser. Ich strecke meinen gesunden Arm zum Himmel hinauf und sagte: „Bald werde ich wieder dort sein.” „Das wird noch ‘ne ganze Weile dauern.”, Jacks entmutigende Worte erreichten mich nicht. „Ich werde es schaffen. Das Runner-Dasein ist alles, was ich habe.” „… du kannst dich immer noch nicht an irgendwas erinnern?”, es war wohl dieser leicht melancholische Ton in seiner Stimme, der mich meinen Arm senken und zu ihm herüber sehen ließ. Ich dachte einen Moment über seine Frage nach. Doch, ich hatte mich an etwas erinnern können, es war nicht viel, doch es gab meinem jetzigen Leben einen Sinn. „Ich weiß nur, dass ich es liebe, zu rennen. Dass ich es mein ganzes Leben getan habe und so lange und solange tun werde, bis ich mich nicht mehr bewegen kann.” „Verstehe. Soweit willst du geh’n?”, ich seufzte. Er hatte sich eine Zigarette angezündet. Der Rauch zog mir direkt ins Gesicht. Mir reichte es nun endgültig. Ich schnappte ihm die Zigarette aus dem Mundwinkel und warf sie auf den Boden. Ich trat mit Absicht dreimal drauf herum, solange, bis sie zur Unerkenntlichkeit zerfleddert gewesen war. „Hey!” „Deiner Gesundheit kann’s nicht schaden!” „Pah! Meiner Gesundheit? Sagt grad die Richtige! Ich bin viel fitter als du, glaub mir.” „Beweis es.”, sagte ich fordernd. Jack zog seine Augenbrauen zusammen, doch dann grinste er und beschleunigte sein Tempo. Ich folgte ihm bis zum Ende der Straße. Dort befanden sich ein paar Container und Zäune. Es erinnerte mich an etwas, plötzlich wusste ich es wieder: Dieser Ort sah genauso aus wie…. „. . .Ein Runner-Trainingsgelände.”, murmelte ich vor mich hin. „Yep, genau das is’ es.”, antwortete er. Er zog seine Jacke aus und reichte sie mir. Sein dämliches Grinsen zierte nach wie vor sein Antlitz. Ich hörte, wie er sich seine Schultermuskulatur einrenkte. Typisch Kerl. Schließlich deutete er auf einen Weg. „Hast du den Blick noch?” „Ich erinnere mich ein bisschen daran…. Ich kenne nicht mehr alle Abkürzungen in dieser Stadt, aber viele.” „Gut so. Also, zum Thema Fitness: Wenn ich diese Runde in unter ‘ner Minute vierzig pack, darf ich auf dem Rückweg eine rauchen. Wenn ich’s nicht schaff’, dann lass ich’s bleiben.” „Eins-Vierzig?”, das war ein ordentliches Tempo. Doch was genau tat er da eigentlich? Er war kein Runner. Selbst, wenn er sich in diesem Gebiet auskannte, sollte er fallen, wusste er nicht, wie er sich abrollen sollte. „Hey, Jack, lass das doch. Ich will nicht, dass du dich noch verletzt.” „Keine Angst, zähl’ einfach mit.” „Wa-?!”, ehe ich etwas sagen konnte, überwand er die erste Wand mit einem Wall Run. Er zog sich an dem Zwischendach eines Hauses hinauf und lief ein Stück zurück, um genügend Anlauf für einen Sprung zu haben. Als er abgesprungen war, konnte ich sein nächstes Ziel erkennen. Er hatte es auf eine Regenrinne abgesehen gehabt, die er ohne weiteres erreicht hatte. Ich trat einige Meter zurück, um auf die Dächer blicken zu können. Erst zwanzig Sekunden…, er war wirklich schnell. Er sprang von einem Dach zum Nächsten, rollte sich so ab, dass er Zeit sparen konnte und schlitterte einfach unter Rohren und anderen Hindernissen hindurch. Mit einem Mal kamen Zweifel in mir auf. Er konnte kein Runner sein, oder etwa doch? Seine Technik war hervorragend, doch sein Lebensstil war das komplette Gegenteil zu dem Lebensstil eines Runners. Er war nun im letzten Drittel der Runde und er hatte noch stolze dreißig Sekunden zeit. Er balancierte auf einer Rinne zu einem anderen Dach herüber, rannte ein Stück und nutzte ein paar umherliegende Kästen, um an das Geländer heranzukommen, dass sich in einer Höhe von knapp zweieinhalb Metern befand. Er zog sich hinauf. Noch fünfzehn Sekunden. Anscheinend war sein Blick etwas langsamer als der von Runnern. Er verlor fünf Sekunden, als er nach der Rinne Ausschau gehalten hatte, die sich ein paar Meter von ihm entfernt befand. Er sprang auf sie zu, rutschte an ihre herunter und sprang über den Zaun, der das Gelände eingekesselt hatte. Etwas außer Atem fragte er schließlich: „Und?” „Eine Minute achtunddreißig. Glückwunsch.”, sagte ich und warf ihm seine Jacke zu. Er zog sie an, holte noch einmal tief Luft und kreuzte schließlich meinen Blick, den ich an ihn geheftet hatte. „Was?” „Du bist ein Runner, oder?”, fragte ich. Ich wollte es wissen. Kein normaler Mensch konnte sich so bewegen, ohne eine spezielle Ausbildung hinter sich zu haben. Er schwieg eine ganze Weile. Dann zog er seine Zigarettenpackung aus seiner Tasche, zündete sich eine Zigarette an und zeigte mir mit einem Wink die Richtung. Wir folgten dem Weg eine ganze Weile, bis wir schließlich an einen kleinen Platz inmitten von ein paar Bürogebäuden kamen. „Wo sind wir hier?”, fragte ich leise. Jack lief an den hintersten Rand des Platzes. Auf einer kleinen, nahezu farblosen Wiese konnte ich einen Stein erkennen. Auf ihm war etwas eingraviert. Jack kniete sich davor. ,,Das ist ein Gedenkstein.”, sagte er und blickte zu dem Dach des Gebäudes hoch, dass sich vor uns befand. Es bestand fast komplett aus Glas und die Kanten des Dachs waren abgerundet, man hatte wohl kaum eine Chance, sich daran festzuhalten. ,,Ein Kumpel von mir ist runter gestürzt. Wie du vielleicht bemerkt hast, sieht man hier selbst mit dem Blick nichts, woran man sich festhalten könnte. Er hat’s auch nicht gesehen. Aber er wollte auf das andere Dach. Nervenkitzel. … Er… lag später in zwei Teilen hier unten.”, ich wusste nicht, was ich sagen sollte. In mir stieg ein dumpfes Gefühl auf, ich glaube, es war das Gefühl, das man Reue nannte. „Es tut mir leid…. Ist das… der Grund, warum du nicht mehr rennst?” „Unter anderem, ja.”, er stand auf und begab sich auf den Rückweg. Ich sah noch ein letztes Mal zu dem Dach des Gebäudes hinauf. Zusehen zu müssen, wie einer seiner Freunde aus dieser Höhe fällt, musste mit das Schlimmste sein, was einem passieren konnte. Aber so war es wahrscheinlich immer. Es war wohl gerade der Rand, der uns Runner so faszinierte. Weil wir das sahen, was andere nicht sahen. Auch, wenn wir dafür mit unserem Leben bezahlen mussten. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)