Hannibal Lecter von Mireille_01 (Die Gesänge der Toten) ================================================================================ Kapitel 8: Spaziergang durch den Nebel der Vergangenheit... ----------------------------------------------------------- „Zoe, geht es Ihnen gut?“ fragte Lecter besorgt. Seine nur um knappe 2 Jahre jünger Studentin ging schweigen neben ihm her. Das ging schon seit zwei Tagen so und langsam machte sich Lecter tatsächlich Sorgen. So hatte er Zoe Itami noch nie erlebt. Seit er mit ihr in der Bibliothek gesessen hatte und Zoe über die „Gesänge der Toten“ gesprochen hatte, war sie vollkommen in sich gekehrt und zurückgezogen. Sie hatte nach dem Anfall von Elise nicht mehr mit ihm gesprochen und sich nur in ihr Zimmer zurückgezogen. Wenn sie nicht gerade vor Elises Zelle saß und mit ihr gemeinsam einen stummen Wettbewerb im Schweigen ausfocht, war sie nachdenklich und zog sich immer mehr zurück. „Was meinen Sie, Doktor?“ kam es leise von Zoe zurück. „Hören Sie auf mit dem Theater.“ Sagte Lecter schnaubend und sagte drohend: „Wenn Sie weiter so ein dämliches Spiel spielen Zoe, sperre ich Sie zu dem „Henker“ und lass Sie mit ihm alleine!“ Zoe blickte fassungslos auf: „Das ist doch nicht Ihr Ernst, Doktor?“ „Sieh an, die Dame kann ja doch noch normal kommunizieren!“ meinte Lecter mit einem Schmunzeln auf den Lippen. Er sah Zoe an, während sie nebeneinander durch den Schnee gingen. Er hatte sich in den letzten Tagen wirklich große Sorgen um Zoe Itami gemacht. Ihr starres Schweigen, gepaart mit leerer Trostlosigkeit hatte seine Pläne völlig durcheinander gebracht. Er wollte nicht, dass sie sich so fühlen musste. Was auch immer Elise genau gesagt hatte, es hatte etwas in Zoe ausgelöst, das Lecter verzweifeln ließ. Er wusste nicht warum, aber er wollte nichts unversucht lassen, damit er Zoes wunderschönes Lächeln wiedersehen konnte. Er hätte es noch auf dem Totenbett abgestritten, aber er vermisste ihre spontanen Witze, ihr zauberhaftes Lächeln und noch mehr, er vermisste ihren fröhlichen Charakter. „Zoe – reden Sie mit mir!“ sagte Hannibal eindringlich und ruhig. Er spürte wie sehr er ihr helfen wollte. Vergessen waren seine teuflischen Pläne, vergessen seine zügellose Suche nach einem neuen Opfer. Er wollte nichts mehr als Zoe zurück. Er hatte sich an ihre angenehme Gegenwart gewöhnt – ihr Lächeln, ihre Freundlichkeit, ihre Frechheit, ihre Losgelassenheit. „Ich … ich habe Sie angelogen, Doktor…“ kam es nun zögerlich aus ihrem Mund. Hannibal blieb stumm und es bestätigte seine Vermutung. Zoe hatte ihm öfters nicht die Wahrheit gesagt, aber dass sie es nun von sich aus erzählte, war ihm sehr wichtig. Er blieb stumm und wartete bis Zoe weiterredete. „Mein Bruder, er…“ Zoes Stimme brach ab. Lecter blieb weiterhin ruhig und konzentriert. Er würde warten. Er hatte sich schon oft in Geduld geübt und darin war zu einem wahren Meister geworden. „Er hat sich nicht umgebracht.“ Sagte Zoe leise. Sie gingen nebeneinander im Schnee und die dichten Flocken fielen wie eine schützende Haube auf Zoes fast schon schwarzes langes, gelocktes Haar. Ihre großen dunklen Augen waren groß und voller Schmerz. „Ich habe ihn umgebracht.“ Während diese Worte aus Zoes Mund sprangen, ging Lecter noch einige Schritte weiter, bevor er sie verstand und aufnahm. Zoe war stehengeblieben und einen gewissen Abstand hinter ihm, als er auch stehen blieb und sich langsam zu ihr umdrehte. Zoe stand im fallenden Schnee und ihr Haar war mit Schneeflocken verziert. Wie zahllose Kristalle glänzten sie kurz auf, bevor sie wieder verschwanden. Hannibal nahm dieses Zeitlose Bild in sich auf und hoffte, betete, es nie wieder vergessen zu können. „Zoe – was…?“ zum ersten Mal wusste er keine Antwort auf eine stumme Frage, die so laut dröhnend in der Stille lag, dass es in den Ohren widerhallte. „Was ist denn Doktor?“ Zoe blickte auf und ihre dunklen Augen verschränkten sich mit seinen. Sie ging langsam auf ihn zu und blieb nur wenige Zentimeter von ihm entfernt stehen. Sie sahen sich lange an, bevor ihre Lippen sich wieder öffneten – diese wunderschönen Pfirsichfarbenen Lippen, die dazu einluden geküsst zu werden: „Sind Sie entsetzt oder amüsiert?“ Es war als wäre die Zeit stehen geblieben und Hannibal hätte nichts dagegen gehabt, wenn er für immer so dastehen hätte bleiben können, versunken in ihren wunderschönen Augen. Doch nun kam ihm endlich ein vernünftiger Gedanke. „Warum hast du ihn umgebracht, Zoe?“ Verwirrt hob sie eine schlanke Augenbraue, als sie erkannte, dass er sie plötzlich duzte. Seine Augen waren dunkel und versprachen Schutz und Geborgenheit. Sie zitterte leicht, doch sie erkannte, dass sie es endlich aussprechen musste. „Er hat mir etwas angetan, was ein Bruder niemals seiner Schwester hätte antun dürfen.“ Zoes Lippen bewegten sich zögerlich. Sein Blick lag ruhig auf ihr. „Was hat er dir angetan, Zoe?“ fragte er leise. Seine rechte Hand fuhr zärtlich durch ihr dunkles Haar und brachte ihr Herz fast zum Stillstand. Zoe sah ihn stumm an, doch dann brachen die Worte aus ihr heraus. „Er hat mich vergewaltigt.“ Der Wind frischte auf und fuhr durch ihre Haare, bauschte Lecters Mantel leicht auf und ließ die Zeit kurze Zeit erneut still stehen. Hannibal sah wie ihre Augen sich bei den Worten verschleiert hatten, zu einem dunkelgrauen Meer. Er kannte diesen Blick. So hatte er sich damals gefühlt, als er die Wahrheit über seine tote Schwester Mischa herausgefunden hatte. Es war blanker Hass. Hass auf sich selbst. Gepaart mit Zorn und eiskalter Wut. Zoe drehte sich um und blieb mit dem Rücken zu ihm stehen. Lecter sah auf ihre zarten Schultern und wie der Wind mit ihren Haaren spielte. „Wie oft hat er sie vergewaltigt, Zoe?“ endlich arbeitete sein Gehirn wieder vernünftig und er hoffte, dass es so bleiben würde. Zoe hatte eine unglaubliche Macht über ihn. Er erkannte auch den Grund. Seit langem hatte er sich nicht mehr so gefühlt. Er erinnerte sich an das letzte Mal, dass er solche Gefühle empfunden hatte. Es war lange her. Damals war es seine angeheiratete Tante gewesen. Lady Murasaki Shikibu. Nun war es dieses kleine Geschöpf dort. Diese junge, zarte Frau mit den Augen wie reinster Schmerz. Der Haut voller Hass auf sich selbst. Ein gefangenes Bildnis des eigenen Werkes. „Das erste Mal verging er sich an mir, da war ich 8 Jahre alt. Das letzte Mal mit 16 Jahren. Als ich seit 2 Jahren auf eine Privatschule ging. Damals war er wütend. Ich wehrte mich, ich wollte nicht länger seine Puppe sein. Nicht länger eine stille Zuseherin.“ Zoe hob leicht den Kopf, ihre Haare fielen ihr dabei weiter über den Rücken: „Nicht länger ein Opfer…“ Hannibal sah sie langsam an, da sagte er leise: „Zoe…!“ Er trat zu ihr und erkannte wie sich ihre Schultern hoben und senkten. Sie zitterten und er war sich sicher. Er legte ihr sanft eine Hand auf die rechte Schulter. Plötzlich wandte sie sich um und sprang geradezu stürmisch in seine Arme. Zitternd drückte sie sich an seine starke Brust und vergrub das Gesicht darin. Er konnte nicht anders. Er hielt sie fest und stark in seinen Armen. Er spürte wie sie weinte, von lautlosen Weinkrämpfen geschüttelt, weinte sie in seinen Armen. „Ich weigerte mich – ich konnte es nicht länger ertragen. Ich wollte nicht mehr. Ich verweigerte mich ihm. Das machte Jean –Luc zornig und er forderte seinen Willen ein. Dann ging er mit einer Schere auf mich los…“ Zoes Stimmte klang brüchig. „Das brachte ihn in eine Irrenanstalt. Sie besuchten ihn dort?“ fragte Hannibal fassungslos. „Er war trotz allem mein Bruder und ich wollte so gerne daran glauben können, dass er sich ändern konnte. Das er erkennen würde, wie falsch es war seine eigene Schwester mit solchen Augen anzusehen. Solche Gier und eine Lust zu empfinden. Doch als ich ihn nach zwei Jahren besuchte, hatte er sich nicht verändert. Er war sogar erfreut mich zu sehen. Er erzählte mir, was er mir antun würde, sobald er frei war. Er war genauso wie früher. Ich hatte Angst.“ Zoe ekelte sich vor sich selbst, doch die Worte kamen zügellos aus ihrem Mund. „Ich wusste dass er wieder rauskommen würde, schließlich hatte mein Vater Einfluss. Er würde alles tun damit Jean-Luc freikam. Schließlich war er sein Sohn!“ Das letzte Wort kam wie ein Fluch über ihre Lippen. Hannibal hielt sie fest und strich ihr zärtlich über die langen Haare. Das gab ihr Kraft. „Nach einem halben Jahr besuchte ich ihn erneut. Ich hatte ein Messer bei mir – man durchsuchte nicht einmal die Leute, die andere in der Irrenanstalt besuchten. Keiner einziger. Jean – Luc war hocherfreut. Er dachte ich würde mich genauso nach ihm verzehren, wie er nach mir. Er wollte mich anfassen. Seine Augen glänzten voller Vorfreude. Doch sie strahlten ganz schnell voller Schmerzen, als mein Messer sein Herz durchbohrte. Er war sofort tot…“ Zoes Stimme brach. Lecter war fassungslos und seine Stimme klang leise als er endlich fragen konnte: „Wie bist du da nur wieder rausgekommen, Zoe?“ Zoe hob das Tränenverschmierte Gesicht und blickte fest in seine Augen. Dann antwortete sie: „Ich log. Ich schrie um Hilfe. Die Pfleger kamen angerannt und fragten was geschehen sei. Ich sagte, Jean – Luc hätte mich mit einem Messer bedroht. Da er wegen der Sache mit der Schere in die Anstalt gekommen war, zweifelte niemand an meinen Worten. Es gab keinerlei Untersuchungen oder Beschuldigungen. Der Fall kam zu den Akten und mein Bruder wurde nur 4 Tage später beerdigt. Es kam niemals wieder ein Gespräch über ihn auf. Ich zog nur eine Woche daraufhin aus meinem Elternhaus aus und verschwand. Ich nahm den Namen meiner Mutter an und hatte seit diesem Tag keinen Kontakt mehr mit meinem Vater.“ Zoe atmete wieder regelmäßiger ein und aus. Lecter hielt sie immer noch in seinen Armen. Der Wind hatte sich gelegt und noch immer fielen die Schneeflocken rhythmisch vom grauverschleierten Himmel. „Ich habe niemals darüber gesprochen. Außer mit einem einzigen Mann, mit Gabriel. Er schwor das Geheimnis mit in sein Grab zu nehmen…“ sagte Zoe leise. Hannibal nickte und sagte leise, eindringlich – wie ein Schwur: „Ich verspreche es niemanden zu erzählen, Zoe. Sie haben mein Wort!“ Sie blickte in seine Augen und er sagte leise: „Ich halte meine Versprechen!“ Sie nickte und verkroch sich wieder an seiner Brust. „Sie haben mich gefragt, woher ich die Worte kannte, die Elise aussprach, Doktor!“ kam es leise von Zoe, nachdem sie eine gefühlte Ewigkeit so gestanden hatten. Sie drückte sich leicht von ihm weg und blickte in seine Augen. „Woher kennst du die Worte, Zoe?“ fragte Hannibal leise. Seine Augen waren voller Mitgefühl und Zoe fühlte sich ihm sehr nah. „Es sind Worte aus einem Buch. Ein Selbsthilfebuch…“ sagte Zoe leise. Hannibal zog eine Augenbraue in die Höhe: „Ein Selbsthilfebuch?“ Sie erkannte anhand seiner Stimme Skepsis und Belustigung. „Halten Sie mich nicht für dumm, Doktor!“ Zoes Stimme klang ärgerlich. Vergnügt erkannte er wie sie sich wieder in seine Zoe verwandelte. Fröhlich, beschwingt, frech und ehrlich. Er würde sie nie mehr gehen lassen – zu sehr spürte er den Wunsch sie bei sich behalten zu müssen. Sie blickte auf und direkt in seine Augen, als er sie lächelnd ansah: „Sie haben mich doch darauf mit der Nasenspitze gestoßen.“ Er lächelte nur und zuckte ahnungslos die Schultern. „Sie Fiesling!“ lachte Zoe. Sie grinste ihn an und sagte dann wieder ernst: „Doktor, dass Buch ist ein Art Gebetsbuch. Ein Selbsthilfebuch für Vergewaltigungsopfer.“ „Darum kennst du es?“ fragte Hannibal leise. Er hielt sie immer noch fest und Zoe musste sich etwas unbehaglich aus seinen Armen lösen. Sie stand vor ihm und nickte. „Ja – das Buch heißt „Gesänge der Toten“ und das was Elise zitiert hat, ist ein Art Gedicht, dass ganz zu Beginn auf der ersten Seite steht. Es soll die Opfer dazu zwingen, dem Geschehen in die Augen sehen zu können. Aber Elise hat es falsch interpretiert. Sie hat es als Bestätigung gesehen.“ Zoes Augen glühten unheilvoll auf. „Bestätigung wovon?“ fragte Hannibal leise. Er ahnte es bereits, doch es war wichtig, dass Zoe es selbst erkannte. „Bestätigung, dass sie Opfer eines Verbrechen ist. Und dass sie sich rächen muss.“ Zoe blickte fest in seine Augen und sagte anschließend: „Elise wurde vergewaltigt. Und dafür rächt sie sich nun.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)