Memori3s von _Myori_ ================================================================================ Der Pakt mit dem Teufel ----------------------- „Wie kann man am schnellsten einen Menschen mit bloßen Händen töten?“ Zu gleichen Teilen verwirrt und fassungslos starrte der alte Lehrer seinen Schüler an und auch der Rest der Klasse drehte sich zu ihm um. Einige seiner Mitschüler verdrehten genervt die Augen, andere fingen an zu kichern und warfen sich vielsagende Blicke zu. Der blonde Junge, der gesprochen hatte, saß in der letzten Reihe und sah ihm selbstsicher und ernst in die Augen; die beiden Schüler, die links und rechts neben ihm saßen, konnten sich das Grinsen jedoch nur schwer verkneifen. Wut stieg in ihm hoch und er spürte, wie ihm warm im Gesicht wurde. Er hatte die dreisten und provokanten Fragen dieses Bengels langsam satt! Er hielt immer noch an seinem Leitspruch fest, dass es keine dummen Fragen gäbe und er stets bemüht sei, auf jede eine Antwort zu geben, allerdings verwünschte er sich dafür, diesen Satz in dieser Klasse verkündet zu haben. Warum hatte er den Blonden bloß drangenommen? Vielleicht weil er trotz alledem einer der wenigen war, der in seinem Biologieunterricht mitarbeitete- wenn auch der störende Teil dabei meist überwog… Der Junge musterte ihn weiterhin stumm und erwartungsvoll. Der Lehrer atmete tief ein, presste die Lippen aufeinander und drehte sich wieder zur Tafel um, um seine Stichpunktliste zum Thema „lebenswichtige Organe“ schweigend zu vollenden. Er würde sich nicht provozieren lassen- nicht von ihm, nicht so kurz vor seiner Rente… Linus sollte nie eine Antwort auf seine Frage erhalten, die zu einem Spiel gehörte, das als harmlose Wette ihren Anfang gefunden hatte- stattdessen sollte er Jahre später selbst auf die Lösung kommen: Es brauchte zwei gestandene Männer mit durchtrainierten Körpern, eine abgelegene Straßengasse und gefühlte tausend schmerzhafte Tritte und Schläge, um jemanden zumindest bis an die Grenzen der Ohnmacht zu treiben. Man hatte den beiden zu seinem Glück die Anweisung erteilt, nicht weiter zu gehen. Blut und Magensaft spuckend blieb Linus auf dem kalten Asphalt liegen. Sein Atem ging rasselnd und jeder Atemzug hätte ihn aufschreien lassen können. Gemächliche Schritte näherten sich dem Schauplatz und die zwei Männer, deren Namen Linus nicht einmal kannte, traten eilig zur Seite. Ein dritter Mann stand nun vor ihm und seinen Namen könnte Linus seinen Lebtag nicht vergessen. Der beleibte Mann ging vor Linus in die Hocke, zog an seiner Zigarette und blies dem jungen Mann den bläulichen Qualm ins Gesicht. „Wo ist mein Geld?“, fragte Alexej Dragan mit seiner rauen Stimme, in der ein harter westlicher Akzent mitschwang. Linus versuchte sich aufzurichten und sah zu dem Mann hoch. Die rechte Hälfte seines Gesichtsfeldes lag verschwommen unter einem roten Schleier, sodass er ununterbrochen blinzeln musste. „Ich schwöre Ihnen, ich habe mein Bestes gegeben“, krächzte Linus hilflos. „aber da sind auf einmal so viele Bullen gewesen und-“ Der Rest des Satzes ging in einem gequälten Schrei unter, hervorgerufen durch den glimmenden Zigarettenstummel, den Dragan auf Linus` Handrücken ausdrückte. Tränen schossen dem Zwanzigjährigen in die Augen und wimmernd presste er die Lippen aufeinander. „Ich habe dir gesagt, dass du mir eine Millionen Yen überbringen solltest.“, fuhr Dragan unbeeindruckt weiter fort. „Und wie viel hattest du bei dir?“ „…Achthunderttausend.“, stieß Linus keuchend aus. Am liebsten hätte er sich die blasenschlagende Haut abgezogen; das wäre weitaus weniger schmerzhaft gewesen. Dragan nickte. „Ganz genau.“, entgegnete er und sah ihm tiefer in die Augen. „Mich interessiert nicht, warum du mein Geld verloren hast- solang du es mir wiedergibst.“ Linus beeilte sich zu nicken. „Das werde ich, ganz bestimmt!“ Dragan strecke seine behandschuhte Linke aus und legte sie an Linus` Wange. Die kalte Berührung ließ den Blonden selbst im tiefsten Inneren seines Körpers erzittern. „Das wollte ich hören.“, brummte der Mann und seine Augen verengten sich warnend. „Ich gebe dir zwei Tage.“ Linus Augen weiteten sich entsetzt und sein Puls begann zu rasen. „Das schaff ich nicht.“, hauchte er hilflos, woraufhin Dragan nur gleichgültig mit den Schultern zuckte. „Du hast es geschafft, Zweihunderttausend Yen an einem Tag zu verlieren- ich finde, da ist es sehr großzügig von mir, wenn ich dir zwei Tage Zeit gebe, um sie mir wieder zurückzuzahlen…“, erwiderte er und tätschelte die Wange seines Gegenübers leicht. Ohne ein weiteres Wort stand Dragan wieder auf und sah abschätzend auf Linus hinab, der weiterhin versuchte, sich vollends auf die Beine zu ziehen. „Dragan, ich bitte Sie. Geben Sie mir mehr Zeit.“, flehte Linus verzweifelt und hustete, was eine neue Schmerzwelle in seinen Eingeweiden auslöste. Schweigend musterte der Angesprochene ihn, dann nickte er einem der Männer zu, der daraufhin dem Blonden ein kleines Päckchen mit weißem Inhalt vor die Füße warf. „Ich bin heute in Geberlaune.“, sagte der ältere Mann und zündete sich eine neue Zigarette an. „Wenn du dich schlau genug anstellst, kannst du hiermit anfangen, deine Schulden zu begleichen.“ Er unterbrach sich, um einen tiefen Zug seiner Zigarette zu nehmen. „Ich denke, du weißt noch, wie das geht.“, fügte er hinzu und deutete auf das Päckchen. Linus schluckte hart. Die Menge an Drogen würde nie für so viel Geld ausreichen… Dennoch nickte der Jüngere zögernd und auf Dragans speckige Gesichtszüge stahl sich ein zufriedenes Grinsen, dass seine goldenen Kronen in dem schattendurchzogenen Licht der Gasse aufblitzten. „Dann verstehen wir uns ja richtig.“, raunte er und drehte sich zum Gehen. „48 Stunden- keine Minute länger…“, wiederholte Dragan noch einmal und seine Warnung hallte ewig lange von den Wänden her nach und brannte sich Linus ins Gedächtnis. Irgendwann ließen die Schmerzen ein wenig nach und wurden etwas erträglicher. Linus hatte sich aufgerichtet und sich gegen die dreckige Gassenwand gelehnt. Er versuchte, in regelmäßig tiefen Zügen zu atmen und hatte sich das gröbste Blut aus dem Gesicht gewischt. Auf dem rechten Auge sah er immer noch so gut wie nichts, aber wenigstens flachte das Pochen ab. Nach einer halben Stunde hatte er es endlich geschafft, aufzustehen und die Gasse zu verlassen. Es war später Nachmittag und die Fußgängerzonen der Innenstadt waren gut mit Menschen gefüllt, die ihn alle schräg von der Seite her anschauten oder sich verwundert zu ihm umdrehten. Linus presste die Lippen aufeinander und versuchte die Blicke zu ignorieren- das letzte, was er nun brauchte, waren besorgte Fremde, die ihn unbedingt zu einem Arzt zerren wollten. Das Päckchen mit den Drogen hatte er sich in die Innentasche seiner Jacke gestopft. Er konnte immer noch nicht ganz aufrecht gehen, sodass er die Arme kurzerhand um seinen Oberkörper schlang und somit eine Hand immer unauffällig über der Stelle hielt, wo er das weiße Pulver versteckt hatte. Schweigend und mit auf dem Boden gerichtetem Blick ging er zu einer naheliegenden U-Bahn Station und fuhr nach Hause. Am nächsten Tag zog er sich nach einer Reihe von erfolglosen Versuchen von den belebten Straßen zurück und folgte den Seitenstraßen bis hin zu dem Viertel, wo sich die meisten Obdachlosen und Junkies aufhielten. Er war, seit er angefangen hatte, Kurierdienste für Dragan zu übernehmen, nicht mehr oft hier gewesen, dennoch kam ihm alles sehr bekannt und auf eine unheimliche Art und Weise vertraut vor. Beinahe routiniert steuerte er eine der Straßenecken an, an denen er bis vor kurzem fast täglich gestanden hatte, um in Dragans Namen Drogen unter die Leute zu bringen. Tatsächlich hatte er nicht sehr lange, an der mit Graffiti beschmierten Fassade lehnend, dort gestanden, bis ein junger Mann mit glasigen Augen auf ihn zukam. Er trug eine ausgeblichene, löchrige Jeans, eine zu große Jacke, die mit Aufnähern übersät war und grobe Lederstiefel. Seine bunt gefärbten Haare fielen ihm wild ins blasse und hagere Gesicht. Linus konnte nur schwer sein Alter schätzen- er hatte die wässrigen Augen eines alten Mannes, doch seine Haut war so jugendlich, dass Linus vermutete, dass er nicht viel älter als er selbst sein konnte. Der junge Mann gab sich keine Mühe diskret oder unauffällig zu sein. Mit weit ausgreifenden Schritten kam er direkt auf Linus zu und stellte sich vor ihn. Er war ein Stück größer als Linus, sodass dieser an ihm hoch schauen musste. „Ich kenn dich.“, begann der Fremde und musterte Linus kurz und analysierend, dann grinste er. „Warst lange nicht mehr hier. Siehst scheiße aus, Alter.“ Linus zuckte nur mit den Schultern. „Mein Aussehen is‘ mein Problem.“, entgegnete er mit düsterem Unterton, der weitere Erläuterungen im Keim zu ersticken hoffte, und verengte die Augen. „Willst du was oder nicht?“ Das Grinsen des jungen Mannes wurde breiter und das glasige verschwand ein Stück weit aus seinen grünen Augen. Linus fasste das als Ja auf und griff in seine Jackentasche. Sein Gegenüber beäugte die kleine Menge des weißen Pulvers, die Linus ihm vor die Nase hielt, kritisch und sah fragend auf Linus hinab. „Wie viel willst’e dafür haben?“ „20000 Yen.“ Die Augen des Älteren weiteten sich und fassungslos lachte er auf. „Das ist Wucher! Du kannst mir nicht erzählen, dass das Zeug so rein ist, dass du so viel dafür verlangen kannst!“ Ungläubig schüttelte er den Kopf. „Ich geb` dir maximal 12000 für den Scheiß.“ „Na schön, 18000 Yen…“, entgegnete Linus zähneknirschend, doch der Mann schüttelte wieder mit dem Kopf. „13000!“ Linus biss wütend die Kiefer aufeinander. So würde er niemals die Zweihunderttausend zusammenkriegen. „16000…“, erwiderte er dann nach ein paar Sekunden. „Tiefer geh ich nicht.“ Der junge Mann blinzelte auf einmal überrascht, doch dann stahl sich ein schadenfrohes Grinsen auf seine blassen Lippen und wieder schaute er abschätzend an Linus hinab, dass dieser die Stirn runzelte. „Bist du dir da sicher? Es geht das Gerücht rum, dass du für Geld vor einem sogar auf den Knien rumrutschen würdest…“, sagte er. Die Augen seines Gegenübers beendeten ihren Rundgang und blieben an Linus` Gesicht hängen. Sein Herz begann schneller zu schlagen. Etwas hatte sich unter den Schimmer der Sucht in dem Schmutzgrün des Irispaares seines Gegenübers gelegt. Immer noch grinsend, trat der Fremde noch einen Schritt auf Linus zu, sodass er nur wenige Zentimeter von dem Kleineren entfernt stand. „Hab gehört, du seiest noch in einer anderen Branche tätig…“, murmelte der Mann leise und provozierend. Ruckartig erwachte Linus aus seiner Starre und stieß den anderen wütend von sich weg. Der Mann stolperte einige Schritte rückwärts und starrte ihn empört an. Zornig ballte Linus die Hände zu Fäusten. „16000…“, knurrte er. „Zahl sie oder kauf dir woanders deinen verdammten Stoff.“ Die Empörung schlug sofort in Zorn um und abwertend spuckte der junge Mann ihm vor die Füße. „Behalt deinen Dreck, Mistkerl!“, zischte er, ging an Linus vorbei und streifte bei der Gelegenheit Linus` Schulter mit voller Wucht, dass der Jüngere gequält das Gesicht verzog und sich darauf konzentrierte, nicht vor Schmerzen aufzuschreien. Erst, als er sich sicher sein konnte, dass der Andere hinter der nächsten Ecke verschwunden war, wagte er es, seine geprellte Schulter zu umfassen. Linus atmete tief durch die Nase ein und versuchte, seine aufschäumende Wut hinunter zu kämpfen. Hab gehört, du seiest noch in einer anderen Branche tätig… Sein Herz begann vor Zorn zu rasen. Wie lange würde ihn das noch verfolgen? Schwere Schritte hallten die fast leere Straße hinab, kamen vor Linus zum Stehen und rissen ihn so aus seinen Gedanken. Erschrocken schaute der Blonde von den fremden, schwarzen Lederschuhen auf. Die teurer aussehenden Halbschuhe gehörten zu einem Mann in einem schwarzen Trenchcoat, der ihn in dieser Umgebung wie einen dunklen Paradiesvogel wirken ließ. Dem schmalen, faltenlosen Gesicht nach zu urteilen, schätzte Linus den Unbekannten auf irgendetwas zwischen 30 und 40. Ein Lächeln lag auf seinen Lippen, welches man als nichts anderes als sympathisch beschreiben musste, dennoch konnte es Linus nicht unterdrücken, vor ihm zurückzuweichen, was seinem Gegenüber jedoch nicht zu stören schien- zumindest ließ er es sich nicht anmerken. Schweigend standen sich die Männer gegenüber. Als dann nach ein paar Sekunden immer noch keiner etwas sagte, zog Linus verwundert die Stirn kraus. „Kann… ich Ihnen irgendwie helfen?“, fragte er zögernd und musterte den Mann misstrauisch. Er hatte rabenschwarzes Haar, das er sich auf eine modische Länge hatte schneiden lassen. Alles an diesem Mann sah akkurat und sauber aus- Linus wollte ihn nicht als Snob oder dergleichen bezeichnen, aber er sah auch wiederum zu reich aus für diese Gegend hier. Was also wollte so einer hier? Oder hatte er sich allen Ernstes verlaufen und war in diesem Viertel nur durch Zufall gelandet? Immer mehr Misstrauen legte sich in seinen Blick. Nein, das konnte er nicht ganz glauben- oder war er vielleicht wegen…? Das Lächeln des Mannes verblasste ein Stück weit und etwas Verlegendes mischte sich unter seine höfliche, weiterhin selbstsichere Haltung. „Tut mir leid, aber ich kam gerade nicht da herum, deine Unterhaltung mit dem anderen jungen Mann mit anzuhören.“, antwortete er verspätet. Linus` Augen verengten sich weiter und er spürte, wie seine Handflächen feucht vom Schweiß wurden. Was hatte er mit angehört? Innerlich spannte er sich an. „Und? Was wollen Sie jetzt von mir?“ Der Mann ließ eine Hand auf Höhe seiner Brust unter seinem Mantel verschwinden. „Was verkaufst du?“, fragte er leise und sein vorsichtiger, hastiger Tonfall, den Linus nur zu gut kannte, ließ den Jüngeren ein Stück weit ruhiger und gelassener werden. Der Typ schien einfach nur ein Süchtiger zu sein- harmlos, nicht weiter schlimm und genau das, was Linus nun brauchte. Und so, wie der Mann aussah, würde er wahrscheinlich auch nicht so geizig wie der andere vor ihm sein… Linus schaute verstohlen nach links und rechts die Straße runter und vergewisserte sich, dass niemand sie sah, dann reichte er dem Mann das kleine Tütchen. „Steht der Preis von 16000 Yen noch?“, fragte der Mann weiter und hielt Linus die entsprechende Anzahl an Scheinen im Austausch für das weiße Pulver hin. Der Blonde nickte und zog eine Augenbraue hoch. „Sie scheinen ja sehr gut gelauscht zu haben…“, entgegnete Linus leicht schmunzelnd und griff nach den Scheinen. Der Mann lächelte wieder verlegen, dann schloss sich seine Hand blitzschnell um Linus` Handgelenk. Entsetzt starrte Linus zu ihm hoch und in diesem Moment war alle Freundlichkeit und Harmlosigkeit aus dem Gesicht des Mannes verschwunden. „…um genau zu sein habe ich jedes einzelne Wort mitbekommen.“, erwiderte dieser mit ernster Stimme und der Druck auf Linus` Handgelenk nahm schlagartig zu, dass der Jüngere scharf die Luft einsog. Sein Herzschlag hämmerte in seinen Ohren und mit geweiteten Augen sah er den Mann weiterhin in die bedrohlich gewordenen Augen. Verdammt! War er etwa auf einen Polizisten reingefallen? War es nun soweit? Kam er jetzt, nach all den Jahren, in denen alles gut gegangen war, ins Gefängnis? Panisch riss er an seiner Hand und versuchte sich zu befreien, jedoch vergebens; der Schraubstock, der sich um sein Handgelenk geschlossen hatte, gab keinen Millimeter weit nach. „Du brauchst keine Angst zu haben“, hörte er den Mann sagen. Seine dunkle Stimme war immer noch schneidend und bestimmt, doch das Bedrohliche war ein Stück weit verschwunden, sodass Linus seine Gebärden für einen Moment unterbrach und ihn verängstigt anstarrte. „Ich bin meilenweit davon entfernt, für die Regierung zu arbeiten.“ „Was wollen Sie dann von mir?“ Die Panik ließ seine Stimme Purzelbäume schlagen. Wie aus dem Nichts zauberte der Mann wieder ein sanftes Lächeln auf seine Züge und lockerte seinen Griff etwas. „Für den Anfang möchte ich mit dir reden…“ Seine Worte ließen Linus misstrauisch innehalten. „Ich steh nicht auf Smalltalk mit Fremden!“, zischte er und ballte die freie Hand zur Faust. „Lassen Sie mich endlich los!“ Natürlich folgte der Unbekannte dieser Aufforderung nicht. Stattdessen sah ihm der Mann noch tiefer in die Augen. In dem Dunkelbraun seiner Iris konnte sich Linus verzerrt widerspiegeln sehen. „Nun, was hältst du dann davon, wenn wir uns irgendwo in Ruhe hinsetzen und uns allein unter vier Augen unterhalten, damit wir uns ein wenig besser kennen lernen?“, fragte er versöhnlich, doch seine Worte schlugen in Linus` Kopf wie ein scharfes Messer ein. Sein Herz setzte schmerzhaft aus, nur um im nächsten Moment mit doppelter Geschwindigkeit weiter zu schlagen. Einen letzten Versuch tätigend, zog er ruckartig an seinem Handgelenk und diesmal war der Griff des Mannes soweit gelockert, dass der Junge sich befreien konnte und lief los. Er sah sich nicht um, er vergewisserte sich nicht, ob der Mann ihn verfolgte oder nicht, er rannte einfach weiter. Tränen der Wut und der Angst stiegen in ihm hoch und vernebelten leicht seine Sicht. In solchen Momenten hasste er sein Leben. Linus hatte sich gegen die schmutzige Fassade des Wohnhauses gelehnt und wartete darauf, dass sich sein Puls wieder normalisierte. Die Rückwand des Hauses bot Schutz vor dem Wind und unerwünschten Blicken, sodass er kurzerhand mit fahrigen Fingern nach seinen Zigaretten griff und sich eine anzündete. Für weitere fünf Minuten stand er dort, lauschte den Motorengeräuschen, die von der Straße her zu hören waren, und rauchte die Zigarette in hektischen Zügen. Den Rest drückte er auf dem Asphalt aus und warf den Filter in eine der Mülltonnen ein paar Meter weiter. Kurz versuchte er sich zu sammeln, suchte in seiner Jackentasche nach einem Kaugummi, dann ging er nach vorne zum Hauseingang und stieg die Treppen in den vierten Stock hoch. Als er die Wohnungstür hinter sich ins Schloss zudrückte, konnte er den Geruch von Essen wahrnehmen und aus dem Wohnzimmer drangen Musik und Stimmen aus dem angeschalteten Fernseher. „Ich bin zuhause, Mum.“, rief Linus, während er seine Jacke auszog und sie auf einen Haken hängte. Seine Mutter sah vom Wohnzimmer aus zu ihm in den Flur und lächelte erleichtert. „Da bist du ja endlich.“, sagte sie und trat auf ihn zu. Sie war ein Stück kleiner als ihr Sohn und ihr blondes Haar zeigte Ansätze von grauen Strähnen. Sie legte die Stirn in Falten und legte eine schmale Hand an seine Wange. „Wo warst du so lange?“ Auf einmal rümpfte Sie die Nase und nahm ein Stück seines Shirts in die Hand. Misstrauisch roch sie daran. „Ist das Zigarettenqualm?“ „Ich war noch mit ein paar Freunden in einem Pub.“, antwortete Linus schnell und die Miene seiner Mutter wechselte wieder ins besorgte über. „Du bist spät dran, mein Lieber. Ich habe mir langsam Sorgen gemacht.“, sagte sie vorwurfsvoll und ließ den Kragen seines Hemdes wieder los. Schuldbewusst schaute Linus zu Boden. „Tut mir leid, ich hätte mich melden sollen.“ „Das wäre besser gewesen, ja.“ Sie schaute ihrem Jungen noch ein paar Momente in die gesenkten Augen, doch dann seufzte sie und verschränkte die Arme. „Hast du heute mit deinem Direktor über den Vorfall von gestern gesprochen?“, fragte sie weiter und beäugte das tiefblaue Veilchen an seinem rechten Auge. Linus nickte. „Er kümmert sich darum. Er wird mit den Eltern des Typen ein Gespräch führen.“ „Das ist ja wohl das mindeste.“, lachte seine Mutter auf und schüttelte den Kopf. „Dieser Touya gehört der Schule verwiesen!“ „Mum, bitte.“, stöhnte Linus und fuhr sich durchs Haar, doch die Frau schüttelte nur noch einmal energisch mit dem Kopf. „Nein, Schatz, du darfst dir nicht immer alles gefallen lassen! Schlägereien sollten an Schulen nicht so einfach geduldet werden. Du hast nichts Unrechtes getan.“ „Ich habe, in seinen Augen, seine Freundin angemacht…“ „Du hast ihr bei einer Aufgabe geholfen!“ „Mum, ich habe mit ihr gesprochen. Das ist bei ihm schon Provokation genug.“ Seine Mutter schnalzte mit der Zunge und sah ihn verständnislos an. „Wenn du mich fragst, hat der Junge ein ernstzunehmendes Aggressionsproblem- und das Mädchen einen perversen Geschmack, wenn sie auf solche Gorillas steht.“ „Wie auch immer…“, schloss Linus genervt und ging augenrollend an ihr vorbei. Seine Mutter wollte noch etwas sagen, doch da war er schon in der Küche verschwunden und sah in die Töpfe. Erst jetzt, wo er wieder zur Ruhe gekommen war, bemerkte er, wie hungrig er eigentlich war. Er nahm sich eine großzügige Portion des Eintopfes und setzte sich an den Küchentisch, als es plötzlich an der Tür klingelte. Er störte sich nicht weiter daran; vermutlich war es eh nur wieder eine Freundin seiner Mutter… Doch statt des üblich hohen und freudigen Geschnatters, vernahm er nun eine dunklere Männerstimme, die ihm einen Schauer über den Rücken jagte. Er konnte sie nicht richtig zuordnen, dennoch war er sich sicher, sie schon irgendwo einmal gehört zu haben. „Linus, komm mal, bitte.“, ertönte die Stimme seiner Mutter. Sie klang nicht gereizt oder ungeduldig, sondern mehr fragend und ein wenig verängstigt. Sofort war er auf den Beinen und sah alarmiert in den Flur. Als er den Mann, der auf der Türschwelle stand, erkannte, zog sich alles in ihm zusammen. Seine Mutter sah ihm unsicher entgegen und Linus versuchte, seine entgleisten Gesichtszüge halbwegs wieder unter Kontrolle zu bringen. Er wollte seiner Mutter keine Angst machen. Der Mann in dem dunkeln Trenchcoat lächelte. „Hallo Linus, endschuldige bitte die späte Störung.“ Der Angesprochene antwortete nicht sofort, starrte ihn nur weiterhin aus geweiteten Augen an, bis er sich endlich einen Ruck gab und ein Lächeln auf seine Züge zwang. „Herr Kagawa…“, begann Linus vorsichtig und ging auf den Mann und seine Mutter zu. Er hoffte, dass sie das Zittern nicht bemerkte, als er nun seine Hand dem Mann entgegenstreckte, welche dieser lächelnd schüttelte. „Was kann ich für Sie tun? Was verschafft mir die Ehre?“, fragte Linus weiter und als die Verwirrung in dem Gesicht seiner Mutter noch mehr zunahm, fügte er an sie gerichtet hinzu: „Das ist mein Mathelehrer, Mum. Herr Kagawa.“ Ihr Gesicht hellte sich auf und strahlend wandte sie sich an den Mann, der immer noch höflich Linus` Rechte in seiner hielt. „Ach, wirklich?“, fragte sie begeistert und hielt ihm ebenfalls die Hand hin. „Endlich lernt man sich mal kennen! Linus hat so viel Gutes über Sie erzählt.“ Der Mann zog erstaunt die Augenbrauen hoch und schaute zu Linus. „Ist das so, ja?“, fragte er geschmeichelt und sein Gesicht strahlte unter dem augenscheinlichen Lob, doch als Linus ihm in die Augen sah, erkannte er einen unheimlichen Schimmer darin, der ihn von oben bis unten zu durchleuchten schien und ihm anklagend seine Fehler vor Augen führte, sodass Linus kurz schluckte und befürchtete, dass der Fremde seine Lüge im nächsten Moment auffliegen lassen würde. Doch dieser Augenblick, in dem Linus eine eisige Hand in seinem Nacken zu spüren glaubte, währte nur kurz und keine Sekunde später drehte sich der Mann wieder lächelnd seiner Mutter zu. „Ich versuche nur meine Pflicht als Lehrer bestmöglich zu erfüllen.“, schloss er und lachte schüchtern. Seine Mutter ließ sich von dem Lächeln anstecken und machte eine einladende Handbewegung in die Wohnung. „Kommen Sie doch rein!“ Am liebsten hätte Linus protestiert, aber er konnte sich im letzten Moment noch zusammenreißen. Fröhlich wuselte seine Mutter in die Küche, aus der man sofort wildes Klappern hörte, bis sie zurück in den Flur kam und den Gast durch die Wohnung winkte. „Kann ich Ihnen etwas anbieten? Etwas zu trinken vielleicht?“ „O nein, vielen Dank, ich wollte nur kurz ein Wort mit Ihrem Sohn wechseln.“, entgegnete Herr Kagawa weiterhin lächelnd. Er stand in dem Türrahmen zur Küche und sah sich mit der höflichen Neugier eines Gastes in dem kleinen Raum um. Linus hatte sich in die Nähe seiner Mutter gestellt und ließ den Mann nicht aus den Augen. „Worum geht es denn?“, fragte der Blonde und in seiner Stimme schwang unterschwellig ein gefährliches Misstrauen mit. Egal was dieser Mann wollte, es konnte nichts Gutes bedeuten und Linus war bereit, bis zum Äußersten zu gehen, um diesen Typen aus der Wohnung zu kriegen- im Notfall auch tot… ‚Herrn Kagawa’ schien die entgegen gebrachte Abweisung jedoch kalt zu lassen. Die Augen des Mannes begannen wieder unheimlich zu funkeln. „Ich wollte mit dir nur kurz über das Stufenfest reden. Du hattest dich ja dafür gemeldet, das Catering zu übernehmen.“ Seine Mutter schaute überrascht zu ihrem Sohn auf. „Ein Stufenfest? Davon hast du mir gar nichts erzählt.“ Linus spürte, wie ihm die Farbe aus dem Gesicht wich. Er holte Luft und suchte verzweifelt nach Worten, während sie ihn immer vorwurfsvoller anschaute. „Verzeihung, ich wollte hier keine Geheimnisse aufdecken…“, sagte Kagawa auf einmal und sah schuldbewusst zur Seite, als beide Köpfe zu ihm herumfuhren. Seine Mutter sah mit gemischten Gefühlen zwischen den Anwesenden hin und her, bis Linus seufzte und traurig zu Boden schaute. „Ich wollte dich mit dem Fest überraschen, Mum. Deshalb habe ich nichts gesagt.“, murmelte er so niedergeschlagen, wie er in diesem Moment zustande brachte. „Es tut mir Leid, dass ich diese Überraschung vorweg genommen habe…“, fügte Kagawa kleinlaut hinzu. Die Augen seiner Mutter weiteten sich und sie wurde etwas rot um die Nasenspitze. Unbeholfen hob sie die Hände und schüttelte den Kopf. „N- nein, um Gottes Willen, das muss Ihnen doch nicht leidtun!“, sagte sie verlegen an Kagawa gerichtet und legte besorgt einen Arm um ihren Sohn. „Ich bin diejenige, die sich entschuldigen muss. Ich habe überreagiert, das war unangebracht…“ Mit fahrigen Fingern strich sie sich eine Strähne ihres blonden Haares hinters Ohr und wechselte einen schuldbewussten Blick mit Linus. Dieser lächelte nun aufrichtig und umarmte sie. „Schon gut.“, flüsterte er und etwas begann schwer in seinem Magen zu liegen. Seine Mutter hatte schon immer die Angewohnheit gehabt, sich für alles die Schuld zu geben- selbst für etwas, wofür sie nun wirklich nichts konnte. Kagawa räusperte sich lautstark. „Um nicht noch die letzte Spannung zu nehmen, dürfte ich den Vorschlag machen, mit Linus unter vier Augen zu sprechen?“ Sie nickte eifrig, sah lächelnd zu Linus hoch und begab sich zur Tür. „Nur zu!“, begann sie wieder euphorisch. „Lassen Sie sich Zeit, ich warte nebenan im Wohnzimmer. Wenn Sie etwas brauchen-“ „Danke, Mum.“, fiel Linus ihr schnell ins Wort und seine Stimme klang gereizter, als beabsichtigt. Sie blinzelte ihn kurz verdutzt an, dann schien sie den Wink doch zu verstehen, sodass sie peinlich berührt lächelte und ohne ein weiteres Wort die Küche verließ. Wie selbstverständlich schloss Kagawa hinter ihr die Tür und kaum war diese ins Schloss gefallen, kehrten sich die Emotionen in den Gesichtern der beiden Männer schlagartig um. „Schon mal darüber nachgedacht, auf eine Schauspielschule zu gehen?“ „Was wollen Sie von mir?“, zischte Linus drohend, Kagawas zynischen Kommentar ignorierend und lehnte sich gegen die Küchenzeile. Der Messerblock stand nur einen halben Meter von ihm entfernt. Angewidert schaute der Junge zu dem Mann hinüber. „Sind Sie etwa so ein beschissen süchtiger Junkie, der für seinen Stoff selbst das letzte bisschen Würde verhökern würde und mir bis nach Hause folgt?“ Auf den Zügen des Mannes breitete sich wieder ein leichtes Lächeln aus, zu dem sich nun auch eine hochgezogene Augenbraue gesellte. „Sagt mir der Junge, der sich für Geld von jedem flachlegen lässt…“, konterte der Unbekannte nüchtern. Die Worte durchzogen Linus wie einen Stromschlag, der ihn erstarren ließ. Wütend ballte er seine Hände zu Fäusten. Also hatte dieser Typ tatsächlich alles mit angehört. Ein halber Meter, rief er sich wieder ins Gedächtnis. „…das geht Sie `nen Scheißdreck an, klar? Wer sind Sie überhaupt?“, fuhr er den Mann an, doch dieser zeigte immer noch keine Reaktion. „Wie lange gehst du schon anschaffen?“, wich er Linus` Frage aus. „Das liegt schon ein Jahr zurück, ich mach das nicht mehr!“ Das Lächeln wurde fast unmerklich breiter. „Bereust du es, damit angefangen zu haben?“, fragte er und in seiner dunklen Stimme lag ein Hauch Neugier. Linus verengte misstrauisch die Augen. Er hatte keine Lust, weiter über seine Vergangenheit zu reden, auf die er kein bisschen stolz war. „Fragen Sie das jeden, dem Sie begegnen?“, entgegnete er schneidend. Der Mann legte eine Hand an den Mund, als wolle er ein Lachen unterdrücken. „Nein, für gewöhnlich nicht, sonst würde ich wohl den halben Tag damit zubringen, den Kummerkasten für andere zu spielen.“, antwortete er belustigt. Linus hielt es für klüger, nicht darauf weiter einzugehen. Es würde nichts bringen, diesen Typen einfach so vor die Tür zu setzen, aber er würde sich auch ganz bestimmt nicht von irgendeinem fremden Spinner ausfragen lassen. Es blieb für ein paar Sekunden still, in denen die beiden sich stumm musterten, bis der fremde Mann wieder das Wort ergriff. „Für wen verkaufst du die Drogen?“ „Sie meinen, wer mein Boss is?“, hakte Linus nach und zog eine Braue hoch. „Alexej Dragan…“ „…hm. Er ist nicht gerade für sein sonniges Gemüt bekannt. Man sagt, seit sein jüngerer Bruder verstorben ist, seien seine Launen noch gefährlicher geworden.“ „Sehen Sie mich an und erzählen Sie mir was Neues…“, entgegnete der Junge trocken lachend und verschränkte die Arme. Was wollte dieser Typ von ihm? „Du solltest so schnell wie möglich weg von ihm. Dragan ist bekannt dafür, dass er selbst den kleinsten Fehler seiner Untergebenden nicht verzeiht– die nichtigsten Fehltritte bezahlt man bei ihm mit dem Leben.“, stellte sein Gegenüber fest und setzte sich auf einen der Stühle, die um den kleinen Küchentisch drapiert standen, während Linus jede seiner Bewegungen mit den Augen verfolgte. Der Mann machte eine einladende Handbewegung zu einem der anderen Stühle, aber Linus zog es vor, weiterhin stehen zu bleiben. Er wusste nicht, ob der Typ etwas unter seinem Mantel versteckt hielt und solange er sich da nicht sicher sein konnte, wollte er sich nicht weiter als nötig von dem Messerblock entfernen. „Das weiß ich.“, antwortete Linus mit etwas Verspätung. Der Mann sah zu ihm auf und zum ersten Mal verschwand sein Lächeln aus seinem Gesicht vollständig. „Dann hör auf, für ihn zu arbeiten.“ Verschüchtert wich Linus seinem hart gewordenen Blick aus. „Das kann ich nicht… ich brauch das Geld.“ „Für was?“, fragte der Mann auf einmal verächtlich. „Damit du dir regelmäßig selbst einen Schuss setzen kannst?“ Wieder ging ein Ruck durch Linus` Körper. „Ich nehme das Zeug nicht! Das habe ich noch nie getan!“, rief der Jüngere wütend und zähneknirschend fügte er hinzu: „Warum interessieren Sie sich so sehr für meine Belange? Wer, verdammt, sind Sie?“ Der Mann sah ihm tief in die Augen. „Mein Name ist Zeus.“ Linus blinzelte verdutzt, dann stahl sich ein Grinsen auf seine Lippen. „Schon klar, und ich bin Hades…“, spottete er lachend. „Nein, das denke ich nicht…“, entgegnete der Mann ernst und legte den Kopf in die Handfläche seines linken, aufgestützten Armes. Linus hörte auf zu lachen und musterte den Dunkelhaarigen. Kurzerhand stieß er sich dann doch von der Anrichte ab, trat auf sein Gegenüber zu und stützte beide Arme auf den Küchentisch, an dem der Mann saß. „Im Ernst, wer sind Sie?“, zischte er drohend und beugte sich zu ihm runter. „Zeus.“, wiederholte der Mann ruhig. „So werde ich von allen genannt.“ Linus sah Zeus ein paar Sekunden prüfend an, dann fing er wieder zu lachen an. „Was ist so komisch?“, fragte Zeus, woraufhin der Junge nur mit dem Kopf schüttelte und abwehrend die Hände hob. „Nichts für ungut, aber hätten Sie sich nicht `nen anderen Gott aussuchen können? Zeus ist… nicht grad die beste Wahl für einen Namensvetter.“ „Und warum glaubst du das?“ „Noch nie griechische Mythologie gelesen?“, entgegnete Linus und verschränkte ungläubig die Arme vor der Brust. „Zeus hat x Frauen aus Eigennutz oder aus den absurdesten Gründen geschwängert, hat Fehden mit seinen Brüdern angefangen und hat jeden rumkommandiert, nur weil er der Göttervater war- wenn Sie mich fragen, war er einfach nur ein aufgeblasener, arroganter Arsch.“ Darauf erwiderte Zeus nichts. Ein Schmunzeln war auf die schmalen Lippen des Mannes zurückgekehrt. „Welchen Namen würdest du denn wählen, wenn du dich nach einem Gott benennen dürftest?“, fragte er dann irgendwann. Verwundert runzelte Linus die Stirn. „Meinen Sie das-“ „Für gewöhnlich geize ich mit albernen Scherzen, Linus.“, fiel Zeus ihm mit hochgezogener Braue ins Wort. Linus gab sich nach ein paar Momenten geschlagen und fuhr sich überlegend übers Kinn. „… wie wäre es mit Ares?“, antwortete er nachdenklich. „Der Kriegsgott? Der ist aber auch kein friedlicherer Zeitgenosse als Zeus.“ „Nein, aber viel stärker.“, erwiderte Linus grinsend. „Ares ist ein Krieger- im Gegensatz zu Ihrem blitzeschleudernden Thronhengst. Er würde Zeus mächtig in den Arsch treten.“ Daraufhin wurde Zeus` Grinsen nur noch breiter, dass es nun auch auf seine Augen übersprang und ihn beinahe wieder sympathisch aussehen ließ. „Linus, bist du zufrieden mit deinem Leben?“, wechselte der Mann auf einmal das Thema. Die Frage kam für Linus so unerwartet, dass er ihn verwirrt ansah. „Soll das` n Witz sein?“ „Ich meine mich zu erinnern, dass ich dir schon gesagt habe, dass ich nicht zu scherzen pflege.“ Der Junge runzelte die Stirn und dachte einen Moment lang nach, ehe er mit den Schultern zuckte. „Natürlich habe ich mir was Besseres für mein Leben vorgestellt, als den Kurier für einen Drogenkönig zu spielen.“ „Dann hör auf damit.“, sagte Zeus sofort. „Ich kann nicht. Ich sagte doch schon- ich brauch die scheiß Kohle!“ „Für was?“ „… meine Mum glaubt, dass mein Vater immer noch regelmäßig den Unterhalt für uns bezahlt, aber es grenzt schon beinahe an ein Wunder, wenn er überhaupt zahlt. Wir brauchen das Geld, sonst könnten wir hier nicht länger wohnen…“ „Also weiß deine Mutter, dass du dealst?“ „Natürlich nicht!“, rief Linus empört. Er hielt dem durchdringenden Blick von Zeus noch einen Augenblick lang stand, dann sah er verlegen zur Seite und setzte sich endlich Zeus gegenüber an den Tisch. „Sie glaubt, dass ich ein Stipendium kriege.“, fügte er seufzend hinzu. „Für eine Schule, die du vermutlich gar nicht mehr besuchst…“, vervollständigte Zeus nüchtern, was Linus widerwillig mit einem Nicken bestätigte und den Blick weiter senkte. Die Brauen des Mannes bildeten eine senkrechte Falte auf seinem glatten Gesicht. „Findest du das richtig?“, fragte er in einem erstaunlich väterlichen Tonfall, der Linus verwundert wieder aufblicken ließ. „Du dealst, bist für Geld sogar auf den Strich gegangen, du belügst deine Mutter-“ „Sie wissen gar nichts, okay? Mein Leben geht Sie nichts an!“, knurrte der Blonde schnell und ballte die Hände. Das Väterliche verschwand mit der Sorgenfalte sofort wieder aus Zeus` Antlitz und hinterließ den gewohnt höflichen Ausdruck, als säße Linus ein perfekter Makler oder Vertreter gegenüber- nur das Leuchten in seinen Augen verriet etwas über die wahre Natur dieses Mannes, legte das gefährliche und einschüchternde seines Charakters offen dar, das er wie auf Knopfdruck auszuschalten wusste, wenn er wollte. „Zum letzten Mal- was wollen Sie von mir?“, fragte Linus noch einmal ungeduldig, als Zeus nach Sekunden immer noch nichts sagte. „Ich will dir helfen. Du könntest für mich arbeiten.“ Misstrauisch zog Linus die Stirn kraus. „Sind Sie jetzt auch noch so was wie der gute Samariter?“ „Eher weniger.“, antwortete Zeus belustigt und schien sich nur schwer ein Lachen verkneifen zu können. „Ich bin mehr der Geschäftsmann.“ „Und was machen Sie für Geschäfte?“ „Verschiedenes.“, gab der Mann fahrig zurück und hob die Schultern. „Ich war ebenfalls mal in der Drogenszene aktiv, aber jetzt sind meine Partner und ich mehr den Kopfgeldjägern zuzuordnen.“ Bei den Worten setzte Linus` Herz schmerzhaft einen Schlag lang aus. „Sie… töten Menschen.“, schlussfolgerte er zögernd und spürte, wie sich sein Puls wieder beschleunigte und er widerstand nur schwer dem Drang, aufzustehen und ein paar sichere Meter zwischen sich und Zeus zu bringen. Die Miene seines Gegenübers blieb unverändert freundlich. „Für gewöhnlich, aber nicht nur. Wir erfüllen Aufträge jeglicher Art: wir spüren Leute auf, beschatten sie, nehmen sie fest- der Tod geht mit diesem Job meist einher, aber das kommt ganz auf den Auftrag an.“ Der Junge schluckte und musste erst ein paar Augenblicke über das Gesagte nachdenken, ehe er vorsichtig antwortete: „Und nun wollen Sie mich dafür begeistern, bei Ihnen mitzumachen?“ Er lachte freudlos und schüttelte den Kopf. „Sorry, aber da spiel ich nicht mit. Ich töte keine Menschen!“ Als Linus nun Anstalten machte, sich zu erheben, bedeutete Zeus ihm mit einer energischen Handbewegung, sich wieder zu setzen. „Bevor du dein Urteil vorschnell fällst, solltest du dir erst anhören, was ich dir dafür biete- denn wie gesagt: ich bin ein Geschäftsmann und kein Kidnapper.“ Sein Blick hatte etwas Erwartendes bekommen und zu Linus` eigener Überraschung setzte er sich tatsächlich wieder hin und sah Zeus schweigend und aufmerksam in die Augen. In seinem Blick musste immer noch eine gehörige Portion Misstrauen und Argwohn mitgeschwungen haben, da Zeus nun im nächsten Moment kurz seufzte und sich mit der Hand über den Nacken fuhr. „Ich bin in erster Linie hier, um dir ein Angebot zu machen. Ich will dir helfen.“ „Das sagten Sie bereits. Inwiefern?“ „Was würdest du sagen, wenn ich dir anbiete, dein Gedächtnis zu löschen? Nicht alles, nur Teile. Zum Beispiel die ganze Sache mit Dragan, die Zeit auf dem Strich, alles Schlimme, was dir in deiner Vergangenheit widerfahren ist.“ Auf eine unheimliche Art hatte Zeus` Stimmfarbe etwas beschwörendes und verlockendes bekommen. Linus` Herzschlag erhielt einen erneuten Schub und mit geweiteten Augen schüttelte der Jüngere den Kopf. „…das ist unmöglich.“, murmelte er ungläubig. „Es ist nicht unmöglich“, widersprach ihm Zeus ruhig. „Mein Partner und ich haben eine Maschine entwickelt, die das kann- sie kann dein Gedächtnis kontrolliert löschen.“ Wieder schluckte Linus hart und zittrig. Was war das nur für ein Mann? Was hatte er vor? „Warum bieten Sie ausgerechnet mir das an? Brauchen Sie `n Versuchskaninchen?“, hakte er vorsichtig nach und musste mit anhören, wie seine eigene Stimme immer weiter an Substanz und Sicherheit verlor. Der Mann ließ ihn keinen Moment aus den Augen, als er nun den Kopf langsam schüttelte. „Nein, Memoria läuft schon seit mehreren Jahren einwandfrei. Ich denke einfach, dass jeder eine zweite Chance erhalten sollte.“ „Aber die gibt es nicht kostenlos…“, schlussfolgerte Linus. „Nein.“ „Ich müsste im Gegenzug für Sie arbeiten.“ Zeus nickte, drehte die Handflächen nach oben und machte eine ausladende Handbewegung. „Das ist der Deal, den ich dir anbieten will.“ Es wurde erneut still um die beiden Männer herum, die sich weiterhin gegenseitig nicht aus den Augen ließen. Über der Küchentür tickte leise die Wanduhr und vom Wohnzimmer hörte man gedämpft die Geräusche der Soap, die im Fernseher lief. Nach ein paar Sekunden runzelte Linus die Stirn und verschränkte die Arme. „Wo ist der Haken?“ „Du müsstest dein jetziges Leben komplett aufgeben.“, antwortete Zeus ohne zu zögern und seinem Gegenüber lief ein Schauer über den Rücken. „Aber Sie haben doch gerade noch gesagt, dass Sie nur Teile meines Gedächtnisses löschen würden.“ „Das stimmt, du würdest dich an mich erinnern und etwas abgeändert auch an dieses Gespräch hier, dein Charakter bliebe erhalten und wenn du willst lass ich dir auch die Erinnerungen an deinen letzten Urlaub.“, erklärte der selbsternannte Gott weiterhin ruhig und gelassen, als ließe ihn die beginnende Unruhe und Angst in der Stimme seines Gesprächspartners völlig unberührt. Vorsichtig holte Linus Luft. „Und was ist mit meiner Mutter?“ Zum ersten Mal erkannte er einen Hauch Mitleid in Zeus` Gesicht. „Persönliche Erinnerungen, die Rückschlüsse auf dein altes Leben geben, kann ich dir leider nicht lassen.“, sagte er aufrichtig betrübt und diesmal konnte Linus ein Zittern nicht mehr unterdrücken. „Mein… altes Leben?“, wiederholte er stockend. Die Augen des Mannes musterten ihn wieder. „Wenn du für Olymp- für mich- arbeitest, erhältst du eine neue Identität. ‚Linus’ existiert dann nicht mehr.“, erklärte Zeus ernst. Linus hörte sein Herz in den Ohren wie Trommelschläge dröhnen und er fühlte, wie sich kalter Schweiß auf seiner Stirn sammelte. Er wollte nicht abstreiten, dass die Worte des blassen Mannes verlockend klagen. Die schmerzliche Trennung seiner Eltern, die ewige Angst, zu Tode geprügelt zu werden oder von der Polizei geschnappt zu werden, die unschönen Erinnerungen an die Zeit am Straßenrand, an die etlichen Hotelzimmer, an die Frauen und Männer, für die er hergehalten hat- es klang wie eine unglaubliche Erlösung, das alles vergessen zu dürfen… Aber es wäre nicht das einzige, was er hergeben müsste. Entschieden schüttelte Linus den Kopf. „Nein, tut mir leid, aber das kann ich nicht. Ich kann meine Mum nicht im Stich lassen.“ Zeus` Ausdruck blieb unverändert sachlich, lediglich seine Augen verengten sich etwas. „Du willst also so weitermachen, wie bisher?“ „Lieber schlage ich mich mit meiner scheiß Vergangenheit rum, als sie alleine zu lassen- sie kann für meine Situation gar nichts; das habe ich mir alles selbst zuzuschreiben!“, entgegnete Linus mit fester und überzeugter Stimme. „Dann halt dich zumindest von Dragan fern.“, bat Zeus seufzend. „Es ist wirklich gesünder für-“ „Zum letzten Mal, nein!“, fiel der junge Mann ihm wütend ins Wort. „Ich habe Schulden bei ihm, wenn ich mich jetzt verpisse, bin ich sowieso ein toter Mann.“, fügte er zischend hinzu. „Wie viel?“ Linus blinzelte verwirrt. „Was?“ „Wie hoch sind deine Schulden?“, wiederholte Zeus. „Das braucht Sie nicht zu interessieren.“, sagte Linus schnell und bestimmt, doch das brachte Zeus nicht davon ab, unter seinen Mantel zu greifen und eine schwarze Geldbörse hervorzuholen. „Und wenn ich dir das Geld geben würde?“ Linus lachte hart auf und hob ungläubig eine Augenbraue. „Damit ich dann bei Ihnen in der Kreide stehe? Nein, Mann, ganz bestimmt nicht!“ Zeus verharrte einen Moment in der Bewegung, seine Börse zu ziehen, dann zuckte er mit den Schultern, angelte in seiner Jackentasche nach einer kleinen Karte und steckte die Börse wieder weg. „Wie du willst. Aber mein Angebot steht noch. Falls du es dir anders überlegst, komm zu dieser Adresse und frage nach mir.“, sagte er, schob Linus die Visitenkarte über den Tisch zu und stand auf. Zögernd schaute Linus zu ihm hoch, dann nahm er die Karte in die Hand und betrachtete diese einen Moment lang. Sie hatte keinen Hintergrund und keinen Namen- in kleinen, engen Buchstaben stand dort lediglich eine Adresse. Linus kannte die Straße und überlegte kurz, um welches Gebäude es sich handeln könnte, als ihm etwas aufging und er stirnrunzelnd zu dem Mann aufsah, der gerade eine Hand auf die Türklinke gelegt hatte. „…ist das nicht das alte Parkhaus?“, fragte Linus verwundert nach und Zeus` linke Braue wanderte ebenso verwirrt Richtung schwarzen Haaransatz. „Ja, wieso?“ Noch einmal schaute Linus auf das rechteckige Stück Papier in seiner Hand und schüttelte ungläubig den Kopf. „Sie… wohnen in einem Parkhaus?!“ „Ich habe eben eine Schwäche für außergewöhnliche Plätze.“, erwiderte Zeus schmunzelnd und bevor Linus etwas sagen konnte, zog der Mann die Küchentür auf und trat in den angrenzenden Flur hinaus. Wie auf ein stummes Stichwort hin, stand auch sofort seine Mutter neben Zeus und sah strahlend zwischen ihm und ihrem Sohn hin und her. „Haben Sie alles besprochen können, Herr Kagawa?“, fragte sie mit leuchtenden Augen. Zeus` Züge waren wieder so charmant wie zuvor. „Ja, und ich bitte Sie noch einmal vielmals um Verzeihung für die Störung.“ Seine Mutter wurde wieder etwas rot und schüchtern lachend winkte sie ab. „Ich bitte Sie, Sie stören doch nicht. Ich muss mich für Ihren Besuch bedanken.“ Zum Abschied streckte sie Zeus die Hand entgegen, der diese dankend in seine nahm und höflich schüttelte. Bevor sie seine wieder losließ, legte der Mann auch noch seine andere Hand auf ihren Handrücken und sah ihr tief in die Augen. „Sie haben einen wunderbaren Jungen.“, sagte Zeus lächelnd. „Sie können wirklich stolz auf ihn sein.“ Seine Mutter vergaß bei diesen Worten zu atmen und überglücklich sah sie zu ihrem Sohn, der im Türrahmen der Küche stehen geblieben war. Linus presste die Lippen zu dünnen farblosen Strichen aufeinander und versuchte seine verkrampften Hände in den Hosentaschen zu verbergen. Er wusste nicht genau, wie er Zeus` Worte zu deuten hatte, aber er hatte sie nicht einfach nur deswegen gesagt, um seine Mutter glücklich zu machen oder Linus` Lüge aufrecht zu erhalten- ob sie nun als eine Bestärkung seiner Entscheidung, bei seiner Mutter zu bleiben oder als sarkastische Kritik gemeint waren, konnte er nicht sagen. Zeus nickte Linus zu und schenkte ihm ein letztes aufgesetzt freundliches Lächeln. „Wir sehen uns dann morgen in der Schule, Linus.“, sagte er zum Abschied und ging hinaus. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)