Das Lied des einsamen Berges von Lysander ================================================================================ Kapitel 1: Schönes Isengart --------------------------- 1. Kapitel: Schönes Isengart „Eine Kristallkugel ist nicht einfach eine Kugel aus Kristall, sie ist …“ Ein Maikäfer flatterte durchs Fenster. Er drehte eine Runde in dem Turmzimmer und ließ sich schließlich auf der milchig weißen Kugel nieder, die vor ihr auf einem Samtkissen ruhte. Ithilwen beobachtete ihn aus halb geschlossenen Augen. Die Stimme ihres Lehrmeisters Lindir verblasste zu einem Gemurmel im Hintergrund. Der Käfer krabbelte über die Kugel, geschickt seine haarkleinen Beinchen setzend. Ithilwen kniff die Augen noch weiter zusammen. Geschickt? Lag es nicht in seiner Natur, ebendies zu tun? Er verschwendete wohl kaum einen Gedanken darüber, wie er seine Beinchen zu setzen hatte. Ebensowenig wie sie einen Gedanken darüber verschwendete, Magie zu nutzen. Es lag in der Natur ihres Wesens, dies zu tun, und sie verstand nicht, weshalb sie es noch erler… Ein vernehmliches Räuspern riss sie aus ihren Gedanken. Träge sah Ithilwen auf. Lindir hatte sich vor ihr aufgebaut, das Gesicht ausdruckslos. Lediglich die Falte an seinem Mundwinkel verriet, dass er innerlich kochte. „Du musst noch sehr viel lernen, Curuníriël“, sagte er ruhig. „Doch du scheinst mir noch nicht reif genug für die höheren Lehren. Ich werde mit deinem Vater darüber sprechen.“ Lindir deutete eine Verbeugung an und rauschte aus dem Zimmer. Seufzend verdrehte Ithilwen die Augen. Wenn er sie doch wenigstens einmal anschreien würde! Stattdessen war er immerzu beherrscht und distanziert, wie alle Elben. In einer fließenden Bewegung erhob sie sich und wischte den Maikäfer von der Kristallkugel. Jenseits ihres Fensters zwitscherten Vögel in den Geästen der Bäume rund um die Festung Isengard. Um das grüne Idyll herum befand sich eine Hügelkette, die ihre Sicht begrenzte. Der Steinwall diente nicht nur zum Schutze Isengards in Zeiten des Krieges, sondern erschien Ithilwen wie ein beengendes Verlies. Die Landen dahinter kannte sie nur aus Büchern und Karten; die Reiche mächtiger Menschenvölker und Zwerge, die Länder vom kleinen Volk und großen Riesen, von Drachen, Trollen und Orks … Nicht dass Ithilwen sonderlich auf Abenteuer erpicht gewesen wäre, aber Elben waren gewiss nicht der rechte Umgang für sie. Sie mochten die Herren des Wissens sein und konnten gut singen, aber wie man rauschende Feste feierte und Spaß hatte, mussten sie irgendwann im Laufe ihrer Jahrhunderte verlernt haben. „Curuníriël Galen, was sehen meine alten Augen?“ Ithilwen fuhr herum. Das Turmzimmer war immer noch leer, aber der Nebel in der Kristallkugel hatte sich gelichtet und gab das Antlitz eines faltengesichtigen, bärtigen Mannes preis. Eine graue Hutkrempe verbarg seine Stirn und ein Pfeifenhals steckte zwischen seinen Lippen. Ihr Herz tat einen Satz. Mit einem freudigen Aufschrei lief sie zur Kristallkugel. „Gandalf! Du spionierst mich doch nicht etwa aus?“ Tadelnd blickte sie auf ihn hinab, konnte sich ein Grinsen jedoch nicht lange verkneifen. Gandalf musste der einzige Unsterbliche sein, der es nicht verlernt hatte zu lachen. Auf seine Besuche wartete Ithilwen sehnsüchtig, denn er brachte allerhand Geschichten und lustige Dinge aus fernen Ländern mit sich. „Niemals! Ich wollte mich nur vergewissern, ob du auch brav lernst. Allerdings scheint das ganz und gar nicht der Fall zu sein“, erwiderte er streng, doch die Falten in seinen Augenwinkeln und seine gekräuselten Lippen raubten den Worten ihre Wirkung. „Du willst mir nicht erzählen, dass du dich nur bei mir meldest, um dich nach meinem Studium zu erkundigen.“ Ithilwen legte den Kopf schief. In der Tat konnte sie sich überhaupt keinen Grund denken, weshalb Gandalf mit ihr mittels ihrer Kristallkugel in Verbindung treten sollte. Wohl kaum, um ihr während einer Wanderpause irgendwelche Geschichten zu erzählen. Vielleicht hatte er sich schlichtweg verwählt und wollte in Wahrheit mit der Kristallkugel ihres Vaters Kontakt aufnehmen? „Doch, genau deshalb.“ Gandalf lächelte geheimnisvoll und blies einen Rauchring in die Luft. Gleich darauf wurde er jedoch ernst. „Ich nehme an, du kennst die Pflichten von uns Istari?“ „Ihr Istari sollt das Böse in der Welt zurücktreiben und darauf achten, dass das Gleichgewicht aller Dinge gewahrt bleibt“, ratterte sie auswendig herunter. „Aber was …?“ „Nicht ihr Istari, sondern wir“, unterbrach Gandalf. „Ich bin kein Istar, sondern allenfalls ein Peristar“, korrigierte sie ihn mit gehobenen Augenbrauen. Der graue Wanderer schnaubte, wodurch er eine Ladung Rauch aus der Nase stieß. „Fang nicht an, mit mir über Begriffe zu streiten! Durch deine Adern fließt ein mächtiges Gemisch, peristar, peredhel, und genau jemanden wie dich brauche ich.“ Nun wurde Ithilwen noch hellhöriger. „Für was denn?“ Ihr Herz schlug schneller vor freudiger Erregung. Wenn Gandalf so etwas sagte, konnte es nur bedeuten … „Ein Abenteuer.“ Der alte Zauberer schmunzelte, als sie aufstrahlte. „Ein Abenteuer!“, wiederholte sie und ließ das Wort genüsslich über ihre Zunge rollen. „Wohin soll es gehen? Was werden wir machen? Werden wir Trolle und Zwerge und Orks und Drachen und …“ Sie stockte, als ihr der Gedanke an ihren Vater kam. „Hast du schon mit meinem Vater darüber geredet?“ Ungläubig zog Ithilwen die Augenbrauen zusammen. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass ihr alter Herr zu so etwas zustimmen würde. Gandalf wandte den Blick ab. „Nun ja … Sozusagen … eher nicht, nein.“ Die eben entstandene Vorstellung von ihr, wie sie feuerspeiende Drachen zähmte, mit Mitstreitern Tavernen unsicher machte und die Welt gegen einfallende Orkscharen rettete, zerplatzte. „Tu mir den Gefallen und rede das nächste Mal zuerst mit ihm, ehe du mir Hoffnungen machst“, erwiderte sie düster. Ihr Vater würde zu so etwas niemals zustimmen. Er hielt sie für viel zu schlecht ausgebildet, um sie in die Welt jenseits des Hügelkammes um Isengart zu entlassen. Natürlich. Und was war mit all den Menschen, die sowieso keine Magie anwenden konnten? Die lebten auch dort draußen und es ging ihnen gut dabei. Zumindest vermutete Ithilwen es anhand der immerzu gut gelaunten, scherzenden Reiter, die im Abstand von ein paar Wochen bei ihnen vorbeikamen, um mit ihrem Vater zu sprechen. „Ich habe nicht vor, mit deinem Vater darüber zu sprechen.“ Wenn Gandalf sie bei seinen Worten nicht so ernst angesehen hätte, hätte Ithilwen sie für einen Scherz gehalten. „Du meinst, ich soll einfach so verschwinden?“, fragte sie ungläubig nach, um sicher zu gehen, dass sie ihn richtig verstanden hatte. Gandalf mochte ein ungezwungener, fröhlicher Kerl sein, aber über einen Scherz ging das weit hinaus. Ihr Vater würde ihnen beiden den Hals umdrehen, wenn er davon erfuhr. Und davon erfahren würde er mit Sicherheit. Spätestens, wenn sie nicht zum gemeinsamen Abendbrot erschien. „Es ist unsere Pflicht als Istari, in der Welt für Ordnung zu sorgen“, begann Gandalf ungewohnt ernst. „Es gibt jedoch Gefahren, von denen dein Vater nichts wissen will. Wenn Mittelerde fallen sollte, kann ich nicht vor die Valar treten und ihnen sagen, dass die anderen Schuld sind: Radagast, weil er lieber mit Tieren spielte, Saruman, weil er die Gefahr unterschätzte, Alatar und Pallando, weil sie spurlos verschwunden sind, statt sich ihrer Pflichten zu besinnen. Nein, auch ich trage Verantwortung und wenn die anderen nicht handeln wollen, muss ich es eben tun. So bleiben nur noch du und ich und ich frage dich hiermit, ob du deinen Aufgaben als Istar nachkommen willst und mir hilfst, oder dich wie dein Vater blind und taub für die Sorgen der Welt im heilen Isrogant verkriechst.“ Gandalf hatte sich in Rage geredet und es mochte der Grund für seine missglückte Wortwahl sein, doch er hatte bei Ithilwen einen Nerv getroffen. Die Hände zu Fäusten geballt sprang sie auf und hätte die Kristallkugel am liebsten an die Wand geworfen, wenn sie gewusst hätte, dass Gandalfs Kopf dadurch ebenfalls Schaden nahm. „Glaubst du etwa, ich wäre freiwillig hier?“ Wutschnaubend wandte sie sich von der Kugel ab. Rastlos ging sie im Turmzimmer auf und ab, zwischen Geschichtsbüchern und Landkarten, ihren einzigen Verbindungen zur äußeren Welt. „Mein Vater lässt mich nicht gehen! Er hält mich immer noch für sein kleines Mädchen, statt zu realisieren, dass ich seit ein paar Jahren erwachsen bin!“ „Und was hält dich davon ab, dein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen? Ihm zu beweisen, dass mehr in dir steckt?“ Ithilwen fuhr herum und funkelte die Kugel mit zusammengekniffenen Lippen an. „Wohin soll ich kommen?“ Gandalf betrachtete sie noch wenige Augenblicke versonnen, dann lächelte er. „Ins Auenland. Es wird dir dort gefallen.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)