Highway to hell von Karma (Simon x ...) ================================================================================ Kapitel 1: Heaven's Door ------------------------ "Hey, mein Großer, ich bin wieder da." Ich ziehe meinen Mantel aus, hänge ihn an die Garderobe im Flur und muss unwillkürlich schmunzeln, als es hinter mir miaut. Im Spiegel der Garderobe kann ich sehen, wie Murray mich erst ausgiebig aus seinen gelben Augen mustert, ehe er sich mitten in den Weg setzt, so dass ich ihn, um nicht über ihn zu stolpern, gleich hochheben und nach drüben tragen muss. Genau darauf legt er es an und ich als braver Sklave meines persönlichen Stubentigers werde natürlich auch genau das tun, was er von mir erwartet. Mein Kater hat mich wirklich gut erzogen mittlerweile. Mich trifft ein Blick, der deutlicher als alle Worte der Welt ›Brav so, mein Dosenöffner!‹ sagt, dann lässt Murray gnädig zu, dass ich ihn tatsächlich hochhebe und ins Wohnzimmer schleppe. Dort setze ich ihn auf meiner Couch ab, wo er jedoch selbstverständlich nicht bleibt. Stattdessen stolziert er mit hoch erhobenem Schwanz und einem verächtlichen Blick über die Schulter hinüber zu seinem persönlichen Lieblingssessel und rollt sich dort auf dem Kissen zusammen, das ich extra für ihn ausrangiert habe. Früher war es mal eins meiner Kissen, aber Murray hat schon kurz nach seinem Einzug bei mir beschlossen, dass es jetzt ihm gehört. Ich habe nur zwei Wochen gebraucht, um meinen ohnehin sinnlosen Widerstand gegen diese Tatsache aufzugeben. Mit einem weiteren Schmunzeln streiche ich meinem Kater noch einmal über den Kopf, ehe ich erst mal in die Küche gehe, um seinen Napf aufzufüllen. Darauf wartet seine Hoheit schließlich schon, seit ich reingekommen bin. Zuallererst mal bin ich hier nämlich sein Versorger und persönlicher Entertainer und erst weit danach der gerade so eben tolerierte Mitbewohner. Aber so ist das nun mal, wenn man sich eine Katze – oder, wie in meinem Fall, einen Kater – zulegt. Ich wusste vorher, worauf ich mich einlasse, und ich bereue es auch nicht. Wenigstens ist meine Wohnung dadurch nicht mehr so vollkommen leer und still, wenn ich nach Feierabend nach Hause komme. Nachdem ich meiner Pflicht nachgekommen bin und all die deprimierenden Gedanken, die mich schon seit Wochen in ihren Klauen halten, fürs Erste erfolgreich zurückgedrängt habe, mache ich auf dem Rückweg zur Couch noch einen kurzen Abstecher zu meiner Anlage, um mich mit etwas Musik berieseln zu lassen. Murray flitzt unterdessen bereits an mir vorbei in die Küche, als hinge sein Leben davon ab, das Futter möglichst schnell in sich hineinzufressen. Er ist wirklich ganz schön gierig – was man ihm auch ansieht; der Schlankste ist er nicht gerade –, aber das ist mir nur recht. Abgesehen davon, dass er eben auch ein Kater ist, hat er kaum etwas mit Slim gemeinsam. Und dafür bin ich wirklich ungemein dankbar. Ich will nämlich nicht ständig daran erinnert werden, was ich verbockt habe. Und da sind sie schon wieder, die Gedanken, die ich einfach nicht loswerde. "Wunderbar", murmele ich ironisch und schließe die Augen. Ich bin doch wirklich ein Idiot. Es war eigentlich schon von Anfang an klar, dass das mit Jan und mir nicht gut gehen konnte. Ich bin einfach nicht der Richtige für ihn und genau das hätte ich schon sehr viel eher sehen müssen. Dann hätte ich ihm eine Menge Herzschmerz ersparen können. Aber Wünsche, Hoffnungen und Träume können einen manchmal eben blind machen für die Realität. Und die Realität ist nun mal, dass Jan ohne mich sehr viel besser dran ist – auch wenn er das, meinem kleinen Bruder zufolge, wohl immer noch anders sieht. ›I thought the future held a perfect place for us. That together we would learn to be the best that we could be. In my naivety I ran, I fell and lost my way. Somehow I always end up falling over me …‹ Meine Anlage spielt eins der Lieder meiner Lieblingsband, die ich gerade so gar nicht gebrauchen kann – Holding on, um genau zu sein – und ich lasse meinen Kopf seufzend auf die Rückenlehne der Couch sinken, ohne meine Augen wieder zu öffnen. Ich hatte wirklich, wirklich gehofft, dass es dieses Mal halten könnte, aber ich hätte es besser wissen müssen. Scheinbar, sinniere ich resigniert, bin ich einfach nicht dazu geschaffen, in einer festen Beziehung zu leben. Ohne hinzusehen taste ich nach der Fernbedienung meiner Anlage und spule den Song vor, aber das lässt die Gedanken unglücklicherweise auch nicht wieder verschwinden. Ich hätte Jan nicht so weh tun dürfen. Ich hätte mich gleich von ihm fernhalten sollen, als ich gemerkt habe, was mit ihm los war. Aber ich war egoistisch. Ich hätte es besser wissen müssen, aber ich wollte es einfach nicht sehen. Ich wollte auch endlich mal wieder glücklich sein. Aber es scheint, als wäre das einfach nichts für mich. ›To the songs that sing of glory and the brave: Are we dreaming there are better days to come? When will the banners and the victory parades celebrate the day a better world was won? On the day the storm has just begun, I will still hope there are better days to come …‹ Ich ertappe mich dabei, wie ich den Refrain von ›Sentinel‹ leise mitsinge. Im nächsten Moment bekomme ich einen unsanften Tritt in den Magen und als ich die Augen doch wieder öffne, sehe ich Murray, der halb auf der Couch und halb auf meinem Schoß steht und mich aus seinen gelben Augen seltsam fragend anschaut. Ich schenke ihm ein halbes Lächeln und hebe ihn ganz auf meinen Schoß, um ihn besser hinter den Ohren kraulen zu können. Ich weiß, das mag er besonders gerne. "Dein Dosenöffner ist ein Beziehungsversager, weil er sich grundsätzlich immer in die Falschen verliebt", erzähle ich dem Kater und ernte dafür einen Blick, der mir deutlich klarmacht, dass Murray mich für einen kompletten Vollidioten hält. Allerdings hat das wohl weniger mit meinen Beziehungsproblemen zu tun und mehr damit, dass ich ihn offenbar tatsächlich als Seelenklempner zu missbrauchen gedenke. Nicht, dass meinem Kater meine Gemütslage völlig egal wäre. Das nun wirklich nicht, aber solange ich noch in der Lage bin, ihn regelmäßig zu füttern und ihn zu kraulen, wenn er das will, kann ja alles gar nicht so schlimm sein. Das sagt jedenfalls sein ganzes Verhalten. Ich wünschte nur, ich könnte das auch so sehen. Seufzend lasse ich meinen Blick durch die Wohnung schweifen und als meine Augen an dem Bild hängen bleiben, das Flo mir zu meinem Einzug in meine erste eigene Wohnung geschenkt hat, möchte ein Teil von mir am liebsten laut schreien. ›The hope of my redemption is such that I believe that I am free. To confess would bring me no salvation. I alone hold the power to forgive me. And of my acts, I will admit, I've no pretensions. I've no regrets for all the things that I have done. My faiths, to me, are as foundations. None has the right to judge my soul but me.‹, steht dort in Flos überraschend schön geschwungener Handschrift geschrieben und so sehr mich diese Textzeilen auch sonst aufbauen, wenn ich mich mies fühle, jetzt gerade machen sie alles nur noch viel schlimmer. "Ich muss hier raus", teile ich Murray mit, hebe ihn hektisch von meinem Schoß und verschwinde in meinem Schlafzimmer, um mir ein anderes Hemd rauszusuchen. Dann statte ich meinem Bad noch einen kurzen Besuch ab, entscheide mich in Windeseile für weiße Kontaktlinsen und versuche die Erinnerung an Jans Stimme, die mir sagt, dass er meine grauen Augen mag, aus meinem Kopf zu verbannen. "Kann spät werden", informiere ich meinen Kater noch, dann habe ich mir auch schon meinen Mantel geschnappt und bin raus aus der Wohnung und in meinem Auto. Es kostet mich ganze zwei Sekunden, um mich zu entscheiden, wo ich den Rest des heutigen Abends verbringen werde. Ich weiß, dass Ruben und seine Freunde – zu denen inzwischen ja auch Jan gehört – heute auch feiern gehen wollten, also fällt mein Stammclub definitiv flach. So gerne ich meinen Bruder heute noch sehen würde, das kann ich Jan einfach nicht antun. Aber inzwischen gibt es ja auch eine Ausweichadresse. Ich war zwar noch nie im ›Heaven's Door‹, dem Club von Flos neuem Freund Ray, aber die Adresse kenne ich auswendig. Flo hat mich schließlich schon oft genug zu überreden versucht, doch endlich mal mitzukommen. Und heute Abend, das weiß ich hundertprozentig, wird er auch dort sein. Immerhin veranstaltet Ray, der ein ebenso großer ASP-Fan ist wie Flo, regelmäßig am ersten Freitag im Monat einen ASP-Abend – was für mich einen weiteren Vorteil hat, denn so kann ich mir hundertprozentig sicher sein, dass keiner der Songs, der mir heute endgültig den Rest geben würde, dort gespielt wird. Auf der Fahrt zum ›Heaven's Door‹ lasse ich mein Radio absichtlich aus. Ich fahre auch wesentlich schneller als erlaubt, aber zu so später Stunde – es ist inzwischen schon Viertel vor zwölf – ist kaum noch jemand unterwegs, also ist das kein Problem. Ich brauche nicht mal zehn Minuten, dann habe ich den Club erreicht, parke meinen Wagen auf dem recht vollen Parkplatz und betrete schnell den Club, ehe ich es mir doch noch anders überlegen kann. Kaum dass ich den Eingangsbereich hinter mir gelassen habe und mich an den Abstieg in den Keller – dort befinden sich Flo zufolge die Haupträumlichkeiten des Clubs – mache, schallt mir auch schon laut ›How far would you go?‹ von ASP entgegen. Die von der Nebelmaschine produzierten Schwaden machen es schwer, irgendetwas oder irgendjemanden deutlich zu erkennen, aber das macht mir nichts aus. Ich habe schließlich die ganze Nacht Zeit, um Flo und die Anderen zu finden. Da die Tanzfläche bei Flo immer der beste Startpunkt ist, sehe ich mich zuerst dort um, nachdem ich meinen Mantel an der Garderobe abgegeben habe. Allerdings ist Flo offenbar gerade nicht Tanzen, deshalb dehne ich meine Suche erst auf die Bar und schließlich auf die Nischen des Clubs aus. Und in einer dieser Nischen werde ich schlussendlich sogar fündig. Flo hockt gemeinsam mit seiner Schwester und einigen anderen Leuten, die ich nicht kenne, an einem großen Tisch und ist offenbar mitten in ein Gespräch vertieft. Ich beschließe, noch etwas zu warten, bis ich mich bemerkbar mache, aber Sarah kommt mir zuvor. Sie entdeckt mich als Erste und winkt mich hektisch zu ihnen rüber. "Was treibt dich denn her, Simon?", erkundigt sie sich erstaunt, sobald ich mich zum Tisch durchgekämpft und mich zu ihr nach unten gebeugt habe, um sie wie üblich kurz zu drücken. "Langeweile", beantworte ich ihre Frage und ernte dafür einen verwirrten Blick, aber ehe sie mich noch weiter ausquetschen kann, hievt Flo sich aus seinem Stuhl hoch und umarmt mich zur Begrüßung, wie er es immer tut. "Schön, dass du endlich doch mal hergefunden hast", brüllt er mir schon fast ins Ohr und ich halte ihn vielleicht eine Sekunde länger fest als nötig, ehe ich ihn wieder loslasse. "Ich musste mir doch mal anschauen, wo du dir so die Nächte um die Ohren schlägst." Flo lacht über meine Erklärung, die der Wahrheit nicht mal annähernd nahe kommt, und ich fühle mich gleich in meiner Entscheidung bestärkt. Es war richtig, heute Abend herzukommen. Wirklich verschwunden sind die ganzen deprimierenden Gedanken zwar noch nicht, aber ein bisschen besser geht es mir trotzdem schon. Irgendwie hat Flo immer diese Wirkung auf mich. Genau deshalb ringe ich mir auch ein Lächeln ab, als er sich meinen Arm schnappt und mich dann auf einen Stuhl drückt, den er blitzschnell von einem der Nachbartische organisiert hat. Ich bin einigermaßen froh, nicht unbedingt neben Sarah gelandet zu sein. Ich mag sie wirklich, aber heute Abend kann ich keine inquisitorischen Fragen von der Art gebrauchen, wie sie sie besonders gerne stellt. Heute brauche ich einfach nur gute Musik und eine Menge Ablenkung in Form meines besten Freundes, der bereits schwer damit beschäftigt ist, mich bei den drei Leuten am Tisch, die ich noch nicht kenne, vorzustellen. "Simon, das sind Lena, Thore und Dirk", beendet er seine Vorstellung schließlich und ich nicke den Dreien knapp zu, sage aber nichts. Was sollte ich auch sagen? Ich bin nun mal nicht der Kommunikativste. Und an einem Abend wie heute bin ich sogar noch weniger gesprächig als sonst. Das scheint jedoch niemanden groß zu stören. Wie üblich bestreitet Flo den Hauptteil der Unterhaltung, an der sich allerdings auch Sarah, Lena und Dirk – die offenbar ein Paar sind – beteiligen. Einzig Thore bleibt genauso schweigsam wie ich. Ich merke, dass er mich mehrmals von der Seite mustert, aber ich erwidere seine Blicke nicht und nehme erst wieder aktiv am Geschehen um mich herum teil, als Flo mich antippt und mir mit einem Nicken bedeutet, dass ich ihn zur Bar begleiten soll, um Getränke für alle zu besorgen. "Braucht ihr Hilfe?", erkundigt Dirk sich höflich, aber Flo schüttelt den Kopf und setzt sich in Bewegung. Ich folge ihm, aber er schlägt nicht den direkten Weg zur Bar ein, sondern steuert stattdessen eine kleine, sehr versteckt gelegene Ecke an, die ich bis jetzt noch gar nicht gesehen hatte. Die Ecke ist abgesperrt, aber Flo hakt die Kette kurz aus, winkt mich durch und hängt die Kette dann hinter uns wieder ein. Und hier, wo die Musik nicht mehr ganz so laut ist, sieht Flo mich mit schiefgelegtem Kopf fragend an. "Was ist los, Simon? Warum bist du heute wirklich hier?", erkundigt er sich sanft und ich lehne mich aufseufzend an die kalte Steinwand in meinem Rücken. "Kannst du dir das nicht denken?", kontere ich mit einer Gegenfrage und Flo nickt, als hätte er nichts anderes erwartet. Hat er wahrscheinlich auch nicht. Er ist und bleibt nun mal der Mensch, der mich am allerbesten kennt. Er weiß ganz genau, wie ich ticke und wann es mir nicht so gut geht, wie ich den Rest der Welt glauben machen will. Er hat mich schon immer durchschaut, als wäre ich aus Glas. Schon als wir uns kennen gelernt haben. Ehe ich noch mehr sagen kann, tut Flo genau das, was ich schon im Voraus wusste, was er tun würde: Er tritt einen halben Schritt näher, zieht mich zu sich und nimmt mich einfach in den Arm. "Genau deshalb bin ich heute Abend hergekommen", liegt mir auf der Zunge, aber ich spreche diese Worte nicht laut aus. Ich weiß, dass Flo auch so ganz genau weiß, was ich gerade denke. "Du hättest auch eher zu mir kommen können, weißt du?", murmelt er nach einer gefühlten Ewigkeit, in der er mich einfach nur festhält und ich diese Nähe einfach nur genieße. "Ja, ich weiß", nuschele ich leise zurück, lehne meine Stirn gegen seine Schulter und lasse zu, dass er mir sanft und tröstend über den Rücken streichelt. Das, ganz genau das habe ich heute gebraucht: Jemanden, der mich einfach nur in den Arm nimmt, ohne großes Aufhebens deswegen zu machen. Ray ist ein verdammter Glückspilz. Ich hoffe nur, er weiß das auch. Aber so, wie er sich Flo gegenüber verhält, ist ihm wohl durchaus bewusst, was für ein Glück er hat. Wie lange wir letztendlich so stehen bleiben, kann ich nicht genau sagen. Wir reden nicht mehr, aber das ist auch nicht nötig. Worte sind jetzt gerade überflüssig. Erst als wir uns doch endlich voneinander lösen, ringe ich mir ein schwaches Lächeln und ein "Danke" ab, das Flo mir wohl mehr von den Lippen abliest als dass er es wirklich hört. Dafür ist meine Stimme eindeutig zu leise. "Schon okay", wiegelt er ab und erwidert mein Lächeln eine Spur herzlicher als ich es gerade kann. "Dafür sind Freunde doch da", schiebt er noch hinterher und mir rutschen doch noch die Worte heraus, die ich eigentlich gar nicht mehr sagen wollte, einfach weil sie nicht mehr angebracht sind: "Ich liebe dich, Flo", höre ich mich selbst sagen und möchte mich am liebsten gleich dafür ohrfeigen. Trotzdem kann ich nicht aufhören. Jetzt ist es sowieso zu spät, da kann ich ihm auch gleich alles sagen. "Das ist mein Ernst. Und das wird sich auch nie ändern." Flos erste Reaktion auf mein Geständnis ist ein mehr als irritierter Blick, aber dann lächelt er wieder so strahlend, wie ich das von ihm gewöhnt bin. "Ich weiß", sagt er, als wären meine Worte das Normalste der Welt. Als hätte sein bester Freund, der zeitgleich auch sein Exfreund ist, ihm nicht gerade gestanden, dass er ihn noch immer liebt. Gut, meine Liebe zu Flo hat sich verändert, seit wir nicht mehr zusammen sind, aber sie ist immer noch da. Und ganz vergehen wird sie nie, das weiß ich genau. Er wird immer meine erste Liebe und einer der wichtigsten Menschen in meinem Leben bleiben. "Und ich liebe dich auch, Simon." Mir wird warm, als ich diese Erwiderung höre, aber ich komme nicht dazu, dieses Gefühl richtig zu genießen. "Ist ja ausgesprochen interessant", kommt es von hinter Flo und als ich mich nach dem Sprecher umblicke, erkenne ich Thore, der vorhin noch mit uns am Tisch gesessen hat. Offenbar hat ihm unser Gang zur Bar zu lange gedauert und er hat nach uns gesucht. Darauf, dass er uns genau in diesem ausgesprochen ungünstigen Augenblick gefunden hat, hätte ich allerdings getrost verzichten können. "Weiß Ray davon?" Thores Stimme, als er sich an Flo wendet, ist schneidend und eisig, aber Flo stört sich nicht daran. Stattdessen nickt er einfach nur. "Ja, klar. Simon und er kennen sich. Und Ray weiß ganz genau über Simon und mich Bescheid", antwortet er und ich winde mich innerlich. So, wie er das sagt, klingt es, als hätten wir eine Affäre miteinander und nicht als wären wir inzwischen einfach nur noch befreundet. "Du kannst ihn ja fragen, wenn du mir nicht glaubst." "Das werde ich auch tun." Damit wirft Thore Flo und mir noch einen vernichtenden Blick zu, ehe er sich auf dem Absatz umdreht und in Richtung der Bar davonstiefelt. Ich habe das Bedürfnis, auf der Stelle im Erdboden zu versinken, aber ich unterdrücke den Fluchtimpuls und schließe mich stattdessen Flo an, der sich mit der Bemerkung "Wir sollten mal langsam die Drinks holen. Die Anderen sind sicher schon halb verdurstet" auch auf den Weg zur Bar macht. Wie ich vorhin bei meinem ersten Rundblick schon festgestellt habe, ist Ray noch immer hinter der Bar. Als Flo und ich dort ankommen, hängt er gerade an einem Ende halb über der Theke und ich brauche keinen zweiten Blick, um zu wissen, dass Thore seine Drohung wahrgemacht hat und Ray jetzt wirklich fragt, was es mit Flo und mir auf sich hat. Ich bin zu weit weg, um die Unterhaltung mitanzuhören oder auch nur Rays Reaktion wirklich sehen zu können, aber trotzdem hoffe ich, dass meine unbedachten Worte keine Konsequenzen für Flos Beziehung haben. Immerhin ist Ray, wie ich weiß, ziemlich eifersüchtig. "Vielleicht hätte ich heute doch nicht herkommen sollen", adressiere ich in Flos Richtung und fange mir dafür einen Rippenstoß und einen vorwurfsvollen Blick ein. "Doch, hättest du. Du hättest schon viel eher zu mir kommen sollen, du Trottel. Wie oft hab ich dir schon gesagt, dass du nicht immer alles mit dir selbst ausmachen sollst?", gibt er zurück und ich fühle mich erleichtert und schuldig zugleich. Flo ist wirklich der beste Freund, den man haben kann. Während ich noch in meine Gedanken versunken bin, gibt Flo schon mal die Bestellung auf und drückt mir zwei der Gläser in die Hand. Ich tue ihm den Gefallen und balanciere sie zurück in die Nische, in der Sarah und die Anderen sitzen und auf uns warten. Dann überlege ich kurz, ob ich meinen Platz wechseln soll – immerhin hat Flo mich vorhin direkt zwischen sich und diesem Thore platziert –, entscheide mich aber dagegen. Das würde aussehen wie eine Flucht oder gar ein Schuldeingeständnis und diesen Eindruck will ich ganz sicher nicht erwecken. "Wo ist denn Flo?", will Sarah neugierig wissen und als ich in Richtung der Bar nicke, grinst sie wissend. "Die Zwei kleben aneinander wie Fliegenpapier", meint sie und obwohl mir nicht wirklich danach zumute ist, zwinge ich mich trotzdem zu einem kurzen Schmunzeln. Offenbar zufrieden lehnt Sarah sich wieder zu Dirk und Lena und lässt mich mit meinen Gedanken alleine – jedenfalls so lange, bis Flo gemeinsam mit Ray und Thore zum Tisch zurückkommt. Offenbar, stelle ich mit einem Blick fest, hat Ray die Sache zumindest einigermaßen klären können. Allerdings bin ich mir ziemlich sicher, dass dieser Thore noch nicht ganz überzeugt ist. Das sagt seine ganze Mimik deutlicher als Worte. "Wie kommt's, dass es dich tatsächlich mal ins Heaven's Door verschlagen hat, Simon?", erkundigt Ray sich bei mir, sobald er in Hörweite ist. Ich antworte nur mit einem vagen Achselzucken. "Ich hatte keine Lust auf einen weiteren Abend nur in Gesellschaft von Murray. Mir war mehr nach guter Musik, deshalb bin ich hier. Außerdem wollte ich mir auch mal endlich ankucken, wovon Flo immer so schwärmt." Gut, das ist nur die halbe Wahrheit, aber das muss ich ja niemandem erzählen. Ray quittiert meine Worte jedenfalls mit einem Grinsen, aber ehe er noch mehr sagen kann, wird er von Flo auch schon voller Elan in Richtung der Tanzfläche geschleift. Ich kann nicht anders als die beiden zu beobachten, wie sie sich zu den Klängen von ASPs ›Küss mich‹ so eng aneinander schmiegen, dass nicht mal ein Haar noch zwischen sie passen würde. Rays Hände liegen besitzergreifend auf Flos Hüfte, Flo hat seine Arme um Rays Nacken geschlungen und knabbert hingebungsvoll an dessen Hals. Ich kann mir ziemlich gut vorstellen, was er ihm dabei zuraunt. Immerhin kenne ich Flo einerseits ziemlich gut und andererseits war vor knapp zweieinhalb Jahren noch ich derjenige, an dessen Hals Flo geknabbert und dem er beim Tanzen nicht jugendfreie Dinge ins Ohr geflüstert hat. Mitten in meine Erinnerungen hinein tippt mich irgendjemand an und als ich zur Seite blicke, stelle ich fest, dass Thore ein ganzes Stück näher zu mir gerückt und offenbar meinem Blick auf die Tanzfläche gefolgt ist. "Eifersüchtig?", fragt er und in seiner Stimme schwingt ein schwer zu definierender Unterton mit. Ich blicke noch einmal zu Flo und Ray hinüber, dann schaue ich Thore an und schüttele den Kopf. "Nicht eifersüchtig, neidisch", gebe ich zu, was mir einen sehr irritierten Blick einbringt. Thore sagt jedoch nichts weiter dazu und auch ich verspüre nicht wirklich den Drang nach Unterhaltung. So gut es auch vorhin getan hat, einfach mal in den Arm genommen zu werden, so sehr bereue ich es inzwischen doch, hergekommen zu sein. Aber obwohl das so ist, will ich trotzdem nicht gehen. Nicht jetzt schon. Einerseits ist es noch viel zu früh und andererseits würde das garantiert aussehen, als wäre ich doch eifersüchtig auf Ray – was definitiv nicht der Fall ist. Ja, ich beneide ihn darum, dass er mit Flo so glücklich ist, aber ich bin nicht eifersüchtig. Flo und ich, wir sind Vergangenheit. Sicher, hin und wieder vermisse ich das, was wir hatten, auch heute noch, aber dabei geht es mir nicht so sehr um Flo als vielmehr darum, einfach jemanden zu haben, den ich lieben kann und der mich auch liebt. Jan mag in mich verliebt gewesen sein, aber das mit uns war von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Er ist einfach viel zu zart und zerbrechlich für jemanden wie mich. Er braucht jemanden, der wirklich immer für ihn da ist. Und das kann ich ihm einfach nicht bieten. Um meinen sich schon wieder im Kreis drehenden Gedanken zu entkommen, gebe ich nach, als Sarah sich irgendwann schmollend beschwert, dass sie niemanden zum Tanzen hat, weil ihr Freund heute Abend nicht hier sein kann. Ich stehe auf, halte ihr meine Hand hin und muss tatsächlich ein bisschen schmunzeln, als sie mich irritiert ansieht. Allerdings war sie noch nie jemand, der eine Gelegenheit ungenutzt hätte verstreichen lassen, daher finde ich mich kurz darauf auf der Tanzfläche wieder. Es ist etwas merkwürdig, beim Tanzen eine junge Frau im Arm zu halten und keinen Mann, aber ich beschließe, mich darum heute einfach nicht zu kümmern. Sarah versucht während des Tanzens mehrmals, den eigentlichen Grund meines Hierseins aus mir herauszuquetschen, gibt aber recht bald auf. "Es ist echt fies, ständig mit Kerlen zu tun zu haben, die gegen meinen weiblichen Charme immun sind!", seufzt sie theatralisch und boxt mir gespielt verärgert gegen den Bauch, als ich sie ebenso gespielt erstaunt frage: "Du hast weiblichen Charme?" Sie weiß, ich meine es nicht böse, und tatsächlich hilft diese Neckerei mir, wieder ein bisschen mehr ins Gleichgewicht zu kommen. Sarah ist zwar keine so gute Hilfe wie ihr Bruder, aber trotzdem bin ich sehr viel besser gelaunt, als wir gemeinsam zum Tisch zurückkehren und uns wieder auf unsere Plätze fallen lassen. Wieder trifft mich ein merkwürdiger Blick von Thore, aber ich beschließe, mich einfach nicht mehr darum zu kümmern. Er kann von mir halten, was er will, das ist mir vollkommen egal. Als ich endlich doch wieder nach Hause komme, ist es bereits kurz vor fünf Uhr und damit eigentlich schon Morgen. Inzwischen bin ich ziemlich erledigt, aber ich fühle mich trotzdem sehr viel besser als vor dem Besuch im ›Heaven's Door‹. Flo hatte eindeutig Recht, der Club ist toll. Die Nacht hat zwar nicht besonders gut angefangen, aber nachdem ich durch Zufall irgendwann erfahren habe, dass Lena ein ebenso großer VNV Nation-Fan ist wie ich und dass sie nur mit im ›Heaven's Door‹ war, um ihrem Dirk einen Gefallen zu tun, hatte ich eine weitere Gesprächspartnerin neben Flo und Sarah. Alles in allem war es also eine gelungene, wenn auch recht lange und anstrengende Nacht. Gähnend schiebe ich die Wohnungstür hinter mir zu, hänge meinen Mantel auf und ziehe meine Stiefel aus, ehe ich einen kurzen Blick ins Wohnzimmer werfe. Das Licht mache ich nicht an, aber auch im Halbdunkel ist Murrays zusammengerollte Form auf meinem Sessel gut zu erkennen. Beim Klang meiner Schritte hebt er den Kopf und blinzelt mich schläfrig an, macht aber keine Anstalten, aufzustehen und zu mir zu kommen. ›Wenn du was von mir willst, Dosenöffner, dann beweg gefälligst deinen faulen Arsch hierher zu mir. Ich steh für dich jedenfalls ganz bestimmt nicht auf‹, sagt sein Blick und ich muss unwillkürlich grinsen. Wenn man sich mal so richtig abkanzeln lassen will, gibt es doch nichts besseres als eine Katze. "Ich hab dich auch lieb, Murray." Mit diesen Worten betrete ich das Wohnzimmer und lehne mich kurz von hinten über den Sessel, um seiner Hoheit noch eben seine üblichen Streicheleinheiten vor dem Schlafengehen zukommen zu lassen. Murray reibt seinen Kopf an meiner Hand und schnurrt nicht gerade leise, bleibt aber immer noch liegen. Ich störe mich jedoch nicht daran, sondern mache mich auf den Weg erst ins Bad und dann ins Schlafzimmer. Die Tür lasse ich dabei absichtlich offen, denn ich weiß ganz genau, dass Murray spätestens zwei Minuten, nachdem ich mich hingelegt habe, zu mir ins Bett sausen und sich am Kopfende über meinem Kissen ausbreiten wird. Das macht er jede Nacht so. Und wie nicht anders erwartet ist die heutige Nacht keine Ausnahme. Ich habe mich kaum in meine Decke eingewickelt, da hopst mein Kater auch schon zu mir aufs Bett, trampelt unsanft über meine Beine und meinen Bauch hinweg und reibt noch kurz seinen Kopf an meiner Wange, ehe er sich auf seinen Lieblingsschlafplatz zurückzieht. Und sobald er sich dort eingerollt hat und genüsslich zu schnurren beginnt, schließe ich ebenfalls die Augen, seufze abgrundtief und beschließe, mir ein Beispiel an Murray zu nehmen und endlich wieder an etwas anderes zu denken als nur an die Dinge, die in letzter Zeit so schief gelaufen sind. Daran kann ich sowieso nichts mehr ändern. Höchste Zeit, endlich damit aufzuhören, es zu versuchen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)