Die weiße Lilie von Lattich ================================================================================ Prolog: Rosen sind rot, Veilchen sind blau, Lilien sind… -------------------------------------------------------- 13. November 2011 Ich schreibe dir diesen Brief in der Hoffnung, dass du ihn niemals erhältst. Zu viele ungesagte Worte füllen diese Seiten, zu viel Trauer und Schmerz. Die Reue ist das Papier auf dem ich schreibe und mein hässlicher Geist ist der Stoff, der sie füllt. Ich weiß gar nicht, wieso ich diesen Brief überhaupt schreibe. Wenn du ihn erhalten solltest, wirst auch du die Antwort vermutlich nicht besitzen oder sie im Text suchen. Findest du sie vielleicht sogar? Du warst immer gut darin Dinge zu finden, die ich übersah. Einer der Gründe, warum ich dich so liebte. Es gibt viele Sachen, die ich bereue, viele Fehler die ich gemacht habe, doch unsere Liebe zählt nicht dazu. Vermutlich hätte ich darum kämpfen sollen. Meine Wurzeln hätte ich tief in den Boden schlagen müssen, um Wind und Unwetter zu trotzen. Wäre dann alles anders gekommen? Sieh meinen Brief als eine letzte Wahrheit. Ein Geständnis an unsere Liebe. An die vergangene Poesie zwischen den unsichtbaren Zeilen unseres ungeschriebenen Duetts. Sieh es als Abschied, den wir offiziell nie hatten. Was ich mir davon erhoffe? Nachts wieder schlafen zu können, indem ich all meine Gedanken auf Papier presse und dann in einer Box verschließe, um sie nie wieder zu betrachten. Dich vergessen zu können, habe ich bereits aufgeben. Wenn ich abends meine Augen schließe, sehe ich dich noch immer vor mir. Du liegst neben mir im Bett, die Decke fest umklammert als hättest du Angst, sie könnte dir weglaufen. Dein Haar riecht nach Sommer und Orangen, dasselbe Shampoo, welches du schon bei unserer ersten Begegnung trugst. Der Geruch erinnert mich an unsere Abende am Strand. An das Wasser, welches deinen schlanken Körper umarmt wie eine Mutter das eigene Kind. An die einzelnen Tropfen auf deiner Haut, die unter meinen Fingerspitzen zerschmelzen und an deine Lippen, die nach Salz schmecken. Der Sand ist unser Bett und die Wolken unsere Decke, während wir gemeinsam am Boden liegen und die Sterne betrachten. Erinnerst du dich noch daran? Ich brauche nur die Augen zu schließen und schon bin ich da. Bei dir. Du lächelst mich an - vermutlich hast du mich wieder beim stummen Anhimmeln deines Gesichtes erwischt. Und dann bin ich wieder hier. Vor meinem Schreibtisch, die kalten Finger auf der Tastatur und das einzige Lächeln weit und breit ist wohl der betrunkene Teenager vor meinem Fenster, der die Straße auf und ab hüpft. Vielleicht ist er verliebt – oder nur betrunken. Gestern habe ich eine neue Ausstellung meiner Fotografien eröffnen können. Du warst manchmal mit mir auf solchen Events. Du kennst die Leute, die dort sind und du kennst mich, der mit Worten nur auf dem Papier umgehen kann – und selbst dort nur schwerlich. Sobald ich den Mund öffne, verlassen nur sinnlose Laute meinen Mund. Eine Aneinanderreihung von Konsonanten und Vokalen mit gelegentlichen Atem- und Denkpausen. Offener Wortmord, hast du es einmal genannt. Ich würde die Silben mit meiner Zunge von der (K)Lippe stoßen und dann stürzten sie hilflos ohne Halt hinab in die Tiefe. Was soll ich sagen? Ich bin ein Opfer meiner Erziehung, unserer Schulbildung und des politischen Systems. Nur ein Blatt im großen Komposthaufen der Individualität und im Gegensatz zu all den anderen Blättern hatte ich keine Lust oben zu liegen. Schon immer war ich ruhig, ein zurückgezogener Mensch. Mit den Gedanken stets irgendwo anders, was mich langsam – ja sogar dumm – erschienen ließ. Doch wenn ich mich mit einem loben kann, dann dem Funken Intelligenz der in mir schlummert. Der mich zu einem anständigen Menschen werden ließ; mit einem Traum, einer Zukunft und einer großen Liebe. Doch offensichtlich schlummerte nicht mehr als ein Funken davon in mir, überwog doch die Dummheit, weshalb ich heute an meinem Schreibtisch sitze – alleine und ohne dich. Zurück zu meinen Fotografien. Ich will dich nicht mit meinen Gefühlen erdrücken, auch wenn die Wahrscheinlichkeit, dass dich dieser Brief erreicht, noch geringer ist als der Weltuntergang am 21.Dezember 2012. Ich fand viele Interessenten für meine Werke. Einige Aufnahmen konnte ich verkaufen, unter anderem Motive, die ich in Brasilien aufgenommen hatte und die wichtigste Neuigkeit: ich bekam einen Auftrag nach Deutschland zu reisen. Genau - in unsere Heimat. Dort wo du bist oder zumindest hoffe/glaube ich das. Vielleicht war das der Anstoß für meinen unbeholfenen Versuch dir einen Brief zu schreiben. Ich habe den Auftrag noch nicht angenommen, spiele aber mit dem Gedanken es zu tun. Mein zukünftiger Arbeitgeber, den ich dir leider nicht verraten darf – Ironie, da du den Brief niemals in deinen Händen halten wirst, zumindest erwarte ich das halb beim Schreiben dieser Zeilen – er bat mich jedenfalls mit ihm nach Frankfurt zu reisen. Er will eine Art Städtetour durch Deutschland tätigen für einen Bildband und ich soll ihn auf dieser Entdeckungstour begleiten. Insgeheim freue ich mich über diesen Auftrag, doch wenn ich wie jetzt alleine in meiner Wohnung sitze, kratzen die Zweifel an mir. Sie nagen an meinen schmalen Nerven, die mir noch bleiben und die bei jeder weiteren Spannung zu reißen drohen wie ein altes Seil. Das Kratzen und Ziehen macht mir das Denken schwer und wenn mein Kopf aussetzt, bleibt nur noch das Herz. Dieses Stück rohes Fleisch, ausgeblutet und hungrig nach Liebe, welches nutzlos in meiner Brust schlägt, obwohl es längst seinen Sinn verloren hat. An kalten Wintertagen, wenn die Krähenschwärme über meinen Block hinwegziehen, wünschte ich mir, sie würden durch das Fenster kommen und mir diesen nutzlosen Klumpen aus reißen, damit das Schlagen in meiner Brust aufhört – die Sehnsucht, der Verzehr, die Reue und die Liebe. Denkst du jetzt ich möchte Selbstmord begehen? Entschuldige die Verwirrung, du weißt ja wie negativ meine Gedankengänge manchmal werden. Vermutlich hältst du mich schon für manisch depressiv, vor allem da ‚du‘ gar nicht existierst, weil du den Brief nicht erhalten wirst und ich folglich mit mir selbst rede. Hör mich an – ein waschechter Philosoph oder auch ein Irrer, je nachdem welche Seite man betrachtet. Es ist vermutlich falsch von mir, dir solche Worte nun zu schreiben(auch wenn sie dich nie erreichen). Wieso habe ich diese Sätze nicht vor Jahren sagen können? Als sie noch eine Bedeutung hatten, ein Gewicht, welches sie an die Realität band. Ich habe es nie geschafft dir zu sagen, dass ich dich liebe. Nicht wenn wir allein waren, nicht über das Telefon und auch nicht, als ich dich verlassen musste. Aber es war besser so, zumindest sage ich mir das jeden Tag. Mein Therapeut sagt es mir jede Woche. Unsere Trennung hätte dich sicher zerstört, wenn du die volle Wahrheit geahnt hättest. So war es nur deine einseitige Liebe, die von mir beendet wurde und du hast nur einen kurzfristigen Liebhaber verloren, nicht aber die Liebe deines Lebens. Ich muss plötzlich an jenen Tag denken. Der Morgen, an dem ich alles beendete – uns beendete. Als ich am Flughafen stand vor genau 2 Jahren, 17 Stunden und 32 Minuten, habe ich lange den Himmel angestarrt und mich gefragt, ob du schon aufgestanden bist. Ob du die Notiz gelesen hast, die ich dir auf den Beistelltisch gelegt habe. Wie dein Gesicht in diesem Moment aussieht. Beißt du dir in die Unterlippe? Bilden sich Tränen in deinen Augen? Bei diesen Gedanken war ich schon fast wieder durch die Tür und draußen auf der Straße, auf dem Weg zu dir, um die Nachricht zu zerreißen und mich wieder neben dich zu legen. Doch ich bin an jenem Tag vor 2 Jahren, 17 Stunden und 39 Minuten nicht umgekehrt. Ich stieg in mein Flugzeug und verschwand aus deinem Leben. Alles, was dir von mir blieb, war diese Notiz und eine weiße Lilie. Meine eigene, geheime Botschaft an dich. Hast du sie bekommen? (...) Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)