Aus dem Leben von Zyra (Wichtelgeschichte für PenAmour) ================================================================================ Kapitel 1: Weihnachtsmuffel --------------------------- „Meine Güte, was ist das denn? Ist ja schaurig.“ Mara horchte auf, rutschte allerdings nur dösig im Autositz herum. Sie hatte mitbekommen, dass sie am Ziel und die Jungs bereits ausgestiegen waren, aber es war gerade viel zu behaglich, um es ihnen gleich zu tun. Die Wärme der Sitzheizung hielt sich noch in den Polstern, die Luft war mollig, wenn auch etwas stickig, und ihre Winterjacke schön kuschelig. Sie wollte die Augen nicht öffnen, geschweige denn aussteigen – in die winterliche Kälte. Instinktiv schmiegte sie sich noch tiefer in Sitz und Jacke. „Das ist auch bekannt als Zeichen Vorweihnachtens“, erwiderte Simon auf den Kommentar seines besten Freundes. Der ihm eigene Spott hatte sich in seine Stimme geschlichen, aber ansonsten klang er ebenso verächtlich wie Thomas. Nun doch ein wenig neugierig, was denn den Ärger der beiden ausgelöst hatte, öffnete Mara blinzelnd die Augen. Es dauerte einen Moment bis sie sich an die Lichtverhältnisse gewöhnten. Sie spähte aus dem Seitenfenster des Autos, sah jedoch nicht viel, da Thommy und Si ihr die Sicht versperrten. Die zwei hatten ihre Winterjacken übergezogen und die Hände in die Hosentaschen gestopft. Ihr Atem bildete weiße Wölkchen und Mara meinte zu erkennen, dass ihre Ohren von der Kälte schon ganz rot geworden waren. Sie wirkten wenig erfreut. Ein leichtes Frösteln überlief ihren Körper, als sie sich vorbeugte, um an der Kopfstütze vorbeisehen zu können. Sie wollte wirklich nicht raus. Als sie einen Blick durch die Windschutzscheibe warf, erkannte sie, dass sie gut zwanzig Meter vom Haus entfernt geparkt hatten. Gegen den Weg durch Schnee und Eis sah sie bereits jetzt an. Hoffentlich haben die alle Heizungen angeschmissen und voll aufgedreht, dachte sie und zog ihre Jacke enger an sich. Und den Kamin. Der Grund für den Unmut und die Kommentare der beiden Freunde war ersichtlich. Die Wänden sowie einige Fenster des Ferienhauses schmückten Lichterketten. Es wirkte keineswegs überladen, aber wie Simon und Thomas konnte Mara der Weihnachtszeit nicht viel abgewinnen. Mara störte sich allerdings vorwiegend an etwas anderem. Das gepflegte Einfamilienhaus mit der kleinen Garage erinnerte viel zu sehr an die typischen Vorstadtviertel, die sie in ihrer Kindheit so gehasst hatte. Gemütliche, geräumige Häuschen samt eigener Garage mit kleinem Garten in ruhiger Wohngegend mit vielen Kindern. Kindern, die alles hatten und alles durften. So war es ihr zumindest immer vorgekommen. Natürlich wusste Mara, dass es nicht stimmte – einfach nicht für alle stimmen konnte –, dennoch hatte sie es gehasst. Selbstredend war Neid im Spiel. Die Häuser mitsamt ihren Bewohner hatten ihr ständig vor Augen geführt, was sie nicht hatte und so schnell auch nicht haben würde. Es war ein komisches Gefühl, nun für einige Zeit in das Sinnbild dessen zu ziehen, was sie früher zugleich beneidet und verabscheut hatte. Sie wusste nicht, ob sie sich darüber freuen konnte. Ihre Gedanken wurden unterbrochen, als eine massige Gestalt aus dem Haus trat, und sich mit stampfenden Schritten durch den knöchelhohen Schnee zu ihnen durchkämpfte. Sicherlich der Vermieter. Beim Näherkommen erkannte sie einen Mann Mitte 40 mit runden, freundlichen Gesicht, dessen braunes Haar wohl schon seit einiger Zeit schüttern wurde. Aus dem Augenwinkel nahm Mara eine Bewegung auf der anderen Autoseite wahr. Als sie herüberblickte, erkannte sie Drakes Gestalt. Sie registrierte ihn erst jetzt, obwohl er dort schon eine ganze Weile gestanden haben musste. Er ging dem Vermieter einige Schritte entgegen. Eine leichte Böe fuhr durch seine schwarzen, fast schulterlangen Haare und allein der Gedanke an den kalten Wind ließ Mara frösteln. Die Temperaturumstellung von „etwas kühl“ auf „eiskalt“ kam ihr eindeutig viel zu schnell. Es folgte eine kurze, aber freundliche Begrüßung, dann wanderte der Blick des Mannes zu Simon und Thomas hinüber. „Ich kann die Deko auch wieder abnehmen lassen, wenn sie Ihnen nicht gefällt“, sagte er unsicher. „Ach, Unsinn“, winkte Drake ab. Er lächelte herzlich und ebenso charmant. Das Lächeln, das Mara so gerne sah, obwohl sie wusste, dass es absolut manipulativ und verlogen war. „Nehmen Sie es den beiden Muffeln nicht übel. Sie sind einfach noch nicht in Weihnachtsstimmung und sind zudem den Großteil der Strecke gefahren. Bei den Straßenverhältnissen war das ziemlich anstrengend.“ Mara bewundert, wie mühelos er den Mann von der Idee abbrachte und das Thema wechselte. Prompt folgten einige Fragen über ihre Anreise und ein Austausch über das Wetter. „Muffel“, schnaubte Simon leise, anscheinend nur für Thommys Ohren bestimmt. „Und das aus seinem Munde.“ Thomas brummte zustimmend und Mara konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Die Situationskomik war nicht zu verwehren, auch wenn sie die beiden durchaus verstand. Zu Drake mit seiner kühlen, distanzierten, ja manchmal sogar arroganten Art schien die Bezeichnung „Muffel“ tatsächlich deutlich besser zu passen. Widerwillig schlüpfte Mara in ihre Winterjacke, als sie sah, dass die vier Männer sich aufs Haus zubewegten. Einen Moment hatte sie überlegt, einfach im Auto sitzen zu bleiben und darauf zu warten, dass jemand näher ans Haus heranfuhr, aber das konnte dauern. Also mummte sie sich in ihre Wintersachen ein – Jacke, Schal, Ohrenwärmer und Handschuhe – und öffnete die Autotür. Der Schnee knirschte unter Maras Füßen. Eisige Kälte schlug ihr ins Gesicht und ließ ihre Haut unangenehm prickeln. Die Luft brannte in ihren Lungen. Schnell zog sie sich zusätzlich die Kapuze über den Kopf und bemühte sich möglichst wenig zu atmen, während sie durch den Schnee zum Haus hinüber hastete und dabei die anderen sogar noch überholte. Frustriert stellte sie allerdings rasch fest, dass die Eingangstür außen keine Klinke besaß und sie deshalb warten musste, bis der Vermieter aufschloss. Um sich warm zu halten, schlang sie sich die Arme um den Oberkörper und trat unruhig von einem Bein aufs andere. Noch kroch die Kälte nicht durch ihre Klamotten, aber das würde wohl nicht lange auf sich warten lassen. Der Vermieter begrüßte sie, als er die Tür aufschloss. „Drinnen ist es warm“, sagte er und lächelte freundlich. „Ich habe schon vor ein paar Tagen die Heizung aufgedreht.“ „Oh, das ist wunderbar“, erwiderte Mara und schlüpfte als bald als möglich an ihm vorbei ins Haus. Zu ihrer Erleichterung war es drinnen tatsächlich wohlig warm. Nach einer ausgiebigen Führung durchs Haus sowie einigen weiteren Information und Empfehlungen verabschiedete sich der Vermieter eine halbe Stunde später. Drake stand am Fenster und blickte den Lichtern des Autos nach, die schon bald zwischen schneebedeckten Bäumen verschwanden. Als er sich umdrehte, war seine Miene wieder so kühl wie gewöhnlich. „Das war nicht sehr geschickt“, sagte er und sah abschätzig zu Simon und Thomas hinüber. Die beiden tauschten einen zerknirschten, jedoch vorsichtigen Blick. Schließlich war es Thommy, der das Wort ergriff. „Möglich“, meinte er nicht besonders reuig, „aber warum hast du ihn den Mist nicht einfach abnehmen lassen, wo er es schon angeboten hat?“ „Erstens halte ich es nicht für sonderlich klug, den Vermieter zu verstimmen. Zweitens habe ich dieses Haus gewählt, weil es ein wenig abgelegen liegt. Da muss ich es nicht provozieren, dass ständig jemand hier ist, nur weil ihr sämtliche Weihnachtsartikel entfernt haben wollt. Und drittens ist es so schlimm nun auch wieder nicht. Ihr werdet euch damit arrangieren.“ Drake schnipste geräuschvoll gegen einen beleuchteten, weißen Weihnachtsstern, der im Fenster hing. Seine Stimme klang endgültig. Zweifellos war das ein Befehl gewesen. „Klar“, murmelte Si, wenn auch nicht sonderlich erfreut. „Es hätte schlimmer kommen können. Man denke an bunte, blinkende Lichterketten.“ „Oder an hässliche, dicke fette Weihnachtsmänner, die unnütz an irgendwelchen Wänden baumeln“, ergänzte Thommy brummend. „Ihr habt vergessen sonstige kitschige Dekofiguren zu erwähnen“, setzte Mara grinsend hinzu. Sie konnte dem Ganzen zwar auch nicht viel abgewinnen, jedoch gab sie Drake in seiner Argumentation Recht. Sie wollten ihre Ruhe haben und es konnte unmöglich so schwer sein, die Deko auszublenden. Teile konnten sie sicherlich in der Abstellkammer verschwinden lassen und wer sollte sie schon zwingen, die Lichterketten anzuschalten? Drake seufzte sichtlich genervt. „Wenn ihr sonst keine Probleme habt, können wir uns ja jetzt einrichten“, sagte er, lächelte spöttisch und fügte an Simon und Thomas gewandt hinzu: „Und bitte tut mir den Gefallen, eure Betten aneinander zu schieben. Keiner will irgendwelche Panikattacken, weil ihr den anderen nicht im Ein-Meter-Umfeld wisst.“ Während Thomas halb verlegen, halb beleidigt zu Boden schaute, zuckte Simon nicht einmal mit der Wimper. Zumindest äußerlich ungerührt bat er seinen besten Freund um den Autoschlüssel, damit er das Fahrzeug in der Garage parken konnte. „Hier“, sagte Thommy und warf ihm den Schlüssel hinüber. „Ich mach dir das Tor auf und guck mir schon mal die Elektro-Tankstelle genauer an.“ „Haltet bloß immer eine der Verbindungstüren geschlossen“, murmelte Mara, „sonst kühlt uns der Wohnraum aus.“ „Ja, ja“, erwiderte Thomas genervt. „Wir sind ja nicht bescheuert.“ „Ich helfe euch gleich“, sagte Drake und ging in die Küche hinüber. Mara sah ihm fragend hinterher. Als ein kühler Hauch sie streifte, blickte sie zur sich schließenden Haustür. Eigentlich war es angebracht den beiden zur Hand zu gehen, aber sie hatte keine Lust wieder durch die Kälte zu müssen. Also folgte sie neugierig Drake in die Küche. Sie fand ihn die Schränke inspizierend vor. „Was machst du da?“, fragte sie, als er nebenbei etwas auf einen Notizblock kritzelte. „Eine Einkaufsliste“, murmelte er und stellte sich auf die Zehnspitzen, um mit seinen 1,74 auch das oberste Bord des Schrankes komplett einsehen zu können. Mara trat näher an ihn heran und schielte auf die Liste. Butter, Brot, Aufschnitt, Käse, Marmelade, Milch, Getränke, Mandarinen, Süßigkeiten, Joghurt, Bananen, Nutella, Teefilter und -lichter, Spülmaschinentabs, Waschmittel. Sie seufzte. Sie hatte ganz verdrängt, dass sie sich nun selbst versorgen mussten. Das konnte noch etwas werden. Zumindest den Nachteil hatte ein Hotel nicht gehabt. Sie beobachtete Drake einen Moment schweigend und unsicher. Er hatte Si und Thommy das Zimmer mit den beiden alleinstehenden Betten zugewiesen, obwohl klar war, dass sie so oder so nicht in getrennten Betten schlafen würden. Sie sah den Sinn daran nicht, aber er hatte sich mit Sicherheit etwas dabei gedacht. Es blieben ein kleines Einzelzimmer und eins mit Doppelbett, die miteinander verbunden waren. Mara fragte sich, ob sie diesmal verschiedene Zimmer nähmen. Irgendwie war der Gedanke befremdlich. Die ganzen letzten Jahre hatten sie sich das Bett in ihrem winzigen Wohnheimzimmer geteilt. Ihn nicht neben sich zu wissen und zu spüren, kam ihr seltsam vor. Andererseits wäre es sicherlich toll, mal etwas Platz zu haben. Obwohl … nachdem sich ihre eh schon eigensinnige Beziehung zueinander noch weiter gesteigert hatte, hatte sie ihn nachts eigentlich sehr gerne eng bei sich. „Sind wir so bescheuert und riskieren es, uns gemeinsam in das Doppelbett zu quetschen?“, fragte Mara schließlich. Ihre Gedanken wollte sie ihm nicht offen legen. Während Drake weitere Punkte zu seiner Einkaufsliste hinzufügte, grinste er leicht – wahrscheinlich über ihre Formulierung. „Ist doch wahr“, fügte sie hinzu, in Erinnerung daran, dass sie sich in der letzten Zeit nachts häufig in die Quere gekommen waren. „Ja, wir sind so bescheuert“, antwortete er sachlich und in seinen blauen Augen blitzte es schelmisch. „Außer du schläfst freiwillig auf der Couch … oder bei Si und Thommy.“ Seine Mundwinkel zuckten. „Das kleine Schlafzimmer will ich jedenfalls zum Büro umfunktionieren.“ „Pf“, gab Mara erst nur von sich. Sie hatte es geahnt. Drake tat selten etwas ohne Grund. „Dein Problem, wenn ich dich wieder als Kopfkissen benutze.“ „Und deins, wenn mein Ellbogen den Weg in deinen Magen findet“, erwiderte er leichthin. Mara verzog den Mund. Und wie sie ihn als Kissen benutzen würde. Ansonsten bekäme sie etliche blaue Flecken, wenn er wieder unruhig schlief. Und darauf legte sie nun wirklich keinen Wert. „Was ist eigentlich los mit dir, seit wir in Amerika angekommen sind?“, verlangte Drake nach einem Moment der Stille zu wissen. Er klang alles andere als freundlich, aber Mara kannte ihn inzwischen so lange, um zu wissen, dass es eine ehrliche, wenn nicht sogar ein wenig besorgte, Interessensbekundung war. Mit „Nichts“ würde sie sicherlich nicht durchkommen, wo er so deutlich gemerkt hatte, dass sie etwas herumtrieb. Sie seufzte und plötzlich – ganz unerwartet – überfiel sie der Wunsch nach einer Umarmung. Etwas, das in ihrem Leben schon immer rar gesät gewesen war. Ein wenig über sich selbst überrascht folgte sie dem Impuls, trat an Drake heran und schlang die Arme um seine Brust. Den Kopf legte sie an seine Schulter und schmiegte ihre Wange an den weichen Baumwollpullover. Mara spürte regelrecht, dass Drake einen Moment in seinen Bewegungen erstarrte. Dann schloss er die Arme um sie und das leise Kratzen des Stiftes auf dem Papier war wieder zu hören. Sie musste unweigerlich schmunzeln. Zu viel Aufmerksamkeit und Nettigkeit wäre einfach nicht Drake gewesen. „Ich denke viel an früher“, gestand sie nuschelnd ein, energischer fügte sie hinzu: „Und dieser verdammte Temperaturabfall mach mir zu schaffen.“ „Hm“, brummte Drake und es hörte sich tatsächlich mehr verstehend als abgelenkt an. Eine Weile verharrten sie noch in der Position, bis Drake seine Liste vervollständigt hatte. Danach gingen sie gemeinsam in die Garage hinüber und halfen Simon und Thomas, ihre Taschen und Koffer in den kleinen Abstellraum zu räumen, der zwischen Garage und Wohnraum lag. Mara fröstelte immer noch, aber die Bewegung hielt sie halbwegs warm. Den Jungs schien es ähnlich zu gehen. Sie verbrachten einige Zeit damit, auszupacken und sich einzurichten, sodass es bereits Viertel vor zehn war, als sie sich in der Küche zusammensetzten. Drake warf abermals einen prüfenden Blick auf seinen Einkaufszettel und schob ihn dann in die Mitte des Tisches. „Fällt euch noch etwas ein, das fehlt?“, fragte er in die Runde. „Bier“, sagte Thommy prompt. „Wein“, fügte Si innerhalb von Sekunden hinzu. „Champagner“, meinte Mara ironisch und bemühte sich denselben zeitlichen Abstand zu treffen. Sie verdrehte die Augen. Einmal abgesehen davon, dass Drake den Überbegriff „Getränke“ aufgeschrieben hatte, würden die beiden schon dafür sorgen, dass ihre alkoholischen Lieblingsgetränke schnellst möglichst ins Haus kamen. „Wo liegt dein Problem?“, fragte Simon sachlich, wirkte allerdings missbilligend und hob auffordernd eine Augenbraue. Thomas blickte sie verärgert an. Seine Wortwahl wäre wohl nicht so freundlich ausgefallen. „Könnt ihr nicht ernsthaft an die Sache rangehen, damit wir es schnell geklärt haben?!“, warf sie den beiden vor. „Ich habe Hunger!“ „Das sind ernstgemeinte Vorschläge“, erwiderte Thomas hitzig, „oder meinst du uns vorschreiben zu können, was wir zu trinken haben. Das ich nicht lache!“ Mara lag eine bissige Erwiderung auf der Zunge, aber Drake würgte sie ab, in dem er einen tiefen Seufzer ausstieß. „Kommt runter, Leute“, verlangte er kühl, aber er konnte nicht übertönen, wie entnervt er war. „Ich weiß, die letzten Tage waren für uns alle stressig und ihr stört euch an der weihnachtlichen Dekoration, aber das ist kein Grund, sich solch einer Gereiztheit hinzugeben. Also, meint ihr, wir brauchen eine detaillierte Getränkeliste oder schauen wir morgen einfach, was es gibt?“ „Morgen?“, echote Thommy. „Hast du dem Vermieter nicht zugehört?“, fragte Mara. Eigentlich war es eine rhetorische Frage – er konnte nicht zugehört haben. Ebenso wenig konnte sie widerstehen zu meckern. „Hätte ich das tun sollen?“, erwiderte er ungerührt. Drake blickte Thomas und sie warnend an, sodass sie beide hastig eine unehrliche Entschuldigung brummelten. „Der Supermarkt im Dorf hat bereits geschlossen und ich habe keine Lust, noch zwanzig Kilometer in die nächste größere Stadt zu fahren, um dort nach einem Laden zu suchen, der noch geöffnet hat“, erklärte Drake. „Ich schlage vor, wir besprechen schnell die Einkaufsliste und gehen dann auf den Weihnachtsmarkt. Er liegt nicht allzu weit entfernt und dort sollte jeder problemlos eine Kleinigkeit zum Abendessen finden.“ Das Wort „Weihnachtsmarkt“ ließ sie alle drei das Gesicht verziehen, dennoch widersprach keiner. Abgesehen davon, dass Drake bald der Kragen platzen würde, wenn sie weiter nörgelten, hatte er schlicht und ergreifend Recht. Mara hasste es, dass er ständig Recht hatte, aber die Argumentation war nun mal schlüssig. Bei der allgemeinen Stimmungslage konnte es nur schief gehen, sich im Dorf auf ein Restaurant zu einigen, selbst wenn es nur zwei geben sollte. „Klingt sinnig“, sagte Si schließlich, auch wenn er ebenso wenig von Weihnachtsmärkten zu halten schien, wie der Rest der Gruppe. „Erklärt sich jemand bereit zu fahren oder laufen wir?“, fragte Drake, obwohl er die Antwort bereits zu kennen schien. Wenn möglich wollte sich keiner von ihnen die Möglichkeit verbauen, etwas Alkoholisches zu trinken, obwohl er selbst und Mara es im Grunde nicht durften, da sie in Amerika noch nicht volljährig waren. Deshalb wartete er auch nur kurz bis er sagte: „Gut, dann laufen wir das Stück eben. Zurück zur Einkaufsliste …“ Es dauerte zwanzig weitere Minuten, bis sie endlich aufbrechen konnten. Einem weiteren Konflikt entgingen sie wohl nur, weil alle ungefähr gleich schnell fertig waren. Die eisige Kälte brannte Mara immer noch in den Lungen, doch durch ein zügiges Tempo hielten sie sich warm. Nach der stundenlangen Sitzerei im Auto tat die Bewegung sogar erstaunlich gut. Insgesamt liefen sie kaum zehn Minuten querfeldein durch den Wald bis sie den Weihnachtsmarkt erreichten. Es überraschte Mara wie spielend leicht Drake den Weg gefunden hatte. Sie hätte sich auf dem Stück sicherlich hoffnungslos verlaufen, aber wie sie Drake kannte, hatte er im Auto eine Karte der Umgebung studiert, während sie geschlafen hatte. Sie staunte nicht schlecht, als der Weihnachtsmarkt in Sichtweite kam. Er war wesentlich größer, als sie erwartet hatte. Immerhin waren sie hier auf dem Lande. Zu dem kleinen Dorf hätte eher eine kleine Ansammlung von Buden gepasst, nicht … dieses ausgedehnte Labyrinth vor ihrer Nase. „Hä?“, gab Thomas erstaunt von sich. Er starrte die unzähligen Reihen von Buden genauso ungläubig an wie sie selbst. „Ich dachte, wir sind hier mitten in der Pampa.“ „Sind wir auch“, erwiderte Si trocken. Er wirkte weit weniger fassungslos, aber dennoch erstaunt. „Im Reiseführer habe ich gelesen, dass sich mehrere Gemeinden bei der Organisation zusammengetan haben, aber mit dem Ausmaß habe ich ehrlich gesagt nicht gerechnet. Hast du den Artikel zu Ende gelesen, Drake?“ „Ja, habe ich“, antwortete er. Seine Augen huschten über das Areal vor ihnen, und er schien sichtlich beeindruckt so viel wie möglich aufnehmen zu wollen. „In den letzten Jahrzehnten hat sich der Markt als Geheimtipp herumgesprochen und es sind immer mehr Leute von außerhalb gekommen. Nicht allzu weit entfernt liegen einige Skigebiete und von Boston sind es mit dem Schnellzug nur gute eineinhalb Stunden. Für viele ist es wohl eine Gelegenheit mal rauszukommen. Jedenfalls ist der Weihnachtsmarkt dadurch mit der Zeit ungewöhnlich groß geworden.“ „Aha“, bemerkte Mara und blickte die beiden schräg von der Seite an. „Warum zum Teufel liest man Reiseführer?“ „Es bildet“, sagte Simon und belächelte sie. „Und warum hast du den Artikel dann nicht zu Ende gelesen?“, erwiderte sie spitz. „Ich war dran mit Fahren.“ „Brecht bloß nicht schon wieder einen Streit vom Zaun“, mischte sich Drake mit kühler Stimme ein, ehe Mara kontern konnte, dass er ja auf dem Stück hätte weiterlesen können, das Thomas nach ihm gefahren war. „Ich glaube, wenn wir erst einmal etwas im Magen haben“, sagte Thomas und grinste schief, „erreichen wir sicherlich schnell wieder unser normales Niveau.“ Ganz ohne Sticheleien kamen sie nie aus, aber das machte die Beziehungen gerade aus und das Zusammensein so lustig. Normalerweise beteiligte sich Drake ordentlich mit Sarkasmus daran, aber als semioffizieller Anführer sorgte er in solchen Momenten dafür, dass die Situation nicht völlig aus dem Ruder lief, was wahrscheinlich auch besser so war, selbst wenn es niemandem gefiel, gemaßregelt zu werden. „Wer will was essen?“, übernahm er nun die weitere Organisation. „Currywurst mit Pommes“, antwortete Thommy, als hätte er nur auf diese Frage gewartet. „Hot-Dog“, sagte Mara und lächelte leicht. Gott, war es lange her, dass sie den letzten wirklich amerikanischen Hot-Dog gegessen hatte. Sie wusste ja nicht einmal mehr, wann das gewesen war. Da bestand auf jeden Fall Nachholbedarf. „Crêpe?“, fragte Drake und zeigte auf Si. Er grinste schmal. „Crêpe“, bestätigte der schlicht. „Das war zu erwarten. Du als Franzose ...“, stichelte Drake und Thomas lachte auf. Wie schon mehrere Male zuvor fragte sich Mara, ob diese „Typisch Franzose“- beziehungsweise „Typisch Brite“-Witze zwischen den beiden Freunde wohl jemals ein Ende finden würden. Wahrscheinlich bliebe es auf ewig ihr Running-Gag. „Ja, ja, blabla“, meinte Simon missmutig. Er steckte die Hände in die Jackentaschen. „Teilen wir uns auf?“ „Ich denke, es wäre am Praktischsten“, stimmte Drake zu. „Currywurst, Pommes und Hot-Dog werden sich an den gleichen Ständen finden lassen. Sagen wir“, er hielt inne und warf einen Blick auf die Uhr, „um viertel vor elf wieder hier?“ Mara zog ihr Handy aus der Tasche, um einen Blick auf die Uhr zu werfen, und nickte dann. „Das sollte dicke ausreichen.“ Als sie den Weihnachtsmarkt fast erreicht hatten, teilten sie sich in zwei Gruppen. Drake und Simon wandten sich auf gut Glück nach rechts und Thomas und sie selbst nach links. Letztendlich war es wohl egal. „Was? Du kommst mit mir?“, hörte Mara Si noch sagen. „Ich glaube nicht, dass sie in einer Crêperie Sauerkraut mit Bockwurst anbieten.“ „Du kennst dich aber wirklich nicht auf deutschen Weihnachtsmärkten aus. Da kommen mindestens auf einen Sauerkraut-Stand zehn Crêpe-Stände“, erwiderte Drake ungerührt. Dass der nationale Klischeewitz nun auch auf ihn umgemünzt wurde, schien ihn nicht weiter zu stören. „Ts. Was könnt ihr überhaupt?“ „Bessere Autos bauen!“ „Das ist Ansichtssache, obwohl ich dir mindestens im Sportwagen-Sektor zustimmen würde. Ich will ja nicht sagen, dass die Franzosen sonst viel könnten, aber was die Esskultur angeht …“ „Im Allgemeinen hast du sicherlich Recht. Aber du solltest die Esskultur in verschiedenen Regionen Deutschlands nicht unterschätzen, zum Beispiel in den Weinanbaugebieten in …“ Mara sah hinüber zu Thommy und wie erwartet grinste er übers ganze Gesicht. „Hoffentlich sind sie fertig, wenn wir uns wieder treffen“, merkte sie an, aber das Schmunzeln hielt sich um ihre Lippen. Thomas lachte leise auf. „Nee, wahrscheinlich sind sie dann gerade mitten in eine Diskussion über Politik vertieft“, erwiderte er gelassen, „aber wir können ja hoffen.“ „Ja, das steht wirklich zu befürchten“, sagte sie. „Ich bin dafür, dass wir bei der erstbesten Bude zuschlagen.“ „Guter Plan. Ich hab vielleicht einen Hunger“, stimmte Thommy und deutete gut gelaunt auf den nächsten Eckstand. „Das wäre dann wohl die da … sieht auch ganz okay aus.“ Nachdem sie sich durchs Gedränge zu dem Stand gekämpft hatte, dauerte es bestimmt noch einmal knappe zehn Minuten bis sie sich mit ihrem Essen an einen kleinen Stehtisch zurückziehen konnten. „Mhm, lecker“, brummte Mara in sich hinein. Original amerikanische Hot-Dogs waren sogar noch besser als sie sie in Erinnerung hatte. „Hast du früher oft Hot-Dogs gegessen?“, fragte Thommy neugierig. Als Mara zu ihm aufschaute, sah sie echtes Interesse in seinen Augen. „Bei verkorksten Eltern muss man sich halt häufig selbst was zu essen besorgen“, sagte sie und zuckte mit den Schultern. Damals war das für sie ganz normal gewesen. Solange sie nicht den Vergleich zu anderen Kindern sah, war es auch gar nicht so schlimm gewesen. Selbstverständlich eben. „Meine Eltern konnten auch ziemlich daneben sein, aber zumindest hat meine Mutter jeden Tag gekocht. Selbst wenn du zu den Essenszeiten nicht zu Hause warst, konntest du dir später problemlos noch etwas warm machen“, erzählte er ernst, dann lächelte er leicht. „Natürlich war es lange nicht so lecker, wie vieles, was bei Si auf dem Tisch kam, aber zumindest konntest du dir sicher sein, dass dir keine Frösche untergeschoben wurden.“ Sie lachten beide. „Haben sie wirklich Frösche gegessen? Und Schnecken? So richtig klischeehaft?“, fragte sie neugierig nach. „M-hm“, bestätigte Thomas mit vollem Mund. „Beides. Weinbergschnecken isst Si auch echt gern.“ Mara verzog angewidert das Gesicht und er grinste schief. „Das trifft es nicht ganz. Die schmecken sogar, wenn du eben ausblenden kannst, dass du eklige, glibberige Schnecken im Mund hast. So ging es mir jedenfalls.“ „Du hast schon mal Schnecken gegessen?! Uah“, entgegnete Mara und schüttelte sich demonstrativ, bevor sie wieder in ihren Hot-Dog biss. „Ich war ein Jahr Weihnachten und Silvester bei Si“, erklärte Thommy, und er schien verschiedenes damit zu verbinden. Als sie ihn fragend ansah, deutete er eine wegwerfende Geste über die Schulter an – wohl im Sinne von „Kannste vergessen!“. „War die totale Katastrophe. Abgesehen davon, dass ich mit Si zusammen war und wir uns ein paar lustige Sachen geleistet haben.“ „Hm.“ Mara wagte nicht nachzubohren, obwohl es sie interessierte. Jedoch schien Thommy wirklich nicht viele Worte darüber verlieren zu wollen. Er zog seine Mütze weiter über die Ohren und bemühte sich danach sein braunes Haar wieder aus den Augen zu streichen. „Aber das ist nicht der Grund, warum du nichts mit Weihnachten anfangen kannst, oder?“ „Nee. Si war ja dabei und außerdem war ich da schon achtzehn“, winkte er schnell ab. Das klang glatt so, als könnte gar nichts richtig daneben sein, wenn Simon da war. Wahrscheinlich sah Thomas das tatsächlich so und es beruhte auf Gegenseitigkeit. „Das hat meine Familie ganz alleine hinbekommen.“ „Dito“, meinte Mara nur. Sie hatte es gehasst. Mehr wollte sie wirklich nicht dazu sagen, doch plötzlich sprudelte es nur so aus ihr heraus. „Von Besinnlichkeit keine Spur, so als würde es das Fest überhaupt nicht geben. Ich kann mich nicht erinnern, jemals ein Geschenk zu Weihnachten bekommen zu haben. Oh Moment, stimmt nicht. Ich habe mal etwas bei einer Kaufhaustombola gewonnen und das hatte meine Mutter innerhalb von zwei Jahren kaputtgekriegt.“ Zu allem Überfluss lief auch noch in dem Moment eine junge Frau mit etwas ähnlichem an ihnen vorbei. Es war eine samtige, lange Weihnachtsmannmütze. Mara hatte ihre geliebt. Sie war so schön kuschelig warm gewesen und taugte als praktische Mütze-Schal-Kombination. Beinahe verlegen richtete sie ihren Blick auf den halben Hot-Dog in ihren Händen. So viel hatte sie eigentlich gar nicht sagen wollen. „Versteh‘ mich nicht falsch“, murmelte sie. „Es waren nicht die Geschenke. Ich weiß nicht, ob ich es als Kind verstanden hätte, aber dass die finanziellen Verhältnisse meiner Eltern nicht übermäßig viel hergegeben hätten, wäre in Ordnung gewesen. In jedem Fall im Nachhinein. Weihnachten hat einfach nicht stattgefunden. Es war kein bisschen …“ „Herzlich?“, half Thommy nach. Als sie ihn wieder ansah, bemerkte sie, dass er verständnisvoll lächelte. Sie nickte. „Ja, ich versteh‘ das. Meine Eltern hatten auch nie viel Geld. Die wenigen Geschenke waren schon okay. Es war die Familie, die es so schrecklich gemacht hat. Jedes Jahr aufs Neue. Jedes verdammte Jahr, solange ich denke kann, stand zu Weihnachten die gesamte Verwandtschaft vor der Tür. Wahrscheinlich kann das toll sein, wenn man sich denn mögen würde, aber so … Die ewig gleiche Streiterei und die gleiche miese Stimmung. Und dann musst du auch noch mehrere Tage auf dem Fußboden schlafen, weil irgendwer, dessen Verwandtschaftsgrad wahrscheinlich nicht mal Si definieren könnte, dein Bett beansprucht und deine total gestressten Eltern dich auch noch anblaffen, du sollst dich nicht so aufregen und musst eben Abstriche machen.“ Er hielt einen Moment inne. „Meine Güte, was sind in der Hinsicht vielleicht für eine Trümmertruppe?!“ Mara kam nicht umher leicht zu lächeln, obwohl er gerade eine traurige Wahrheit aussprach. Was den familiären Hintergrund anging, sah es bei ihnen vieren wirklich mau aus. Wenn Simon über seine Familie sprach, dann nur abwertend und fluchend – abgesehen von dem wenigen, was er hier und da über seine Schwestern fallen ließ, und Drake verlor nicht einmal ein einziges Wort über seine Vergangenheit. Rosig war die sicher nicht gewesen, wenn sie sich nur daran erinnerte, in was für einem Zustand sie ihn kennen gelernt hatte … Sie schüttelte den Kopf. „Hey Thommy“, sagte sie, als ihr ein Glühwein-Schild ins Auge fiel. „Wie schmeckt eigentlich Glühwein?“ „Recht gut. Man bekommt nur relativ schnell Kopfschmerzen.“ Sie grinsten sich schief an. „Ich glaub, das Risiko gehen wir ein, was?“ Sie aßen auf, und weil sie danach nicht mehr viel Zeit hatten, kaufte Thomas die zwei Becher Glühwein. Keiner nahm an, dass der Verkäufer nach einem Ausweis verlangen würde, aber sie gingen lieber auf Nummer Sicher. So verloren sie definitiv keine wertvollen Minuten in einem Streitgespräch. Die heißen Becher in der Hand und das wärmende Getränk im Magen machten sie sich auf den Rückweg durch das Getümmel. Es war unglaublich wie gut der Markt zu dieser späten Stunde noch besucht war. Schon von weitem erkannten sie, dass Drake und Simon bereits auf sie warteten. Als sie näher kamen, bemerkte Mara Drakes gespielt betrunkenes Gequasel und dass Si mit genervten, distanzierten Gesichtsausdruck versuchte, ihn auf Abstand zu halten. Unweigerlich musste sie lachen. Zumindest war das Hier und Jetzt für den Moment in Ordnung. Kapitel 2: Winterland --------------------- „Das gibt es doch gar nicht“, murmelte Simon leise vor sich hin. Er hatte sich ein Stück zurückfallen lassen, würde wohl aber nicht lange allein bleiben. Kurz darauf wurde Thomas langsamer bis sie wieder nebeneinander liefen. „Ärgerst du dich immer noch darüber, dass Drake dich verarscht hat?!“, fragte er und lächelte halb mitfühlend, halb belustigt. „Wäre es Mara gewesen, hätte es mich nicht einmal allzu sehr gewundert, aber Drake …“, erwiderte Simon und schüttelte missmutig den Kopf. „Das will gar nicht zu ihm passen.“ „Ganz Unrecht hattest du nicht“, meinte Thomas, wahrscheinlich sollte es ein wenig aufmunternd sein. „Er ist zwar nicht total betrunken, aber angeheitert in jedem Fall.“ „Alles andere wäre nach zwei Bechern Feuerzangenbowle eigenartig“, sagte Simon. Seine Augen fixierte Drake und warteten nur darauf ein leichtes Wanken festzustellen. Natürlich kam es nicht dazu. Warum hätte er auch plötzlich damit anfangen sollen? „Das hat seine Hemmschwelle sicherlich nicht sehr weit herabgesetzt.“ „Wahrscheinlich“, gestand Thomas ein und seufzte. „Nimm es dir nicht zu Herzen. Es wirkte ziemlich überzeugend. Ich wäre ebenso darauf hereingefallen.“ Plötzlich grinste er sein typisches, schiefes Grinsen. „Und ich würde darauf wetten, dass Mara ihm bei ersten Mal, als er die Nummer gebracht hat, auch auf den Leim gegangen ist.“ Vermutlich hatte Thomas Recht und dennoch … es ärgerte ihn. Bisher hatte er immer von sich behaupten können, zu erkennen, ob jemand wirklich betrunken war oder seine Mitmenschen nur auf den Arm nehmen wollte. Selbst bei Thomas sah er es auf den ersten Blick und der hatte es bis an den Rand der Perfektion getrieben. Zugebenermaßen wusste er sehr genau, wie Thomas sich verhielt, wenn er betrunken war, was er von Drake nun wirklich nicht behaupten konnte. Simon seufzte. Es hatte keinen Zweck. In der nächsten Zeit würde er den Kerl nicht durchschauen. Und er wurde die Vermutung nicht los, dass Drake es genau darauf anlegte – für jedermann unberechenbar zu sein. „Mal was anderes“, sagte Thomas und Simon erkannte bereits an seinem Tonfall, dass nun ein radikaler Themenwechsel folgen würde. „Was glaubst du, was wir dieses Mal … organisieren? Ich meine, wir sind hier mitten im Nirgendwo.“ Simon nahm an, dass sein bester Freund eigentlich klauen oder stehlen hatte sagen wollen, aber er war vorsichtig geworden – wie sie alle. Die Wahrscheinlichkeit am späten Abend in diesem abgelegenen Waldstück belauscht zu werden, war zwar gering, sicher konnte man allerdings nie sein. Bei ihrem letzten Diebstahl in China hatten sie feststellen müssen, dass selbst die Wände Ohren haben konnten – vom Hotelpersonal ganz zu schweigen. Das war auch der Hauptgrund, warum sie sich einstimmig für ein Ferienhaus entschieden hatten. „Keine Ahnung, ich nehme an, Drake wird uns bald einweihen“, antwortete er und zuckte mit den Schultern. „Aber wenn ich raten müsste, würde ich sagen, unser Ziel ist in Boston. Er wusste ganz genau, wie lange man mit der Bahn fährt. Wahrscheinlich unternehmen wir mehrere Kurztrips von ein paar Tagen in die Stadt. So würde ich es jedenfalls machen. Es ist unauffällig und wir erhalten uns den Vorteil des ruhigen Ferienhauses.“ „Sag mal, Si, hast du Drakes Pläne geklaut oder was?“, fragte Thomas neckisch und grinste abermals schief. Simon lächelte leicht. „Ich bezweifele, dass er irgendetwas dazu aufgeschrieben hat und wenn wäre es die totale Katastrophe.“ Thomas lachte leise. Sie hatten erlebt, dass Thesenblätter von Drake sehr schnell sehr unübersichtlich wurden. Der Junge hatte einfach viel zu viele Ideen, um lange Zeit Struktur in ihrer Darstellung halten zu können. „Das Haus war jedenfalls ne gute Wahl“, sagte Thomas, als es in Sicht kam. „Die Deko nervt, und dass wir uns selbst versorgen müssen, wird hundert pro noch lustig, aber zumindest muss man nicht ständig darauf achten, was man sagt und in welcher Lautstärke. Und man wird definitiv nicht mit sich ständig wiederholender Weihnachtsmusik zu gedröhnt.“ Er zwinkerte. Simon schmunzelte kurz, konnte sich jedoch nicht sparen, trocken hinzuzufügen: „Was sich schnell ändern wird, sollten wir tatsächlich nach Boston fahren. Also lass uns hoffen, dass ich mich irre.“ Thomas verzog leicht das Gesicht, bis er plötzlich wieder lächelte. „Dass ich das noch einmal aus deinem Mund hören würde“, erwiderte er heiter. Simon zuckte nur mit den Schultern. Wenn er mit dem Eingeständnis jegliche Weihnachtsmusik von sich fern halten könnte, hätte er kein Problem damit. Allerdings wagte er es zu bezweifeln. Weihnachten zu entgehen war nahezu unmöglich. Drake erklärte sich bereit am nächsten Morgen für das Frühstück zu sorgen und setzte in dem Zusammenhang das erste Briefing für den Diebstahl für neun Uhr an. Nach der Absprache zogen sie sich auf ihre Zimmer zurück. Simon ließ Thomas den Vortritt im Bad und packte in der Zwischenzeit seine restlichen Sachen aus. Er wollte länger duschen und Thommy konnte penetrant nervig werden, wenn man ihn zulange warten ließ. Die heiße Dusche tat gut. Das warme Wasser vertrieb die Kälte aus seinen Knochen, die sich in sie geschlichen hatte. Er gehörte eigentlich nicht zu den Leuten, die leicht vom Wetter zu beeinflussen waren, dennoch ließ die plötzliche Eiseskälte ihn nicht unberührt. In China war es beileibe nicht so kühl gewesen. Sie würde wohl alle ein wenig Eingewöhnungszeit brauchen. Als Simon ins Schlafzimmer zurückkehrte, hatte Thomas sich bereits bis zum Kinn unter seine dicke Daunendecke verzogen. Trotz des anstrengenden Tages sah er jedoch nicht wirklich müde aus. Seine grünen Augen richteten sich nachdenklich auf ihn, als er sich neben ihm im Bett niederließ. „Stört es dich, wenn ich noch etwas lese?“, fragte Simon, obwohl er mit keiner negativen Antwort rechnete. Gefragt haben wollte er trotzdem. „Nee, mach ruhig“, antwortete er wie erwartet und drehte sich auf die andere Seite, als Simon die Nachtischlampe anknipste. Zu seiner Überraschung kam er keine fünf Seiten weit, bis Thomas sich wieder herumdrehte und zu Wort meldete. „Si? Kann ich dir mal eine Frage stellen?“, fragte er und schob sich einen Arm unter den Kopf. Simon nickte nur. Normalerweise hielt sich sein bester Freund nicht mit der Frage nach einer Frage auf. Es musste etwas Wichtiges sein. „Dieser Job … unsere Situation, wie beurteilst du die?“ Simon runzelte die Stirn. Damit hatte er nicht gerechnet, obwohl er selbst sich regelmäßig ähnliche Gedanken machte. Doch aus irgendeinem Grund hatte er das von Thommy nicht erwartet. Bei jedem anderen hätte das Argument gegolten, dass Thomas oftmals sehr sorglos erschien, aber er kannte seinen besten Freund mitsamt seiner nachdenklichen und ernsten Seite. „Ich denke, in unserer Lage hätte uns kaum etwas Besseres passieren können“, teilte er Thomas das Ergebnis seines bisherigen Grübelns mit. Er gestattete sich einen Seufzer. Wenn man bedachte, wie es ihnen noch vor einigen Monaten gegangen war, konnten sie sich wirklich nicht beklagen. Dennoch … in vielerlei Hinsicht war es unbefriedigend. Millionärssohn, Soldat, Kriegsveteran, professioneller Dieb – was für eine Karriere und das innerhalb von 24 Jahren. Das war nicht das, was er sich vorgestellt hatte. Blieb zu hoffen, dass es nicht so weiterging. Er wollte sich nicht ausmalen, womit er sich dann in den nächsten 24 Jahren beschäftigen würde. Aller Wahrscheinlichkeit käme bald so oder so der Auftragskiller hinzu – das ließe sich wohl kaum vermeiden. Thomas sah ihn überrascht an. „Weil?“, fragte er. „Wir haben das Bürgerkriegsgebiet verlassen“, sagte Simon und eigentlich wäre das Grund genug. Kein ständiger Kampf ums Überleben mehr! Dafür sanitäre Einrichtungen, gutes Essen und bequeme Betten. „Die Organisation zu verlassen gilt als unmöglich. Insofern sind die Diebstähle eine gute Option. Zumal sie nach dem Krieg eine gewisse … Anspannung aufrechterhalten.“ „Ich bin froh, dass du das genauso siehst“, sagte Thomas und rutschte unruhig in seinem Bett hin und her. „Es erscheint ein wenig gestört, den Nervenkitzel zu brauchen.“ „Aber alles andere wäre unrealistisch … nach dem, was wir erlebt haben. Man kann nicht erwarten, einfach so zum ‚Alltag‘ zurückzukehren“, erwiderte Simon. Er sagte nicht, dass sie definitiv nicht unbeschadet aus dem Krieg gekommen waren. Allein die Tatsache, dass sie nur noch schlecht bis gar nicht schliefen, wenn sie den anderen nicht in ihrer Nähe wussten, zeigte das allzu deutlich, obwohl sich Simon bei weitem Schlimmeres vorstellen konnte. „Sicherlich, aber das werden wir wahrscheinlich auch nie müssen“, meinte Thomas ernst. „Ich glaube nicht, dass wir um die Morde herumkommen. Der Gedanke gefällt mir nicht. Ich will nicht wahllos Leute umbringen.“ „Unwahrscheinlich, ja“, stimmte Simon ihm zu. Er war zu demselben Schluss gekommen. „Allerdings habe ich die Hoffnung, dass sie uns verstärkt im Diebstahlbereich einsetzen, wenn wir unsere Sache gut machen.“ „Vielleicht.“ Zum ersten Mal lächelte Thomas wieder leicht. „Zu viert geben wir jedenfalls ein gutes Team ab. Was meinst du, können wir wirklich darauf hoffen, dass es hält?“ „Eine Weile sicherlich“, erwiderte Simon nachdenklich. „Es hat seinen Grund, dass Drake uns gewählt hat. Wir ergänzen Mara und ihn mit unseren Fähigkeiten. Allerdings ist der Junge ambitioniert. Er will irgendetwas. Ich kann ihn nicht einschätzen, aber ich sehe, dass er etwas anstrebt. Inwiefern das mit diesem Team zu erreichen ist, bleibt abzuwarten.“ „Hm.“ Thomas verzog leicht den Mund. Die Art, wie er es tat, reichte Simon, um zu erkennen, dass er an etwas dachte, bei dem er sich nicht wohl fühlte. „Ich mag ihn … irgendwie. Das klingt total bescheuert, oder? Ich meine, bei dem Verhalten, das er normalerweise an den Tag legt …“ „Überhaupt nicht.“ Plötzlich fühlte er sich unbehaglich. Er ahnte, woran Thomas sich zurückerinnerte. An die Zeit, in der er geglaubt hatte, seinen besten Freund verloren zu haben. Simon wollte sich nicht vorstellen, was er in der Situation gemacht hätte. Es hatte schon seinen Grund, warum er die Messerattacke auf Thommy mit seinem Körper blockiert hatte. Den Eigennutz dahinter konnte er nicht abstreiten, auch wenn es nur ein weiteres Zeichen dafür war, wie viel ihm sein bester Freund bedeutete. Simon wusste, dass Drake Thommy in der Lage geholfen hatte. Er war nicht nett gewesen, aber es waren die richtigen Schubse in die richtige Richtung gewesen. „Mir ist er nicht unsympathisch. Ich durchschaue ihn nur nicht.“ „Ich bezweifele, dass irgendwer das tun“, sagte Thomas. „Nicht einmal Mara, obwohl sie ihn zweifellos am besten kennt.“ „Hm.“ Simon fragte sich, wie oft Drake und Mara sich ähnliche Gedanken machten. Drake analysierte sicherlich relativ häufig die allgemeine Gesamtsituation. Er plante ihre Diebstähle. Dabei war es essenziell den Status Quo im Auge zu behalten und mit dem Ziel abzugleichen. Bei Mara war er sich nicht so sicher. Natürlich hatte auch sie Vorhaben und war mit der Situation mal zufrieden, mal unzufrieden, aber er nahm an, dass sie von ihnen diejenige war, die am besten abschalten und in den Tag hineinleben konnte. Großes Vertrauen schaffte es zwischen den beiden Gruppen vermutlich nicht, ständig die Integrität der anderen zu hinterfragen, aber alles andere erschien unklug. Bisher lief es gut und sie kamen meistens miteinander klar, aber anzunehmen, dass das genügen würde, um das Team auf lange Sicht zusammenzuhalten, wäre debil gewesen. Sie kannten einander zu wenig, um sich wirklich einschätzen zu können. Blindes Vertrauen könnte schnell fatale Folgen haben. „Thommy, ich denke, es ist nicht der beste Zeitpunkt, um über die beiden zu philosophieren, wenn sie am anderen Ende des Ganges schlafen“, bemerkte Simon nachdenklich. „Ach was“, erwiderte Thomas gelassen, dann schlich sich ein wenig Neid in seine Stimme. „Die sind doch sowieso mit sich selbst beschäftigt. Ich versteh immer noch nicht, was er hat, was ich nicht habe. Ich meine …“ Simon lachte auf. Inzwischen hatte er aufgehört zu zählen, wie oft sie dieses Gespräch bereits geführt hatten. Thomas, der Weiberheld, kam einfach nicht darüber hinweg, dass die junge Frau ihn abgewiesen hatte, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Sie merkten beide, dass zwischen Drake und Mara seit einiger Zeit irgendetwas lief. Die Betonung lag auf „irgendetwas“. Als Beziehung würde Simon es zumindest nicht bezeichnen. Ebenso wenig wie Thommy hatte er eine Ahnung, was genau die beiden verband. Er konnte nur mutmaßen, dass es mit der knallharten Ehrlichkeit zusammenhing, mit der sie sich begegneten. „Meinetwegen können wir gerne weiter darüber spekulieren, aber erst mal werde ich mir noch eine Flasche Wasser holen“, sagte er. Seine Mundwinkel zuckten immer noch amüsiert. „Nicht, dass ich mir noch den Mund fusselig rede.“ „Haha“, brummte Thomas gedehnt. Simon rechnete fest mit einem leichten Schlag in die Seite, aber Thommy verzog bloß schmollend die Lippen und verschränkte die Arme vor der Brust. „Mach dich nur lustig.“ „Willst du auch noch etwas?“, fragte Simon versöhnlich, während er sein Buch beiseitelegte, seine Decke zurückschlug und aufstand. „Nee.“ Als Simon am Zimmer der anderen beiden vorbeikam, hörte er Mara stöhnen. Unweigerlich musste er grinsen. Anscheinend hatte Thommy Recht gehabt. Es klang ganz so, als wäre Drake durchaus gut im Bett. Keine Information, die ihn bei seinem „Ich durchschaue Drake nicht“-Problem weiterhelfen würde, aber zumindest zeigte sie, dass es nicht unmöglich war, mehr über den Kerl herauszufinden. Auf dem Weg in den Abstellraum musste er an die Nacht denken, die er mit Mara verbracht hatte. Es war gut gewesen, aber selbst im Nachhinein konnte er nicht sagen, wie und warum genau es dazu gekommen war. Beinahe stillschweigend hatten sie beschlossen, dass es besser unter ihnen bliebe. In solcherlei Hinsicht konnte es nur zu Ärger führen, dass er gehabt hatte, was Thomas haben wollte. Und was Drake betraf … Dieses Etwas zwischen Mara und Drake war nichts Halbes und nichts Ganzes, dennoch gab es Ähnlichkeiten mit dem „Ich hatte was mit der Geliebten meines Chefs“-Szenario. Über die Konsequenzen dessen dachte Simon lieber gar nicht erst nach, obwohl er sich normalerweise lieber ein paar Gedanken zu viel als zu wenig machte. *** Den darauffolgenden Tag verbrachte Simon mit Recherchen, so wie alle anderen auch. Selbst Thommy hatte sich dazu entschieden, seine Aufgaben sofort anzufangen, obwohl er normalerweise alles kurz vor knapp erledigte. Im Briefing am Morgen hatte Drake ihnen das Ziel vorgestellt – ein chinesisches Artefakt, das sich in der Harvard University befand –, ihnen die grobe Vorgehensweise erklärt und verschiedene Rechercheaufgabe verteilt, für die er ihnen eine knappe Woche Zeit gegeben hatte. Dann wollte er das erste Mal nach Boston, beziehungsweise Cambridge, fahren und vor Ort weitere Erkundigungen anstellen. Es war kurz vor acht, als Simon beschloss, es für heute gut sein zu lassen. Er war zwar fast fertig, wurde aber zunehmend unkonzentrierter. Da konnte er den Rest besser morgen Früh erledigen. Bereits auf der Treppe schallte das Klavierspiel zu ihm hinauf. Verwundert hielt er für einen Moment inne. Dann erinnerte er sich, dass Drake einmal erwähnt hatte, dass er ein wenig spielen konnte. Ein wenig? Simon hatte lange genug Klavierunterricht gehabt, um erkennen zu können, dass es nicht schlecht war. Neugierig huschte er die Treppe hinunter. Durch die Scheibe in der Verbindungstür konnte er vom Flur ins Wohnzimmer blicken; er entdeckte Thomas mit einem Buch in den Händen auf dem Sofa, ihm schräg gegenüber saß Mara. Wie gedacht war es also Drake, der spielte, auch wenn er ihn nicht sehen konnte. Vorsichtig öffnete Simon die Tür einen spaltbreit, blieb aber im Flur stehen und lehnte sich entspannt an die Wand. Er wollte Drake keinesfalls mit seinem Eintreten ablenken. Es war lange her, dass er jemanden so gut Klavier spielen gehört hatte. Die langsame, ruhige Melodie kam ihm bekannt vor. Nachdenklich schloss er die Augen, doch anstatt sich besser erinnern zu können, versank er nur noch weiter in der Musik. Er musste sich zusammenreißen, um sich zu konzentrieren. Je besser es ihm gelang, desto mehr kleine Fehler fielen ihm im Spiel auf. Simon runzelte die Stirn. Warum bemerkte er sie erst so spät? Normalerweise waren die Fehler das Erste, was er registrierte. Ehe er weiter darüber nachdenken konnte, ergriff Mara das Wort. „Kannst du nicht mal was anderes spielen. Nicht immer nur dieses ewig …“, beschwerte sie sich und suchte anscheinend nach einer passenden Beschreibung. „Weihnachtliche?“, bot Thommy an, aber man hörte seiner Stimme an, dass er noch immer in sein Buch vertieft war. „Ja, genau!“, stimmte sie zu. Als Mara angefangen hatte zu sprechen, war das Klavier verstummt. Nun hörte Simon wie Drake geräuschvoll den Deckel zuklappte. „Ihr übertreib es wirklich mit eurer Abneigung gegen Weihnachten“, sagte er deutlich gereizt. „Davon einmal abgesehen, ist es ein Winterlied. Winter nicht Weihnachten. Der Unterschied sollte selbst euch geläufig sein.“ Bei dem Wort „Winter“ klingelte es bei Simon. Das Stück hieß „Winterland“ geschrieben von einer deutschen Band relativ kurz nach der letzten Jahrtausendwende. Er runzelte die Stirn, als er sich an den Text zu erinnern versuchte. Keine zehn Sekunden später wurde neben ihm die Tür aufgerissen. Drake stiefelte missmutig an ihm vorbei – nicht, ohne ihm einen warnenden, genervten Blick zu zuwerfen – und verschwand in der Küche. Verwirrt sah Simon ihm hinterher. Das war kein Verhalten, das er von Drake gewöhnt war. Normalerweise setzte der sich bis zum Letzten durch. Im nächsten Moment erinnerte er sich plötzlich wieder an Teile des Liedtextes. So als hätte sein Gehirn nur darauf gewartete, dass er sich mit etwas anderem beschäftigte, bis es die Informationen ausspuckte. Mit einem Schlag wurde ihm klar, dass viele Annahmen, die er über Drake getroffen hatte, mit hoher Wahrscheinlichkeit falsch waren. „Wir sind solche Idioten!“, sagte Simon, nachdem er ins Wohnzimmer getreten war und die Tür hinter sich geschlossen hatte. Thomas blickte überrascht von seinem Buch auf und auch Maras Verwunderung war nicht zu übersehen, als sie sich ein wenig herumdrehte. „Hast du gerade ‚wir‘ gesagt?!“, fragte sie irritiert. „Nicht ‚ihr‘?“ „Was ist denn los?“, fragte Thomas und schob den Wälzer über Architektur neben sich aufs Sofa. „Er mag Weihnachten“, sagte Simon, während er sich in einen Sessel setzte. Die beiden blickten ihn nur fragend an. „Drake mag Weihnachten“, präzisierte er und der Satz klang schlicht paradox. „Er tut was?“, erwiderte Mara entgeistert. „Wie kommst du denn darauf?“ „Das Lied“, erklärte Simon. „Aber er hat doch selbst gesagt, dass es ein Winterlied ist“, meinte Thomas und strich sich verwirrt seinen Pony aus der Stirn. „Das ist es auch“, bestätigte er und erläuterte seine Gedanken. „Es handelt unter anderen von der Sehnsucht nach der Heimat und nach vermissten Menschen. Zusammen mit der ungewöhnlichen Reaktion auf eure Beschwerde deutet das stark daraufhin, dass er Weihnachten mag oder zumindest die Personen, die er damit verbindet.“ „Meinst du nicht, dass du da ein wenig zu viel hineininterpretierst?“, fragte Mara und es war ihr deutlich anzusehen, dass sie wollte, dass er da zu viel hineininterpretierte. „Nein, das glaub ich nicht“, schaltete sich Thomas ein. „Dazu war das Klavierspiel viel zu gefühlsgeladen. Ich denke nicht, dass er das vortäuschen könnte. Und warum sollte er?“ „Org. Verdammt“, murmelte Mara und rieb sich frustriert die Augen. „Irgendwann musste das ja passieren.“ Simon tauschte mit Thomas einen fragenden Blick, aber der zuckte bloß mit den Schultern. Sie konnten beide nur spekulieren, dass sie sich wahrscheinlich auf Fettnäpfchen bezog, die aufgrund des mangelnden Wissens über Drakes Vergangenheit entstanden. Ratlose Stille trat ein. Simon musste sich eingestehen, dass er keine Ahnung hatte, wie sie sich nun verhalten sollten. Diese Erkenntnis konnten sie schlecht ignorieren, besonders, weil sie sich bisher benommen hatten wie der sprichwörtliche „Elefant im Porzellanladen“. „Irgendjemand ne Idee, was wir jetzt machen sollen?“ Es war schließlich Thommy, der die Frage in den Raum stellte, über die sie wahrscheinlich alle grübelten. Mara seufzte, dann schraffte sie die Schultern und marschierte zielstrebig in die Abstellkammer hinüber. Kurz hörte man sie rumoren. Keine Minute später kehrte sie mit einem Arm voll weihnachtlicher Deko zurück, die sie energisch wieder dort abstellte, wo sie sie noch vor wenigen Stunden weggenommen hatte. „Wir feiern Weihnachten“, erklärte sie schließlich mit Nachdruck. „Bitte was?“, erwiderte Simon verblüfft und konnte nicht verhindern, dass er spöttisch klang. Es konnte nicht ihr Ernst sein. Wie sollte sie das denn anstellen? Und vor allen Dingen, warum? „Wir haben keine Ahnung, wie man Weihnachten feiert“, wandte Thomas ein. Er sah so irritiert aus, wie Simon sich fühlte. „Ja, schon“, murmelte Mara. Ein wenig geknickt platzierte sie den Adventskranz in der Mitte des Couchtisches, „aber wir sollten nicht diejenigen sein, die ihm die Freude an dem Fest kaputtmachen, wenn er sie sich schon so lange bewahren konnte. Besonders, weil wir wissen, wie bescheuert es ist, wenn alle Welt sich auf Weihnachten freut und man nur Ärger dafür übrig hat.“ Seufzend fuhr sich Simon durch sein kurzes blondes Haar. Sie hatte nicht Unrecht. Weihnachten nicht zu mögen, war eine Sache, aber es jemand anderem zu vermiesen … so schlimm war seine Aversion wahrlich nicht. Trotzdem, mussten sie deswegen gleich Weihnachten feiern? Der Gedanke gefiel ihm ebenso wenig. Alles, was ihm spontan zu dem Fest einfiel, war nicht gerade positiv. „Findest du das nicht etwas überzogen?“, fragte Thomas mit skeptisch gerunzelter Stirn. „Reicht es nicht aus, wenn wir uns das Genörgel sparen? Ich zumindest wüsste nicht, wie ich das anstellen sollte – Weihnachten feiern. Ich hab ja nicht mal einen Plan, was das für die meisten Leute überhaupt bedeutet.“ Der Satz machte Simon stutzig. Er dachte kurz darüber nach und musste schmal lächeln. Thommy hatte es unbewusst mal wieder exakt auf den Punkt gebracht. Im Grunde wussten sie nicht, was Weihnachten einem bedeuten konnte. Die ganzen Jahre hatten sie immer in einem Rahmen „feiern“ müssen, der ihnen nicht zusagte. „Ich denke, wir sollten dafür eine Frage klären“, wandte sich Simon ernst an die anderen beiden, die ihn neugierig-verdutzt ansahen. „Wie wir Weihnachten feiern könnten, würde sich ergeben. Wichtig ist, ob wir uns vorstellen können, mit den jeweils anderen ein angenehmes Fest zu verbringen.“ Thomas blinzelte verwirrt, dann hellte sich sein Gesicht plötzlich auf. Er schien den Gedankengang nachvollziehen zu können. Sie tauschten einen Blick miteinander und Simon war sich sicher, dass Thommy ebenso wie er an das Gespräch vom letzten Abend dachte. Im Grunde waren sie zu dem Schluss gekommen, dass ihnen die Umgangsformen in der Gruppe gefielen. „Ich denke schon“, sagte Thomas. „Mara?“ „Natürlich“, erwiderte sie und lächelte leicht. „Wenn nicht in dieser Gruppe, mit wem denn dann?!“ „Tja, dann versuchen wir uns wohl daran – vorausgesetzt Drake stimmt zu“, fasste Simon zusammen und fühlte sich seltsam mit dem Entschluss. „Und du meinst, das Wie löst sich von ganz allein?!“, sagte Thomas und schien nicht sonderlich überzeugt. „Das habe ich nicht gesagt“, widersprach Simon. „Nur, dass es nicht der Auslöser sein sollte, ob wir Weihnachten feiern oder nicht.“ „Drake hat sicherlich eine klare Vorstellung von einer angenehmen Weihnachtszeit“, warf Mara nachdenklich ein. „Vielleicht kann er ein paar Vorschläge machen.“ „Klar, warum nicht. Wenn er mit uns feiern will“, meinte sein bester Freund. „Wer spricht mit ihm?“ Augenblicklich sah sich Simon mit den Blicken der anderen konfrontiert. Er seufzte. Das war so klar gewesen. „Ich weiß zwar nicht, warum ausgerechnet ich das machen soll“, sagte er, „aber ich kann es versuchen.“ „Du bist am Taktvollsten und Diplomatischsten“, erklärte Thomas vergnügt. „Das, was du ‚taktvoll‘ und ‚diplomatisch‘ nennst, läuft bei mir unter ‚Vernunft‘“, erwiderte er spitz, aber Thommy grinste weiterhin schief. Einer ihrer typischen Wortwechsel. Simon hätte sich gewundert, wenn die Reaktion eine andere gewesen wäre. Simon fand Drake auf der schmalen Veranda vor der Küche. Er saß eine dicke Wolldecke um sich geschlungen auf dem Boden, ein dampfender Becher in den Händen, neben sich eine Thermoskanne und eine Keksdose, und starrte in die dunkle, winterliche Landschaft hinaus. Über ihm leuchtete die Lichterkette, deren Licht für Reflexe in seinem dunklen, glänzenden Haar sorgte. Die Szene wirkte friedlich, aber auch ein wenig einsam und melancholisch. „Darf ich mich zu dir setzen?“, fragte Simon, als er nach draußen trat. Eisige Kälte schlug ihm entgegen. Seine Wangen fühlten sich an wie unter tausenden Nadelstichen. „Mhm.“ Schnell wickelte Simon sich in die Decke ein, die er aus der Küche mitgebracht hatte. Als er sich hinsetzte, achtete er penibel darauf, zumindest etwas Stoff unter sich zu haben. Es war aber auch lausig kalt. „Du spielst gut“, sagte er nach einem Moment, in Ermangelung eines besseren Gesprächsanfangs. „Nicht halb so gut wie du“, erwiderte Drake und blies in seinen Becher, bevor er einen Schluck nahm. „Ich mache viele Fehler, wenn auch meistens nur kleine – bei einfachen Stücken zumindest.“ Mit diesem Einwand hatte Simon nicht gerechnet. Drake hatte ihn nur einmal spielen gehört, deshalb wunderte es ihn, dass der sein Können so hoch einschätzte. Obwohl er das Instrument sehr gut beherrschte, spielte er selten. Der Unterricht hatte ihm nie Spaß gemacht und er verband ausnahmslos schlechte Erinnerungen damit. „Handwerklich“ war er tatsächlich deutlich besser als Drake, aber ließe man ihm die Wahl, würde er sich dennoch immer für das Klavierspiel des anderen entscheiden. Er konnte nicht einmal sagen warum, aber in seinen Ohren klang es … lebendiger? Er fand keine hundert Prozent passende Beschreibung. „Mag sein“, antwortete Simon, „aber du schaffst es, dass man sie ohne Weiteres überhören kann.“ „Wenn du das sagst“, meinte Drake leichthin. „Du hast das bessere musikalische Gehör.“ Simon seufzte. Es würde wohl keinen passenden Moment geben, das Thema anzusprechen. Seine Schlüsse vor Drake auszubreiten, erschien ihm keine gute Idee. Am besten fiel er direkt mit der Tür ins Haus. Eine Sache, die Thommy ihn bestens gelehrt hatte. „Wir möchten uns entschuldigen“, sagte er. Er war sicher, dass der andere folgen konnte. Drake verstand immer übergeordnete Zusammenhänge. Drake sah zu ihm hinüber. Der Ausdruck seiner Augen war – für seine Verhältnisse – ungewöhnlich weich. Skeptisch hob er eine Braue, aber es war ihm anzusehen, dass er wusste, worum es ging. „Das müsst ihr nicht.“ „Aber wir haben uns nicht gerade taktvoll verhalten“, entgegnete Simon, weil er die Antwort nicht verstehen konnte. „Das habt ihr wirklich nicht“, bestätigte Drake halblaut und senkte den Blick auf seinen Becher. „Allerdings kann ich kaum erwarten, dass ihr auf etwas Rücksicht nehmt, von dem ich euch nichts erzählt habe. Abgesehen davon wage ich zu behaupten, dass ihr den größeren Schaden habt.“ „Hm. Sicherlich.“ Das klang nicht sehr weit hergeholt, dennoch … „Wir wollen nur, dass du weißt, dass es nicht unsere Absicht war, auf deinen Gefühlen herum zu trampeln.“ „Ist klar.“ Drake lachte plötzlich leise. „Haben die beiden dich wieder einmal als ‚Diplomaten‘ vorgeschickt?“, fragte er amüsiert. „Natürlich“, bemerkte Simon trocken, kam um ein schmales Lächeln jedoch nicht herum. Stille kehrte ein, in der sich Simon fragte, warum Drake sich in der Kälte zurückgezogen hatte. Ihm war nach den wenigen Minuten bereits erbärmlich kalt. Bestimmt zum fünften Mal zog er die Decke enger um sich. Vor ihnen lag eine breite unberührte Schneefläche. Der Wald begann erst in knapp fünfzig Metern Entfernung und viel weiter konnte man auch gar nicht sehen. Gerade setzte wieder leichter Schneefall ein. Es war ein wirklich harmonischer Anblick, der seltsam beruhigend wirkte. Vielleicht lag es daran. „Was ist das Schönste, das du mit Weihnachten verbindest?“, fragte Drake nach einem Moment, die Augen in die Ferne gerichtet. „Cola-Rum“, erwiderte Simon sofort und musste unweigerlich schmunzeln. Er hatte nicht Thommy sagen wollen. Und genau genommen waren die Flaschen Cola und Rum vor Thomas grinsenden Gesicht vor seinem Fenster aufgetaucht. Drake blickt ihn an und hob abermals eine Augenbraue. Dieses Mal wirkte die Geste fragender und neugieriger. „In einem Jahr ist Thommy am ersten Weihnachtsfeiertag in mein Elternhaus hereingeschneit“, erklärte Simon und schmunzelte bei dem Gedanken an seinen besten Freund. „Mit je einer Flasche Cola und Rum im Gepäck. Es war ziemlich lustig, auch wenn es nicht dabei geblieben ist und wir relativ schnell betrunken waren.“ Er nutzte die günstige Gelegenheit, um zu fragen: „Was verbindest du mit Weihnachten?“ Einen Momentlang starrte Drake weiterhin bewegungslos geradeaus. Er wirkte seltsam in sich gekehrt. Dann stellte er seinen Becher neben sich ab und griff nach der Thermoskanne. Er schraubte den Deckel ab und füllte ihn mit dampfender Flüssigkeit. Zu Simons Überraschung hielt er ihm den Becher hin. Schokoladiger Geruch stieg ihm in die Nase. „Es ist heißer Kakao. Keine Ahnung, wie gerne du welchen trinkst, aber er hält warm“, sagte Drake und Simon nahm den Becher dankend entgegen. Er blies mehrere Male darüber, bevor er einen Schluck nahm. Trotz der Kälte war er vorsichtig genug, um sich nicht den Mund zu verbrennen. „Ich hab auch Lebkuchen, falls du magst“, bot Drake an und öffnete die Keksdose. Automatisch wanderte Simons Blick zu den kleinen, runden Gebäckstücken hinunter. Es war solange her, dass er einen gegessen hatte, dass er sich nicht einmal mehr erinnern konnte, wie sie schmeckten. „Danke“, sagte er abermals und nahm einen aus der Dose. Es konnte schließlich nicht angehen, dass er ihren Geschmack nicht kannte. Es war so lecker, dass er nach einem weiteren Schluss Kakao gleich nach dem nächsten griff. „Weihnachten ist für mich“, setzte Drake leise an, als Simon bereits nicht mehr mit einer Antwort rechnete, „gemütliches und lustiges Beisammensitzen mit gutem Essen, unter anderen weihnachtlichem Gebäck.“ Simon sah zu ihm hinüber und bemerkte, dass er seinen Blick auf den Becher in seinen Händen gerichtet hatte. Ein leichtes, ehrliches, aber trauriges Lächeln umspielte seine Lippen und erreichte auch seine ständig kühlen Augen. Es war das erste Mal, dass Simon ihn richtig lächeln sah. Ohne einen Zug von Kälte, Arroganz, Sarkasmus, Emotionslosigkeit oder dergleichen. Es war dieser Moment, in dem Simon begriff, dass das Gespräch etwas Besonderes war. Und das auch Weihnachten etwas Besonderes sein musste, wenn der Gedanke daran, Drake ein ehrliches Lächeln auf die Lippen zaubern konnte. „Keine Geschenke?“, fragte er behutsam. Er wollte die Atmosphäre nicht zerstören, aber es war ihm aufgefallen, dass sie in der Aufzählung fehlten. Eine Tatsache, die ihn wunderte. Jedes Kind mochte Geschenke. „Ist es das, was du mit Weihnachten verbindest?“, stellte Drake die Gegenfrage. „Meine Familie hat aus Weihnachten ein steifes, kühles Prozedere gemacht. Daran war einzig positiv, dass meine Eltern meinten, ausnahmsweise mal großzügig sein zu müssen“, erklärte Simon nicht ohne Bitterkeit. „Bei mir war das anders. Ich habe auch immer viele Geschenke bekommen, aber im Grunde war das nicht der Reiz. Meine Eltern hatten viel Geld. Wenn ich mich richtig angestellt beziehungsweise angestrengt habe, konnte ich so gut wie alles zu jedem Zeitpunkt im Jahr bekommen. Das Schöne an Weihnachten war, dass jeder sich eine Auszeit vom Alltag genommen hat. Keine Ablenkung durch Arbeit, irgendwelche Probleme oder anderes. Wir haben uns einfach ein paar gemütliche, entspannte Tage gemacht.“ Simon konnte sich nicht daran erinnern, dass Weihnachten jemals entspannt gewesen wäre, auch nicht, als Thommy da gewesen war. Genau genommen hatte es das Konfliktpotential nur gesteigert, bis es schließlich in einem riesen Streit gegipfelt war. Die Auseinandersetzung zwischen ihm und seiner Familie war überfällig gewesen, trotzdem würde er sie sicherlich immer mit Weihnachten in Verbindung bringen. „Und die Weihnachtszeit?“, fragte er weiter. Inzwischen war er neugierig geworden und er musste ein wenig an sich halten, um nicht zu viel auf einmal zu fragen. Er wollte Drake nicht aus seinem ruhigen, etwas träumerischen Zustand reißen, obwohl das vielleicht die Chance war, endlich mehr über ihn zu erfahren. Drake lachte leise auf. „Soll ich dir einen Roman darüber schreiben?“, fragte er amüsiert. „Gibt es denn so viel zu erzählen?“, entgegnete Simon überrascht. Im Grunde war es eine rhetorische Frage, denn, selbst wenn er nicht nachvollziehen konnte, was für Mengen es da zu erzählen geben konnte, erkannte er, dass der andere es ernst meinte. „Was hast du denn alles gemacht?“ „Mein Vater ist beinahe jeden Tag ein wenig früher nach Hause gekommen und wir haben uns an unserer Köchin vorbei aus dem Haus geschlichen, um uns im gesamten Dezember einmal quer über den ganzen Weihnachtsmarkt zu essen“, sagte Drake und grinste leicht. „Meine … Patentante hat oft mit mir Plätzchen gebacken, wobei eher sie gebacken hat und ich versucht habe, mich schon einmal am Teig gütlich zu tun. Manche Wochenenden sind meine Mutter und sie mit mir in der Umgebung rodeln oder Schlittschuhlaufen gefahren. Ein paar Mal ist auch mein bester Freund mitgekommen. Wenn es geschneit hat, habe ich mit ihm immer Schneetiere gebaut.“ „Schneetiere?“, fragte Simon verwundert dazwischen. Schneemänner waren ihm bestens bekannt. Mit seiner kleinen Schwester hatte er sogar selbst einmal einen gebaut. Von Schneetieren hatte er jedoch noch nie etwas gehört. „Mhm. Eichhörnchen, Füchse, Bären, Katzen, Pinguine. Einmal haben wir sogar einen zusammengerollten Drachen aus Schnee geformt. Er hatte ein unglaubliches Auge dafür. Die Nachmittage habe ich oft mit meiner Patentante vor dem Kamin verbracht. Wir haben Tee oder Kakao getrunken, selbstgemachte Plätzchen verdrückt und gelesen … manchmal hat sie auch Geschichten erzählt. Wobei das typisch für den gesamten Winter war.“ Drakes Stimme war leise und er klang ein wenig abwesend. Wahrscheinlich hing er mit seinen Gedanken in der Vergangenheit. Es war nicht zu überhören, dass er die Zeit sehr genossen hatte. Simon fragte sich, ob Teile seiner Verwandtschaft noch lebten. Das schien ihm jedenfalls ein guter Grund zu sein, warum Drake normalerweise so distanziert und kühl war und seinen richtige Namen nicht verraten wollte. Wenn er diese Menschen schützen und von den Gefahren seines jetzigen Lebens fernhalten wollte, wäre es eine gute Strategie, so wenig wie möglich über seine Vergangenheit preiszugeben. Es war nur eine Theorie – für ihn die naheliegendste, weil Thomas und er selbst es so hielten. Es konnte tausend anderen Erklärungen für Drakes Charakter und Verhalten geben. Auch wenn dieses Gespräch ihm mehr über den anderen verraten hatte, so würde es doch nicht dazu beitragen, ihn zu enträtseln. Nicht zu viel zu sagen, schien Drake in Fleisch und Blut übergegangen zu sein. „Das kling wie ein Paradies für ein jedes Kind“, gestand Simon ehrlich ein. Wenn er eine solche Kindheit verbracht hätte, könnte er wahrscheinlich ebenso buntblinkende Lichterkette und kitschige Deko tolerieren. Aber das hatte er nicht. Genau genommen besaß seine Kindheit kaum Elemente, die diese Bezeichnung überhaupt verdienten. Solange er denken konnte, hatte man ständig von ihm verlangt, sich wie ein Erwachsender zu benehmen. „Es war toll“, bestätigte Drake. Noch immer wirkte er ein wenig melancholisch. „Mara hat den Vorschlag gemacht, gemeinsam Weihnachten zu feiern“, sagte Simon nach einem weiteren Moment des Schweigens. Sie hatten beide weitere Lebkuchen verdrückt und mehrere Schluck Kakao getrunken. Langsam sollte er sich nachschenken, die Tasse wärmte seine Hände kaum noch. „Meinetwegen gern“, erwiderte Drake, „aber das müsst ihr entscheiden. Es euch aufzuzwingen, bringt keinem etwas.“ „Es käme auf einen Versuch an“, sagte Simon und konnte das immer noch nicht glauben. Er würde tatsächlich Weihnachten feiern? Eine Novität nach 24 Jahren. „Kennst du ein Lebkuchenrezept?“ „Machst du Witze?!“, meinte Drake und wie von selbst schlich sich der altbekannte Sarkasmus in seine Stimme. „Wobei das Rezept würde ich vielleicht noch zusammenbekommen, aber die Umsetzung … wie gesagt: Ich habe immer nur gegessen.“ Unweigerlich lachte Simon auf. Das kam ihm bekannt vor. „Ich wage zu behaupten, dass das auf uns alle vier zutrifft“, stellte er fest. „Wo wir gerade davon sprechen: Wie stellst du dir eigentlich unsere Versorgung in den nächsten Wochen vor?“ „Hast du seit heute Morgen einmal einen Blick auf die Anrichte geworfen?“, fragte Drake und fuhr fort, ehe er überhaupt eine Chance hatte, zu verneinen. „Da liegen ein Restaurantführer sowie bestimmt ein dutzend Lieferservicekarten. Ich bin sicherlich nicht davon ausgegangen, dass in der Küche in der nächsten Zeit irgendjemand regelmäßig kochen wird.“ „Eine kluge Entscheidung“, sagte Simon und setzte einen gekünstelten, französischen Akzent auf, „wenn sicherlich auch nicht die exquisiteste.“ Unabhängig von einander begannen sie leise in sich hinein zu kichern. Vielleicht würde es ihnen ja tatsächlich gelingen, dass so negativ besetzte Fest, mit positiven Erinnerungen zu belegen. Wenn das hier zu Weihnachten gehörte, konnte es nicht schlimm sein. In diesem Augenblick war ihm innerlich ganz warm, trotz der winterlichen Kälte um ihn herum, und er verspürte nicht den Wunsch hineinzugehen. Dieser Moment hätte ewig dauern können. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)