GuildsTale - Soul-Guardians von Devi (Skyzou und Shania) ================================================================================ Prolog: Just like any other day ------------------------------- „Hey, Takuya“, begrüßte ihn seine Mutter, als er die Wohnung betrat, „wie war es in der Schule?“ Dieselbe langweilige Frage wie jeden Abend. Takuya zuckte mit den Schultern und gab die selbe Antwort, die er auch sonst immer gab: „Es war okay.“ Er setzte sich an den Essenstisch, lud sich einige Spaghetti und Tomatensauce auf den Teller und begann zu essen. Wie alles, was seine Mutter auf den Tisch brachte war es köstlich, sie war nicht umsonst Köchin in einem stadtbekannten Restaurant geworden. „Oh je, so spät schon! Ich beeil mich besser“, sagte seine Mutter und klopfte ihm noch einmal auf die Schulter - er war schließlich schon 16, ein Kuss auf die Wange musste da wirklich nicht mehr sein - dann beendete sie ihren Satz, „und bitte denk daran, räum' noch ein bisschen auf und spiel nicht wieder den ganzen Abend an deinem Computer. Ich weiß, es ist nicht schön, dass ich um die Zeit immer arbeiten muss, aber ich kann mir das nicht aussuchen. Vielleicht wird das ja mal besser und dann können wir wieder unsere Spieleabende wieder machen, so wie früher, oder?“ „Hattest du es nicht eben noch so eilig?“, fragte Takuya ungerührt. „Oh, richtig. Also dann, bis morgen!“ Mit diesen Worten verließ Fumiko die Wohnung, ihren Sohn wie jeden Abend alleine zurücklassend. Natürlich würde er sich nicht an die Bitte seiner Mutter halten - warum sollte er auch? Sie war nicht da und solange er seine Hausaufgaben erledigte und die Noten stimmten, würde sein Hobby doch garantiert kein Problem werden. Nachdem er den Einschaltknopf seines Computers sacht berührt hatte, hörte er beinahe sofort das Geräusch des hochgefahrenen Windoofs X, das ihn willkommen hieß, wie einen alten Freund, der vor dem Zusammentreffen noch einkaufen musste und daher ein paar Süßigkeiten für einen feuchtfröhlichen Abend mitgebracht hatte. Heute überprüfte er seine E-Mails ausnahmsweise nicht - jede mögliche Hausaufgabe würde sich eben hinten anstellen müssen - und startete gleich sein Lieblingsspiel: Das MMORPG „GuildsTale“. Als erstes überprüfte er seine Gruppe. Wie üblich waren sie alle da - wo sollten sie auch hingegangen sein? Sie verbrachten doch die ganze Zeit damit, auf die Rückkehr ihres großen Anführers zu warten. Auf ihn, den großartigen Skyzou. Den Ritter, keine Angst vor nichts und allzeit bereit, sein Leben zu riskieren. Kapitel 1: Meet n' greet ------------------------ „Hey, bist du on?“, fragte Takuya seinen Freund Daisuke via Team-Speak. Erst nach ein paar Minuten kam die Antwort: „Ja, aber nicht mehr lange, muss heute Abend auf Michiru aufpassen.“ "Das darf doch wohl nicht wahr sein!", dachte Takuya wütend. Daisuke hatte ihm doch versprochen, ihm bei diesem elenden Quest zu helfen und dieses Versprechen würde er jetzt nur wegen seiner dummen Nichte brechen? „Du weißt, dass ich ohne dich nicht weiterkomme? Ich brauche deine Magier, mit meinen Schwertern sind diese Geister nicht zu schlagen.“ Es war nicht seine Schuld, dass aus seiner Gruppe nur ein Mitglied Magie wirken konnte, und das nicht mal offensiv. Dieser verdammte Zufallsgenerator musste gehackt gewesen sein, als seine Gruppe erstellt wurde, dachte Takuya. Um eine Gilde zu besetzen, würfelte ein Zufallsgenerator mithilfe komplexer mathematischer Berechnungen ein Team zusammen, das im Idealfall ausgeglichen war, aber öfter auch zu stark in eine der beiden Richtungen - Kraft und Magie - ging. Takuya war ziemlich gut in Mathe, aber ihm waren die Berechnungen zu hoch, außerdem ließ sich unter Fans kaum eine verlässliche Angabe zu dem Rechenprozess finden, der dem Generator zugrunde lag. Was allerdings ein witziger Zufall war: Während Takuyas Gilde zwei Ritter, eine Schützin und einen Weißmagier beinhaltete, bestand Daisukes Team aus drei verschiedenen Magierberufen und einem Bestienbändiger. Und während man sich darüber streiten konnte, wen es schlimmer getroffen hatte - Takuya zufolge war es natürlich er selber, da Daisukes Team, abgesehen von ihm, nur aus Mädchen bestand und somit beim Verlieren wenigstens niedlich aussah - war es beinahe so, als wären sie von vornherein dazu bestimmt worden, die meisten Quests gemeinsam zu absolvieren. Es gab, so dachte Takuya, nicht viele Mitspieler, die auf dem Niveau der zwei spielten und denen er zutrauen würde, bei einer schwierigen Mission mit ihm zusammenzuarbeiten. Das erforderte Taktik, gegebenenfalls auch Opfer und die wenigsten Partner, die er bisher hatte, ließen sich von ihm bedingungslos wie Schachfiguren gebrauchen. „Das ist mir klar“, gab Daisuke an, „ Aber ich kann es nicht ändern. Du wirst dich noch mal gedulden müssen, wir können es ja morgen Abend nochmal versuchen, oder?“ Der Rechtsklick auf die benutzerfreundliche Team Speak-Leiste, dem ein Klick auf „beenden“ folgte, war Takuyas Antwort darauf. Er lehnte sich zurück, drehte sich in seinem Drehstuhl langsam erst nach links, dann nach rechts, dann betrachtete er den Bildschirm angestrengt. Das nächste Quest war sehr wichtig - es ging um das Auffinden eines legendären Schwertes - er brauchte einen zu 100 % verlässlichen Partner. Seine Gildenmitglieder, Shania, Yiris und Amion mochten zwar gut ausgestattet, treu und stets erreichbar sein, aber sie waren immer noch NPCs, die er befehligen musste. „Oh, da bist du ja wieder, Skyzou, willkommen zurück!“ Die große Sprechblase, die über dem Kopf von Shania erschien, ließ Takuyas Miene etwas aufhellen. Shania war seine Schützin, eine Dämonin, die auch Flügel hatte. Eher zur Zierde als für irgendetwas anderes, aber auf alle Fälle war sie süß. Die goldgelben Augen, das kirschrote, kurze und wild verlaufende Haar, die engen und knappen Klamotten, die nichts verbargen... ein solches Mädchen würde er im echten Leben niemals treffen. Aber solange er Shania hatte, eine der stärksten Zufallskreationen, die der Generator je ausgespuckt hatte, brauchte er keine anderen Mädchen. „Oh, Skyzou-san! Ich hab dich vermisst!“ Das wiederum kam nun von Yiris, dem dunkelhäutigen Weißmagier, wie immer in seinem weißen Kapuzenmantel. Zusammen mit seinen blauen, zu einem Irokesen aufgestellten Haaren und den grünen Augen gab er eine ziemlich merkwürdige Farbmischung ab. Er war guter Durchschnitt, auf seinem Gebiet überzeugend und wusste im Notfall auch, sich mit dem Speer zu verteidigen. Ein guter Gefährte. „Hey, Skyzou.“ Pfft... Amion, dieser Schleimbeutel. An seiner Stelle sollte ein süßes, katzenohrentragendes Mädchen sein, das zaubern konnte. So aber war er nur der übliche Klischee-Ritter, blond, „silbergraufarbene-Augen“ - ja klar, silbergrau, nicht kanalrattenfilzpelzgrau - und sowohl mit dem Schwert als auch mit Basismagie vertraut, dachte Takuya. Er war zu perfekt. Er stahl ihm die Schau. So albern es ihm auch vorkam, auf einen NPC für irgendwas eifersüchtig zu sein, er mochte Amion nicht. Trotzdem trainierte er ihn mit den anderen und kaufte ihm gutes Equipment, es konnte ja nicht sein, dass die ganze Gruppe nur wegen ihm leiden müsste. Zack. Schwarzer Bildschirm. Für einen Moment saß Takuya nur verdattert im Dunkeln. Was... was war das? Gab es einen Stromausfall? Er tastete nach einem Feuerzeug, in seiner Schublade befand sich auch tatsächlich eines, es war mal ein Wahlgeschenk gewesen, aber es anzuzünden half auch nicht weiter. Er konnte wieder etwas sehen, aber deswegen war ihm noch lange kein Licht aufgegangen. Was jetzt? Er suchte als erstes nach seinem Handy, um Daisuke auf seinem Mobilgerät anrufen zu können. Wenn der auch keinen Strom hatte, dann hatte es wohl was mit den Stadtleitungen zu tun und man könnte nichts weiter dagegen unternehmen. Eine kurze, monotone Abfolge von gedehnten Pieptönen, wie üblich beim Telefonieren, dann raschelte es in der Leitung und eine sehr helle Stimme antwortete: „Halloo?“ „Daisuke?“, antwortete Takuya verwundert. „Nee“, kam es gedehnt aus der Leitung zurück, dann erfolgte ein kurzes Kichern. „Hier‘s Michiru!“ Na wunderbar. Nicht nur, dass Daisuke sich weigerte, ihm zu helfen, er hatte auch noch seiner blöden kleinen Nichte das Handy zum Spielen gegeben. „Hallo, Michiru, ich bin ein Freund von Daisuke.“ „Du bist der Freund von Daisuki-chan? Schöön!“ "Daisuki-chan? Was für ein bescheuerter Spitzname war das denn bitte?", dachte Takuya und konnte nicht verhindern, dass sich langsam eine gewisse Aggression in ihm regte. „Habt ihr euch schon geküsst?“, fragte Michiru weiter, eine kaum zu überhörende Spannung lag in ihrer Stimme. Wie alt war die Kleine nochmal? „Nein. Hör mal, Michiru, bring das Handy doch mal zu deinem Onkel, ja?“ „Der‘s nich‘ da.“ „Ich weiß, dass er da ist. Bringst du ihm bitte das Handy?“ „Was krieg‘ ich denn dafür?“ „Bring ihm das Handy!“ Takuya mochte kleine Kinder nicht und dass Michiru so eine Nervensäge war, war da auch nicht besonders hilfreich. „Du hast mich angeschrien!“ Offenbar den Tränen nahe schniefte Michiru einmal. Ach du liebe Güte. „Hör mal, es ist wichtig, dass ich mit... Daisuki-chan rede.“ „Du bist gemein! Mit dir will Daisuki-chan bestimmt gar nich‘ reden!“ Ein lautes Knacken - die unkontrollierte Kraft eines wütenden Kindes - und ein Tuten in Leitung erfolgten. Michiru hatte entweder aufgelegt, oder das Handy kaputt gemacht. So oder so, hier war nichts mehr zu holen. Verdammte Mistgöre. Also betrat Takuya mit seiner aus dem Badezimmer organisierten Taschenlampe das Treppenhaus und ging langsam und vorsichtig nach unten, auf den Keller zu. Keiner der Nachbarn war anzutreffen, also waren sie entweder ausgegangen, arbeiteten noch oder schliefen schon. So oder so - wieso nur schien er der einzige in diesem Haus zu sein, der sich für die Stromversorgung interessierte? Im Keller angekommen fand er den Sicherungskasten schnell, aber der würde ihm nicht weiterhelfen: Alle Stromleitungen waren eingeschaltet. Der Schaden musste extern irgendwo liegen. Da kam Takuya ein Gedanke. Der Notstromgenerator. Heute Abend war der letzte Tag, den ein wichtiges Event stattfinden würde, bei dem es unter anderem seltene Raritäten zu erhalten gab, die man sowohl in-game als auch auf Online-Verkaufsportalen für eine Menge Geld verkaufen konnte. Es war elementar wichtig, dass er heute Abend das Quest zusammen mit Daisuke schaffen würde. Wenn nötig, dann müsste er ihn eben dazu zwingen. Oder er schnappte sich seinen Laptop und sie fesselten Michiru an den flauschigen Sessel vor den Fernseher, damit sie dort von Shin-Chan und seinen Freunden für einige Stunden ruhig gestellt werden könnte, damit Daisuke Zeit für ihn hätte, dachte sich Takuya. So oder so, es lag eindeutig ein Notfall vor, also auch jeder Grund, den Notstromgenerator zu nutzen! Zurück in der mit Kerzenlicht beleuchteten Wohnung setzte sich Takuya sofort wieder vor seinen Computer. Soweit, so gut - alles startete normal, er hatte Internetverbindung, also könnte er auch gleich Daisuke kontaktieren. Wenn der nicht offline gewesen wäre. Also entschied sich Takuya nochmals für die Handy-Methode, bekam aber abermals bloß Michiru an den Hörer. „Psst, nich‘ stören! Wir spiel‘n Memory!“, flüsterte das Mädchen verschwörerisch, „Un‘ ich lieg‘ vorn!“ Klick. Wenn er nicht so beherrscht gewesen wäre, dann hätte Takuya jetzt problemlos seine Tastatur zerschmettern können. Dieses dumme, widerliche Kind! Sein dummer Freund! Dieser dumme Stromausfall! Was sollte denn noch passieren? Aber er brauchte dieses Item. Unbedingt. Es gab nur noch einen einzigen, legitimen Ausweg. Takuya versuchte zum ersten Mal, sich in den Server einzuhacken. Er war zwar passwortgeschützt, mehrfach, aber das hielt den Jungen nicht davon ab. Es war nicht seine Schuld, dass sich heute alles gegen ihn zu verschwören schien. Verhältnismäßig schnell war ihm dann der Zugang zum Zentralverwaltungssystem geglückt, das zu Events und ähnlichen Anlässen das Inventar der Spieler einstellen konnte. Jedes jemals programmierte Item war hier gespeichert, mit allen wichtigen Informationen bezüglich der Zuteilung und der einzelnen Spieler. Da war er ja. Skyzou von der Soul-Guardians-Gilde. "Hervorragend, das lief ja noch einfacher als geplant", dachte Takuya und konnte gegen ein überlegenes Grinsen, das sich plötzlich über sein Gesicht schob, nichts tun. Ah, da war auch schon das Item, das Skyzou herbeigesehnt hatte: Amanomurakumo, das legendäre Schwert. Ein Klick und es würde ihm gehören. Das war doch nur fair, oder? Es gab allerdings ein Problem: Das Item, das er suchte, war einmalig. Es gab nur ein Exemplar dieses Schwertes. Und scheinbar hatte just in diesem Moment ein Admin entschieden, wer es bekommen sollte, sodass die verfügbare Zahl, kurz bevor Takuya es seinem Bestand hinzufügen konnte auf „0“ umsprang. Nein. Nein. Nichts da. Er würde seine Waffe bekommen. Um jeden Preis. Es war leichter als erwartet, die Anzahl der legendären Waffe zu erhöhen. Schon war das unglaubliche Schwert, Amanomurakumo, nicht ein- sondern zweimalig. Geht doch! Mi einem zufriedenen, kühlen Lächeln lehnte sich Takuya auf seinem Sitz zurück und atmete erst einmal aus, als ob er während des gesamten Prozesses die Luft anhalten müssen - was er natürlich nicht getan hatte - dann verließ er auch schnell den Zentralserver und öffnete das Spiel. Seine Mannschaft hieß ihn willkommen, wie immer fröhlich winkend. Aber bevor er sich mit ihnen ins Getümmel stürzen würde, würde es erst eine wichtige Sache zu erledigen geben. Fix öffnete er sein Iventar und doppelklickte auf das Schwert, um es auszurüsten. Amanomurakumo. Sein Schwert. Ein lautes Brüllen ließ den Boden unter ihm erzittern und den Schreck durch sämtliche Glieder fahren. Mit einem Ruck stand Takuya auf seinen Beinen, nur, damit er Puddingknie bekam und gleich wieder stürzte. Auf den harten, staubigen Erdboden. Moment mal. Staubiger Erdboden? Wo war sein Stuhl hin? Was machten die ganzen Bäume hier? ... Wo war er hier? Hastig blickte er sich um. Scheinbar befand er sich in einem Wald. Dichtes Gestrüpp und hochgewachsene, aber dennoch mit Blättern an den Stämmen übersähte Bäume ragten in den Himmel, die offenbar keiner Takuya bekannten Klimazone zugeordnet werden konnten. Außerdem sah mindestens jeder vierte Baum, bei genauerer Betrachtung, gleich aus. Da war es schon wieder, dieses laute, markerschütternde Brüllen, das den gerade wieder aufgestandenen Takuya erneut von den Füßen riss. Wenn er sich bei dem ganzen Spaß mal keine Gehirnerschütterung zuziehen würde... Als er aber den Ursprung des Brüllens sah, waren alle diese Gedanken wie weggeblasen. Ein riesiges, moosbewachsene, stierartiges Monster, das zwei lange und gebogene Hörner auf dem Kopf trug, kam vor ihm zum Stehen und starrte ihn aus orangefarben glühenden Augen an. Speichel tropfte ihm vom Maul herab und ungeduldig scharrte es auf dem Boden, sich scheinbar für einen Angriff bereit machend. Panisch griff Takuya hastig nach etwas, was sich möglicherweise als Waffe verwenden ließ - dabei fanden seine Finger den Griff eines Schwertes. Er zog daran - und schon hielt er es in der Hand. Er brauchte keinen Expertenblick, um feststellen zu können, um was für ein Schwert es sich handelte: Es war das legendäre, ein- nein, zweimalige Schwert Amanomurakumo. In einer seltsamen Mischung aus Entsetzen und Faszination starrte er auf die blanke, schlanke Klinge des Katana-Schwertes. „Skyzou! Pass auf!“ Wie aus heiterem Himmel hatte sich das Stiermonster über ihm aufgebäumt, hielt allerdings in der Luft inne - und fiel dann mit einem dumpfen Knall auf den Boden, wo es mit schwachen Bewegungen liegen blieb. Vor Angst konnte sich Takuya immer noch nicht rühren - lediglich ein großer, dunkelblau schimmernder Pfeil, der in dem leblosen Körper steckte, verriet, was geschehen sein musste. Als Takuya sich umdrehte, blickte er in die wohl hübschesten und dennoch ungewöhnlichsten Augen, die er je erblickt hatte. Sie waren bernsteinfarben... Langsam arbeitete sich sein Blick von den Augen weg, erst nach oben, dann nach unten. Er konnte kirschrotes Haar erkennen, das auf eine geordnete Art und Weise abstand - wie das normalerweise nur in Animes der Fall war - ein Oberteil komplett aus Leder, das nur das Nötigste verdeckte, ein Gürtel, der um einen kurzen Lederrock gebunden war, der kaum bis an die Knie der Person reichte. Lange, schwarze Stiefel verbargen die Beine, aber nur soweit, als dass sie vor einem Angriff schützen würden, nicht aber vor unruhigen Blicken. „Shania!“, enfuhr es Takuya. Er hatte keine Ahnung, wo er hier war, wie er hier her gekommen war, aber eines war sicher: Das Mädchen seiner Träume, Shania, war ebenfalls hier und hatte ihm soeben das Leben gerettet. "Was für ein perfekter Moment für eine romantische Entwicklung!", dachte sich Takuya und stürmte auf Shania zu. Die wirkte zwar verdutzt, konnte aber auch nicht mehr ausweichen, eher er sie fest an sich drückte. Er war auf einmal wie ein völlig anderer Mensch. „Oh, wundervolle Shania! Wie kann ich dir nur für diese Rettung danken? Möchtest du vielleicht einen Kuss von deinem Skyzou?“ Das Letzte, was Takuya spürte, ehe alles um ihn herum in schwarz versank, war ein heftiger Schmerz auf seinem Kopf. Langsam öffnete er seine Augen, aber ein heftiger Schmerz und Schwindelgefühle bewegten ihn dazu, selbige schnell wieder zu schließen. „Oh, du bist ja wach, Skyzou, sehr schön. Moment, ich tu was gegen deine Schmerzen.“ Langsam öffnete Skyzou seine Augen - und eine gewaltig erscheinende Speerspitze nahm beinahe sein gesamtes Sichtfeld ein. „Cure - Healing Prayer!“ Augenblicklich spürte Skyzou, trotz seiner Panik, wie der Schmerz in seinem Kopf nachließ. Das Ganze hätte er wohl ziemlich cool gefunden, wenn der wohltuende Heilspruch nicht aus einer Mädchenserie geklaut gewesen wäre. Der Speer verschwand vor seiner Nase, so als würde er in silberne Flocken zerfallen, dann blickte er in die sanften, grasgrüne Augen eines ebenfalls merkwürdig bekannt erscheinendes Gesichts. Schokoladenfarbene Haut. Ein hellblauer Irokesenschnitt, ein weißer Kapuzenmantel, der so lang war, dass nur zwei nussbraune Lederschuhe darunter hervorlugten - kein Zweifel, dieser Junge sah genauso aus wie Yiris, der Weißmagier seiner Gilde. Aber das war unmöglich. GuildsTale war ein Videospiel, das sich ein paar Programmierer für eine Firma ausgedacht haben, das zwar gratis ist, einen aber doch verleitet, echtes Geld für allerlei nützliche und weniger nützliche Dinge auszugeben. Es war bloß ein Spiel. Es gab keine Möglichkeit, die logisch erklären würde, wieso er auf einmal in seinem Lieblingsspiel steckt. Es sei denn... Vielleicht ist bei dem Stromausfall ja etwas passiert. Mit ihm. Möglicherweise ist er ums Leben gekommen, aber irgendein Gott hat entschieden, dass er in seinem Spiel weiterleben darf. Gab es in der griechischen Mythologie einen Gott für MMORPGs? „Hey, Skyzou, geht es dir gut?“, fragte Yiris nun zaghaft. „Du sitzt seit zwei Minuten so bewegungslos da und starrst Löcher in den Flickenteppich.“ „Ja, ist schon gut, Yiris!“, entgegnete Takuya, der wohl ab sofort als Skyzou weiterleben würde, „Alles ist bestens! Es ging mir niemals besser!“ „Dann können wir ja gleich zu unserer Mission aufbrechen“, hörte Skyzou eine tiefe Stimme sagen. Dadurch, dass Shania ein Mädchen und Yirirs hier direkt vor ihm war, musste diese wohl zu Amion gehören. Ein Blick in die Richtung, aus der die Stimme kam, bestätigte seine Vermutung. Blonde, sanft gelockte, engelsgleiche Haare und kanalrattenfilzpelzgraue Augen. Dazu ein blaues Stirnband, ein ernster Blick und eine Silberrüstung - das musste der klischeehafte Rittersmann sein. „Tsuyu-chan von der Dragonheart-Gilde suchte nach einer Gilde, die für sie eine Greifenfeder beschafft. Es hat mich einiges an Mühe gekostet, diese Mission zu erhalten, also kümmern wir uns besser gleich darum.“ Skyzou kannte Tsuyu-chan zwar nicht persönlich, sondern nur übers Internet, hatte aber mit seiner Gilde schon öfter Lieferantenaufträge angenommen, um die Gildenkasse aufzubessern. Sie war eine zuverlässige Vertragspartnerin. Generell funktionierte der Mehrspieler-Aspekt von GuildsTale auch zu großen Teilen über Missionen, die die Spieler untereinander vergaben. Das reichte von Item suchen bis hin zu gemeinsamen Missionen, die man im Rahmen des Storymodus verfolgte. Mit der Story hatte Skyzou allerdings schon länger abgeschlossen, das war schließlich der unwichtigste Teil dieses Spiels. Und auch wenn er häufiger rentable Missionen seiner Mitspieler angenommen hatte, selbst vergab er nie Aufträge. Wenn er einmal einen bestimmten Gegenstand brauchte oder eine Begleitertruppe für eine Mission suchte, dann war es Daisuke, der sich bereitzuhalten hatte. Und wenn der mal nicht konnte, dann hätte Takuya stets einfach eine abendliche Überstunde einlegen müssen. Nicht, dass ihn das großartig gestört hätte, aber er versuchte - abgesehen von seinem Bewegungsmangel - möglichst gesund zu leben, da war es schon ein bisschen nervig, eine Stunde Schlaf weniger zu haben. Aber er war nicht mehr Takuya. Er war Skyzou, der unerschrockene Anführer der Soul-Guardians-Gilde, der jetzt all seine Zeit dem Aufbau einer respektablen Existenz in diesem Spiel widmen konnte. Was konnte es für ihn Schöneres geben? „Also dann“, begann Amion, „Setzen wir uns in Bewegung und erfüllen einmal mehr den Wunsch unserer geschätzten Dragonheart-Gilde. Wir müssen nur noch einmal am Laubschattenwald vorbei, da Shania dort noch ein wenig Einzeltraining hält.“ Einen Moment herrschte Stille im Raum. Skyzou wartete darauf, dass Amion weiter redete, merkte aber gleich, dass Yiris und Amion ihn auf einmal anstarrten. Was war denn los? „Lasst uns wie immer unser Bestes geben, Jungs!“, sagte Skyzou zögerlich, es schien das gewesen zu sein, was sie erwartet hatten. Richtig, er selbst war der Anführer und würde stets das letzte Wort behalten. Dann noch mit Shania an seiner Seite... ob wohl sowas wie ein Eheschließungs-Mod einprogrammiert war? Während die Jungen nun also in Richtung des Waldes gingen, entschloss sich Skyzou, ein wenig Konversation mit Yiris zu betreiben. „Hey, Yiris.“ „Ja, Boss?“ Boss... das hörte sich vielleicht gut an. „Yiris, du hast mich doch vorhin geheilt, als ich verletzt im Ruhezimmer unserer Gilde lag, korrekt?“ „Ja.“ Der Sieg bei einem Event hatte Skyzou zu diesem absolut abgefahrenen Anbau verholfen, der dazu diente, die Gesundheit von Gildenmitglieder schneller wiederherzustellen, wenn sie bei einem Kampf heftigere Verletzungen einstecken mussten. Hin und wieder vermietete Skyzou die Räumlichkeit auch an andere Spieler, was eine wundervolle Extra-Verdienstquelle darstellte. „Kannst du mir vielleicht sagen, wie ich dahin gekommen bin?“ Unsicher rieb sich Skyzou den Hinterkopf, obwohl er wegen Yiris‘ Magie keinen Schmerz verspürte. Auch wenn es nicht schmerzte, so schnell würde er nicht vergessen, wo ihn dieses harte Etwas getroffen hat. „Shania hat dich per Pegaschwingen-Express herbringen lassen.“, antwortete Yiris schulterzuckend. „Sagte nur, es hätte dich hart erwischt. Und weil du ohnmächtig warst, konnte sie dir auch keine Heilkräuter verabreichen oder einen vorbeilaufenden Weißmagier um ein „Cure Healing Prayer“ bitten. Die sogenannte Gebetsmagie funktioniert nur, wenn du sie auch hören kannst.“ „Das musst du mir nicht erklären. Ich hasse unnötige Wiederholungen von Dingen, die ich schon weiß.“ „Hoppla, entschuldigung!“ Beschämt lief Yiris rot an und wandte seinen Blick ab. Aus dem werde ich nichts mehr rausbekommen, dachte Skyzou, aber bestimmt kann Shania mir weiterhelfen. Hoffentlich hält sie mich jetzt nicht für einen Schwächling. Kapitel 2: Cleaver-Angel ------------------------ Eine gefühlte Ewigkeit später hatten die drei Krieger den Laubschattenwald erreicht, auch Shania war relativ schnell gefunden. Sie trainierte ganz in der Nähe des Waldrandes und gleich, als sie die Jungen bemerkte, ließ sie ihren Bogen verschwinden, wieder die silbernen Flocken, wie bei Yiris‘ Speer vorhin, dann kam sie auf die Gruppe zu, nur um schätzungsweise drei Meter von ihnen entfernt stehen zu bleiben. Mit einer abschätzigen Geste begrüßte sie die Jungen und blickte dann erwartungsvoll zu Yiris. Einen Moment lang, blickte er ihr entgegen und blinzelte etwas verwirrt, dann war es, als ob ihm etwas Vergessenes wieder einfallen würde und peinlich berührt zog er die Schriftrolle, die ihre Mission enthielt, aus der Tasche. Amion stand ein Stück abseits von ihnen, er war wohl stehen geblieben und schien sich plötzlich sehr für die heimische Flora zu interessieren. „Uh, ähm, also, Shania“, begann Yiris nervös, „ Wir, äh, haben einen, öhm, Auftrag, und zwar sollen wir, äh, auf den Mühsalberg klettern und dort eine Greifenfeder, öhm, organisieren. Für Tsuyu-chan von der Dragonheart-Gilde.“ Bei dem mühseligen Gestammel wäre es für Shania wohl besser gewesen, sich zu Yiris zu gesellen und selbst mal einen Blick auf die Mission zu werfen, dachte Skyzou, aber sie blieb nur ruhig stehen. „Alles klar, dann los.“ Zögernd trat Skyzou einen Schritt auf Shania zu, dann schließlich beschleunigte er. Zu seiner Überraschung schien sie auf einmal rückwärts zu gehen, je näher er kam. „He, Skyzou, was soll denn das? Halte gefälligst den Abstand ein!“ Was für ein Abstand? Wovon redete Shania? „Aber Shania,“, entgegnete Skyzou, „ Eine Umarmung von deinem Anführer ist doch eine große Ehre und Ermutigung für unsere Mission, oder?“ „Was zum- fass mich bloß nicht an, klar!?“ Blitzschnell hatte Shania einen komplett hölzernen Pfeil aus dem Köcher auf ihrem Rücken gezogen und schoss damit auf Skyzou. Mit einem lauten „kläng“ schlug der Pfeil auf Skyzous Rüstung auf, nur um dort, ohne einen Kratzer zu hinterlassen, zu Boden fiel. Der Pfeil war nicht zu einem Angriff gedacht, das wusste Skyzou, er hatte Shania nur das beste Equipment zur veffügung gestellt, aber wofür denn dann? Um ihn auf Abstand zu halten? „Ich dachte, ich hätte mich klar genug ausgedrückt, als ich neulich gesagt habe, dass ich von keinem von euch angegrabbelt werden möchte! Lasst eure Pfoten weg! Da besteht für dich keine Ausnahme, auch wenn du der Anführer bist, Skyzou!“ Wer war dieses Mädchen? Und was hatte sie mit Shania angestellt? Die echte Shania, die NPC-Shania, die er kannte, hörte immer auf ihn und war immer freundlich, bestimmt hätte sie ihn immer umarmt, oder sogar geküsst, wenn er es gewollt hätte. Abgesehen davon, dass es die Option in dem Spiel nicht gab. „Shania?“, fragte Skyzou zaghaft, „Ist... in meiner Abwesenheit möglicherweise irgendetwas Merkwürdiges passiert?“ „Nein“, lautete die Antwort, die überrascht klang, „Was soll denn da gewesen sein?“ „Naja... du warst immer so herzlich und dann vorhin, als ich dich mal umarmen wollt, hast du mir eine heftige Kopfnuss gegeben.“ Skyzou hatte sich wieder erinnert. Es war Shanias Bogen, den er vorhin auf den ungeschützten Kopf bekommen hatte. „Wieso machst du das denn auch einfach so plötzlich? Du bist auch ganz anders als sonst, Skyzou“, mischte sich jetzt Amion ein. „Meine süße Shania-chan hat nun einmal Berührungsängste.“ Was hatte der edle Ritter da gerade von sich gegeben? „Keine Berührungsängste, Amion“, entgegnete Shania, „Ich hasse es nur, von Männern angefasst zu werden. Oder sie zu dicht an mir dran zu haben. Das ist nichts Persönliches.“ Was zum- Shania war nicht nur auf einmal zur Tsundere mutiert, sie war auch noch eine lesbische Tsundere?, dachte Skyzou entsetzt, konnte sich aber gerade noch davor bewahren, diese Gedanken laut auszusprechen. Da war sie, seine perfekte Traumfrau, mit ihrem Traumkörper und ihrer unglaublichen Stärke, aber sie war trotzdem unerreichbar für ihn? Es war, als hätte ein sehr schöner Traum eines schlafenden Kindes plötzlich eine sehr düstere, unerwartete Wendung genommen. „Was verziehst du denn so das Gesicht, Boss?“, fragte Yiris nervös, schien seine Frage aber gleich zurücknehmen zu wollen. Schließlich kannte er die Antwort schon. „Still jetzt“, unterbrach Shania auf einmal und prompt kamen die drei Jungen zum Stillstand. „Wir sind bereits am Fuße des Berges angekommen. Greife haben ein sehr empfindliches Gehör, wir sollten also möglichst leise sein, um keine ungewollte Aufmerksamkeit auf uns zu ziehen. Achtet mal auf eure Umgebung, wenn wir Glück haben, dann liegt vielleicht hier im Aufstiegsbereich schon eine Feder.“ Angestrengt und leise suchte Skyzou die Gegend um sie akribisch ab, aber seine eigentlichen Gedanken galten gar nicht der Feder, sondern nur seiner aktuellen Situation. Irgendetwas war passiert - entweder sein Ableben oder ein Vorgang, den er vorläufig, bis er es besser wissen würde, als „Plothole“ bezeichnen würde - und er fand sich auf einmal in seiner Lieblings-Spielwelt wieder. Allerdings verhielten sich seine Gildenmitglieder anders als sonst. Irgendwo war es zwar klar, dass sie nicht den eindimensionalen Kumpanion-NPC-Charakter beibehalten würden, den sie im Spiel hatten, aber dass Shania so völlig anders wäre? Und Amion plötzlich ein Fanboy? „Höh? Hey, was war das?“, fragte Yiris aufgeregt, „Da, über uns!“ Simultan richteten sich drei Augenpaare gen Himmel, wo nur ein Schatten zu erkennen war. War das die Art Schatten, die ein Greif in diesem Spiel werfen würde? „Für einen Greifen ist das zu klein und dünn“, schien Shania akustisch auf seinen Gedanken zu reagieren, „Das sieht für mich eher aus, wie ein Mensch. Oder zumindest etwas mit Menschenform, es könnte genauso gut ein Dämon oder ein Vampir sein.“ Noch etwas, was der Zufallsgenerator bei Skyzou verfehlt hatte: Abwechslungsreiche Rassen. Abgesehen von Shania waren alle Mitglieder seiner Gilde normale Menschen. Klar, er hätte jetzt keine so seltene Rasse wie „Erzengel“ oder „Werwolf“ erwartet, aber trotzdem... drei Menschen? „Beeilt euch jetzt, Jungs. Vergessen wir die Suche hier und stürmen lieber schnell den Berg!“, rief Shania aufgeregt. „Nicht, dass noch jemand anderes von dem Auftrag Wind bekommen hat und vor uns eine Greifenfeder besorgen will.“ "Ich glaube nicht, dass da eine besondere Gefahr besteht, Tsuyu-chan hat sich bisher immer an alle Vereinbarungen gehalten", dachte Skyzou, aber wenn denn nun wirklich jemand vor uns bei ihr auftaucht, der für das gewünschte Objekt auch noch mit einer geringeren Belohnung zufrieden ist... was würde Tsuyu-chan dann tun? Shania könnte Recht haben. Der Aufstieg auf den Berg gestaltete sich schwieriger als erwartet. Sehr schnell wurden die Bäume und Sträucher am Wegesrand weniger, immer dünner auf der Gegend verteilt, nur um trockenem Erd- und Felsboden Platz zu machen, der mit der Zeit immer steiler wurde. Bald schon konnte die Gruppe, wenn sich einer von ihnen umdrehte, den Wald von schräg oben sehen. „Jetzt ist es wichtig“, sagte Shania betont ruhig, „Dass ihr wirklich keine unnötigen Geräusche mehr von euch gebt. Tretet auf keine Kiesel, kommt nicht jetzt auf die Idee, eure Items zu sortieren und sagt kein Wort. Wer diese Regel bricht, der bekommt von mir persönlich einen Pfeil in den Rücken!“ Meinte sie das ernst, als Aufmunterung oder doch als Witz? Skyzou wurde aus diesem Mädchen einfach nicht mehr schlau. Ruhig traten die Gildenmitglieder weiter voran. Die Gegend wurde wieder ebener und weniger steil, was das Schleichen ungemein erleichterte. Shania lief erneut wenige Meter vor dem Rest der Gruppe und wirkte hochkonzentriert. Die Umgebung schien ihnen nicht gerade zu helfen, es war völlig ruhig. Kein Wind wehte, keine Wolke stand am Himmel - war das eigentlich im richtigen Spiel immer so gewesen? Darüber hatte Skyzou noch nie nachgedacht. Auch etwas anderes bereitete ihm gerade Sorgen. Alles war anders, als es hätte sein sollen. Was, wenn er gar nicht in seinem Spiel war, sondern in einer anderen Welt, die dadurch entstanden war, dass er diese Welt, die nicht dafür bestimmt gewesen war, betreten hatte? Es gab noch keine zufriedenstellende Antwort auf diese Frage, aber es machte die ganze Angelegenheit schrecklich kompliziert. Ein schrecklicher, lauter Schrei durchbrach die nachdenkliche Stille. Es klang nicht wie der Schrei eines Menschen oder menschenähnlichen Existenz, eher wie ein großer Vogel. Könnte das... „Das hörte sich an wie ein Greif!“, schrie Yiris ängstlich. Irgendwo wartete Skyzou auf den Pfeil von Shania, aber ihm wurde schnell bewusst, wie dämlich diese Erwartung war. „Vergesst die Regel, los jetzt!“, rief Shania und als hätten sie auf dieses Kommando gewartet, stürmten Yiris und Amion los. Letzterer nicht, ohne Shania einen ermutigenden Blick zu schenken. „Worauf wartest du, Skyzou? Dieser Greif könnte in Gefahr sein, mach schon!“, schrie Shania ihn an und Skyzou traute sich nicht, ihr auch nur einen Moment zu widersprechen. Auf dem nahen Gipfel angekommen bot sich den Gildenmitgliedern ein schreckliches Bild. Ein röchelnder, stark blutender Greif lag ihnen zu Füßen, eine Lache aus Blut breitete sich um ihn aus. Einer der beiden Flügel war abgeschnitten worden, der übrig gebliebene Stumpf bewegte sich langsam, als würde er noch versuchen, davonzufliegen. Eine gewaltige Axt ragte aus seinem Oberkörper empor, ebenfalls voller Blutspritzer. Skyzou spürte, wie eine Welle von Übelkeit in ihm aufstieg. Noch nie, nicht einmal im schlimmsten Horrorfilm, den er gesehen hatte, war ihm ein so übel zugerichtetes Weise begegnet, erst recht nicht so bedenklich real. Außerdem war ihm völlig neu, dass man die Gegner in GuildsTale so sehr abschlachten konnte. Für gewöhnlich steckte ein Gegner nur eine gewisse Anzahl an Schlägen ein, ehe er umfiel und sich dann auflöste, gelegentlich ein nettes Item hinterlassend. Aber das hier... Auch Amion und Yiris schienen fassungslos. Es war also auch für sie kein normaler Anblick. Shania hingegen starrte über das sterbende Tier hinweg, wie paralysiert. Erst dachte Skyzou, dass es vielleicht der Schock über den entsetzlichen Anblick war, aber als er ihrem Blick folgte, da sah er, wen, oder eher was sie anstarrte. Ein Mädchen stand am Rand der Bergspitze, ganz ruhig, Shanias Blick erwidernd. Sie hatte lange rosafarbene Haare, die überall Blutflecken hatten, trug eine Schulmädchen-Uniform, ebenfalls sehr beschmutzt. Ihr Augen, obwohl sie ebenfalls rosarot gefärbt waren, strahlten eine erschreckende Kälte aus und ein unheimliches Lächeln lag auf ihren Lippen. Sie wirkte fast ein bisschen, als wäre sie sich der Grausamkeit, die sie veranstaltet hatte, gar nicht bewusst. Oder als würde sie sie - was noch viel schlimmer werden - als ein Spiel ansehen, wie ein kleines Kind, das arglos einer Spinne die beine abriss. Skyzou schaute zu Shania, in der Hoffnung, sie würde diesem merkwürdigen Mädchen mal die Meinung sagen, aber sie stand nur still da und- Moment mal, zitterte sie etwa? „Leute“, verkündete Shania laut, „Wir verschwinden. Sofort. Na los jetzt!“ Hastig gingen Yiris und Amion wieder zum Gebirgspfad zurück, Skyzou tat es ihnen nach einem eindringlichen Blick von Shania gleich. Sie liefen, bald gefolgt von Shania, den Weg herunter und dreimal stolperte Skyzou auch dabei, fiel aber zum Glück nicht hin. Am Fuße des Berges versuchte Skyzou, erstmal wieder Luft zu holen - jetzt rächte sich die lange sportfreie Zeit also - und richtete, noch keuchend das Wort an Shania: „Wer... war das?“ Shania atmete normal, eher noch etwas langsamer als sonst, dann antwortete sie: „Cleaver-Angel.“ Das war also Cleaver-Angel gewesen? Skyzou durchzog es eiskalt. Zum ersten Mal hatte er diesen Namen vor drei Jahren gehört, von Daisukes älterer Schwester, der Mutter von Michiru. Auch sie spielte das Spiel, über sie war er ja überhaupt erst dazu gekommen. „Cleaver-Angel“, hatte sie damals erzählt, „ist ein Phänomen, beinahe so etwas wie eine Urban Legend unter den vielen Spielern von GuildsTale. Sie gehört angeblich zu einer der größten Gilden von allen, die nur aus den stärksten Figuren der besten und exklusivsten Klassen besteht. Der Name dieser Gilde ist unbekannt, manche wissen nicht einmal, ob sie existiert. Man weiß nicht, ob sie aus echten Spielern bestehen oder NPCs oder Glitches sind, nur wenige Leute haben einen von ihnen bisher getroffen. Sie sollen eine familienähnliche Beziehung zueinander haben... wie bei einer familia. Angeblich sitzen hinter ihnen Mitglieder der japanischen Yakuza. Und jede Frage, die sich an die Entwickler richtet und diese Leute betrifft, wird konsequent ignoriert oder umgangen. Jeder Spieler, der jemals einen von ihnen getroffen hat, ist seither verstört. Angeblich richten sie schreckliche Dinge mit Spielfiguren an oder zerstören deine virtuelle Existenz. Die meisten dieser armen Menschen können nicht einmal mehr eine Tastatur berühren.“ „Und das soll ich dir glauben?“, hatte Takuya darauf erwidert, „Das hört sich für mich doch sehr stark nach einer Creepypasta an.“ „So und wenn das nur ein Gerücht ist, wieso widerlegen sie es dann nicht einfach, Takuya-kun?“ „Ganz einfach, um mehr Spieler anzulocken. Wann hat der kleine Junge von nebenan schon einmal die Chance, mit einem Mitglied der Yakuza zu spielen? Und abgesehen davon, die haben bestimmt nicht die Zeit, sich vor den Computer zu setzen und für heiße Gerüchte zu sorgen.“ „Die Namen der Mitglieder“, fuhr Daisukes Schwester ungerührt fort, „Sind Cleaver-Angel, Rayne, Reaper, Anarchy, Despair und Taunt. Cool oder?“ „Wenn man es für cool hält, einfach wahllos englische Wörter aneinander zu reihen, dann ja.“ „Du hast aber auch immer was zu meckern.“ Sanft hatte Michirus Mutter ihre quengelige Tochter hin und her gewogen, die von der tiefen Stimme Takuyas aufgewacht war, um sie wieder zu beruhigen. „Dennoch, solltest du mal einem von ihnen im Spiel begegnen, dann lauf besser, was das Zeug hält. Ach ja, und erzähl mir davon, damit ich dir hinterher sagen kann 'Ich hab‘s dir ja gesagt‘.“ Ja, sie hatte es ihm gesagt, dachte Skyzou jetzt. Ihm gingen so viele Fragen durch den Kopf, die er stellen könnte, wegen Cleaver-Angel und ihrer „familia“, aber er bezweifelte, dass Shania, Yiris oder Amion ihm würden helfen können. Die beiden Jungen waren noch zu erschöpft von ihrem rasanten Abstieg, während Shania direkt traumatisiert zu sein schien. „Wie gehen am besten einfach zurück und sagen Tsuyu-chan, dass wir keine Feder finden konnten“, sagte Shania jetzt, in ihrer Stimme lag noch immer tiefe Furcht. "Dass die Tsundere so kuschen konnte... unter den NPCs müssen Cleaver-Angel und Co auch eine große Nummer sein", dachte Skyzou. Das sprach eher dafür, die es sich bei ihnen um Hacks handelt. „Takuya-kun!“ Hm? Skyzou sah sich irritiert um, aber keiner seiner Kameraden schien ihn gerufen zu haben. Was war das? Einbildung! „He, Skyzou-san, vorsicht!“, schrie Yiris und gleich spürte Skyzou, wie er zur Seite gestoßen wurde. Erst wollte er sich bei dem Weißmagier ordentlich beschweren, aber als er sich umblickte, da gefror ihm, beinahe das Blut in den Adern: Zwei große Einschusslöcher fanden sich an der Stelle im Boden, an der er noch zuvor gestanden hatte. Um deren Ursprung ausfindig zu machen, sahen Skyzou und seine Kameraden auf - und konnten einen weiteren Waffendämon erspähen, der, wie Cleaver-Angel, in der Luft schwebte. Offenbar hatte er auf Cleaver-Angel gezielt, die die Schüsse mit der noch immer blutverschmierten Axt abgeblockt hatte, die sie gerade wie ein Schild schützend vor sich hielt. Er erkundigte sich aber nicht einmal, ob mit ihnen alles in Ordnung sei, obwohl er sie gesehen haben musste. „Verschwinde von hier, Taunt!“, schrie Cleaver-Angel, beinahe klang es wie ein Kreischen, so schrill war ihre Stimme. Sie musste vor Wut außer sich sein. „Ich habe diesen Greif getötet, es steht mir zu, ihn zu Reaper-sama zu bringen!“ „Das ist mir egal, Schwesterchen“, entgegnete Taunt mit einer arroganten Gelassenheit in seiner Stimme. „Wenn du ihn mir nicht freiwillig überlässt, dann werde ich ihn mir eben selbst holen müssen.“ Eine ganze Salve an weiteren Pistolenschüssen erfolgten, es war bemerkenswert, wie Cleaver-Angel sie trotz der geringen Distanz der beiden - es waren vielleicht 10 Meter - alle mit ihrer Axt abwehren konnte. Allerdings resultierte dieses erstaunliche Abwehrverhalten in einen Kugelhagel, dem die vier Mitglieder der Soul-Guardians-Gilde ausweichen mussten. Skyzou stolperte mehr als er lief von links nach rechts und schließlich passierte es. Amion, Yiris und Shania waren zu weit weg um ihm beizustehen oder wegschubsen zu können, als Skyzou stürzte. Er konnte nur noch aufsehen, auf eine silbern funkelnde Pistolenkugel, wie sie immer näher kam. Ein panisches Aufschreien von Shania war das Letzte, was er wahrnahm. „Takuya-kun! Takuya-kun! Verdammt, jetzt mach die Augen auf!“ Takuya blinzelte nervös dem Licht entgegen, das von einer Lampe ausging, die genau auf ihn gerichtet war. Es musste seine Schreibtischlampe sein. Er spürte den harten Boden unter sich, also lag er wohl gerade flach auf dem Holzboden seines Zimmers, neben seinem umgefallenen Schreibtischstuhl. Über ihm konnte er die besorgten Blicke von Michiru und Daisuke erkennen. „Was denn... Daisuke?“ „Oh, dir geht es gut! Oh, Gott sei Dank!“ Schneller, als er gucken konnte, hatte Daisuke seinen Freund schon fest an sich gedrückt und Takuya konnte spüren, wie etwas Feuchtes an seinem T-Shirt herunterrann. Es waren sehr wahrscheinlich die Tränen von Daisuke. „Hey, hey.“, meinte Takuya beschwichtigend und klopfte seinem Freund mit dem flachen Hand auf den Kopf. Dann, als Daisuke ihn wieder los ließ, setzte er sich auf und kratzte sich verwirrt am Kopf. Als ob er erwartete, dass sein Freund dafür eine Antwort hatte, fragte er: „Was ist gerade passiert?“ „Das kann ich dir erklären!“, schluchzte Daisuke, der vor Erleichterung immer noch weinte. Hoffentlich würde er bald damit aufhören, langsam wurde Takuya die Situation unangenehm. Einige Minuten später ging es ihm schon etwas besser und er setzte zu einer Erklärung an. „Es hat einen Stromausfall gegeben, weil bei Bauarbeiten an der Hauptstraße die Leitungen beschädigt worden sind. Du konntest es nicht abwarten, bis sie den Schaden beheben würden und hast den Notstromgenerator angeworfen, um weiterspielen zu können. Aber der hatte nicht genug Energie für den anspruchsvollen Rechenprozess von GuildsTale aufbringen können, weshalb das Bild sehr stark geflackert hat. Dadurch, dass in dem Zimmer sonst kein Licht an gewesen war und es auch draußen schon dunkel ist, hast du wohl“, er schluckte, „Einen epileptischen Anfall erlitten. Weißt du, mir hat das Ganze von vorhin sehr Leid getan, Michiru-chan auch.“ Wie zur Unterstreichung dessen, was ihr Onkel gesagt hatte, nickte Michiru. „Wir wollten dich anrufen, aber du bist nicht an dein Handy gegangen. Erst dachte ich, du wärst noch eingeschnappt, aber dann wollte ich doch lieber nochmal nach dir sehen, besonders, weil deine Mutter ja arbeitet. Michiru-chan wollte auch mitkommen, um sich für ihr Verhalten von vorhin zu entschuldigen, also haben wir schnell die Bahn genommen. Zum Glück war da sonst niemand, da treiben sich ja sonst um die Tageszeit sehr fragwürdige Gestalten rum... naja, auf jeden Fall sind wir dann an deine Haustür gekommen, die nur angelehnt war und haben dich... so gefunden.“ Er schluckte erneut, während seine Nichte betreten zu Boden sah. „Es is‘ jetz‘ vier Uhr“, erklärte Michiru leise, „Und vor zwei Stun‘n war‘n wir hier. Wir ha‘m auch mit deiner Mama telefoniert.“ „Ja, sie kommt auch gleich her und bringt dich dann ins Krankenhaus.“ „Aber wieso denn? Mir geht es bestens.“ „Du hattest einen epileptischen Anfall, Takuya, du hättest sterben können!“ Takuya war sich gerade nicht sicher, ob ein epileptischer Anfall wirklich so schlimm war, aber auch abgesehen davon fühlte er sich gut. „Naja gut, dann gehen wir halt ins Krankenhaus, wenn sie kommt“, murrte er, „aber lass‘ mich vorher noch nach meiner Gilde gucken.“ „Nichts da! Der Computer bleibt jetzt aus, wenn nicht sogar für eine ganze Weile, Takuya!“ „Aber es gibt da eine ganze Menge“, erwiderte Takuya, „was ich dir erzählen muss, Daisuki-chan...“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)