Herbstmädchen von Ling-Chang (Drachentänzerin) ================================================================================ Kapitel 1: Grünhaar ------------------- Sie schlüpfte in das blassrote, ärmellose Überkleid, das ihr bis über die Knie reichte und einen Ausschnitt besaß, der kurz unterhalb ihres Halsansatzes verlief. Darunter trug sie bereits ein schwarzes kurzärmliges Hemd und einen knöchellangen schwarzen Rock, der sich bei jedem Windstoß verspielt auffächerte. Diese Mode war im Volk der Dragoniar unter den Frauen sehr beliebt und obwohl sie nicht zu den typisch aussehenden Mädchen gehörte, wollte sie dennoch nicht auffallen und andere Kleidung tragen. Fuxya war das, was andere als eine „Schönheit mit gewissen Nachteilen“ bezeichneten. Wenngleich sie wie jeder porzellanweiße Haut und spitze Ohren besaß, dazu lange, glatte Haare und buschige Wimpern hatte und dünn war, fiel sie nicht in die Norm. Ihr Volk hatte braune oder blonde Haare aber niemals so wie sie pechschwarze, außerdem waren ihre Augen rubinrot, während die der anderen eher blau, grün oder braun waren. Natürlich gab es auch Ausnahmen: Tatsächlich existierten auch Farbmischungen von orange über ockerfarben zu violett, doch so rote Augen, wie sie sie besaß, hatte es hier nur selten gegeben. Sie schlüpfte aus dem Felsenhaus ihrer Eltern, ein Haus, das in den Fels geschlagen wurde, wie es hier am Berg üblich war: Es führte nur eine steinige, gewundene, schwer passierbare Straße den Berg hinauf, die am Ende durch eine Schlucht verlief. An den Wänden dieser Schlucht hatte sich das Volk der Dragoniar ihre Häuser gebaut und konnte so die Passanten im Augen behalten, die auf der Straße durch das Dorf gewandert kamen – das waren übrigens wenige, denn die Dragoniar waren nicht bereit, Fremde bei sich zu erlauben. Schließlich hüteten sie die Herrscher dieser Welt: Die Drachen. Die Straße endete abrupt vor einem in den Fels gehauenen Tempel, der den Zugang zur Welt der Drachen beherbergte, daher war es von unschätzbarer Wichtigkeit, diese Straße bis auf den Tod zu verteidigen – das wiederum kam nur selten vor, weil keiner so dumm war, sich mit den Drachen anzufeinden. Als sie auf die Straße trat, begrüßten einige Dragoniar sie kopfnickend. Sie winkte oder nickte oder grüßte mit Worten und ging auf den Tempel zu, der am Kopfende der Schlucht thronte wie ein König. Der weiße Marmor hellte das ansonsten graue Bergdorf jeden Tag aufs Neue auf. Ein frischer Wind wehte die letzten Sommerlüfte durch das schattige Tal und fuhr Fuxya in die Haare, die sie in einen Zopf gemeinsam mit vielen bunten Bändern geflochten hatte. Diese Bänder wurden nur in die Haare von unverheirateten Mädchen geflochten und jede Farbe hatte eine eigene Bedeutung: Viele Mädchen trugen vor allem weiß für „Unschuld“. Von den zehn Bändern, die sie ihr Eigen nannte, waren jedoch nur zwei weiß. Sie selbst mochte es nicht, wie ein Lämmchen auszusehen, beschützenswert, vollkommen nutzlos für die Gemeinschaft. Stattdessen liebte Fuxya rot für „Leidenschaft“, blau für „Sehnsucht und Unendlichkeit“, grün für „Harmonie und Hoffnung“ und orange für „Vitalität und Stärke“. Neben den zwei weißen Bändern hatte sie für verflossene Schwärmereien zwei rote, drei orangene, eins in blau und zwei in grün. Diese bunten Farben waren für jeden in ihrer Umgebung immer ein kleiner Hinweis auf ihren Charakter, schließlich waren sie Ausdruck einiger Erfahrungen. Nach zwei unglücklich verlaufenden Schwärmereien, dem Verlust ihres Vaters vor zwanzig Jahren, ihrem einzigen bis dahin noch lebenden Familienmitglied und der ewig währenden Hoffnung auf eine bessere Zukunft und ein besseres Leben war sie jetzt mit ihren hundertzwanzig Jahren eine der wenigen unverheirateten Mädchen ihres Volkes. Die Jugend der Kinder endete mit hundert Jahren und viele Mädchen heirateten an ihrem hundertsten Geburtstag ihre Verlobten oder Liebhaber. Doch Fuxyas Vater hatte Zeit seines Lebens bereut, ihre Mutter geheiratet zu haben, die ihm versprochen gewesen war, da sie sich nie bei ihm eingelebt hatte und schließlich früh in Gram gestorben war. Daher hatte er beschlossen, dass sie selbst sich einen guten Mann aussuchen solle. Dumm nur, dass das Mädchen mit den unvorteilhaften Eigenschaften weniger Verehrer empfangen durfte, als zunächst angenommen. Fuxya erreichte die Treppen des weißen Tempels und ging gemessenen Schritts in das kühle, frühmorgendliche Dunkel der großen Gebetshalle. Ein Lichtstrahl durchdrang das Halbdunkel am Kopfende der Halle, wo er auf den steinernen Altar fiel, der vor einem an der Wand angebrachten, riesigen Bild von Drachen stand. Der Altar selbst stand auf einem Podest, den vier Stufen vom Rest der Gebetshalle trennten. In der restlichen Halle standen kleine Tische mit Polstern und Teppichen sowie Decken, damit die Hilfesuchenden sich ausruhen konnten. Sie durchquerte den Raum, schritt über die Kissen hinweg, um sie nicht schmutzig zu machen und blieb hinter dem Altar stehen, um das Bild in seiner ganzen, herrlichen Pracht in sich aufzusaugen. Es war ein Bild aus alter Zeit, als die Drachen sich noch nicht in ihr Heiligtum zurückgezogen hatten, das von niemand anderem als den Auserwählten und den Drachen selbst betreten werden durfte. Auf diesem Ölgemälde flogen die schimmernden Schuppentiere über die Schlucht der Dragoniar, hüllten die Berghänge und Wolken in glitzernde Schatten, spien Feuer, betrieben Körperpflege am Drachensee, der sich am Fuß der Schlucht auf einem Berghang befand und saßen in Gruppen zusammen, um zu schlafen. Die Drachen selbst waren von den unterschiedlichsten Farben: Es gab grüne, gelbe, blaue, aber auch rote, was sie besonders mochte. Während die Grünen eher dazu neigten, faul herumzuliegen, flogen die Gelben aufgeregt und neugierig über die Schlucht, in der sich staunende Dragoniar befanden, die Blauen badeten oder spielten und die Roten vollführten faszinierende Luftmanöver und –kämpfe, bei denen ihnen Feuer aus dem zahnbesetzten Maul schoss. „Jeden Morgen sitzt du hier und bestaunst die Pracht der Heiligen“, begrüßte eine Frauenstimme Fuxya und sie fuhr herum. Da sie ihren Tagträumen hinterhergehangen war, meistens flog sie gemeinsam mit den Drachen in schwindelerregenden Höhen, hatte sie nicht bemerkt, dass die Priesterin und Torhüterin zu ihr getreten war. Topazza war von ungemeiner Schönheit: Sie hatte goldblondes, langes, glattes Haar, das selbst in kleinen Zöpfen geflochten bis zu ihren schmalen Hüften reichte, sah ansonsten genau so aus, wie ein hübsches Dragoniar-Mädchen auszusehen hatte und besaß wunderschöne hellblaue Augen. Um ihren üppigen Busen und zarten Körper bauschten sich ähnliche Kleider, wie Fuxya sie anhatte, nur dass diese in Weiß und Gold waren. „Sie sind meine einzige Familie“, erwiderte Fuxya schließlich und blickte wieder hinauf in ihre Traumwelt. In ihrer Stimme schwang mehr Sehnsucht mit, als sie es zunächst beabsichtigt hatte. Ihre Mutter hatte ihr immer verboten, von Drachen zu träumen. Die Dragoniar waren zwar das Hütervolk, aber nie bekamen sie die Heiligen zu Gesicht und solche Gedanken, wie Fuxya sie hegte, kratzten an der Würde dieser Götter. Ihre Mutter war sehr streng gewesen und hatte ihr diese Tagträume, wenn es nötig war, mit Prügel ausgetrieben – solange ihr Vater nicht in der Nähe war. Der stellte sich immer auf die Seite seiner Tochter und erzählte ihr in seiner liebevollen Art von Abenteuern aus längst vergangener Zeit, als die Drachen noch nicht herrschten und Chaos die Welt ins Dunkel gestürzt hatte. Topazza schnaubte etwas und Fuxya fühlte sich erinnert, dass auch solche Gedanken Ketzerei waren, also berichtigte sie sich pflichtgebunden: „Der Glaube an ihre Heiligkeit hält mich am Leben, daher sind sie im Grunde eine Familie, die mir Geborgenheit schenkt.“ „Treibe es nicht zu weit mit deinen Anmaßungen. Anderen Priestern könnten sie missfallen. Ich erlaube es dir nur insoweit, als du dein Leben nützlich verbringst, solange du so denkst. Würdest du nur einmal nicht dieser Behauptung würdig sein, würde ich dies nicht mehr durchgehen lassen“, antwortete Topazza und wandte sich ebenfalls an das Bild, bevor sie weitersprach: „Nun, immerhin bist du die Einzige, die jeden Tag zu ihnen spricht.“ Fuxya erwiderte nichts. Das musste sie auch nicht, denn Topazza schien keine Antwort zu erwarten, sondern eigenen Gedanken hinterherzuhängen. Die Priesterin war an ihrem hundertsten Geburtstag mit dem Sohn des Dorfvorstehers verheiratet worden und hatte ihm acht Kinder geschenkt, wovon zwei männlich und sechs weiblich waren. Inzwischen war sie über fünfhundert Jahre alt, was keine Seltenheit im Volk der Langlebigen darstellte und ihre Kinder alle über dreihundert. Keines von den Mädchen hatte es in der Schlucht gehalten, sie waren zu den Stämmen der Dragoniar gezogen, die entlang der Bergstraße an den Hängen wohnten, um etwaige Eindringlinge bereits dort auszuschalten. Außerdem war es dort sonniger, was viele Mädchen bevorzugten. Ihre Söhne hatten sich ebenfalls aus diesem Dorf gerettet und waren zu dem Stamm gezogen, der die Schlucht von oben absicherte – dort gab es angeblich die hübschesten Mädchen der Dragoniar, was mit ziemlich großer Wahrscheinlichkeit eher der Auslöser für die Flucht der beiden dargestellt hatte. „Es ist lange her, seit die Drachen eine Tänzerin beschworen haben“, stellte Fuxya fest, um wenigstens den Anschein eines höflichen Gesprächs heraufzubeschwören. Topazza musterte sie kurz und kühl, wandte ihren Blick dann aber wieder zum Bild und schwieg eine Weile, bevor sie sich entschloss, doch noch zu antworten: „Zweihundertundsechsundzwanzig Jahre genau. Die letzte Auserwählte war Maara vir Nadarre.“ „Was geschieht mit diesen Frauen eigentlich?“, wollte Fuxya genau wissen. Ihr Vater hatte es ihr nicht erklären können, da Männer aus diesem Vorgang herausgehalten wurden und ihre Mutter hatte nie auch nur ein Wort über die Drachen und ihre Kultur verloren, das auch nur ein gutes Haar an ihnen gelassen hätte. „Deine Mutter hat dir das wohl nicht erzählt?“, erkundigte sich Topazza, die ganz genau wusste, dass Aventurina, so hieß Fuxyas Mutter, die Drachen gehasst hatte wie die Pest. Topazza wusste auch, warum das so war, was wiederum eine Besonderheit darstellte, da das nur wenige von sich behaupten konnten. Aventurinas kleine Schwester Cordierita war zur Tänzerin berufen worden und einige Jahrzehnte später vollkommen apathisch nach Hause gekommen, um wenig später jämmerlich zu verhungern, da sie keine Nahrung mehr zu sich nehmen wollte, nachdem die Ausbildung zu einer Tänzerin sie seelisch überfordert hatte. „Tänzerinnen sind Mädchen aus dem Volk der Dragoniar, die in das Heiligtum der Drachen Zutritt erlangen. Sie sind die Einzigen, die Auserwählte, diejenigen, die sich um das Wohlergehen der Heiligen kümmern dürfen. Sie opfern alles, was sie haben, um den Drachen zu gefallen: Angeblich müssen sie auch für den Fortbestand der Linie sorgen.“ „Moment, haben Drachen keine Frauen?!“, stellte Fuxya eine Zwischenfrage, die nur ein verärgertes Runzeln hervorrief. Dann jedoch schüttelte Topazza den Kopf. „Nein, alle Drachen sind männlich. Die Tänzerinnen sind praktisch die einzige Fortpflanzungsmöglichkeit und es muss sie geben, denn wenn die Drachen aussterben, dann wird die Welt wieder den Schatten verfallen!“ Inbrünstig schnaufend und mit klarem Blick stand sie dort. Ein kleiner Funken Wahnsinn stahl sich in Topazzas Verehrung der Drachen. Sie liebte diese Wesen, ohne sie je gesehen zu haben und für sie gab es keine selbstverständlichere Aufgabe der Frauen, diesen Heiligen Kinder zu schenken – nun, sie selbst hatte ihre Aufgabe mit acht Stück ziemlich gut gemeistert. Sie wäre sicherlich eine fantastische Tänzerin gewesen, wenn es bei der Bezeichnung „Tänzerin“ nur um die Sexmethoden ging, die eine Frau anwenden musste, um die Herren zu verführen, sodass diese sie schwängerten. Kein Wunder, dass Cordierita seelisch so zerbrochen war … „Warum heißen sie dann Tänzerinnen?“, hakte Fuxya nach, um sicherzugehen. Sie wollte ja nicht falschen Ideen aufsitzen. Außerdem musste sie ihr Bild, ihre Vorstellung einer tollen Familie, wieder geraderücken, anderenfalls hätte sie jetzt mit einer sexsüchtigen Männergesellschaft zu tun, was ihr nicht ganz so gefiel. „Du hast bis zu deinem hundertsten Geburtstag gelernt, die Psalmen zu singen, die Heilige Schrift auswendig aufzusagen, zu kämpfen, zu lesen, zu schreiben, zu rechnen und zu tanzen. Tänzerinnen sind Frauen, die im Drachenheiligtum zu Priesterinnen ausgebildet werden, die sich um das Wohlergehen der Drachen kümmern. Sie tanzen und singen auf den Festen oder so ähnlich. Das übersteigt meinen Wissenskreis. Ich bin keine und auch kein Drache, also frag nicht“, rügte Topazza sie und runzelte wieder missbilligend die Stirn. Fuxya schwieg unbeeindruckt. Also waren die Frauen doch nicht nur Prostituierte sondern so etwas wie königliche Narren, Diener und Konkubinen? Plötzlich stutzte sie. Wie sollte das überhaupt möglich sein? „Wie können Drachen und Tänzerinnen denn Kinder zeugen?“, fragte Fuxya hastig und Topazzas Gesicht verdunkelte sich. Mühsam behielt die Frau sich im Zaum und verbiss sich einen gemeinen Kommentar, das wusste Fuxya, dennoch hatte sie die Frage stellen müssen. „Was weiß ich?! Kümmere du dich lieber darum, dass du Kinder in die Welt setzt, die unser Erbe weitertragen: Die Menschen werden immer aufdringlicher. Es gab zu viele Übergriffe in letzter Zeit und wir waren noch nie viele Dragoniar im Hütervolk. Jedes Kind zählt!“ Damit rauschte die Frau davon und schritt durch einen Seitengang des Tempels in ihr Büro. Wie Fuxya dieses Büro gehasst hatte, in dem der Unterricht der jungen Mädchen stattgefunden hatte. Vor allem, wenn es darum gegangen war, wie man Männern Lust bescherte. Anscheinend war die einzige Aufgabe, die junge Dragoniar-Mädchen in die Wiege gelegt bekamen, das Kinderkriegen und davon möglichst viele, wozu dieser Unterricht diente. Fuxya verließ nach diesem mehr als beunruhigenden Gespräch mit einem mulmigen Gefühl im Magen den strahlenden Tempel. Theoretisch waren Tänzerinnen also Opfergaben an die Drachen, damit diese ihre Samen in den Schoß der Frauen pflanzen konnten. Nun, in dieser Hinsicht waren sie nicht anders als die Männer der Dragoniar, die möglichst viele Kinder zeugten und hinterher in der Stube des Dorfvorstehers damit angaben, wie viele neue Kämpfer sie dem Volk geschenkt hatten. „War Vater auch so?“, fragte sich Fuxya, verwarf diesen Gedanken aber sofort. Ihr Vater hatte sich liebevoll um sie gekümmert und war so stolz auf sie gewesen, dass sie innerlich das Gefühl hatte, all sein Vaterstolz, der in normalen Umständen auf zehn oder mehr Kindern basiert hätte, wäre in ihr vereint worden. Ihm war es egal gewesen, wie anders sie gewesen war, obwohl auch er oftmals Zweifel darüber geäußert hatte, ob sie wirklich Dragoniar war. Es kam nicht selten vor, dass Dragoniar Kinder zeugten, die Missgeburten waren: Mädchen, die nicht fruchtbar waren; Jungen, die keine Kinder zeugen konnten; Menschenkinder oder Tot- bzw. Fehlgeburten. Und ja, aus Dragoniar-Ehen konnten Menschenkinder entstehen. Menschen waren also das Produkt aus missglückten Schwangerschaften, nur dass diese Wesen sich vermehrt hatten wie die Fliegen und die ganze Welt bevölkert hatten außer den Heiligen Berg, den sie immer noch mieden. Um die Zweifel zu beseitigen, die sich um ihre Herkunft rankten, hatte ihre Mutter sie zu den Priesterexorzisten gebracht, die jedoch festgestellt hatten, dass sie ein Dragoniar-Mädchen war, fruchtbar wie jede andere auch. Sie sah bloß anders aus. Aber auch das konnte ihre Mutter nicht verstehen und war im Gram über ihre Missgeburt gestorben. Ihr Vater hatte seit dem Tag nicht mehr über seine Frau gesprochen, hatte es vermieden, Zweifel über Fuxya zu äußern und war innerlich aus Angst um ihre Zukunft genauso verwelkt wie ihre hasserfüllte Mutter. Kurz nach ihrem hundertsten Geburtstag, als es klar wurde, dass niemand sie heiraten wollte, starb er dann und hinterließ ihr als letzte Erinnerung einen Blick, der ihr Herz stehenbleiben ließ. Jedes Mal, wenn sie daran dachte. Mitleid, Angst, Enttäuschung. Wobei Letzteres überwogen hatte. Geplagt von dem wiederaufkeimenden Schmerz lief sie durch das Dorf und aus der Schlucht hinaus, durch das Dorf, das am Eingang der Schlucht lag und zum Drachensee hinauf. Es kostete sie über eine Stunde, den Aufstieg zu bewältigen, aber es lohnte sich immer wieder. Er schimmerte schon in der Ferne bläulich, während silberne Wellen gegen sein Ufer schwappten. Eigentlich war es windstill, daher sollte es unmöglich sein, das Wellenschlagen. Schwamm dort jemand? Sie erreichte das Ufer und schaute auf die dunkelblaue Wasserfläche, durch die man nicht hindurchsehen konnte. War das bloß ihre Einbildung gewesen? Sie kniff die Augen zusammen und legte eine Hand schützend über die Augen. Doch auch so konnte sie nichts erkennen. Ein wenig enttäuscht ließ sie die Schultern hängen. „Als ob!“, schnaubte sie über ihre eigene Dummheit. Im Drachensee badete seit Urzeiten keiner mehr. Die Tiere waren aus dem Gewässer verschwunden, als hier noch regelmäßig Drachen vorbeigekommen waren und die Dragoniar fürchteten den See, dessen Boden man nicht sehen konnte. Schließlich hatten sie beim Tauchen oft genug das Glitzern gesehen, dass aus der dunklen Tiefe aufstieg, waren oft genug verführt worden, weiter hinab zu tauchen und nie wieder gesehen worden. Dennoch mochte Fuxya den See, weil niemand hierherkam, um sie zu stören. Hier war sie allein mit sich und ihren Gedanken und ungestört. Außerdem beruhigte die Natur sie. Plötzlich sah sie erneute Wellenbewegungen. Da war doch etwas! Waren die Tiere zurückgekehrt? Nachdem vor hunderten Jahren die letzten Drachen sich ins Heiligtum zurückgezogen hatten, trauten sich jetzt endlich die Tiere zurück? Sie umrundete den ovalen See mit unsicheren Schritten, denn innerlich schlug ihr Herz vor Angst. Was, wenn das Tier ihr nichts Gutes wollte? Schließlich blieb sie an der Stelle stehen, die dem Ursprung der Wellen am nächsten war und schaute gebannt dorthin. Wieder brach dort etwas flüchtig durch die Wasseroberfläche, nur dass sie dieses Mal sehen konnte, was genau es war. Es war eine Hand so weiß wie die der Dragoniar. Jemand war in den See gesprungen und ertrank! Sie musste Hilfe holen! Bevor sie auch nur drei Schritte getan hatte, blieb sie abrupt stehen. Wer wäre so dumm und würde in den See springen, um jemanden zu retten, der die Regeln der Natur gebrochen hatte? Keiner! Kein einziger Dragoniar würde dem Dummkopf hinterherspringen, geschweige denn hinterhertrauern, der es gewagt hatte, in den Heiligen Drachensee zu springen. Mühsam drehte sie sich um und schaute auf die Stelle, von der aus Luftblasen an die Oberfläche traten und dort zerplatzten. Er ertrank! Sie durfte doch nicht zusehen, wie dieser Dragoniar ertrank! Aber was sollte sie tun? Der See war gefährlich! „Dummes Weib“, schalt sie sich, griff nach ihren Stiefeln und zog sie aus. Ihre nackten Füße trafen auf die weißen Kieselsteine, die das Ufer des Sees säumten und die wahrscheinlich auch auf dessen Boden liegen würden, so weit reichten sie hinein. Zusätzlich dazu entledigte sie sich ihres Überkleides. Dann erst lief sie, den Schmerz in ihren Füßen ignorierend, in das Wasser, das sich eiskalt um sie herum ausbreitete und ihr schmerzlich bewusst machte, dass sie nicht halb so gut schwimmen konnte wie die anderen Mädchen. Die dunkle Masse schwappte ihr ins Gesicht, während sie hilflos paddelnd auf die Stelle zu schwamm, an der sie die Hand gesehen hatte. Dort angekommen, versuchte sie mit ihren Füßen zu ertasten, ob dort etwas war, doch sie fühlte nichts. Also blieb ihr nichts Anderes übrig, als zu tauchen, was ein unbehagliches Gefühl in ihr auslöste. Mit Mühe unterdrückte sie den Drang, zurück ans Ufer zu schwimmen und wegzurennen und holte tief Luft. Dann tauchte sie ab. Während sie sich an die Kälte des Wassers um sich gewöhnte, drehte sie sich um, um mit dem Kopf nach unten in die Tiefe zu gleiten. Erst dann öffnete sie die Augen. Es war erstaunlicherweise relativ hell hier, da sich das Licht des Tages im Wasser brach und es zu einem Türkiston erhellte. Sie schaute sich um, während sie tiefer hinabschwamm. Nichts in ihrer Umgebung ließ auf einen Dragoniar schließen, der hier kürzlich versunken war. Wo war er? War sie womöglich an der falschen Stelle untergetaucht? Sie war schon so weit unten, dass ihre Ohren vom Wasserdruck schmerzten. Bald war auch ihre Luft knapp! Sie konnte nicht mehr lange hierbleiben! Würde der Drachensee sie je wieder gehen lassen, wenn sie sich geirrt hatte? Sie sah sich um und kniff ihre Augen zusammen, um besser sehen zu können. Das Wasser brannte etwas und ließ ihre Sicht verschwimmen, doch sie gab nicht auf. Gerade, als sie umkehren wollte und sich selbst schalt, weil sie sich wohl geirrt hatte, sah sie etwas weiter unten einen Mann. Der war noch ziemlich frisch – also keine dieser Leichen, die hier angeblich auf dem Boden verteilt liegen sollten. Fuxya entschloss sich, mit einem Stoß ihres Fußes zu überprüfen, ob der Mann lebendig war oder eine der neueren Wasserleichen. Sie drehte sich um und trat zu. Aus der Lunge des Mannes entwichen einige Luftblasen und seine Augen öffneten sich. Als er sie sah, trat ein flehentlicher Ausdruck in sie und er bedeutete ihr, dass er keine Luft bekam, dass er erschöpft war und nicht mehr schwimmen konnte. Sie seufzte, wobei ihr selbst Luft entwischte und sie ärgerte sich. Dann, mit einem Aufwallen von Mitgefühl, tauchte sie weiter hinab und versuchte, ihn hochzunehmen. Ihr ging bald die Luft aus und sie musste noch den ganzen Weg zurück an die Oberfläche schwimmen. Mit einer Last. Ob sie das schaffen würde? Schließlich bedeutete sie ihm, er solle sich an ihr festhalten und ihr mit seiner letzten Kraft etwas helfen, dafür würde sie ihm Luft geben. Er nickte schwach und sie legte ihre Lippen auf seine. Mit nur der Hälfte der übrigen Luft und einem deutlich schwereren Mann, der auch noch in voller Reisekleidung in den See gesprungen war, auf dem Rücken kraulte sie mühsam auf die Oberfläche zu, die ihr mit jedem Meter weiter weg erschien. Ihre Lungen taten weh, ihre Ohren knackten und ihre Erschöpfung wollten sie beinahe erfolgreich daran hindern, je wieder aufzusteigen, als sie mit einer letzten Kraftanstrengung an die Luft schoss. Keuchend und nach Luft ächzend hielt sie den Mann an der Oberfläche, der ebenso glücklich war wie sie, noch einmal den Wind in seinem Haar zu spüren. Sie schwamm auf dem Rücken in Richtung Ufer und zog ihn, der ebenfalls auf dem Rücken lag, mit sich, sodass er weiterhin ruhig Luft holen konnte. Irgendwann verspürte sie zu ihrer Erleichterung, dass der Kies sich in ihre Schulterblätter rammte und ließ den Mann los. Aus dem Wasser konnte sie sich, so erschöpft wie sie war, nur noch krabbelnd schleppen. Während Wellen immer noch ihre Beine umspülten, blieb sie auf dem Kiesufer bäuchlings liegen und schloss die Augen. Neben sich wusste sie den Mann, der genauso dalag wie sie. Einige Zeit später öffnete sie die Augen wieder und schaute den Mann an. Er hatte grüne Haare, sah aber ansonsten aus wie jeder andere Dragoniar auch. Warum zum Henker der Menschen hatte er grüne Haare?! Sie setzte sich ruckartig auf. Diese Bewegung schien ihm aufgefallen zu sein, denn er öffnete erschöpft seine gelben Augen und sah sie an. Sie sollte weglaufen! Wie ungezogen von ihr, sich an einem Ufer mit einem Mann zu sonnen! Mit wackeligen Beinen stand sie auf und ging zu ihren Schuhen, die auf dem Kies an einer Stelle standen, die ein paar Meter nach rechts erforderten. Sie zog die Stiefel an und nahm das Überkleid, bevor sie vom Kies auf das grüne Gras schritt. Ihre Kleidung trocknete bereits in den heißen Strahlen der Sonne, sodass sie nicht lange warten musste, um sich schließlich auch das Überkleid anzuziehen. Der komische Kerl mit den grünen Haaren und gelben Augen, der dennoch sehr fantastisch aussah, besser als jeder andere Dragoniar aus ihrer Bekanntschaft, stöhnte und sie sah auf. Er hatte sich noch nicht bedankt dafür, dass sie ihm in einer Geste der Selbstlosigkeit sein Leben gerettet hatte und eigentlich hatte sie nicht übel Lust, ihm Manieren einzuschreien. Doch als sie näher kam, bemerkte sie das Blut, das aus seiner rechten Seite auf den weißen Kies lief. Das Rot tünchte das Weiß in einer Geste der Grausamkeit um und bedeutete ihr, dass er nicht nur oberflächlich verletzt war. Was war ihm in diesem See passiert? Schnell sprang sie zu ihm und zog ihm die Oberbekleidung aus, die aus einer der feinsten Seidenstoffe war, die die Dragoniar zu bieten hatten. Das wiederum erstaunte sie nicht – nur die Reichen kamen auf die dummen Gedanken, im See nach verlorenen Schätzen zu suchen. Sie suchte seine Seite ab und sah den tiefen Riss, den sie zunächst für eine Wunde aus dem See hielt, bis sie bemerkte, dass es eher nach einem Schwertstich aussah. Der Mann musste erkannt haben, was sie gesehen hatte und hob zögernd den Arm. Mit einem seltsamen, aber sehr feinen Akzent in der Stimme flüsterte er: „Kann das Fräulein heilen?“ Wie jedes Dragoniar-Mädchen lernte sie außer dem Kämpfen, Singen, Tanzen und sonstigen Dingen auch das magische Heilen. Ihre Fähigkeiten in diesem Bereich waren immer besser gewesen als die der anderen Mädchen, was sie in gewisser Weise immer noch sehr stolz machte, denn es war fast das Einzige, was ihr tadellos gelingen wollte. Sie nickte als Erwiderung und legte vorsichtig die Hände auf die Stelle. Wie zu erwarten war, war die Wunde tief und sie war ziemlich erschöpft von der Rettungsaktion, weshalb sie nur die Blutung stillen und anschließend den Schwertstich nur etwas schließen konnte. Sie nahm einige Bänder aus ihrem Haar und wickelte sie notdürftig als Bandage darum. Wenn sie etwas geschlafen hatte, würde sie ihn besser heilen können oder aber sie brachte ihn ins Dorf. „Könnt Ihr gehen?“, erkundigte sie sich, wusste jedoch nicht, ob er antworten würde, da er bereits wieder die Augen geschlossen hatte. Er schüttelte lediglich den Kopf und sagte dann: „Nehmt die goldene Kette und legt sie oben, über dem Tempel, auf den Opferstein … Damit würdet Ihr mir bereits das Leben retten.“ „Ich kann Euch so nicht hierlassen!“, protestierte sie und beugte sich immer noch über ihn. Er grinste verwegen, was jedoch schnell zu einer Grimasse wurde, bevor er schließlich wieder sprach: „Doch, ich bin gefährlicher, als ich aussehe. Lasst mich nur und tut, was ich Euch sage. Nun geht schon! Oder soll ich hier sterben?“ Plötzlich von ihm so angefahren, rappelte sie sich auf und eilte über das Kiesufer weiter den Berg hinauf. Innerlich brodelte sie vor Ärger. Wie konnte er es wagen, sie so herumzukommandieren, wenn sie ihm gerade sein Leben gerettet hatte?! Männer! Mit mehreren besorgten Blicken zurück zum Ufer, wo der Mann immer noch lag und ihr hinterherschaute, strafte sie ihre Wut jedoch lügen. Ob er noch lebte, wenn sie zurückkam? Dann erforderte der Aufstieg jedoch ihre gesamte Konzentration und sie kletterte erschöpft über Steine und kleinere Bergbäche, bis sie von oben auf den weißen Tempel schauen konnte. Das Dach war genauso weiß und aus Marmor wie der Rest des Gebäudes, doch in der Mitte dieser Fläche lag ein Stein. Er war rund und in der Mitte ausgehöhlt. Das musste der Opferstein sein, von dem dieser Mann geredet hatte. Sie sollte die Goldkette dort hineinlegen und dann zurückkommen. Also tat sie wie geheißen, legte das Ding hinein und drehte sich um, immer noch das Gefühl des teuren Schmucks auf ihrer Hand. Es war eine Gliederkette gewesen, an der ein ovales Medaillon gehangen hatte. „Wieso hat jemand wie er so etwas?“, wunderte sie sich und machte sich an den Abstieg. Dragoniar mochten feine Stoffe und gerade die reicheren unter ihnen ließen sich schöne Stücke schneidern, um sie zur Schau zu stellen. Doch Schmuck trug kaum einer und wenn, dann waren es meistens nur Holzringe oder Holzreifen. Metall sah an ihnen furchtbar protzig aus. Mühsam legte sie den Weg zum See zurück, der hin und zurück im ausgeruhten Zustand nur circa zehn Minuten kostete. Sie brauchte gefühlte Zwanzig. Am See angekommen, schaute sie nach ihrem Verletzten, der sich vom Kies ins Gras geschleppt hatte, um dort zu schlafen. Wäre der Drachensee nicht eine für Tiere unbeliebte Gegend, hätte der Blutgeruch des Mannes ein paar Fleischfresser angezogen, doch so war er verschont geblieben und von ihr fiel die erste Sorgenwelle ab. „Wie geht es Euch?“, fragte sie, als sie sich neben ihn gekniet hatte. Sie würde ihn ins Dorf zu einem Heiler bringen müssen. Aber der Weg würde sie überanstrengen, schließlich brauchte sie im ausgeruhten Zustand schon eine gute Stunde. Mit ihm zusammen und so erschöpft, wie sie war, würden sie nie rechtzeitig ankommen. Außerdem hatte sie der Aufstieg zum Tempel ihr letztes Fünkchen Kraft gekostet. Wieso hatte sie das überhaupt getan? Wie sollte eine dumme Goldkette in einem Opferstein dieses Tempels sein Leben retten? Das schien ihr äußerst unwahrscheinlich, doch er klammerte sich an diese Hoffnung wie ein Ertrinkender. Haha. Ertrinkender. Sie seufzte. „Schlaft jetzt, Fräulein“, war seine Antwort, die nun geflüstert an ihr Ohr drang. Er konnte Magie wirken, war ihre nächste Entdeckung. Denn er setzte sie ein, wenn auch so geschickt, dass sie es erst bemerkte, als sie bereits neben ihm lag, zusammengekauert, um zu schlafen und ihr ihre Augen zufielen. Sie wollte protestieren, doch übermannte sie seine magisch erschaffene Müdigkeit und ließ sie in einen tiefen Schlaf fallen. Ihr letzter Gedanke galt ihm. Warum zum Henker der Menschen hatte er sich dann nicht selbst geheilt? Männer! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)