Ragnarök von Peacer ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Asgard glänzte im Schein der aufgehenden Sonne, so wie sie es seit langer Zeit tat und, wenn es nach Thor ging, weiterhin tun würde, auch wenn er bisher selten den Anblick des heranbrechendes Morgens genossen hatte. Er war einfach kein Morgenmensch, und den heutigen Morgen hätte er wohl genauso verschlafen wie die vielen davor, wenn er denn zum Schlafen gekommen wäre. Aber selbst als der anstrengende, gestrige Tag endlich zu Ende gegangen war und er eine Runde Schlaf mehr als nötig gehabt hätte, war er nicht zur Ruhe gekommen. Sobald seine Untertanen ihn nicht mehr auf Trab hielten, waren seine Gedanken eingesprungen und hatten ihm jede Chance auf ein bisschen Schlaf genommen. Und obwohl er in der Regel niemand war, der viel und lange grübelte, hatte sich seine spontane Natur in den letzten Jahren doch etwas gelegt und war Vernunft gewichen, eine Qualität, die er als König von Asgard unbedingt benötigte. Die Zeit, in der er nur sich mit seinen unüberlegten Handlungen in Gefahr brachte war vorbei, jetzt lag das Wohl des gesamten Königreichs auf seinen Schultern. Daher war es wohl wenig verwunderlich, dass ihn die neue Bedrohung, die von Jötunheim ausging, beunruhigte. Genauso wie die Meldungen, dass jemand Verwüstung auf der Erde anrichtete. Seufzend rieb sich Thor die Stirn. Es war in Momenten wie diesen, in denen er seinen Vater mit seinem klugen Rat am meisten vermisste. Odin hatte immer gewusst, was zu tun war. Er konnte nur hoffen, dass auch er die richtige Entscheidung traf. Er setzte seine Krone auf, straffte den Rücken und verließ erhobenen Hauptes sein Zimmer. Sif und die drei Krieger warteten schon, als er den Raum betrat, und sahen ihn erwartungsvoll an. Seufzend ließ er sich in einen Sessel fallen. Auch wenn er nun König war, für seine Freunde war er noch immer Thor und er war dankbar dafür, dass er in ihrer Anwesenheit er selbst sein konnte. Ein schwacher Trost in dieser Situation. „Du siehst aus, als hättest du die ganze Nacht kein Auge zugetan.“ Hätte Thor sie weniger gut gekannt, wäre ihm sicher Sifs besorgter Unterton entgangen. So aber brachte dieser ihn zum Lächeln. „Habe ich auch nicht.“ Er blickte zum Fenster hinaus, sowohl um die mitleidigen Blicke seiner Freunde nicht sehen zu müssen, als auch um mit dem Anblick der goldenen Stadt Kraft zu tanken für die bevorstehende Auseinandersetzung. Er war sich sicher, dass seine Freunde wenig begeistert von seinem Plan sein würden. Er schmunzelte, als ein kleiner Spatz auf dem Fenstersims landete und sich zu Putzen anfing, dann wandte er sich seinen Freunden zu und setzte sich etwas gerader hin. „Ich will, dass ihr nach Midgard geht.“ Thor musste ein Lächeln unterdrücken, als Sif wie erwartet erbost aufsprang und sogleich zu protestieren begann. „Aber was ist mit Jötunheim? Wenn es zum Krieg kommt-“ „Soweit wird es nicht kommen“, unterbrach Thor sie. Fandral hob eine Augenbraue. „Du hast also einen Plan?“ „Mehr oder weniger.“ Daraufhin sahen ihn vier Augenpaare erwartungsvoll an. Er seufzte, zum wievielten Mal an diesem Morgen wusste er nicht mehr, und ließ schließlich die Katze aus dem Sack. „Ich will Friedensverhandlungen mit dem neuen König der Eisriesen führen.“ Volstagg, der gerade an einer Hähnchenkeule geknabbert hatte, verschluckte sich prompt, und auch die Reaktion der anderen war alles andere als begeistert. „Das nennst du einen Plan?“ Natürlich war es Sif, die sich als erstes zu Wort meldete. „Du bist ein Mann der Tat, nicht ein Mann des Wortes, und die Eisriesen sind Bestien. Mit denen kann man nicht verhandeln.“ Der Spatz zwitscherte. „Und doch tat es mein Vater und war erfolgreich.“ „Aber nur, weil sie nach dem verlorenen Krieg keine andere Wahl mehr hatten, als das Friedensangebot zu akzeptieren“, warf Hogun nun seinerseits ein. „Die haben sie auch jetzt nicht“, meinte Thor und sah sie alle der Reihe nach fest an. „Sie mögen jetzt wieder zahlreicher sein als nach dem Krieg, aber dennoch sind wir noch immer im Besitz der Eisurne. Ohne die haben sie keine Macht und würden im Falle eines Krieges zu große Verluste haben. Das werden sie nicht riskieren.“ „Sie sind keine Asen, Thor. Ich bezweifele, dass hohe Verluste sie abschrecken würden“, meinte Sif zweifelnd. „Mit Monstern kann man nicht verhandeln“, stimmte Fandral ihr zu. Kurz herrschte Schweigen, dann meinte Thor leise: „Loki ist ein Eisriese.“ Daraufhin herrschte komplette Stille und sie vermieden es, einander anzusehen. Sogar der Spatz war verstummt. Loki war nach wie vor ein heikles Thema, für jeden von ihnen, aber insbesondere für Thor. Dass er ihn erwähnte, zeigte besser als alles andere wie ernst es ihm mit den Verhandlungen war. Trotzdem waren seine Freunde noch nicht ganz überzeugt. „Loki hat mehrere Male versucht, Asgard zu erobern und ist verantwortlich für die Probleme auf Midgard. Er ist nicht das beste Beispiel, um uns von der Verhandlungsbereitschaft der Eisriesen zu überzeugen“, erklärte Sif schließlich behutsam und die drei Krieger nickten. Thor ballte die Hände zu Fäusten. „Er ist mein Bruder. Und auch wenn er vom rechten Weg abgekommen zu sein scheint, ist er dennoch der lebende Beweis, dass uns die Eisriesen gar nicht so unähnlich sind und man mit ihnen verhandeln kann.“ Seine Freunde schwiegen. Sie wussten, dass sie Thor nicht von seiner Meinung abbringen konnten, egal was sie auch taten oder sagten. Wenn es um Loki ging, ließ er nicht mit sich reden. „Dann verstehe ich trotzdem noch immer nicht, wieso du uns nach Midgard schicken willst. Wäre es nicht besser, wenn wir dich begleiten würden?“ Sifs Einwand wurde mit zustimmendem Nicken der drei Krieger unterstützt. Thor schüttelte den Kopf. „Ich werde zehn unserer besten Krieger mitnehmen. Euch vertraue ich die Sicherheit Midgards an. Und… und die von Jane.“ Er rieb sich die Stirn. „Ich weiß, dass sie und Midgard bei euch in guten Händen sind, so dass ich mir keine Sorgen machen muss.“ Sif und die drei Krieger knieten vor ihm nieder. „Wir werden sie mit unserem Leben beschützen und die neue Bedrohung abwehren.“ Thor lächelte. „Danke, meine Freunde.“ Sie verließen den Raum, um sich auf ihre bevorstehende Mission vorzubereiten. Thor warf einen letzten Blick auf seine geliebte Stadt und folgte seinen Freunden dann entschlossenen Schrittes aus dem Raum. Der Spatz war verschwunden. Loki blickte zum Fenster hinaus auf die weite, eisige Landschaft. Kein strahlender, goldiger Morgen erwartete ihn hier, nur weiße Kälte, tagein, tagaus. Es war wohl passend für einen Eisriesen, auch wenn er sich nach wie vor nicht wie einer fühlte. Er sah sich aber auch nicht als Asen. Loki war etwas dazwischen, nicht richtig Ase, aber auch nicht richtig Eisriese. Er gehörte zu beiden, und doch zu keinem. Aber vorerst würde er den Eisriesen mimen, bis er sein Ziel erreicht hatte. Er schmunzelte. Wenn alles nach Plan lief, und das tat es momentan, würde er sich bald keine Sorgen mehr um seine Zugehörigkeit machen müssen. Er würde über ihnen allen stehen, und sie würden sich vor ihm, Loki Laufeyson, verneigen. „Mylord.“ Er drehte sich zu den beiden Eisriesen um, die zu ihm herangetreten waren und sich nun vor ihm verbeugten. Die ersten von vielen. „Er ist auf dem Weg.“ Loki lächelte böse. Alles lief nach Plan. Thor marschierte, begleitet von zehn seiner besten Männern, Richtung Herz von Jötunheim, hoch erhobenen Hauptes und doch wachsam. Sein letzter Besuch mochte Jahre zurückliegen, und doch war er ihm noch allzu gut in Erinnerung. Diesmal würde er nicht so unbedacht handeln. Immerhin war er gekommen, um Friedensverhandlungen zu führen und nicht, so wie letztes Mal, um einen Krieg zu beginnen. Die Eisriesen, die ihn angriffen, schienen jedoch anderes im Sinn zu haben. „Ich bin gekommen, um zu verhandeln. Euer König hatte zugestimmt!“ Aber die Eisriesen schien das wenig zu interessieren. Er wusste nicht, wie viele er abwehrte, und wie lange der Kampf dauerte, aber er sah, wie seine Begleiter einer nach dem anderen niedergingen. Und obwohl jeder von ihnen locker das Zehnfache an Eisriesen mit ins Grab nahm, war es nicht genug und die Eisriesen ließen sich davon nicht abschrecken. Bald stand er alleine da, umgeben von Eisriesen, und obwohl er sich beinahe sicher war, dass er es dank Mjöllnir mit ihnen aufnehmen konnte, schien die Situation aussichtslos. Seine Verhandlungen waren gescheitert, bevor sie auch nur begonnen hatten. Genau wie letztes Mal würde sein Besuch im Krieg enden, etwas, das er mit allen Mitteln zu verhindern versucht hatte. Verbissen wehrte er sich weiter gegen die nicht nachlassenden Angriffe der Eisriesen. Er wusste, dass er sie besiegen musste, wenn er zurück nach Asgard wollte, oder Heimdall würde ihm den Bifröst nicht öffnen. Sein nächster Schlag ging jedoch ins Leere, als sich sein Gegner scheinbar vor ihm in Luft auflöste. Kurzzeitig abgelenkt wäre er beinahe von einem Eisprojektil getroffen worden, konnte diesem dann aber noch im letzten Augenblick ausweichen. „Thor!“ Beim Klang dieser ihm nur allzu bekannten Stimme lief ihm ein kalter Schauer den Rücken herunter, und als er sich langsam umdrehte, die Eisriesen, die ihn umzingelten, nicht beachtend, wurde sein Verdacht leider bestätigt: dort stand Jane, in den Griffen eines Eisriesen, und sah ihn mit vor Furcht geweiteten Rehaugen verzweifelt an. „Wenn du nicht willst, dass ihr etwas passiert, ergibst du dich besser“, grollte der Eisriese und Thor ließ Mjöllnir sinken. „Sie hat nichts hiermit zu tun. Lasst sie gehen!“ Der Eisriese knurrte. „Sobald du den Hammer fallen gelassen hast, tun wir das.“ Thor sah zu Jane, die ihn noch immer ängstlich anblickte, und ließ ergeben die Schultern sinken. Dann ließ er Mjöllnir los. Im nächsten Augenblick war er von Eisriesen umzingelt, die ihn auf die Knie zwangen und seine Hände hinter seinem Rücken zusammen banden. Er sah zu Jane auf, von dessen Gesicht nun jegliche Angst gewichen war und die ihn stattdessen mit einem berechnenden Blick und einem kühlen Lächeln auf den Lippen beobachtete. „Mmh, das war ja beinahe zu einfach“, meinte sie, doch es war nicht mehr Janes Stimme, mit der sie sprach, und Thor erkannte seinen Fehler. Leider zu spät. „Loki… Ich hätte es wissen müssen.“ Jane nahm langsam wieder die von Thor gewohnte Form seines Bruders an und blickte verachtungsvoll auf ihn hinab. „Der mächtige Thor, vor einem Eisriesen kniend“, höhnte Loki und die Eisriesen um ihn herum lachten. „Wer hätte das gedacht?“ „Du bist kein Eisriese, Loki. Du bist mein Bruder.“ Loki lächelte kalt und seine Augen glühten rot, während sich seine Haut blau färbte. „Sehe ich wie ein Ase aus, Thor? Ich war nie dein Bruder!“ „Uns mag kein Blutsband verbinden, aber das ändert nichts daran, dass du Familie für mich bist, Loki. Du gehörst nicht hierher. Komm nach Hause.“ Kurz sah Loki ihn mit unergründlichen Augen an, dann verwandelte sich sein Gesicht in eine Maske des Hasses. „Familie, Thor? Welche Familie behandelt einer der ihren als wäre er zweitklassig?“ Thor hob ruckartig den Kopf. „Wir haben nie-“ „Natürlich ist es dir nicht aufgefallen. Du warst ja auch Odins einziger Sohn, sein Liebling, der bessere, mutigere Krieger. Wer beachtet da auch seinen sogenannten Bruder?“ Loki schnaubte verächtlich. „Nein, Thor, wir waren nie Brüder.“ Thor sah ihn verzweifelt an. „Ich-“ „Ich will deine Entschuldigungen nicht hören“, meinte er kalt und wandte sich von ihm ab. „Bringt ihn in den Kerker!“ „Loki!“ Er drehte sich nicht zurück, während seine Eisriesen den Befehl ausführten. Thors Proteste brachten ihm ausreichend Genugtuung und er konnte sich dessen Gesichtsausdruck nur allzu gut vorstellen. Mit einem zufriedenen, bösen Lächeln auf den Lippen folgte er ihnen zurück zu seinem Palast. Thor wehrte sich nicht, als die Eisriesen ihn in den Kerker schleiften und an die Mauer ketteten. Er gab auch keinen Mucks von sich, als sie diese hochzogen, so dass er nur noch knapp den Boden mit den Zehenspitzen berühren konnte. Und auch als sie ihn schließlich alleine in der stockdunklen Zelle zurückließen, rührte er sich nicht. Er wusste, dass es aussichtslos war. Seine besten Krieger waren damit beschäftigt, die Bedrohung von Midgard abzuwenden, die, wie er sich mittlerweile ziemlich sicher war, Teil von Lokis Plan war um ihn zu überwältigen. Mjöllnir war ebenfalls verloren, und selbst mit diesem wäre es schwer gewesen, aus dem Kerker im Herzen des Schlosses von Jötunheim, bewacht von unzähligen Eisriesen, auszubrechen. Und selbst wenn er es gekonnt hätte, war er momentan nicht wirklich in der geistigen Verfassung, es zu tun. Die Begegnung mit Loki hatte ihn erschüttert, und er brauchte etwas Zeit, um sich darüber klar zu werden, wie Loki so verbittert hatte werden können. Sein Bruder war schließlich immer glücklich gewesen, oder? Er mochte kein starker Krieger wie Thor gewesen sein, aber er hatte andere Talente gehabt, in denen er überragte. Seine Magie, beispielsweise, in der niemand ihm das Wasser reichen konnte. Thor war immer der Überzeugung gewesen, dass sein Bruder, trotz seiner Abwege in die Dunkelheit, noch immer einen Kern Gutes in sich gehabt hatte. Er hatte nicht gewusst, wie tief sein Hass wirklich reichte. Und noch weniger hatte er ahnen können, dass er ihm und Odin die Schuld daran geben würde. War Loki, sein Bruder, wirklich verloren? Loki ließ sich auf seinem hohen Eisthron nieder und entließ seine Wachen, während er darüber nachdachte, wie er Thor am besten zusetzen konnte. Nicht, dass er das wirklich nötig hätte, wo es seinem Ziel, Asgard zu erobern, in keiner Weise zuträglich war. Er hatte Thor aus dem Weg geräumt, so dass niemand mehr seinem Plan im Weg stehen würde. Was er jetzt mit diesem tat, war reiner Bonus. Er hasste seinen Bruder von ganzem Herzen. Schon immer war er verbittert darüber gewesen, wie Odin diesen bevorzugt hatte, und diese Verbitterung war langsam aber sicher gewachsen, bis sie mit der Entdeckung seiner wahren Herkunft schließlich in Hass umgeschlagen war. Thor hatte alles, was man sich nur wünschen konnte: die Anerkennung seines Vaters, den Ruhm eines Kriegers, Freunde, Familie… Und Loki hatte gar nichts. Sein echter Vater hatte ihn als Baby verstoßen, weil er sich für ihn schämte, sein Adoptivvater hatte ihn nie anerkannt, egal wie sehr er sich bemüht hatte, immer war er nur der zweite Sohn nach Thor gewesen. Auch hatte er nie solch ruhmreiche Taten wie sein vermaledaiter Bruder vollbracht. Er mochte kein so großer, starker Krieger sein wie dieser, doch hatte er seine Magie, die er besser als alle anderen beherrschte. Nur dass Asen keinen Sinn dafür hatten. Für sie zählten nur Stärke und Heldentum, durch gut ausgedachte Pläne und Listen gewonnene Kämpfe waren dagegen nichts wert. Und seine Freunde waren ebenfalls nie wirklich die seinen gewesen, sondern die von Thor. Seine Präsenz hatten sie nur akzeptiert, weil er dessen Bruder war und sie sich dazu verpflichtet gefühlt hatten. Sie waren ihm immer mit Misstrauen begegnet, dem Gott des Unwesen, dem Gott des Bösen, selbst als er ihnen noch keinen Grund dazu gegeben hatte. Und was die Familie anging… Loki schüttelte den Kopf. Selbst die hatte sich als Lüge herausgestellt. Er war allein, auf sich gestellt, aber er hatte sich damit abgefunden. So würde ihm niemand in den Weg kommen. Und bald würde er über allen stehen und sie würden es bereuen, ihn immer übersehen zu haben. Loki lächelte kalt. Und Thor würde der erste sein, der seinen Fehler bemerken würde. Thor wusste nicht, wie lange er nun schon in der Zelle hing, aber seinen schmerzenden Schultern nach zu urteilen, war schon einige Zeit vergangen, ehe sich Loki endlich bei ihm blicken ließ. Er sah seinem Bruder mit gemischten Gefühlen entgegen; einerseits war er noch immer sein Bruder, egal wie dieser selbst darüber dachte, und auch seine Handlungen konnten daran nichts ändern, aber andererseits war er auch sein Erzfeind, welcher ihn entführt hatte, was sicherlich nur die erste Phase eines neuen, bösen Plans war, so wie Thor ihn kannte. Er sollte Recht behalten. „Loki.“ Er versuchte seine Stimme so neutral wie möglich zu halten, auch wenn es ihm schwer fiel. Ob es ihm gelang, war allerdings eine andere Frage. Loki hatte in ihm immer wie in einem offenen Buch gelesen. „Thor. Ich hoffe, du genießt deinen Aufenthalt?“ Lokis Mundwinkel zuckten hämisch und Thor ballte die Hände zu Fäusten. „Was hast du vor?“ Loki deutete einer Wache, die Tür hinter ihm zu schließen und beschwor dann ein Feuer, die nunmehr einzige Lichtquelle in der Zelle. Dann trat er näher an Thor heran. „Du warst schon immer jemand, der ohne Umschweife zum Punkt gekommen ist. Das hat sich also nicht geändert.“ „Und du machst deinem Spitznamen Silberzunge auch noch immer alle Ehre. Scheint, als hätten wir beide uns nicht allzu sehr verändert.“ Loki warf ihm einen hasserfüllten Blick zu, ehe er ihm den Rücken zuwandte. „Du weißt gar nichts über mich, also sprich nicht, als ob du mich kennen würdest.“ Thor wünschte sich, er könnte sich bewegen. Ob er nun Loki eine reinhauen oder ihn umarmen wollte, war er sich aber selbst noch nicht ganz im Klaren. „Natürlich kenne ich dich, Loki. Du bist immerhin mein Bruder.“ Er musste es einfach weiterhin versuchen. Er wollte, nein, er konnte die Hoffnung einfach nicht aufgeben. Auch wenn sie schon verloren schien. Loki wirbelte herum und seine Augen funkelten wütend, was von dem flackernden Licht seines Feuers nur noch unterstrichen wurde. „Wie oft muss ich es dir noch sagen?“, zischte Loki bedrohlich und kam ganz nahe an Thors Gesicht heran, „Du. Bist. Nicht. Mein. Bruder!“ Thor sah ihn herausfordernd an. „Aber du bist noch immer meiner.“ Loki trat einen Schritt zurück und lächelte kalt. „Dann werde ich dich wohl vom Gegenteil überzeugen müssen.“ Er rief nach einer Wache und die Zelle wurde wieder aufgesperrt. „Was hast du vor, Loki?“ Dieser drehte sich noch einmal zu ihm um. „Das wirst du noch früh genug sehen, Thor. Und ich kann dir eins garantieren: es wird dir nicht gefallen. Ganz und gar nicht.“ Damit verließ er die Zelle und überließ Thor seinen dunklen Gedanken. Dunkle Gedanken waren allerdings nicht das einzige, was Loki ihm dar ließ. Während diese ihn in seinen wachen Stunden quälten, führten schreckliche Albträume die Tortur auf ein vielfaches schlimmer während seinem Schlaf weiter. Irgendwann wusste er nicht mehr, wie oft er Sif und die drei Krieger sterben gesehen, wie oft er dem Untergang Asgards und aller Welten beigewohnt hatte, und, der bei weitem schlimmste und häufigste Traum, wie oft er dabei zugesehen hatte, wie Jane gequält und gebrochen und einem zufrieden lächelnden Loki dargeboten wurde. Lange Zeit verbrachte er in dem Kerker, ohne Licht, ohne Nahrung, ohne Gesellschaft, nur mit seinen Albträumen, die ihn langsam auch in seinen wachen Stunden verfolgten, bis er schließlich nicht mehr wusste, wann er träumte oder wann er nur halluzinierte. Der Schmerz war sein ständiger Begleiter. Irgendwann, es mochten Monate oder auch nur ein paar Tage vergangen sein, Thor wusste es nicht, er hatte jegliches Zeitgefühl verloren, befreite ein Eisriese ihn von seinen Ketten und schleifte ihn aus seinem Kerker. Er war zu schwach, um sich auf den Füßen zu halten, und das schwache Licht der Fackel, die die ihn begleitenden Wachen bei sich trugen, schmerzte ihm in den Augen, aber zum ersten Mal seit langem war er bei vollem Verstand. Als die Wachen ihn vor Lokis Füße schmissen, welcher von seinem Eisthron kalt auf ihn herabblickte, wünschte er sich beinahe, er wäre es nicht. Lokis unheilvolles Lächeln verhieß nichts Gutes. „Thor, wie schön dich wieder zu sehen. Hattest du einen angenehmen Aufenthalt? Ich hoffe, die Albträume haben dich nicht zu sehr geplagt.“ Thors übermüdeter Verstand brauchte etwas, bis er zu Lokis Worten aufgeschlossen hatte. „Was…? Das warst du?“ Loki lehnte den Kopf zur Seite. „Denkst du noch immer, ich wäre dein Bruder?“ „Ich… Loki-“ Er wurde von einem Eisriesen unterbrochen, der in den Thronsaal stürmte und vor Loki niederkniete. „Mein Gebieter.“ Loki nickte ihm zu. „Midgard ist nun auch unter unserer Kontrolle.“ Loki drehte sich zu Thor und lächelte selbstgefällig. „Du kommst also genau rechtzeitig.“ Thors Gedanken überschlugen sich, bevor er sich voller Grauen an seine Albträume erinnerte. Ein kalter Schauer überlief ihn, als ihm klar wurde, dass diese vielleicht weit realer waren, als er angenommen hatte. „Was hast du getan, Loki?“, flüsterte er heiser und Lokis Augen blitzten. „Nur meinen rechtmäßigen Platz als Herrscher aller neun Welten eingenommen.“ Kurz herrschte Schweigen, während sich Loki an Thors entsetztem Ausdruck ergötzte. „Wie ist das möglich?“ „Nun, die Tatsache, dass ich Laufeys Sohn und damit rechtmäßiger Thronfolger von Jötunheim bin, hat das Ganze ziemlich erleichtert, genauso wie meine magischen Talente. Die Ablenkung auf Midgard und deine darauf folgende Gefangennahme waren nur eine Frage der Geduld. Mit dir und deinen besten Kriegern aus dem Weg und dem kosmischen Würfel in meinen Händen war es ein Leichtes, Asgard und die anderen Welten zu unterwerfen. Sie hatten nicht die geringste Aussicht auf Erfolg gegen meine überwältigende Macht.“ Thor schauderte. Wie hatte alles nur so schief gehen können? In Lokis Augen war nicht einmal der Funke von Gnade zu erkennen. Dann wandte Loki sich an den noch immer vor ihm knienden Eisriesen. „Ihr habt sie mitgebracht?“ Der Eisriese nickte und auf sein Signal wurden die Tore geöffnet und eine Thor nur allzu bekannte Figur wurde hereingeschleppt. „Aber keine Sorge, ich bin ein gnädiger Herrscher. Du darfst deine Liebste ein letztes Mal sehen, bevor sie meiner lieben Tochter Hel einen Besuch abstatten wird.“ Thors Herz zog sich schmerzhaft zusammen. „Jane!“ Sie sah ihn mit vor Angst weit geöffneten Augen an. „Thor“, flüsterte sie und dieser wandte sich verzweifelt an seinen ehemaligen Bruder. „Bitte, Loki. Das kannst du nicht machen.“ Aber dessen kalter Gesichtsausdruck sagte ihm schon, was dieser im nächsten Augenblick aussprach. „Doch, Thor, ich kann, und ich werde. Niemand kann mich aufhalten.“ Er lächelte. „Nicht einmal du. Auch wenn es mich entzückt, dich betteln zu hören. Daher werde ich ihr die Ehre erweisen und es selbst tun.“ Er stand von seinem Thron auf und trat an Jane heran, die zitternd vor ihm kniete. „Nein, Loki.“ Er legte ihr die Hand auf den Kopf. „Loki!“ Dann umschloss das Eis sie, genauso wie dieses das Herz seines Bruders umschlossen hatte, und Thors Geist brach. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)